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Unverkäufliche Leseprobe aus: Grundrechtereport 2013 Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch aus- zugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

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Unverkäufl iche Leseprobe aus:

Grundrechtereport 2013Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch aus-zugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Inhalt

Vorwort der HerausgeberRechtsextremismus und alltäglicher Rassismus13

EinleitungHeiner BuschBetriebsunfall NSU? Falsche Interpretationenund übliche Lösungen

16

Die Würde des Menschen ist unantastbar (Art. 1 I)

Wolfgang KaleckEin bitterer SiegEuropäischer Gerichtshof für Menschenrechte urteilt:Menschenrechte von El Masri wurden verletzt

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Marei PelzerMenschenwürdiges Existenzminimumauch für Asylsuchende

26

Franziska DrohselDas Recht auf ein menschenwürdiges ExistenzminimumBundesverfassungsgericht soll erneut entscheiden

30

Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seinerPersönlichkeit (Art. 2 I)

Phillip HofmannDie Sammelleidenschaft von Facebook:Kein schönes Hobby, ein fragwürdiges Geschäft

34

Johann StraußBrüder, zur Sonne, zu Facebook?39

Sönke HilbransKampf gegen Rechts gegen das GrundgesetzUndemokratische »Sicherheitsarchitektur« verletztFreiheitsrechte

44

Sven LüdersBehördeninternes Ordnungsmerkmal oderPersonenkennzeichen?Der Bundesfinanzhof verwirft Musterklagen gegendie Steueridentifikationsnummer

47

Udo KaußBeobachtung von Polizeieinsätzen erlaubt51

Rolf GössnerPeinliche Ausforschung der Privatsphäre»Scheinehe«-Ermittlungen gegen binationale Ehepaare

55

Jeder hat das Recht auf Leben und körperlicheUnversehrtheit (Art. 2 II)

Heike KleffnerNicht nur im (nationalsozialistischen) »Untergrund«Zwei bis drei rechte Gewalttaten täglich

60

Angelika LexDas Recht auf körperliche Unversehrtheit gilt auchbei Begegnungen mit der Polizei

64

Jörg ArnoldDrohnen töten deutsche Staatsangehörige in PakistanTötungen durch Drohnen als völkerrechtswidrige»Selbstverteidigung«

68

Mario Bachmann / Ferdinand GoeckInsel außer KontrolleKarlsruher Rüffel für die Sicherungsverwahrung

74

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich (Art. 3)

Wilhelm AchelpöhlerVerbot der Straßenprostitution zur Migrationsabwehr79

Sophie RotinoRacist Profiling bei der deutschen BundespolizeiStichproben nach dem äußeren Erscheinungsbild

83

Sigrun KrauseEin Denkzettel reicht noch nichtEine Initiative gegen strukturellen Rassismus wirdkriminalisiert

87

Eberhard EichenhoferErziehungs- und Elterngeld für Migrantinnen undMigranten mit humanitärem Aufenthaltsrecht

91

Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutzeder staatlichen Ordnung (Art. 6 I–IV)

Heiko Kauffmann / Kai WeberWie die niedersächsische AbschiebungspolitikFamilien zerstört

96

Anna LübbeEhegattennachzug und kein EndeUngeordneter Rückzug in Sachen Sprachkenntnisse-Erfordernis

100

Alle Deutschen haben das Recht, sich zu versammeln(Art. 8 I, II)

Elke StevenFrankfurt ohne Grundrecht auf Versammlungsfreiheit105

Martin HeimingFrankfurter Kranz – Keine TeestundeExzessive Platzverweise gegen Blockupy-Demonstranten

109

Falko BehrensBlockaden gegen Nazidemos dürfen geübt werdenMünsteraner Gericht stärkt Recht auf friedlichenWiderstand

113

Peer Stolle»Nur zur Lenkung und Leitung eines Polizeieinsatzes«Videoüberwachung bei Versammlungen

117

Alle Deutschen haben das Recht, Vereine undGesellschaften zu bilden (Art. 9 I–III)

Udo MayerDer marktkonforme StreikFolgen der EuGH-Rechtsprechung auf das Streikrecht

121

Till Müller-HeidelbergKirchliches Sonderarbeitsrecht bröckelt126

Volker EickGemeinnutz von Geheimdiensts GnadenVerfassungsschutz bleibt Mitentscheider beiFörderfähigkeit von Vereinen

129

Ursula Mende…so bleibst du ein »Verfassungsfeind«Auf die Einstellung kommt es an – VDJ in Thüringenauf dem Gesinnungsindex

