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Unverkäufliche Leseprobe aus: Sergi Doria Das Barcelona von Carlos Ruiz Zafón Spaziergänge durch eine erzählte Stadt Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustim- mung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

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Das Barcelona von Carlos Ruiz Zafón

Unverkäufliche Leseprobe aus:

Sergi DoriaDas Barcelona vonCarlos Ruiz ZafónSpaziergänge durch eine erzählte Stadt

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text undBildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustim-mung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Diesgilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzungoder die Verwendung in elektronischen Systemen.© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Inhalt

Vorwortvon Sergio Vila-Sanjuán 7

EinführungGebrauchsanweisung füreine literarische Stadt 27

Die Romane und ihre Spaziergänger 33

Routen in Carlos Ruiz Zafóns Barcelona

Weiterführendes zu Carlos Ruiz Zafón 261

Abbildungsnachweise 283

Rund um die RamblasDer Friedhof der

Vergessenen Bücher 45

Plaza de Cataluña –Universität – Ensanche

Intrigenbüros 171

Das RavalStimmen ohne

Himmel 89

Pedralbes – Sarriá –Vallvidrera – TibidaboDie geheimnisvollen

Villen 199

Das Gotische ViertelDas Labyrinth der

Geister 119

Die nekropolitanischeErinnerung

Totengeschäft 227

Ribera – Ciudadela – Bar-celoneta Die Paläste derreichen Heimkehrer 135

Des Schöpfers SchattenDer Charme

des Modernismus 249

Das Barcelona von Carlos Ruiz Zafón

Die Ramblas waren einmal – und sind es jetzt nichtmehr – die Eingangstür zu jenem alten Barcelona, das bisvor mindestens dreißig Jahren jeder Veränderung wi-derstand, wie immer man das beurteilen mag. Heutesind von ihnen nicht viel mehr als die Steine und Fassa-den vorhanden, die sich paradoxerweise nicht so sehrverändert haben wie an anderen Orten in der Stadt. IhrGeist aber scheint dasselbe getan zu haben wie so vieleBarcelonesen, er hat diese Straße den Touristen und de-nen überlassen, die sie auf der Suche nach etwas betre-ten, was da gelebt haben und geschehen sein soll. Be-trachtet man sie heute, so muss man sich fragen, obStraßen und Boulevards nicht ein bisschen so sind wieFlüsse – oder wie das Gewässer, das ursprünglich dafloss, wo sich nun die Ramblas befinden. Vielleicht liegtihr eigentliches Wesen weniger im Flussbett als im Was-ser, das darin fließt und unwiederbringlich verfließt.

carlos ruiz zafón

Rund um die Ramblas

Rund um die RamblasDer Friedhof der Vergessenen Bücher

»Gegen Abend brach durch die Wolkendecke, Über-bleibsel des Gewitters, die Sonne hindurch. Die regen-glänzenden Straßen wurden zu bernsteinfarbenen Spie-geln, auf denen die Passanten ihrer Wege gingen. Icherinnere mich, dass wir zum Anfang der Ramblas spa-zierten, wo das Kolumbus-Denkmal aus dem Dunstguckte. Wir schritten schweigsam dahin, betrachtetendie Fassaden und die Menschenmenge, als wären sieLuftspiegelungen, als wäre die Stadt bereits verlassenund vergessen. Nie war mir Barcelona so schön und sotraurig erschienen wie an diesem Abend.«

carlos ruiz zafón, Das Spiel des Engels

Haus von Bruno Quadros

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1 Canaletas-Brunnen und ehemaliges Café gleichenNamens (heute ein Hamburgerlokal)

2 Metrostation und Bahnhof3 Capitol-Theater (Rambla 138)4 Poliorama (Rambla 115)5 Calle Santa Ana 27 (Handschuhgeschäft Alonso) –

Santa-Ana-Kirche6 Puerta del Ángel7 Els Quatre Gats (Calle de Montsió 3bis)8 Barceloneser Athenäum (Calle Canuda 6)9 Puertaferrisa, Petritxol (Cafés La Pallaresa und

Dulcinea) und Plaza del Pino10 Haus von Bruno Quadros (Rambla 82)11 Café de la Ópera (Rambla 74)12 Gran Teatro del Liceo (Liceo-Theater, Oper;

Rambla 61)13 Hotel España (Calle San Pablo, 11)14 Calle Fernando15 Plaza Real16 Calle de la Lleona 21

17 Haus von Joan Shelley (Rambla 46–48)18 Hotel Oriente (Rambla 45–47)19 Calle Escudellers20 Friedhof der Vergessenen Bücher (Calle Arco del

Teatro, neben dem Principal-Theater)21 Calle José Anselmo Clavé22 Kolumbus-Denkmal und Moll de la Fusta (Anlege-

platz der Motorschiffe für Hafenrundfahrten)

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Die Rambla im Abschnitt Santa Mónica

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Bis 1860, dem Jahr, in dem Ildefonso Cerdàs Ensanche-Viertel (»Stadterweiterung«) Gestalt anzunehmen be-

ginnt, war Barcelona eine in mittelalterliche Stadtmauerngepferchte Stadt. Ihre Hauptschlagader waren die Ram-blas (vom arabischen ramla, sandiger Boden). Im 18. Jahr-hundert wurden an den mit Mauern befestigten Ränderndieser »riera« (eigentlich Sturzbach) Klöster und Wohn-häuser erbaut. Am Ende dieses Jahrhunderts befüllteund pflasterte man die Ramblas und bestückte sie mitBäumen, und sie entwickelten sich zu einem Kanal städ-tischen Lebens, dessen Teilstücke nach den bemerkens-wertesten, mehrheitlich ordenseigenen Gebäuden be-nannt wurden: Rambla de Canaletas, de los Estudios(nach dem Allgemeinen Studienzentrum oder der Uni-versität des 15. bis 18. Jahrhunderts), de las Flores oderSan José, del Centro oder de los Capuchinos und RamblaSanta Mónica.

