Untervazer Burgenverein Untervaz Texte zur...

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Untervazer Burgenverein Untervaz Texte zur Dorfgeschichte von Untervaz 1999 Erzählen von dem was uns wartet Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.

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Untervazer Burgenverein Untervaz

Texte zur Dorfgeschichte

von Untervaz

1999

Erzählen von dem was uns wartet

Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.

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1999 Erzählen von dem was uns wartet Alois Senti Terra Plana, Nr. 4. 1999. Seite 27-31.

Alois Senti, Bern/Flums

S. 27: Zeitungen und Zeitschriften, Radio und Fernsehen, Bücher, Ausstellungen und

Filme wenden sich am Ende des zweiten Jahrtausends dem Prophetischen zu.

Damit war aufgrund früherer Erfahrungen zu rechnen. Der Millennarismus regt

die Phantasie an. Da geht es um Himmelserscheinungen und Weissagungen bis

zu den apokalyptischen Heimsuchungen der ganzen Menschheit. Gemeint sind

Naturkatastrophen, das ungelöste Problem der Atomabfälle, das Jüngste

Gericht und das ewige Leben beziehungsweise die ewige Verdammnis.

Jakob Albrecht, der junge

Sarganser Lehrer und

Redaktor des Glarner

Kalenders «Der Prophet»,

erwähnt 1856 die Vision von

Bruder Klaus am Vorabend der

Schlacht bei Ragaz. Er beruft

sich auf den «rothen Teufel»

oder Tilserteufel als

Informanten.

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Prophetisches im Alltag unserer Voreltern

Über Jahrhunderte führte die Kirche den Gläubigen am Anfang und am Ende

des Kirchenjahrs die am Ende der Zeiten zu erwartenden Greuel vor Augen.

Die gewaltige Bildersprache der Geheimen Offenbarung des Johannes musste

visionär begabte Zuhörerinnen und Zuhörer in ihren Bann ziehen und eigenen

Erlebnissen und Erfahrungen die Türe öffnen. Im übrigen hing es wohl

weitgehend von den jeweils herrschenden äusseren Umständen ab, wie weit

sich die Schreckensbilder in Ängste und Hoffnungen umsetzten. Die älteste,

vermutlich einem Festprediger am Ragnatscher Kapellfest zu verdankende

Prophezeiung im Sarganserland geht auf Bruder Klaus und die Nacht zurück,

die der Heilige vor der Schlacht bei Ragaz im Jahre 1446 in Ragnatsch

zugebracht haben soll. «Dort umlagerte den hl. Bruder Klaus ein schwarzes,

luftiges Geistergesindel, und daher soll sich der orientalische Krieg entsponnen

haben.» Man geht davon aus, dass Bruder Klaus in Ragnatsch die Eroberung

Konstantinopels von 1453 vorausgesehen hat.

Denkpause zwischen Vergangenheit und Zukunft Millennarismen ermöglichen es Gruppierungen aller Art, das Ende der Zeiten zu beschwören. Dabei geht es ihnen natürlich nicht um das in der Apokalypse des Johannes vorausgesagte Himmlische Jerusalem, sondern darum, den eigenen Vorstellungen näher zu kommen. An die Stelle der sieben Posaunen, des in Blut verwandelten Meeres und der vom Himmel fallenden Sterne treten die nicht mehr kontrollierbaren nuklearen Lager, die weltweiten Klimaveränderungen, die Flüchtlingsströme und die Genmanipulation. Sie ersetzen die apokalyptischen Schreckensbilder früherer Jahrhunderte, den Ewigen Juden des Dorftheaters, den die Welt beherrschenden Antichrist und den einstürzenden Gonzen, der alles unter sich begräbt. Unser Aufsatz greift die mündliche und schriftliche Überlieferung unserer Eltern und Grosseltern auf und soll am Vorabend des dritten Jahrtausends dazu anregen, unter Anwendung der Vernunft und vielleicht auch der Hoffnung über die Vergangenheit und die Zukunft nachzudenken.

Mit kriegerischen Ereignissen hängt auch ein zweiter Beleg zusammen. Nach

dem Franzoseneinfall vor zweihundert Jahren verbreitete sich in Quinten die

Angst vor einer grossen Hungersnot, von der man annahm, dass sie dem an der

Wende des Jahrhunderts stattfindenden Weltuntergang vorausgehen werde.