133

Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatzund Ausbildungsstätte frei zu wählen (Art. 12)

Wilhelm AchelpöhlerStudienplätze nur für AuserwählteStreit um Numerus clausus wieder beim Bundes-verfassungsgericht

137

Politisch Verfolgte genießen Asylrecht (Art. 16 a)

Günter BurkhardtPolitisch Verfolgte genießen Asylrecht20 Jahre Änderung des Grundrechts auf Asyl

143

Matthias LehnertDiskret homophobSexuelle Orientierung als flüchtlingsrechtlicherVerfolgungsgrund

147

Hubert HeinholdKinder in Not und ohne ZukunftUnbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland

151

Marei PelzerWahlkampf auf dem Rücken von MinderheitenSonder(asyl)verfahren für Roma und populistischeGesetzgebung

156

Der Rechtsweg steht offen (Art. 19 IV)

Johanna WintermantelInternationaler Gerichtshof: Staaten immunbei Verletzungen von Menschenrechten

161

Die Bundesrepublik ist ein demokratischer undsozialer Bundesstaat (Art. 20 I)

Onur Ocak / Andreas FisahnBundesverfassungsgericht auf dem Wegin die nationalegoistische Sackgasse –Politische Demokratie in Gefahr

167

Die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechungsind an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 III)

Klaus HahnzogUnglaubliche Bespitzelungsaktion des BayerischenVerfassungsschutzes

174

Gabriele HeineckePiraten-Recht?178

Ulrich EngelfriedRecht auf Krankheit / Zwang zur Gesundheit?Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie

182

Peter KalmbachDemokratischer Rechtsstaat und Militärjustiz?Einführung einer Schwerpunktstaatsanwaltschaftrechtspolitisch bedenklich

187

Fanny-Michaela Reisin / Dirk VogelskampDer Freiheit beraubt und verbranntDer Verbrennungstod Oury Jallohs im Polizeigewahrsamzum zweiten Mal vor Gericht

191

Die Bundesrepublik wirkt bei der Entwicklungder Europäischen Union mit (Art. 23 I)

Frank SchreiberAll about EFA?Das Verwirrspiel um den Arbeitslosengeld-II-Anspruchvon Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern

196

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sindVertreter des ganzen Volkes (Art. 38)

Christoph GusyWer kontrolliert wen?Die Abgeordneten den Verfassungsschutz oderder Verfassungsschutz die Abgeordneten?

201

Anhang

Bürger- und Menschenrechtsorganisationenin Deutschland (Auswahl)

207

Kurzporträts der herausgebenden Organisationen216Autorinnen, Autoren, Redaktion229Abkürzungen235Sachregister239

13

Vorwort der Herausgeber

Rechtsextremismus undalltäglicher Rassismus

»Das Treiben der Verfassungsschutzämter steht im Fokus derÖffentlichkeit: Auf dem rechten Auge bestenfalls blind, aufdem linken Auge hyperaktiv bis wahnhaft« – so formuliertenwir im Vorwort des letztjährigen Grundrechte-Reports. DiesenBefund müssen wir für den aktuellen Berichtszeitraum 2012erneut stellen – und er hat sich sogar noch verschlimmert. Ver-kehrte Welt: Statt dass der Verfassungsschutz – was seine Auf-gabe sein soll – mörderische neonazistische Umtriebe rechtzei-tig aufklärt, versuchen mehrere Untersuchungsausschüsse auf-zuklären, was der Verfassungsschutz tatsächlich in Sachen»Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) und seinem Um-feld in den letzten Jahren getrieben hat. Sie stehen dabei man-ches Mal fassungslos vor den Schnipseln geschredderter »Tä-tigkeitsnachweise«. Fünf Präsidenten von Sicherheitsbehördensind im Laufe des Jahres – folgerichtig – zurückgetreten. Die-sen Weg konsequent bis ans Ende zu gehen und den Verfas-sungsschutz abzuschaffen, diese Notwendigkeit wird von denpolitischen Stellen aber nicht einmal als Frage diskutiert. Statt-dessen wird, der übliche Reflex, weiter an der »Sicherheitsar-chitektur« gebaut, die förmlich eine barocke Renaissance er-lebt. Dazu liefert der Einleitungsartikel »Betriebsunfall NSU?«,den wir für den Berichtszeitraum 2012 wichtig, ja unumgäng-lich fanden, notwendige Fragen und Antworten. Dazu ergän-zend beleuchtet der Artikel »Kampf gegen Rechts gegen dasGrundgesetz« einen vorgeblichen Wehrturm dieser Architek-tur: die neue Rechtsextremismus-Datei (siehe S. 44 ff.).