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Canaletas

Der Abschnitt Rambla de Canaletas bietet sich für Ver-abredungen ebenso an wie für Zufallsbegegnungen. DerName Canaletas soll von Türmen stammen, die sich imMittelalter am obersten Ende der Ramblas erhoben, dochseinen Ruf hat der Ort vom Brunnen, der Besucher undFußballfans wie in einem Initiationsritus anzieht.

Folgen wir also Carlos Ruiz Zafóns Figuren. Ihr Lieb-lingsbarcelona ist »schon immer das im Oktober gewesen,wenn seine Seele spazieren geht und man bereits wei-ser wird, wenn man nur vom Canaletas-Brunnen trinkt,dessen Wasser in diesen Tagen wie durch ein Wundernicht einmal nach Chlor schmeckt ...«. Sie gehen »leichtenSchrittes« voran, weichen »den Schuhputzern, Bürohengs-ten, die vom Vormittagsespresso zurückkamen, Losver-käufern und einem Ballett von Straßenkehrern aus, wel-che die Stadt gemächlich und wie mit dem Pinsel zupolieren schienen«.

Schräg gegenüber dem populären Brunnen befindetsich das Café Canaletas, wo Daniel Sempere, Protagonistvon Der Schatten des Windes, eines Sonntags mit FermínRomero de Torres frühstückt. Außerdem gab es hiereinen bekannten pavillonähnlichen Getränkestand, der1951 abgerissen wurde. Es war kein Zeitungskiosk, wiesie sich auf den Ramblas sozusagen die Hand reichen,sondern eine Art Stammtisch, wo einem der Schuhput-zer die Stiefel wienerte, während man dazu die Zeitunglas oder das Neuste vom Fußballtag kommentierte. Heuteist das Café Canaletas ein Hamburgerlokal, und von demehemaligen Getränkestand bleiben nur noch vergilbte

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Canaletas-Brunnen

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Fotos. Daniel kommt oft am Brunnen vorbei. Er kauft dieZeitung, beschnuppert die frische Druckerschwärze undschaut dem Treiben am Eingang des U-Bahnhofs zu, eheer zu den Eisenbahntunneln hinabtaucht, in diese unter-irdische Avenida de la Luz, die ihn zu den abgeschottetenWelten von Sarriá und dem Tibidabo befördert: »DieAbendzeitungen brachten die Meldung auf der erstenSeite, mit Fotos von den verschneiten Ramblas und demin Stalaktiten erstarrten Canaletas-Brunnen. der jahr-

hundertschnee, verhießen die Schlagzeilen.« Daniellässt sich auf eine Bank auf dem Bahnsteig fallen und at-met »die Tunnelluft und den Ruß ein, der dem Rumpelnder noch unsichtbaren Züge vorausgeht. Auf der andernSeite der Gleise sah man auf einem Werbeplakat für dieWonnen des Rummelplatzes auf dem Tibidabo die kir-meshaft beleuchtete blaue Straßenbahn, und dahinterkonnte man die Umrisse des Aldaya-Hauses erahnen.«

Ins Café Canaletas setzt sich ebenfalls David Martín inDas Spiel des Engels. Er hat sämtliche Zeitungen gekauft,um die Besprechungen des Romans Das Aschenhaus zulesen, den sein Konkurrent veröffentlicht hat, der aristo-kratische Plagiator Pedro Vidal. Die Kritiker loben Vidalmit großen Schlagzeilen und ignorieren Martíns RomanDie Schritte des Himmels: »Ich ließ die Zeitungen auf demTisch liegen und den Kaffee unberührt stehen und gingdie Ramblas hinunter. (. . .) Unterwegs kam ich an vieroder fünf Buchhandlungen vorbei, alle mit zahllosenExemplaren von Vidals Roman im Schaufenster. In kei-nem fand ich auch nur ein einziges Exemplar des mei-nen.«

Wir folgen David Martín und sehen gegenüber dem

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Canaletas-Brunnen die Eingangshalle des Capitol, früherKino und heute Theater. In den aschenen Nachkriegs-tagen kommt Daniel Sempere auf dem Heimweg an die-sem Kino vorbei. Wegen seiner monothematischen Wes-tern-Programmierung allgemein als die Revolverküchebekannt, fiel das Capitol durch seine grellbunten Plakateauf, geschaffen von Malern, die zwar nicht in die Nach-welt eingehen werden, deren Bilder aber die éducationsentimentale mehrerer Generationen prägten. Auch wennes wie aus Eimern gießt, bleibt Daniel vor den Werkendieser anonymen Künstler stehen: »Auf dem Rückweg indie Buchhandlung kam ich am Kino Capitol vorbei, wozwei Maler auf einem Gerüst verzweifelt zuschauten,wie das Plakat, dessen Farbe noch nicht trocken war, imRegen zerfloss.«

Handschuhladen Alonso (Calle Santa Ana 27)

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Etwas weiter unten finden wir das Poliorama-Theater,das in dem Haus mit dem Observatorium beheimatet ist,wohin sich der Schriftsteller George Orwell im Mai 1937

flüchtete. Neben dem Poliorama setzen sich Daniel undBea, nachdem sie sich in der Universität getroffen haben,in ein altes Café, in dem sich heute das Viena befindet.Sie unterhalten sich über Julián Carax. »Also«, sagt Da-niel, »das ist eine Geschichte, die von Büchern handelt.(. . .) Von verfluchten Büchern, von dem Mann, der sie ge-schrieben hat, von jemandem, der aus den Seiten einesRomans entwischt ist, um ihn zu verbrennen, von einemVerrat und einer verlorenen Freundschaft. Es ist eine Ge-schichte von Liebe, Hass und den Träumen, die im Schat-ten des Windes hausen.« Nachdem sie das Café verlassenhaben, es ist schon stockdunkel, wird Daniel Bea zumFriedhof der Vergessenen Bücher führen.