Die französischen und österreichischen Truppen verzehrten dann tatsächlich

die letzten Vorräte des Dörfchens. Der angedrohte Weltuntergang fand

hingegen nicht statt. Dafür sollte dem Sarganserland der Hunger über das

ganze 19. Jahrhundert treu bleiben. Jede Generation lernte ihn kennen.

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Noch im Kriegsjahr 1916 breitete sich im Land die Angst vor einer neuerlichen

Hungersnot aus. Man befürchtete, dass sich das Hungerjahr von 1816 nach

dem Muster des hundertjährigen Kalenders wiederholen werde. Die Redaktion

des «Sarganserländers» sah sich genötigt, eine beunruhigte Leserschaft zu

beschwichtigen.

Nach dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution warnte Pfarrer

Alois Gemperle die Flumser eindringlich vor den Gefahren des sich

ausbreitenden Bolschewismus. Wenn es nicht gelinge, dem Unglauben

S. 28: Einhalt zu gebieten, erklärte er, werde der Tag kommen, an dem die Russen

ihre Pferde, wie schon zur Zeit des Franzoseneinfalls, wieder am Bodensee

tränken würden. Damals seien die russischen Pferde noch so klein gewesen,

dass die Reiter die Füsse auf der Erde nachschleiften. Das habe sich

inzwischen aber geändert. Bei der Befragung für die «Sagen aus dem

Sarganserland» erinnerten sich die Gewährsleute noch des vorzeichenhaften

Nordlichts vom Januar 1938 und der schützenden Hand des heiligen Bruders

Klaus im Mai 1940. Die damals vor allem über die Printmedien verbreiteten

Nachrichten trugen zur Beruhigung im Lande bei. Ein Kapuzinerpater erklärte

in Flums: «….. wänn das äso sei, müessed mier jetz käi Angscht me haa.»

1912 schossen mutwillige Weisstanner Jäger, obschon ihnen die Folgen ihres

Tuns bekannt waren, eine weisse Gemse. Nach nicht einmal zwei Jahren brach

der Erste Weltkrieg aus. Auch in den Freibergen der Churfirsten hielten sich

weisse Gemsen auf. Einem Quintner Wilderer zerschmetterte ein auf sie

abgegebener Schuss die eine Hand. Es heisst, dass Jäger, die eine weisse

Gemse erlegen, innert Jahresfrist aus dem Leben scheiden. Ein Weisstanner

Jäger brachte im Gespräch den Tod des rumänischen Staatspräsidenten Nicolae

Ceausescu mit diesem Frevel in Verbindung. Im Revier der Weisstanner

Jagdgesellschaft hielten sich 1997 zwei weisse Gemsen auf. Der Informant

erklärte, man sei übereingekommen, diese zu schonen. «Ich glaubä nid dra.

Aber ich wett jetz diä wyss Gäis glych nid schüüsä. Mä chas jo nid

uusprobierä.»

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Die fünfzehn Vorzeichen des Jüngsten Gerichts Sanct Hieronymus hat funden in den Annales Hebraeorum fünfzehn Vorzeichen des Jüngsten Gerichts. Ob sie aber bald nacheinander kommen, oder ob weder Zeit dazwischen liegt, das sagt er nicht.

1. Tag: Des ersten Tages, so hebet sich das Meer auf über alle Berge vierzig Ellen hoch und steht als eine Mauer an seiner Statt.

2. Tag: Des anderen Tages, so schwindet das Meer unter sich, dass man es kaum sehen mag.

3. Tag: Des dritten Tages, so gehen die Meerwunder aus und lassen sich sehen und brüllen auf gen Himmel Der Stimme versteht niemand denn Gott.

4. Tag: Des vierten Tages, so verbrennet das Meer und alle Wasser.

5. Tag: Des fünften Tages, so geben alle Bäume und Kräuter blutfarbenen Tau. Man sagt auch, dass dann alle Vögel der Luft sich auf das Erdreich sammeln, ein jeglicher nach seiner Ordnung, und essen noch trinken nicht vor Furcht der Zukunft des strengen Richters.

6. Tag: Des sechsten Tages, so fallen alle Städte und was gebauet ist, und fahren feurige Blitze wider das Antlitz des Firmaments vom Untergang der Sonne bis gen den Aufgang.

7. Tag: Des siebenten Tages, so schlagen die Steine aneinander, dass sie brechen und spalten sich jeglicher in vier Teile und reiben sich aneinander. Das Getöne, das weiss niemand denn allein Gott.

8. Tag: Des achten Tages, so wird ein grosses Erdbeben so gross, dass alle Menschen und Tiere niederfallen zur Erde und niemand stehen kann.