Es kann nicht verwundern, dass der kurzatmige Umgang derhöchsten politischen Stellen mit dem Thema Rechtsextremis-mus den alltäglichen Rassismus gegen Migranten auf der Stra-ße, in Institutionen wie vor allem Ausländer- und Polizeibehör-

Vorwort der Herausgeber14

den geradezu herausfordert und gleichzeitig absegnet. Zudemist es ja offenbar gar nicht Kurzatmigkeit, wenn man gleichzei-tig feststellt, dass es auch in anderen Bereichen eine gezielte,sogar gesetzlich vorgesehene Diskriminierung von Migrantengibt. So hat das Bundesverfassungsgericht, nach bald 20 Jahrenendlich, im Jahre 2012 geurteilt, dass gekürzte Sozialleistungenan Asylsuchende nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ver-fassungswidrig sind, weil der übliche Hartz-IV-Satz sowiesoschon nur das Existenzminimum darstellt – weniger als Mini-mum geht nicht (siehe S. 26 ff. und S. 30 ff.).

Jedenfalls müssen wir feststellen, dass, ganz ohne unser Zutun,dieses Thema in all seinen Facetten mit insgesamt mehr alseinem Dutzend Artikeln inhaltlicher Schwerpunkt dieses Re-ports geworden ist – und damit auch die traurige Realität imLand spiegelt. Das reicht von der Abschaffung des Asylrechts,auf dessen 20. Todestag jetzt im Jahre 2013 wir schon einmalvorausgeblickt haben (siehe S. 143 ff.) über die Sonderbehand-lung von asylsuchenden Roma (siehe S. 156 ff.) bis zur gericht-lichen Aufarbeitung des Verbrennungstods von Oury Jalloh imPolizeigewahrsam (siehe S. 191 ff.).

Mit dem letzten Artikel in diesem Report kehren wir zum Ver-fassungsschutz zurück und stellen fest, dass er auf dem linkenAuge nach wie vor »hyperaktiv« ist und überwacht, was dasZeug hält, wobei er nicht einmal vor Abgeordneten des Deut-schen Bundestags Halt macht (siehe S. 201 ff.). Das Tüpfelchenauf dem i, eine wahre Posse, wenn es im Gesamtzusammen-hang nicht gleichzeitig wieder ein verheerendes Signal darstell-te: Dem Verfassungsschutz sollte, per Gesetz, übertragen wer-den, über die Gemeinnützigkeit von Vereinen zu entscheiden.Listet er einen solchen Verein in seinen jährlichen Verfassungs-schutzberichten als extremistisch, sollte dieser gegenüber demFinanzamt automatisch die Gemeinnützigkeit verlieren, ohneMöglichkeit eines Rechtsmittels; überflüssig festzuhalten, dasses da natürlich wieder hauptsächlich Vereine im linken Spekt-rum getroffen hätte und dabei ausgerechnet solche, die sichmit ihrer antifaschistischen Arbeit dem alltäglichen Rassismus

Rechtsextremismus und alltäglicher Rassismus 15

entgegenstellen. Energischer Widerstand von mehr als 100 bür-gerrechtlich bewegten Organisationen konnte dieses Gesetz inletzter Minute verhindern (siehe S. 129 ff.).

Abschließend ist eins klar: Der Verfassungsschutz ist gründlichdiskreditiert. Die Verfassungsschutzberichte sind das Papiernicht wert, auf dem sie stehen; sie gehören geschreddert. DerGrundrechte-Report, der jährlich die Verfassungswirklichkeitin unserem Land beleuchtet und gern als »alternativer Verfas-sungsschutzbericht« apostrophiert wird, hat ab sofort dieseBezeichnung hinter sich gelassen. Es gibt keine Alternativemehr. Er ist der einzige.

16

Einleitung

Heiner Busch

Betriebsunfall NSU? Falsche Interpretationenund übliche Lösungen

Der »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU) und die Arbeitder »Sicherheitsbehörden« beschäftigen derzeit einen Untersu-chungsausschuss des Bundestages und drei weitere in den Land-tagen Thüringens, Sachsens und Bayerns. Mehrere Hunderttau-send Blatt Akten hat der Bundestagsausschuss inzwischenzusammengetragen, dutzende Zeugen wurden vernommen.Ständig erzeugte der große Skandal neue kleinere: Akten, diegeschreddert wurden, V-Leute aus dem Umfeld der Gruppe, diedie Verfassungsschutzämter oder – im Falle Berlins – der poli-zeiliche Staatsschutz des Landeskriminalamtes (LKA) dem Aus-schuss zu benennen »vergaßen«, Informationen, die nicht wei-tergegeben wurden. Die Aufklärung, so scheint es, nimmt ihrenLauf.