Die Buchhandlung in der Calle Santa Ana

Daniel lebt mit seinem Vater in einer kleinen Wohnungin der Calle Santa Ana, an einer Ecke des Platzes mit dergleichnamigen Kirche und über der auf Liebhaberaus-gaben spezialisierten Buchhandlung. Wenn wir die Ram-blas hinuntergehen, stehen uns an der ersten Ecke linkerHand zwei Wege offen: die Calle Santa Ana und die CalleCanuda. Wir nehmen den ersten. In der Nr. 27 befindetsich das Handschuhgeschäft Alonso, von dem die Buch-handlung in Der Schatten des Windes inspiriert ist. Vomhinteren Teil von Semperes Wohnung aus kann man die

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Santa-Ana-Kirche sehen. Über den gepflasterten Platzgelangen wir zur Kapelle, in der Daniel Bea heiraten wirdund die auf den Templerorden zurückgehen soll. Vordemselben Altar werden auch Fermín Romero de Torresund die Bernarda in Der Gefangene des Himmels getraut.»In seinem Voreheeifer hatte Fermín sogar mit dem neuenPfarrer der Santa-Ana-Kirche, Don Jacobo, Freundschaftgeschlossen, einem Priester aus Burgos mit entspannterIdeologie und den Manieren eines pensionierten Boxers,den er mit seiner maßlosen Dominoleidenschaft ange-steckt hatte.« Allsonntäglich nach der Messe sind DonJacobo und Fermín Gäste des Traditionsrestaurants ElAlmirall in der Calle Joaquín Costa. Auf den Marmorti-schen verschieben sie bei anzüglichen Witzen und Mont-serrat-Likör die Dominosteine.

Santa-Ana-Kirche

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Fermíns Trauung, an der in Der Gefangene des Him-mels auch Daniel teilnimmt, findet im Februar 1958 statt.»Die Braut war ganz in Weiß, und obwohl sie kein gro-ßes Geschmeide oder sonstigen Schmuck trug, hat es inder Geschichte keine Frau gegeben, die in den Augen desBräutigams schöner war als die Bernarda an diesem strah-lenden Tag Anfang Februar auf dem Vorplatz der Santa-Ana-Kirche. Don Gustavo Barceló, der so ziemlich sämt-liche Blumen Barcelonas aufgekauft hatte, um damitden Kircheneingang zu überschwemmen, weinte wie einSchlosshund, und der Pfarrer, Freund des Bräutigams,überraschte uns alle mit einer glanzvollen Predigt, dieselbst Bea, sonst nicht so leicht weichzukriegen, zu Trä-nen rührte.«

In Das Spiel des Engels gehen wir in der Sempere-Sagaeine Generation zurück; David Martín weilt am liebs-ten in ebendieser Buchhandlung in der Calle Santa Ana:Dieser Ort »mit dem Geruch nach altem Papier undStaub war mein Heiligtum und mein Zufluchtsort. (. . .)Das Schaufenster der alten Buchhandlung warf einenschwachen Schimmer auf die feucht glitzernden Pflaster-steine.«

Einmal, in den zwanziger Jahren, schenkt Señor Sem-pere David ein vergilbtes Exemplar von Charles Dickens’Große Erwartungen zu Weihnachten – der künftigeSchriftsteller wird es neunmal hintereinander lesen. Erist eine solche Leseratte, dass er für dieses Buch seinLeben hergäbe. Zu einem anderen Weihnachten, im Jahr1957, erscheint ein Unbekannter in der Buchhandlung,

Rechte Seite: Blick in die Puerta del Ángel von der Plaza de Cataluña aus

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der, nachdem er hinkend jeden Winkel erschnüffelt hat,vor der Ebenholzvitrine stehen bleibt, in der die kost-barsten Exemplare verwahrt werden. Nach einem »allesandere als freundlichen Grinsen« zeigt er sich ganz ver-sessen auf eine Ausgabe des Grafen von Monte Christo. Esist ein sehr kostbares, nummeriertes Exemplar mit Bild-tafeln von Arthur Rackham, das fünfunddreißig Pesetenkostet. Der Käufer, dessen eine Hand eine Prothese ist,schreibt eine rätselhafte Widmung auf die erste Seite,gezeichnet mit der Nummer 13: »Für Fermín Romero deTorres, der von den Toten auferstanden ist und denSchlüssel zur Zukunft hat.«

Wenn wir durch die Calle Santa Ana weitergehen,gelangen wir zur Puerta del Ángel. Daniels Blick bleibtoft im dunstigen Licht der Laternen hängen, bis er einesTages eine beunruhigende Silhouette entdeckt, die ihnzu erwarten scheint: »Die Gestalt hob sich von einemStück Schatten ab, das reglos auf dem Straßenpflasterlag.« Wenn nötig, nimmt Daniel auch die Verfolgungeines Kunden auf. »Ein Berufsbuchhändler kann nicht oftvor Ort die hohe Kunst erlernen, einen Verdächtigen zubeschatten, ohne entdeckt zu werden. Abgesehen davon,dass ein großer Teil seiner Kundschaft der Zunft der säu-migen Zahler angehört, beschränkte sich sein Kontaktzur Welt der Delinquenz auf die Lektüre von Detektiv-geschichten und Groschenromanen in den eigenen Rega-len.« Den Hinker, der ihm soeben die Monte-Christo-Ausgabe abgekauft hat, wird er nicht aus den Augen ver-lieren. Er folgt ihm die Ramblas hinunter.

Nahe der Puerta del Ángel gibt es in der schattigenCalle Montsió einen Winkel aus den Gründertagen des

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Modernismus: Els Quatre Gats – das Lokal, wo Picassoseine ersten Zeichnungen skizzierte und die Gäste zutrinken und zu essen aufforderte und sie einlud, sichbeim Marionettentheater des Lokalgründers, des Bonvi-vants Pere Romeu, zu amüsieren.