9. Tag: Des neunten Tages, so wird alles Erdreich gleich eben und werden alle Berge und Bühel zu Pulver.

10. Tag: Des zehnten Tages, so gehen die Menschen aus den Höhlen, darin sie geflohen waren, als wären sie von Sinnen, und mag eins zu dem anderen nicht reden.

11. Tag: Des elften Tages, so erstehen die Gebeine der Toten und stehen über den Gräbern. Und tun sich alle Gräber auf von Sonnenaufgang bis Untergang, dass die Toten können herausgehen.

12. Tag: Des zwölften Tages, so fallen die Sterne vom Himmel und alle Planeten und Fixsterne lassen feurige Schweife ausgehen, und es wird abermals ein Feuerregen. Auch sagt man, dass an diesen Tagen alle Tiere auf den Feldern mit Brüllen sich sammeln und essen und trinken nicht.

13. Tag: Des dreizehnten Tages, so sterben die Lebenden, dass sie mit den Toten auferstehen.

14. Tag: Des vierzehnten Tages, so verbrennet Himmel und Erde.

15. Tag: Des fünfzehnten Tages, so wird ein neuer Himmel und eine neue Erde und erstehen die Menschen alle.

Der hl. Hieronymus soll die 15 Vorzeichen des Jüngsten Gerichts jüdischen Schriften entnommen haben. Sie ermahnen den Menschen, sich nicht nur mit dem eigenen Tod, sondern auch mit dem Jüngsten Gericht auseinander zu setzen.

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Mitunter haben bei Prophezeiungen auch die Hexen die Hand im Spiel. So soll

es eine Hexe gewesen sein, welche die Wangser im Glauben liess, das Dorf

bleibe so lange von Feuersbrünsten verschont, als das Glöcklein im Turm der

alten Kirche hange. Als 1861 dennoch mehrere Häuser im Dorfkern in

Flammen aufgingen, sahen sich die Liberalen in ihren Zweifeln bestätigt. Sie

hatten die Prophezeiung nie ganz ernst genommen. Noch schlimmer ist eine

auf Valens lastende Voraussage. Wie die in alter Zeit noch bewohnte Alp Lasa

soll auch das Dörfchen Valens zu gegebener Zeit durch einen gewaltigen

Schlipf des Buchenwäldchens überführt und in einen «Rossstoufel» verwandelt

werden.

In Flums traf es sich, dass ein Venediger in einem Haus am Grossberg

Unterschlupf fand, in dem in der gleichen Nacht ein Kind zur Welt kam. Bevor

das Männlein am Morgen weiterging, warf es einen Blick in die Wiege und

sagte dem Vater mit verhaltener Stimme, das Knäblein habe keine glückliche

Geburtsstunde ausgewählt und müsse mit einem schwierigen, an den

Selbstmord grenzenden Leben fertig werden. Zu seinem Schutz solle man ihm

angewöhnen, nach jeder Arbeit die Worte zu sagen: «Äs ischt ä Gottsnamä!»

Als der Knabe das gewisse Alter erreichte und im Estrich einen Strick an

einem Balken festzumachen versuchte, rettete ihn der ständig wiederholte

Seufzer «Äs ischt ä Gottsnamä» über die ihm vom Venediger bei seiner Geburt

vorausgesagte «böüs Stund» hinweg.

Auch in diesen Fällen kommt nach Ansicht der Gewährsleute Schadenzauber

zum Zuge. Hexen und Hexer sollen über bestimmte Dinge der Gegenwart und

der Zukunft Bescheid wissen. Von ds Friidis Mareiä in Mels hiess es, dass sie

oft die ganze Nacht unterwegs sei und über alles, was sich im Dorf zutrage,

Bescheid wisse. Ein Grossberger, dem die gleichen Fähigkeiten zugetraut

wurden, sagte einem nichts ahnenden Bauern, dass er auf der Alp Werdenböll

ein Rind verloren habe. Er beschrieb ihm die Stelle, wo er das tote Tier finde,

obschon ihn niemand auf der Alp gesehen hatte. Ähnlich und doch ganz anders

verhält es sich bei Personen, die, ausgestattet mit dem Zweiten Gesicht, jene

Mitbürgerinnen und Mitbürger sehen, die im Laufe des Jahres das Zeitliche

segnen werden. In den gleichen Umkreis gehören auch die zahlreichen

Voraussagen von Todesfällen in der Familie oder in einer Gemeinde durch

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Kündungen, durch das Nachtvolch und durch Totenbahren und Särge, die vor

den Häusern herumstehen.