Dennoch besteht die Gefahr, dass auch der Fall NSU, wie soviele Geheimdienstskandale zuvor, ohne angemessene Folgen imSande verläuft, die Politik der »inneren Sicherheit« zur Tages-ordnung zurückkehrt und der Verfassungsschutz am Ende nochausgebaut wird. Zum einen, weil die Öffentlichkeit nach denzeitweise fast täglichen Enthüllungen den Überblick und das In-teresse zu verlieren droht; zum anderen, weil im kommendenHerbst 2013 gewählt wird und der Untersuchungsausschuss desBundestages die eigentliche Untersuchung allerspätestens vorder Sommerpause beenden und seinen Bericht produzierenmuss, damit noch in dieser Legislaturperiode eine – abschließen-de – Debatte im Plenum stattfinden kann. Die etablierten Partei-en werden das Thema aus dem Wahlkampf heraushalten wollen.Der NSU-Skandal könnte also allenfalls noch durch die Aus-schüsse der Landtage am Köcheln gehalten werden.

Betriebsunfall NSU? 17

Nichts als Pannen?

Die Gefahr, dass der NSU-Skandal ohne ernsthafte Folgenbleibt, ist umso größer, als die Bundesregierung, die »Sicher-heitsbehörden« selbst und die etablierten Parteien sich längstauf eine Interpretation des Falles festgelegt und erste Folgerun-gen daraus bereits in institutionelle und gesetzliche Formen ge-gossen haben. Der Fall NSU sei zwar eine gravierende »Nieder-lage der Sicherheitsbehörden«, letztlich aber doch nur einBetriebsunfall gewesen, eine Serie von schlimmen Pannen, de-ren Ursachen in mangelnder Kommunikation und Kooperati-on zwischen Bund und Ländern, zwischen Polizeibehördenund Geheimdiensten zu suchen seien.

Sicher: Pannen hat es reichlich gegeben: Es waren großen-teils Pannen mit System. Mindestens 17 V-Leute der Landes-ämter und des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Militä-rischen Abschirmdienstes und des polizeilichen Staatsschutzeswaren im Umfeld des NSU und des »Thüringer Heimatschut-zes«, aus dem das Trio hervorging, aktiv. Das V-Leute-Systemgehört zur Quintessenz der geheimdienstlichen und polit-poli-zeilichen Arbeit. Der damit verbundene Quellenschutz – imKlartext: die Geheimhaltung auch gegenüber anderen Behör-den – wurde und wird regelmäßig über die Strafverfolgungund die Fahndung gestellt (und erst recht über die parlamenta-rische Aufklärung). Dass auch V-Leute angeworben wurden,die in Neonazi-Organisationen eine eindeutige Führungsrolleinnehatten, die ohne jeden Zweifel die politischen Positionenihrer Gruppen weitervertraten, die auch Straftaten begingenoder begangen hatten, die zum Teil einen enormen Finanzbe-darf für sich selbst und ihre Gruppen hatten und für dessenDeckung teils horrende Summen als Honorar erhielten – dasalles mag den offiziösen Handbüchern zum Verfassungsschutz-recht und den offiziellen Vorschriften, die für das Bundesamtund einige Landesämter damals schon galten, zuwiderlaufen.Es entspricht jedoch der Dynamik des V-Leute-Systems. Dennsowohl die Verfassungsschutzämter als auch die Staatsschutz-abteilungen der Polizei sind daran interessiert, möglichst Inter-na aus den von ihnen überwachten Organisationen zu erhal-

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ten – und die erwarten sie am ehesten von Leuten, die zu deninneren Zirkeln gehören, die wegen ihrer kriminellen Vorge-schichte eine entsprechende Glaubwürdigkeit bei ihren »Ka-meraden« haben.

Das ist aber nicht alles: Das »Frühwarnsystem«, als das sichder Verfassungsschutz gerne verkauft, hat das Gewaltpotenzialder Neonazi-Szene systematisch falsch eingeschätzt. Im Verfas-sungsschutzbericht des Bundes für 2010, der nur wenige Mo-nate vor der (Selbst-)Aufdeckung des NSU erschien, ist die Re-de von der »Affinität« der Neonazis zu Waffen, von einer»latenten« und »prinzipiellen Bereitschaft zur Anwendung vonGewalt gegen politische Gegner und andere Personen«. Aller-dings, so heißt es weiter: »Die Anwendung systematischer Ge-walt wird aber nach wie vor weitgehend abgelehnt.« Obwohldie Polizei bei Razzien immer wieder Waffen und Bomben beiNeonazis fand, blieben diese in den Augen des Inlandsgeheim-dienstes weiterhin bloße Waffennarren.