Von Picasso gestaltete Speisekarte von Els Quatre Gats

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Els Quatre Gats

In Der Schatten des Windes nimmt Daniel Sempere andem Bibliophilenstammtisch teil, dem der BuchhändlerGustavo Barceló im Els Quatre Gats vorsitzt, zwischenSchmiedeeisenarbeiten und einem Bild von Ramon Ca-sas, auf dem dieser mit Pere Romeu auf einem Tandemsitzt: »Steinerne Drachen bewachten die tief verschat-tete Fassade, und die Gaslaternen an der Ecke froren Zeitund Erinnerungen ein.« An diesen Tischen, die Ende des19. Jahrhunderts Picasso und Albéniz teilten, hatten sichDaniels Eltern kennengelernt, und in diesem Lokal zei-gen der Buchhändler Sempere und sein Sohn Barceló daseben aus dem Friedhof der Vergessenen Bücher geretteteBuch des rätselhaften Julián Carax. Barceló spielt die Be-deutung des Buches herunter und will es Daniel abkau-fen, doch der gibt es nicht her.

Das Barceloneser Athenäum

Wir gehen wieder auf die Puerta del Ángel zurück undsuchen auf der rechten Seite die Calle Canuda. Eigentlichist unser Ziel das Barceloneser Athenäum, doch zuvorwollen wir uns eine ähnliche Buchhandlung ansehen, wiesie die Semperes führen. In der Nr. 24, zu unserer Linken,beschert uns das Antiquariat Farré, in seiner Gründungs-zeit als Die Sonne und der Mond bekannt, einige winzigeSchaufenster mit alten Büchern, Raritäten und bibliophi-len Bänden mit bunten Umschlägen. Die Calle Canuda

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mündet auf einen Platz mit einer römischen Totenstadt,auf die die eine Seite des Athenäums hinausgeht.

Eine neuerliche Begegnung mit Gustavo Barceló führtDaniel zu dem alten Gebäude in der Canuda 6. Seit1906 in einem kleinen neugotischen Palast untergebracht,»war – und ist – das Athenäum einer der vielen WinkelBarcelonas, wo das 19. Jahrhundert noch nichts von sei-ner Pensionierung mitbekommen hat«. Obwohl die ein-zelnen Räume renoviert worden sind, bewahrt das Hausnach wie vor den altmodischen Charme seines Hauptein-gangs, des einsamen Patios mit den schwungvollen Pal-men und der stillen Bibliothek. Wir gehen mit Danielhinauf: »Die steinerne Vortreppe führte von einem höfi-schen Patio zu einem geisterhaften Netzwerk aus Gale-rien und Lesesälen empor, wohin neumodische Erfin-dungen wie Telefon, Eile oder Armbanduhr noch nichtvorgedrungen waren. Der Pförtner, oder vielleicht wares bloß eine Statue in Uniform, zuckte bei meinem Kom-men kaum mit der Wimper. Ich glitt in den ersten Stockhinauf und pries die Flügel eines Ventilators, der in-mitten von eingeschlummerten, auf ihren Büchern undZeitungen wie Eiswürfel dahinschmelzenden Lesernschnurrte.«

Im nämlichen Athenäum wird Daniel zwischen Bü-chern und Geflüster Clara kennenlernen, die blindeNichte des Buchhändlers Barceló – ein schönes Wesen»mit Porzellanteint und weißen Augen«. In diese Geistes-hochburg hatte sich Jahre zuvor auch David Martín ge-flüchtet. Versteckt in seinen Lesesälen, grübelte er, wannsich wohl sein angeblicher Wohltäter einstellen würde,der dämonische Andreas Corelli.

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Der reichhaltige Fundus der Athenäumsbibliothek istder geeignete Ort für Recherchen. In Der Gefangene desHimmels verfolgt Daniel in den Archiven den Senkrecht-starterwerdegang von Mauricio Valls, dem Folterer desMontjuïc von 1939, der zwanzig Jahre später im Franco-Spanien ein hohes Kulturamt bekleidet. In alte Zeitun-gen und Katalogkarten versunken, verbringt er »unend-liche Stunden, über und zwischen den Zeilen, verglichGeschichten und Versionen, katalogisierte Daten und er-stellte Listen mit Erfolgen und im Keller versteckten Lei-chen«. Die Erinnerung an seine ersten Besuche in denRäumen des Athenäums erfüllen ihn mit Nostalgie undeinem gewissen Schuldgefühl: »An diesen einsamenAbenden in der alten Athenäumsbibliothek lernte ichzu hassen – an einem Ort, wo vor nicht allzu langerZeit meine Sehnsüchte reineren Dingen gegolten hatten,der Haut meiner ersten unmöglichen Liebe, der blindenClara, oder den Mysterien von Julián Carax und seinemRoman Der Schatten des Windes.«

Petritxol

Wir verlassen das Athenäum und kehren zu den Ramblaszurück, nicht ohne vorher einen Blick in die Buchhand-lung Canuda mit ihrem Geruch nach bejahrtem Papiergeworfen zu haben. Ein schmaler Gang führt zum Aus-stellungsraum und zu zahllosen Regalen mit Bänden aller

S. 62/63: Eingangspatio des Barceloneser Athenäums

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Epochen, Verlage, Preise und Genres. Auf den Ramblashalten wir uns links unter den Säulengängen des Moja-Palasts, wo der Dichter Jacinto Verdaguer als Hauskaplander Marquisen Comillas wirkte. Die erste Querstraße,auf die wir treffen, ist die Puertaferrisa mit einem Brun-nen, der an das ummauerte Barcelona des Mittelalters er-innert, und der Eisentür, die ihr den Namen gab. Außerdem Moja-Palast finden wir in der Puertaferrisa meh-rere Häuser aristokratischen Zuschnitts mit ihren breitenEingangshallen, in denen die Fuhrwerke Platz fanden. Ineinem dieser kleinen Paläste, verlassen und beinahe inRuinen, wohnte Miquel Moliner, Freund von JuliánCarax und Gefährte von Nuria Montfort. Unrettbarkrank, landet er schließlich in einer Pension in der CalleCanuda, »einem düsteren, feuchten Loch, das in Farbeund Geruch einem Beinhaus glich«.