Der Wangser Kräuterpfarrer Johann Künzle, über die nachbarlichen Probleme

der drei Gemeinden Sargans, Wangs und Mels im

S. 29: Bild, prophezeite im frühen 20. Jahrhundert, dass diese im Laufe der Jahre zu

einer schönen Stadt zusammenwachsen werden. Bevor es aber so weit komme,

werde man eine grosse Mauer mittendurch bauen. Heute glaubt man, Pfarrer

Künzle habe nichts anderes als die Autobahn vor Augen gehabt. Die im

Räischybä wohnhafte Grossmutter einer Informantin in Walenstadt erzählte

ihren Enkelkindern, sie würden es erleben, dass feurige Pferde durchs Seeztal

herunterrasten, durch ein Loch im Innern des Berges verschwänden und erst in

Mols wieder herauskämen. Kein Mensch dachte damals an die Autobahn, die

heute auf dem Püüchel Nacht für Nacht dieses Schauspiel bietet. Ein alter

Mann meinte seinerseits: «Diä mached ä Tunäl bis uf Basel.»

Prophetische Möglichkeiten wurden gelegentlich auch am Küchentisch

erprobt. Ein Walenstadter Gärtner schnitt jeweils am Heiligen Abend eine

Zwiebel in zwölf gleich grosse Scheiben, legte sie nebeneinander auf ein

numeriertes Blatt Papier und streute etwas Salz darüber. Nach dem Besuch der

Mitternachtsmesse konnte er aus der Feuchtigkeit, welche die Unterlagen

aufgenommen hatten, die im kommenden Jahr zu erwartenden

Niederschlagsmengen ablesen.

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Ältere Frauen erinnerten sich noch des Liebes- und Eheorakels in der

Andreasnacht (30. November). Informationen der gleichen Art versprachen

sich die jungen Leute auch aus den Bewegungen der in einer mit Wasser

gefüllten Schüssel schwimmenden Wachslichtlein. Beim Bleigiessen waren es

die Formen des tropfenweise ins Wasser fallenden Bleis, die ein Werkzeug und

damit den Beruf des Zukünftigen andeuteten. Neben dem Andreastag und

Weihnachten galten im Sarganserland auch «di Zwölftä», die Tage zwischen

dem 25. Dezember und dem 6. Januar, als wichtige Lostage.

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Was der Menschheit noch bevorsteht

Zur mündlichen und schriftlichen Überlieferung gehören auch die in naher

oder ferner Zukunft liegenden eschatologischen Heimsuchungen, die der

Menschheit in der Geheimen Offenbarung des Johannes, im letzten Buch des

Neuen Testaments, vorausgesagt werden. Die Gewährsleute des ersten Bandes

der «Sagen aus dem Sarganserland»

S. 30: wussten noch, dass sich am Ende der Welt Sonne und Mond verfinstern

werden und dass sich Menschen und Tiere im Tal Josaphat zum Jüngsten

Gericht einzufinden haben. In vielen Haushaltungen wurden im Blick auf diese

Schreckenstage geweihte Kerzen aufbewahrt.

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Unter dem Eindruck der Kriegsjahre nahmen die älteren Leute die Mahnungen

der Kirche ernst. Das zeigt eine Erinnerung aus Mels. Als sich zwei ältere

Männer auf der Gartenbank über das Jüngste Gericht unterhielten, meinte die

Tochter des einen beiläufig: «Das würt au na ämoul ä Gflatter det härä, winn

dou alls zimmächunt.» Die beiden Männer gingen nicht auf die scherzhafte

Bemerkung ein. Das Jüngste Gericht im Tal Josaphat war ihnen eine

unabwendbare Realität und nur eine Frage der Vorzeichen und des Zeitpunkts,

an dem es stattfinden wird.

Das Spycherwybli, eine arme, allein stehende Frau in Quarten, hielt das

Weltende für gekommen, «…. wänn dänn d Lüt ämaal i all Bärg ufifaared, sei

ds Änd vu dr Wält nümä wyt». Wie das Spycherwybli dachten wohl auch

andere Nebenseer, die dem Fortschritt der neuen Zeit misstrauten. Das

Spycherwybli hätte anstelle der ihm noch unbekannten Autos auch die dem

Walensee entlang eröffnete Eisenbahn, die hohen Hüte der Männer an

Festtagen und die Hosen tragenden Frauen als Vorzeichen des Weltuntergangs

nennen können. Die Kapuziner des Klosters Mels und die in den

Schriftenständen der Kirchen aufliegenden Gebetszettel warnten die Gläubigen

mit den gleichen Worten vor dem um sich greifenden Abfall vom Glauben.