Was für den Verfassungsschutz gilt, das trifft in ähnlicherWeise auch für die Polizei zu: Der Aufwand zur Ermittlung inder Mordserie an den Gewerbetreibenden türkischer bzw. grie-chischer Herkunft war durchaus hoch. Sieben Sonderkommis-sionen gab es quer durch die Republik, die durch eine »Steue-rungsgruppe« unter Beteiligung des Bundeskriminalamtes(BKA) koordiniert wurden. Allein an der Besonderen Aufbauor-ganisation »Bosporus« in Nürnberg waren 160 Beamte und Be-amtinnen beteiligt. »3500 Spuren, 11 000 Personen und Millio-nen Datensätze von Handys und Kreditkarten« seien im Zugeder Ermittlungen überprüft worden, resümierte das Nachrich-tenmagazin »Der Spiegel« im Februar 2011.

Gescheitert sind die Ermittlungen jedoch nicht, weil dieLänder um die Führungsrolle stritten und eine Übernahmedurch das BKA verhinderten, sondern weil sie in die falscheRichtung geführt wurden. Die Polizei schloss eine rechtsextre-me Täterschaft von Anfang an aus. Sie suchte nach Verbindun-gen der Ermordeten ins kriminelle Milieu. Erst 2006 vermute-ten bayerische Profiler einen rassistischen Hintergrund,konnten sich aber mit ihrer Auffassung weder beim BKA nochbei den Sonderkommissionen der anderen Länder durchsetzen.

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»Düstere Parallelwelt« ist der zitierte »Spiegel«-Artikel von2011 überschrieben und gibt damit nicht nur die unter den»Fahndern« vorherrschende Meinung, sondern auch das Bildder (Medien-)Öffentlichkeit wieder: jenes der in kriminelle Ma-chenschaften verwickelten Einwanderer, die zwar Opfer, abergleichzeitig Mitschuldige sind.

Weiter bauen an der »Sicherheitsarchitektur«

Wer die Ursachen für das Versagen der »Sicherheitsbehörden«jedoch nur im Mangel an Koordination und Informationsaus-tausch verortet, zieht auch entsprechende politische Schluss-folgerungen. Noch mehr Zusammenarbeit von Polizei undGeheimdiensten lautete die erste. Vorbild dafür waren das Ge-meinsame Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) und die Anti-terrordatei (ATD). Das Gemeinsame Abwehrzentrum Rechts-extremismus (GAR), in dem die BKA-Staatsschutzabteilung inMeckenheim und das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutzdie Führungsrollen einnehmen, nahm schon im Dezember 2011seinen Betrieb auf; die Rechtsextremismus-Datei (RED), in derPolizeien und Dienste aus Bund und Ländern ihre einschlägigenErkenntnisse speichern sollen, folgte im September 2012, nach-dem der Bundestag das Gesetz verabschiedet hatte. Dass mitder Datei nur solche Informationen zusammengeführt und aus-gewertet werden können, die zuvor unter dem Label »Rechts-extremismus« erfasst wurden, was bei den NSU-Morden undAnschlägen eben nicht geschehen ist – wen kümmert’s?

Klar ist mittlerweile auch, dass der Verfassungsschutz ausder NSU-Krise gestärkt hervorgehen wird. Anfang Dezember2012 beschloss die Innenministerkonferenz (IMK) seine »Neu-ausrichtung«. In der Presseerklärung des Innenministers vonMecklenburg-Vorpommern, der 2012 den IMK-Vorsitz inne-hatte, taucht der NSU nur noch unter »aktuelle Ereignisse« auf.Das Bundesamt für Verfassungsschutz erhält mehr Gewicht: Essoll von den Landesämtern »unverzüglich« mit allen relevantenInformationen zu allen »Phänomenbereichen« des »Extremis-mus« versorgt werden und die Auswertung zentral vornehmen.Es erhält zudem eine Koordinierungsfunktion. Im Nachrichten-

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dienstlichen Informationssystem (NADIS) des Verfassungs-schutzes, das neu NADIS-Wissensnetz heißt, sollen nun alle Da-ten im Volltext gespeichert werden. Geeinigt hat man sichschließlich auch auf eine stärkere Überwachung des Internetund auf eine zentrale V-Mann-Datei.