Die zweite Querstraße der Puertaferrisa rechter Handist ein Muster an Weltläufigkeit und Bürgertugend; aufKacheln im naiven Stil beschwören die Ansässigen diehehre Erinnerung an die einstigen Bewohner der Straßeherauf und legen dem Spaziergänger nahe, das Weltenge-tümmel zu vergessen. Antiquare und Kunstgalerien wiedie historische Sala Parés bekräftigen den Spruch aufeiner der die Straße säumenden Kacheln: Ací la mare deDéu ens diu que el temps passa lleu (»Hier sagt uns dieMuttergottes, dass die Zeit leicht vergeht«).

Daniel führt die blinde junge Clara durch dieses Bar-celona, »das nur sie und ich sehen konnten« – ein Spazier-gang, der in einem Café der Petritxol bei einer heißenSchokolade mit Sahne (einem »Suizo«) und Honigpfann-kuchen gipfelt. Die beiden bekanntesten Cafés sind die

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1947 gegründete La Pallaresa in der Nr. 11, schon fast beider Plaza del Pino, und die Dulcinea aus dem Jahr 1941.1957 wird Bea dort bei Sahnekakao mit der bekümmertenBernarda zusammensitzen, weil diese schwanger ist undbefürchtet, Fermín werde sie nicht mehr heiraten wol-len, wenn er von ihrem Zustand erführe.

In diese Lokale der Petritxol war Jahre zuvor DavidMartín während seines Idylls mit Cristina Sagnier gegan-gen, dem jungen Mädchen, das Pedro Vidal heiratet, denAristokraten mit Loge im ersten Rang des Liceo-Theatersund herausragende Persönlichkeit im Zirkel gleichenNamens. Die Familie Vidal wird ihn zur Premiere vonMadame Butterfly einladen. In der Loge bleibt David mitCristina allein, »nur wir zwei ohne ein weiteres Schutz-schild als Puccini und die Hunderte ins Halbdunkel desTheaters getauchten Gesichter«.

Das Liceo-Theater

Seit seiner Erbauung 1847 ist das Liceo die bürgerlicheTribüne Barcelonas und der Musikfreunde, die sich keineLoge leisten können und sich mit dem Olymp zufrieden-geben müssen. Wir befinden uns auf dem Weg dorthin,doch nach dem Verlassen der Calle Petritxol überquerenwir zuvor die Plaza del Pino mit ihrer gotischen Kirche.Die riesige Rosette von Santa María del Pino warf ihrbuntes Licht auf die Verbindung von Antoni Fortuny

Linke Seite: Café Dulcinea in der Calle Petritxol

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und Sophie Carax, bevor die Untreue die Ehe zunichte-machte. Damals gab es auf dem Platz noch eine Kunst-druckerei, die ihre Pforten 1789 geöffnet hatte, im Jahrder Französischen Revolution also, und in deren Schau-fenstern Heiligenbilder und pädagogische Postkarten zusehen waren. Heute ist das alte Haus verschlossen, undvon jener Ikonographie, dank der man Himmel und Erdefür den bescheidenen Preis eines Farbdrucks durchwan-dern konnte, ist nichts mehr zu sehen.

Die Calle del Cardenal Casañas bringt uns wieder aufdie Ramblas und lenkt unseren Blick auf Bruno Quadros’spektakuläres Haus, ehemals ein Schirmladen in orienta-lisierendem Jugendstil, jetzt eine Bankfiliale. Der Dracheund der Regenschirm, in der Luft hängend wie eine Ma-gritte-Schöpfung, wecken die Aufmerksamkeit der Spa-ziergänger, ebenso wie die prächtigen Vignetten, die denPalmfächer mit chinesischen Bildwelten verbinden.

Die beiden jungen Protagonisten von Marina bestau-nen den nächtlichen Glanz der Ramblas. »Vor uns erhobsich die Silhouette des Liceo-Theaters. Es war ein Abendmit Operngala, und das Lichterdiadem des Vordachs waran.« Óscar und Marina betrachten auch die ehemalige Re-genschirmmanufaktur, die der spektakuläre chinesischeDrache dominiert: »Auf der anderen Seite des Boulevardserkannten wir an einer Ecke der Fassade den grünen Dra-chen des Fotos, der die Menge betrachtete. Bei seinemAnblick dachte ich, die Geschichte habe die Altäre undFarbbildchen für den heiligen Georg reserviert, dem Dra-chen aber sei auf ewig Barcelona zugefallen.«

Gegenüber dem Liceo, in der Nr. 74, befindet sich dasvon unseren Spaziergängern besuchte Café de la Ópera.

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Zu David Martíns Zeit, um 1929, wurde ein Kaffee für35 Céntimos serviert, und an den Marmortischen unter-hielten sich die Künstler des Liceo, das als Opernhausdem Lokal seinen Namen gegeben hatte. David wird sichan »einen Abend im Café de la Ópera in Gesellschaft

Liceo-Theater (Barceloneser Oper)

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Café de la Ópera

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einer Musiklehrerin namens Alicia« erinnern, »welcherich vermutlich dabei half, jemanden zu vergessen, dersich nicht vergessen ließ«.

Das mythische Café de la Ópera wird Schauplatz einerbrutalen Episode sein: Nach dem Krieg trifft sich dort Isa-bella, Daniel Semperes Mutter, mit Mauricio Valls, demschuftigen Direktor des Montjuïc-Gefängnisses, wo derSchriftsteller David Martín vor sich hin fault, den seineMitinhaftierten den Gefangenen des Himmels nennen.Nachdem sie einen dubiosen Kamillentee getrunken hat,steht Isabella schwankend auf: »Valls konnte sehen, wiesich ihre Pupillen langsam weiteten und ein Schweißfilmauf ihre Oberlippe trat. (. . .) Sie wich zurück und stieß aufdem Weg zum Ausgang mit dem Kellner zusammen.«

Wir überqueren die Ramblas und gehen mit DanielSemperes Vater ins Liceo. Sein Kollege Gustavo Barcelóhat ihn zu Wagners Tannhäuser eingeladen, ein Kompo-nist, der in Barcelona Furore macht. »Seit wann magst dudenn Wagner?«, fragt ihn sein Sohn. Der Vater zuckt dieSchultern: »Einem geschenkten Gaul . . . Außerdem ist esmit Barceló egal, was für eine Oper gegeben wird, erkommentiert während der ganzen Vorstellung das Spielund kritisiert die Kostüme und das Tempo.«