Den Abfall vom Glauben hielt man allgemein für das sicherste Vorzeichen des

Weltendes.

In Sargans soll beim Untergang der Welt die unter der Kirche schlummernde

Kröte erwachen und den auf grundlosem Wasser ruhenden Kirchturm wie bei

einem Erdbeben zum Einsturz bringen. Frühere Felsstürze am Gonzen lassen

die Sarganser befürchten, dass er am Ende der Welt in sich zusammenfallen

und alles unter sich begraben wird. Den Erzählenden geht es gleichzeitig aber

auch um die verheissene Reinigung der Welt von Fluch und Sünde, um den

versprochenen neuen Himmel und die neue Erde, das heisst um die von vielen

einfachen Leuten ein Leben lang vergeblich gesuchte Gerechtigkeit, von der es

he isst, dass sie den Verklärten am Jüngsten Gericht zuteil werden soll. Nach

den Sagen werden sich am Jüngsten Gericht die unversöhnt Verstorbenen vor

dem Richterstuhl Gottes einfinden. Christus wird in Herrlichkeit den Sieg des

Guten über das Böse herbeiführen. In Jerusalem wird der Ewige Jude Tod,

Ruhe und Erlösung finden.

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Da erscheint die Schreckensgestalt des Antichrist, der wie Christus Wunder

wirkt und die Herrschaft über die Welt an sich zu reissen versucht. Diese

Vorstellungen ersetzten im 19. und 20. Jahrhundert die früheren Ängste vor

langschweifigen Kometen, Naturkatastrophen und Ungeheuern.

Vom Ewigen Juden wussten die Gewährsleute der sechziger Jahre noch aus

dem Religionsunterricht, dass er zur Zeit Jesu Schuhmacher war in Jerusalem.

Als Jesus auf dem Kreuzweg das Kreuz vor seiner Werkstatt abstellen und sich

etwas ausruhen wollte, wies ihn der Schuhmacher barsch weg. Zur Strafe muss

er bis am Jüngsten Tag durch die Welt wandern. Nach den einen benötigt er

fünfzig und nach den andern hundert Jahre dafür. Jedenfalls kennt er sich in

den Tälern, Städten und Dörfern aus und weiss, wie sie vor Jahrhunderten

geheissen haben und wie viele Einwohner sie damals zählten. Angetroffen

wurde der Mann mit dem breitrandigen Hut, dem Pilgerstab und einem Sack

auf dem Rücken in Bad Ragaz, in Vadura, in Wangs, Mels und Tils sowie in

Balzers, wo er im «Engel» übernachtete. Er wünschte nichts als einen Tisch,

den man ihm in die Mitte der Schlafkammer zu stellen hatte. Ruhelos ging er

die ganze Nacht um den Tisch herum. Auf die Frage, woher er komme und

wohin er gehe, antworte der Ewige Jude: «Ich komme von Sonnenaufgang und

gehe bis Sonnenuntergang.» Im Sarganserland kommt er aus dem Bündnerland

und folgt dem Wasser in Richtung Zürich. Einem Vilterser, der in Bad Ragaz

Zeuge eines Gesprächs zwischen dem Ewigen Juden und einigen Kurgästen

wurde, fiel der Pilger auf, weil er das Wasser im Gehen abschlug und sein

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sonderbares Verhalten damit erklärte, dass er nicht einmal beim Wasserlösen

stehen bleiben dürfe. Aus diesem Grunde rückte man ihm auch in Wangs den

Tisch mitten in die Küche. So konnte er während der ganzen Nacht

weitergehen. In Wangs glaubt man die Gesichtszüge des Ewigen Juden bis

heute in der Silhouette des Baseggla-Grats zu erkennen. Auf einem

abgelegenen Ragazer Berggut, in

S. 31: der Chrinna, soll sich der Ewige Jude aber doch einmal kurz ausgeruht haben.

Zu verdanken hatte er diese Gunst einem Tiroler Holzer, der in den Stock einer

gefällten Tanne ein Jerusalemer Kreuz gehauen hatte. Der Tiroler wusste, dass

er dem Ewigen Juden damit einen Rastplatz bereitete.