Die Neuausrichtung des Verfassungsschutzes sowie die Plä-ne der IMK, die Anti-Terror- und die gerade erst errichteteRechtsextremismus-Datei »analyse- und recherchierfähig« zumachen, dürften diverse Gesetzesänderungen erforderlich ma-chen. Von der derzeit noch in der Opposition wartenden SPDwird da kaum Widerstand kommen. Sie will »den Verfassungs-schutz fit machen für den Schutz der Demokratie.«

Ein Ende des V-Leute-Systems oder gar eine vollständigeAbschaffung der Ämter kommt für die Staatsparteien, die denInlandsgeheimdienst für sein Versagen in Sachen NSU mit Fit-nessprogrammen und Wellnesskuren belohnen wollen, nicht inFrage. Ein Jahr nach dem Auffliegen der Neonazi-Truppe sindzwar die Untersuchungsausschüsse immer noch mit der Auf-klärung des Geschehens befasst, die etablierte Politik der inne-ren Sicherheit ist hingegen wieder im gewohnten alten Fahr-wasser gelandet. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrichhat dafür Mitte November den schlagenden Beweis erbracht:Er gliederte das noch nicht einmal ein Jahr alte GAR in einneues Gemeinsames Extremismus- und Terrorismusabwehr-zentrum (GETZ) ein, mit dem nun Geheimdienste und Polizeiauch gegen »Linksextremismus«, »Ausländerextremismus«,Spionage und Proliferation kooperieren sollen. Ansonstenbleibt von der »entschlossenen Bekämpfung des Rechtsextre-mismus« nur ein erneuter NPD-Verbotsantrag, der an der Re-alität des Rassismus in diesem Land nichts ändern wird.

Kampf gegen Rechts, aber wie?

Eine Alternative zu diesem Programm setzt nicht auf den wei-teren Ausbau geheim(dienstlich)er Überwachung, sondern zumeinen auf eine offene politische Auseinandersetzung sowohlmit den rechten und rechtsextremen politischen Gruppierun-gen als auch mit dem alltäglichen und dem institutionellen

Betriebsunfall NSU? 21

Rassismus. Das notwendige Wissen für diese gesellschaftlicheAuseinandersetzung, auch das Detailwissen über rechte Orga-nisationen und Seilschaften, ist vorhanden – u. a. bei jenen an-tifaschistischen Gruppen, Archiven und Bildungszentren, diewegen ihres Engagements vom Verfassungsschutz überwachtund als »Linksextremisten« abgestempelt werden. Den Verfas-sungsschutz braucht es für diese gesellschaftliche Auseinander-setzung nicht. Ihn abzuschaffen ist das Gebot der Stunde.

Das Problem rechter Gewalt besteht nicht in einer Gefähr-dung der »freiheitlichen demokratischen Grundordnung« oderdes »Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Län-der« – so die Floskeln der Verfassungsschutzgesetze. Weil hiernicht die staatliche Sicherheit und Ordnung bedroht sind, son-dern das Leben, die Gesundheit und die Bewegungsfreiheit derAngehörigen von Minderheiten, braucht es zum zweiten einePolizei, die das Vertrauen und die Mithilfe der Betroffenensucht, auch wenn sie keinen deutschen Pass haben und sichnicht im politischen und gesellschaftlichen Mainstream bewe-gen. Das kann nur gelingen, wenn sie ihr eigenes diskriminie-rendes Verhalten gegenüber diesen Minderheiten und ihren in-stitutionalisierten Rassismus beendet. Eine Polizei, die ihre»verdachtsunabhängigen« Kontrollen systematisch an derHautfarbe oder dem »ausländischen Aussehen« orientiert,stellt Immigranten und Asylsuchende unter Generalverdacht.Sie ist Teil des Problems und nicht Teil der Lösung.

Und drittens schließlich braucht es eine Politik, die Rassis-mus und Rechtsextremismus nicht erst dann als Problemwahrnimmt, wenn der Standort Deutschland und das Ansehender Bundesrepublik Deutschland im Ausland gefährdet sind.Eine Politik, die ständig vor »unkontrollierter Zuwanderung«warnt und das Ausländerrecht verschärft, bleibt unglaubwür-dig, auch wenn sie den »Aufstand der Anständigen« ausruftwie Bundeskanzler Gerhard Schröder Anfang des letzten Jahr-zehnts, oder Betroffenheitsbekenntnisse gegenüber den Opferndes NSU ablegt wie Bundeskanzlerin Angela Merkel im ver-gangenen Jahr 2012.