Hotel España

Zum Liceo gelangt man über die Ramblas und die von ih-nen abgehende Calle de San Pablo. Am Vormittag kannman in Letzterer die Stimmen der Sänger hören, die ihren

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Part üben. Mit ihren Art-nouveau-Arabesken heißt unsdie American Soda Bar willkommen, und etwas weiter,in der Nr. 10, stoßen wir auf das Hotel España, wo in DasSpiel des Engels die Aristokratenfamilie Vidal ein Zimmerdauerreserviert hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts vonDomènech i Montaner neu gestaltet, besitzt das Hoteleinen der schönsten Speisesäle modernistischer Innenar-chitektur – Schmiedeeisenarbeiten, Kassettendecken ausvornehmem Holz und Sirenengemälde in sanften Grün-tönen von Ramon Casas. David Martín sucht im EspañaCristina, doch statt der geliebten Frau entdeckt er An-dreas Corellis unwillkommene Erscheinung. »An einemder Tische saß der Patron, der einzige Gast im ganzenSpeisesaal«, vor einer Tasse Kaffee voller Zuckerstücke.

Wir kehren zum Drachen und seinen Regenschirmenauf den dichtbegangenen Ramblas zurück und lassen unsauf dem Mittelstück vom Strom bis zu einer weiterenQuerstraße forttragen.

Die Buchhandlung von Gustavo Barceló

Gustavo Barceló, ein Kollege von Señor Sempere, besitztin der Calle Fernando eine »höhlenartige Buchhandlung«.Eine Besonderheit dieses Ladens war, erinnert sich DavidMartín, »dass hier von den Büchern wie von hochrangigenWeinen gesprochen wurde – samt Bouquet, Aroma, Kon-sistenz und Jahrgang«. Immer an einer erloschenen Pfeifehängend, hat Barceló aristokratische Anwandlungen undwill sogar entfernt mit Lord Byron verwandt sein.

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Tief ins Verfassen des Buches für Corelli versunken,bittet David Martín den Spezialisten um Rat – er brauchteine gute Bibelausgabe. »Barceló, neben vielem anderenein beharrlicher Sammler von Heiligen Schriften undapokryphen christlichen Texten, hatte im hinteren Teilder Buchhandlung einen abgetrennten Raum mit einerfamosen Auswahl an Evangelien, Legenden von Seligge-sprochenen und Heiligen sowie frommen Texten allerArt.« Schließlich findet er das Gesuchte: eine Bibel vonTorres Amat, »Jahrgang« 1893.

Plaza Real

Wir verlassen den nur im Buch zugänglichen bibliophi-len Tempel und betreten unter den steinernen Lauben-gängen die Plaza Real mit ihrem Brunnen, ihren Palmenund den Restauranttischen im Freien, wo humpenweiseBier ausgeschenkt und Pommes frites serviert werden –einem Mischmasch von Touristen und halbseidenenStammgästen. Aus einem dieser Etablissements, demHostal Ambos Mundos, schleppen in Das Spiel des Engelszwei Kellner David Martín zu einer Bank, nachdem er zuviel getrunken hat, um seinen Literatur- und Liebesfrustzu vergessen.

Unter den düsteren Bogen des Platzes, einer Galeriedes Elends und der Ausgegrenzten, stößt Daniel Sem-pere an einem aschfarbenen Tag auf den gelehrten Vaga-bunden Romero de Torres, »an seinem gewohnten Ortunter den Arkaden der Calle Fernando. Der Bettler stu-

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dierte eben die arg zerknitterte, einem Papierkorb ent-nommene Frontseite des Montagsblatts.«

Der Buchhändler Barceló und seine Nichte Clara be-wohnen einen geräumigen ersten Stock in einem der aufden Platz hinausgehenden Häuser. Die Wohnung »nahmdie Fläche des ganzen Gebäudes ein und beschrieb einenKreis von Galerien, Salons und Gängen«, die Daniel, andie bescheidene Behausung in der Calle Santa Ana ge-wohnt, »wie eine verkleinerte Ausgabe des Escorials«vorkommen. Der Jugendliche besucht sie fast täglich;nachdem er sich ein Klavierrezital angehört und in DonGustavos reich bestückter Bibliothek herumgeschnüffelthat, nimmt er Clara mit auf einen Spaziergang über denPlatz oder zur Kathedrale.

Von der Plaza Real gehen mehrere Straßen ab, alle engund nur spärlichst beleuchtet. Die Calle Dels Tres Llits(»der drei Betten«) – ihr Name stammt von einem ehema-ligen Bordell – mündet nach wenigen Metern in die Callede la Lleona. In deren Nr. 21 wohnt Ricardo Salvador, derMann, der zu viel über den Tod des Anwalts Marlascaweiß. In Das Spiel des Engels wagt sich David Martín indieses Gässchen hinein, »beinahe so düster wie sein Ruf.Es entsprang den schattigen Bögen der Plaza Real undwuchs sich ohne Sonnenlicht zu einer feuchten Spaltezwischen alten, dicht gedrängten, von einem durchge-henden Netz aufgehängter Wäsche verbundenen Häu-sern aus.« Ein Bühnenbild des Barcelona, das Martínin seinem Roman Die Stadt der Verdammten beschreibt:»Von den altersschwachen Fassaden blätterte der Ockerab, und über das Pflaster aus Steinplatten war in den Ge-waltjahren der anarchistischen Aufstände viel Blut ge-

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flossen.« In der Nr. 21, die es in Wirklichkeit nicht gibt,die Straße ist viel kürzer, stellt David angeekelt fest,dass »zwischen den Fugen und Bodenfliesen eine dunkle,schleimige Flüssigkeit herausquoll«. Die Beschreibungrät vom Aufsuchen dieser Straße in Dämmerstunden ausGründen der persönlichen Sicherheit und rund um dieUhr aus solchen der öffentlichen Hygiene ab.