Den Antichrist kannten die in den neunziger Jahren aufgesuchten

Gewährsleute kaum mehr dem Namen nach. In den fünfziger und sechziger

Jahren wussten ihre Eltern noch, dass es sich beim Antichrist um den grossen

Betrüger und Verführer am Ende der Welt handelt, der die Menschheit durch

falsche Wunderzeichen in seinen Bann zieht, mit Geld in Versuchung bringt

und vom Glauben abfallen lässt. Wer sich dem Antichrist anschliesse, hiess es

damals, gelange leicht zum Geld, wer es unterlasse, komme gnadenlos um.

Aus Furcht unterwerfe sich ihm schliesslich die ganze Welt. Das 1935 in

Flums zur Aufführung gebrachte Theaterstück «Antichrist und Weltgericht»

brachte die Schreckensgestalt ins Dorfgespräch. Die Gewährsleute sahen in ihr

den Menschen, der sich selber verherrlicht. Manche befürchteten, dass er

unerkannt schon lange unter den Menschen weile. Der Ausbruch des Zweiten

Weltkriegs sollte ihren Verdacht bestätigen. Fünfzig Jahre später meinte der

Melser Landwirt und Fuhrmann Louis Ackermann kurz und bündig: «Sy tuet

das nüt as dr Tüfel.»

Millenniumsängste und -hoffnungen heute

Älteren Kirchgängerinnen und Kirchgängern dürfte es kaum entgangen sein:

Das Endzeitliche oder Eschatologische ist im Vorfeld des dritten Jahrtausend

wieder ein Thema geworden. Runden Jahreszahlen wird auch seitens der

Kirche unerwartete Aufmerksamkeit geschenkt. Nach wie vor verlangt aber die

Bildersprache der Geheimen Offenbarung ein geduldiges Bemühen. Das

erschwert den allgemeinen Zudrang zu den Bildungsveranstaltungen.

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Den ausserhalb der Kirche angesiedelten, endzeitlich ausgerichteten

Glaubensgemeinschaften fällt es ungleich leichter, die zu erwartenden

Ereignisse einzuordnen und den individuellen Wünschen ihrer Adressaten

anzupassen. Neben die früheren Hausbesuche, Versammlungen und

Broschüren ist das Internet getreten. Den Interessenten wird eine

unüberschaubare Auswahl an Traktaten, Erzählungen und Prophezeiungen

zum Jahrtausendwechsel und zum Weltuntergang offeriert.

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Da ist beispielsweise zu erfahren, dass auf das Weltende fixierte

Geheimorganisationen in unterirdischen Laboranlagen am Austausch von

Kleinkindern arbeiten. Gemeint ist ein offenbar bislang von keiner Seite

bemerkter Austausch echter Kinder gegen geklonte Wesen.

Die Glaubensgemeinschaften bieten den «Surfern» natürlich die Hilfe ihrer

virtuellen Firmen an. Am Bildschirm ist die Rede von einem «reinsten

Menschen», der am Ende der Zeiten auf Erden kommen und die Welt erlösen

wird. Auch der Antichrist oder Satan scheut den Bildschirm nicht.

Aber hatten wir das nicht alles schon einmal, nur dass kein Computer auf dem

Tisch stand und kein Millennium angesagt war? Damals waren es doch Hexen

beziehungsweise der Schrättlig, der die Abwesenheit der Mütter nutzte, um

anstelle des Säuglings einen Wechselbalg in die Wiege zu legen. Und der

Antichrist, das geht aus den überlieferten Sagenstoffen hervor, ist auch nicht so

neu. Wirklich neu sind eigentlich nur die nach heutigen Ansprüchen

aufbereiteten Texte, Zeichen und Rituale der eschatologischen

Glaubensgemeinschaften und die weltweiten Verteilkanäle der

Millenniumsängste und -hoffnungen. Die Inhalte sind bekannt.

Quellennachweis Senti, Alois: Sagen aus dem Sarganserland, Bd. I, Basel 1974, und Bd. II, Basel 1998. Unter den Stichwörtern: Andreas, Apostel, Antichrist (unveröffentl. Nachlese), Bruder Klaus, Ende der Welt, Ewiger Jude, Gemsen, weisse, Ganzen, Hexen, Hexer, Himmelserscheinungen, Hungerjahre, Prophezeiungen, Russland, Russen, Tal Josaphat, Venedig, Venediger, Zweites Gesicht.

Alsheimer Rainer: Apocalypse now?, in: Schweiz. Archiv für Volkskunde, Basel 1999, S. 47 bis 59.

Internet-Bearbeitung: K. J. Version 02/2012 - - - - - - - -