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Die Würde des Menschen ist unantastbarArt. 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zuachten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichenGewalt.

Wolfgang Kaleck

Ein bitterer SiegEuropäischer Gerichtshof für Menschenrechte urteilt:Menschenrechte von El Masri wurden verletzt

Nach fast acht Jahren vergeblicher juristischer Bemühungen infünf Staaten konnten der deutsche Staatsbürger Khaled ElMasri und seine US-amerikanischen Anwälte am 13. Dezember2012 einen historischen Sieg vor dem Europäischen Gerichts-hof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg verbuchen. DieGroße Kammer verurteilte die Ehemalige Jugoslawische Repu-blik Mazedonien wegen ihrer Beteiligung an der Folter, will-kürlichen Festnahme und unmenschlicher Behandlung bei ElMasris Festnahme in Skopje, der mazedonischen Hauptstadt,am 31. Dezember 2003. Von dort wurde er anschließend vonCIA-Agenten nach Afghanistan entführt und ohne Angabe vonGründen am 29. Mai 2004 nach Albanien verbracht und frei-gelassen. Es war das erste Urteil des Straßburger Gerichtesüber die Praktiken des US-Geheimdienstes im Rahmen desExtraordinary Rendition-Programms. Weitere Fälle sind gegenPolen und Litauen anhängig, da die USA Geheimgefängnisse inbeiden Staaten unterhielten, in denen Terrorismusverdächtigefestgehalten und teilweise gefoltert wurden.

Das Urteil erfuhr nicht nur in Deutschland und Europa,sondern in den USA große Aufmerksamkeit. Dort hatte ElMasri mehrfach vergeblich versucht, die Hauptverantwortli-chen für seine Odyssee, die US-Regierung und die CIA, zur

Ein bitterer Sieg 23

Verantwortung ziehen zu lassen. Doch obwohl die Fakten inseinem Fall weltweit bekannt und weitgehend gesichert sind,wiesen US-Gerichte seine Klagen mit der absurden Begründungab, seine Entführung und Misshandlung stelle ein Staatsge-heimnis dar (state secrets privilige). In Spanien fanden immer-hin umfangreiche Ermittlungen statt, da die CIA-Entführungs-flüge in diesem und anderen Fällen vom Flughafen Mallorcaaus durchgeführt wurden. Die Ergebnisse dieser Ermittlungengingen in die Arbeit der Staatsanwaltschaft München ein, diezuständig ist, weil El Masri Deutscher ist (sogenanntes passivesPersonalitätsprinzip). Das Amtsgericht München erließ zwarHaftbefehle gegen 13 an der Entführung mutmaßlich beteiligteCIA-Agenten. Doch die Bundesregierung verzichtete darauf,gegenüber den USA auf die Auslieferung der Tatverdächtigenzu drängen. Mazedonien und Albanien blockten von Anfangan jegliche Bemühungen von Anwälten und Menschenrechts-organisationen ab, die Straftaten aufzuklären und gerichtlichzu ahnden.

Imposantes Sündenregister

Nun hat es also das schwächste Glied in dieser Kette in Straß-burg erwischt: Mazedonien. Hinsichtlich des Sachverhaltesfolgte der EGMR der Darstellung des Klägers, der die Ereignis-se ausführlich und widerspruchsfrei geschildert hatte. Mazedo-nien hatte bis zuletzt entgegen der soliden Dokumentationdeutscher und europäischer Stellen die Fakten bestritten. DerEGMR stellt mehrere Verstöße gegen Artikel 3 der Europäi-schen Menschenrechtskonvention (EMRK) fest und zwar we-gen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung durch ei-ne 23-tägige Isolationshaft in einem Hotel in Skopje undwegen Folter durch Prügel und Vergewaltigung am Flughafenin Skopje. Durch die Überstellung von El Masri an die USA seier zudem der Gefahr weiterer Verstöße gegen Artikel 3 ausge-setzt gewesen. Auch die mangelhafte Untersuchung der Vorfäl-le durch Mazedonien verletzt Artikel 3. Dazu kommen nochVerstöße gegen Artikel 5 wegen des fehlenden gerichtlichenHaftbefehls, gegen das Recht auf Privat- und Familienleben

Wolfgang Kaleck24

nach Artikel 8 und gegen das Recht auf wirksame Beschwerdenach Artikel 13 EMRK. Ein imposantes Sündenregister also.Kein Wunder, dass vor allem die US-Juristen positiv auf dasUrteil reagiert hatten, die seit über elf Jahren vergeblich ver-suchten, vor US-Gerichten auf die Einhaltung scheinbar selbst-verständlicher Bürger- und Menschenrechte zu klagen.