Nach dem Besuch bei Ricardo Salvador betrachtet Da-vid Martín eine Plaza Real, die im »staubigen Licht deruntergehenden Sonne die Passanten in rote Farbe« taucht.Seine Schritte führen ihn einmal mehr zur Buchhand-lung Sempere in der Calle Santa Ana, wo er endlich »denGeruch von Papier und Magie« einsaugen kann, »den inFlaschen abzufüllen unerklärlicherweise noch nie jeman-dem eingefallen war«.

Rambla 46 – 48

Von der Plaza Real geht es zurück zu den Ramblas, zueinem Fotostudio. Óscar Drai und Marina stellen Nach-forschungen über eine Aufnahme an, auf deren Rück-seite in kaum noch leserlichen Buchstaben die Adressedes Fotostudios Martorell-Borrás steht, in der Rambla delos Capuchinos 46–48, erster Stock. Das Bild stammt ausdem Jahr 1951 und gehört einem gewissen Dr. Joan Shel-ley. Im Haus dieser Nummer finden wir nur einen Sou-venirshop, aber wenn wir bis zur Nr. 40 weitergehen, biszum Pasaje Bacardí, der zur Plaza Real führt, gelangenwir zum alteingesessenen Film- und Fotoladen Arpi.

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Óscar und Marina gehen in den ersten Stock eines»herrschaftlichen Hauses mit düsterer Beleuchtung« hin-auf, dessen Türklopfer »schmiedeeiserne Engelsgesich-ter« sind. Bunte Scheiben rufen im Oberlicht des Hauseseinen kaleidoskopischen Effekt hervor.

Die Marina-Protagonisten suchen Shelleys Haus mehr-mals auf. Nachts durchquert Óscar mit großen Schrittendas Raval-Viertel, biegt in die Calle del Asalto ein undgelangt auf die von einer Handvoll Nachtschwärmerbegangenen Ramblas: »Die erleuchteten Kioske sahenaus wie gestrandete Schiffe.« Er geht zur Wohnung vonDr. Shelley und seiner Tochter María. Die Fassade er-scheint ihm als »eine Maske aus Reliefs und Wasser-speiern, die ganze Bäche von Schmutzwasser ausspuck-ten. An der Ecke drang aus einem Fenster eine Handbreitgoldenen Lichts.«

Hotel Oriente

Auf der anderen Seite der Ramblas, in den Nummern 45

bis 47, wahrt das Hotel Oriente seine jahrhundertealteTradition. In einem seiner Zimmer wohnte im September1862 der Schriftsteller Hans Christian Andersen. Der Au-tor von Die kleine Meerjungfrau steht am Anfang einerendlosen Liste berühmter Hotelgäste. Das Oriente-Ge-bäude wird in Das Spiel des Engels von David Martín be-trachtet, den die Avancen Corellis beunruhigen und quä-len: »Ein leichter, warmer Nebel kam vom Hafen her,und das Funkeln der großen Fenster des Hotels Oriente

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färbte ihn zu einem schmutzig-staubigen Gelb, in demsich die Passanten wie Dunstfetzen auflösten.«

Calle Escudellers

Über den gegenüberliegenden Gehweg, bei der Statuezu Ehren des Dramatikers Pitarra, gelangen wir in dieCalle Escudellers, wo man einst die beste Schneiderei,das beste Lebensmittelgeschäft und eine Vielzahl vonBordellen fand. In Der Schatten des Windes geht, vomredefreudigen Fermín Romero de Torres »eingeladen«,Daniel Sempere in eines dieser Etablissements. Amdarauffolgenden Tag wird der junge Mann Bea heiraten,und sein Freund, der ehemalige Bettler, hat ihm einenAbschied vom Junggesellendasein organisiert: »Am an-gezeigten Abend folgte ich ihm gehorsam zu einemschmutzigen Lokal in der Calle Escudellers. Eine GruppeDamen von weitem Erfahrungshorizont empfing uns mitstrahlendstem Lächeln.« Fermín hat ihm die Rociíto re-serviert, eine Person »in rotem Kunstseidenkleid und allihrer Pracht, die ich nahe bei neunzig Kilos ansiedelte«,typisches Beispiel für das fleischliche Angebot, wie esin der Nachkriegszeit in der Calle Escudellers und denWinkeln der Calle del Gínjol und der Animierbar LaBuena Sombra reichlich feilgehalten wurde.

Die Umgebung der Pitarra-Statue, die heute von derPompeu-Fabra-Universität beherrscht wird, war seiner-zeit ein Forum käuflicher Liebe. Als die alten Häuser ab-gerissen wurden, blieben die Spuren der zu ewigem War-

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ten verurteilten Damen in die marmornen Bodenplatteneingezeichnet.

Der Friedhof der Vergessenen Bücher

Kehren wir noch einmal zu jener Morgendämmerung imSommer 1945 zurück. Fünf Uhr früh auf der dunstigenRambla de Santa Mónica. Ein Vater enthüllt seinemzehnjährigen Sohn ein Geheimnis, das dieser bewahrenmuss: »Daniel, was du heute sehen wirst, darfst du nie-mandem erzählen.« Die Calle Arco del Teatro machtihrem Namen alle Ehre, sie ist wie ein phantastischesPortal, »nur eine Bresche zwischen düster-baufälligenHäusern, die sich wie steinerne Weiden vornüber zu nei-gen schienen, um die von den Dächern gezogene Liniedes Himmels zu verschließen«. Der Name der Straßespielt auf das Principal-Theater an, eines der ältesten ganzSpaniens, eingeweiht im 18. Jahrhundert für die Wohl-tätigkeitsaufführungen des Santa-Cruz-Theaters.