So spricht Scott Horton vom »Harper’s Magazine« von ei-nem wegweisenden Ereignis, weil erstmals ein hochrangigesGericht mit juristischer Bindungskraft die routinemäßig vonder CIA verwandten Praktiken rechtlich als Folter einordne.Horton fordert, dass sich US-Präsident Barack Obama auf derGrundlage der Gerichtsentscheidung entschuldigt, eine Ent-schädigung sowie medizinische Behandlung für El Masri anbie-tet und erklärt, dass die CIA diese und ähnliche Maßnahmennicht mehr anwende. Doch es ist kaum zu erwarten, dass dieUS-Regierung diesem Begehren nachkommt oder sich gar ent-schließt, die beteiligten Agenten und deren Vorgesetzte strafzu-verfolgen. So wird es also in den nächsten Jahren bei demZustand weitestgehender Straflosigkeit der Menschenrechts-verletzungen der USA bleiben, es sei denn, die Tatverdächtigenreisten in den Einzugsbereich des Europäischen Haftbefehlsoder in solche Länder, von denen aus eine Auslieferung nachDeutschland oder anderswo möglich wäre.

Mehr Schutz gegen Folter

Doch das Urteil entfaltet nicht nur innerhalb der USA Spreng-kraft. Die klaren juristischen Ausführungen zu Arti-kel 3 EMRK, insbesondere zu Folter, werden in vielen anhängi-gen Verfahren zu den Geheimgefängnissen in Polen undLitauen sowie zu den Praktiken der britischen Streitkräfte beider Gefangenenbehandlung in Irak eine große Rolle spielen.Schon am 25. September 2012 hatte der Straßburger Gerichts-hof im Fall El Haski gegen Belgien den europäischen Strafver-folgungsbehörden Grenzen im Umgang mit Informationen ge-setzt, die mutmaßlich durch Folter erlangt wurden. Der ausMarokko stammende El Haski war von einem Brüsseler Ge-richt wegen terroristischer Straftaten auf der Grundlage von

Ein bitterer Sieg 25

Beweisen verurteilt worden, die die marokkanische Polizei denBelgiern übermittelt hatte. Die belgische und die britischeRegierung hatten in Straßburg vertreten, dass El Haski den vol-len Nachweis hätte erbringen müssen, dass die Beweise unterEinsatz von Folter gewonnen wurden. Der EGMR wandte dem-gegenüber einen deutlich niedrigen Beweisstandard an. In Ma-rokkos Gefängnissen würden Terrorismusverdächtige regelmä-ßig gefoltert, daher bestünde eine reelle Gefahr, dass dies auchim Falle der Aussagen der Fall war, die zur Verurteilung El Has-kis führten. Innerhalb weniger Wochen fällten die StraßburgerRichter somit zwei Urteile, die den rechtlichen Schutz vor Fol-ter deutlich verbessern.

Khaled El Masri wird sich über das Urteil vom 13. Dezem-ber 2012 und die dort ausgesprochene Entschädigung von60 000 Euro für den immateriellen Schaden dennoch wenigfreuen. Für ihn kommen sowohl die Entschädigung als auchdie Genugtuung zu spät, er erlebte die Urteilsverkündung inder Justizvollzugsanstalt in Kempten. Die unbarmherzige bay-rische Justiz hatte den Mann, obschon durch die Folter unddie erlittene Behandlung traumatisiert, wegen Körperverlet-zung und anderer Delikte zu insgesamt über drei Jahren Haftverurteilt. El Masri hat den bis dahin bestehenden guten Kon-takt zu den ihn unterstützenden Menschenrechtorganisationenin der Haft abgebrochen und auch von den noch laufendenGerichtsverfahren nichts erwartet. So wertvoll also der Urteils-spruch aus Straßburg für die juristischen Debatten um Folterund für die Folterprävention in der Zukunft sein mag, als Ge-rechtigkeit für Khaled El Masri wird man ihn dennoch nichtansehen können.

LiteraturEuropean Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR),

Folter und die Verwertung von Informationen bei der Terroris-musbekämpfung. Die Fälle Kurnaz, Zammar und El Masri vordem BND-Untersuchungsausschuss, Berlin 2011

Steiger, Dominik, Die CIA, die Menschenrechte und der Fall KhaledEl Masri, Potsdam 2007