Daniel Sempere folgt seinem Vater »auf diesem engenWeg, eher Scharte als Straße, bis sich der Abglanz derRambla hinter uns verlor«. Vor einem vom Alter schwarzgewordenen Holzportal in barocker Fassade bleibt derVater stehen und klopft dreimal mit einem Bronzeklopferin Form eines kleinen Teufels an. Es öffnet ihnen »einMännchen mit dem Gesicht eines Raubvogels und silber-nem Haar«. Das ist Isaac, Wächter des Friedhofs der Ver-

Rechte Seite: Calle Arco del Teatro

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gessenen Bücher. Eine breite Marmortreppe und eine Ga-lerie mit Fresken voller Engels- und Fabelfiguren führenzu einem »riesigen, kreisförmigen Saal, wo sich eine re-gelrechte Kathedrale aus Dunkelheit zu einer von Licht-garben erfüllten Kuppel öffnete«.

»Das Bücherlabyrinth war in geisterhaften Inseln zuerahnen, die sich unter dem Schleier der Dunkelheitzeigten.« Was ist der Friedhof der Vergessenen Bücher?Señor Sempere, Buchhändler aus Leidenschaft, erklärt esseinem Sohn so: »Was du hier siehst, Daniel, ist ein ge-heimer Ort, ein Mysterium. Jedes einzelne Buch hat eineSeele. Die Seele dessen, der es geschrieben hat, und dieSeele derer, die es gelesen und erlebt und von ihm ge-träumt haben. Jedesmal, wenn ein Buch in andere Händegelangt, jedesmal, wenn jemand den Blick über die Seitengleiten lässt, wächst sein Geist und wird stark. (. . .) Wenneine Bibliothek verschwindet, wenn eine Buchhandlungihre Türen schließt, wenn ein Buch dem Vergessen an-heimfällt, dann versichern wir uns, die wir diesen Ortkennen, also die Aufseher, dass es hierhergelangt.« DerBrauch will, dass der junge Besucher ein Buch aussuchenund adoptieren muss, damit es niemals verschwindet –eine Verantwortung, die sein Leben prägen wird.

Nachdem er das nach feuchtem, altem Papier rie-chende magische Labyrinth inspiziert hat, fällt DanielsBlick auf ein in weinrotes Leder gebundenes Buch: DerSchatten des Windes von Julián Carax, 1935 bei CabestanyEditores veröffentlicht. Er wird ein weiteres Mal her-kommen und leise in diesen »nach verbranntem Wachsund Feuchtigkeit« riechenden Ort eindringen. Das Portalschließt sich hinter ihm wie »die Eingeweide eines Auto-

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maten«. Das Spiel der Mechanismen erscheint Danieleines Jules Verne würdig, aber Isaac, »dieser Mann ir-gendwo zwischen Charon und dem Bibliothekar vonAlexandrien«, sagt ihm, es passe eher zu Kafkas labyrin-thischen Universen.

In Das Spiel des Engels begleitet Daniel SemperesGroßvater David Martín zum Friedhof der VergessenenBücher und stellt ihm Isaac Monfort vor, Nuria MonfortsVater, Wächter in dieser Erinnerungsbasilika. David isthergekommen, um hier seinen erfolglosen Roman DieSchritte des Himmels und die unter dem Pseudonym Igna-tius B. Samson erschienene Fortsetzungsgeschichte DieStadt der Verdammten zu hinterlegen. Die Lampe be-leuchtet »ein unübersehbares Labyrinth« aus »Regalenmit Hunderttausenden Büchern, verbunden durch Brü-cken und Passagen«. Der alte Wächter vermutet, manhabe Mitte des 19. Jahrhunderts »einen langen Tunnel«gefunden, »der vom Inneren des Friedhofs der Vergesse-nen Bücher zu den Kellergeschossen einer alten Biblio-thek führt, die heute versiegelt und in den Ruinen einerehemaligen Synagoge des Call-Viertels verborgen ist«.

Zu dieser »Bücher- und Wortkathedrale« wird Davidmit Isabella zurückkehren, dem jungen Mädchen, dasihn als Schriftsteller bewundert und seine Wohnung inOrdnung hält. Seine Erläuterungen sind eine Hommageans Lesen und ähneln den Worten der Semperes: »JedesBuch, das du siehst, jeder Band hat eine Seele. Die Seeledessen, der es geschrieben, und die Seele derer, die es ge-lesen und mit ihm und gelebt und davon geträumt ha-ben. Immer wenn ein Buch den Besitzer wechselt, immerwenn jemand den Blick über seine Seiten gleiten lässt,

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wächst sein Geist, und es wird stärker. Die Bücher, an diesich niemand mehr erinnert, die mit der Zeit verloren-gingen, leben an diesem Ort für immer weiter und war-ten darauf, einem neuen Leser, einem neuen Geist in dieHände zu fallen .. .«

Fast dreißig Jahre später, im Winter 1957, geht Da-niel Sempere mit Fermín Romero de Torres zu diesem inden Schatten verborgenen Bücherheiligtum. »Ich stiegdie paar Stufen hinan und ließ den Türklopfer niederfal-len. Langsam wie die Wellen auf einem Teich verlor sichdas Echo im Inneren. Fermín, in respektvolles Schweigenversunken wie ein Junge, der kurz vor seinem ersten re-ligiösen Zeremoniell steht, schaute mich ängstlich an.«Nachdem ihn Isaac willkommen geheißen hat, »war Fer-mín die erste halbe Stunde hypnotisiert, stürmte wie einBesessener durch die Innereien des großen Puzzles, ausdem das Labyrinth bestand«. Unter den »in unendlichenWegen aufgereihten Buchrücken« findet er die dreizehnteFolge aus Die Stadt der Verdammten, Daphne und die un-mögliche Treppe, von David Martín. Und ganz hinten auseinem Schrank wird Isaac ein Paket hervorholen, in dasdas Manuskript von Das Spiel des Engels gehüllt ist, desBuches, das David Martín während seiner Haft auf demMontjuïc schrieb: »Die Seiten waren schmutzig, vollerWachs- und Blutspuren. Die erste Seite zeigte den indiabolischer Schrift gezeichneten Titel.« Und unter einerEcke des Manuskripts ein rot versiegelter Brief, der inderselben diabolischen Schrift den Namen Daniel trägt . . .

Durch diesen magischen, in der Dämmerung liegen-den Theaterbogen gehen wir auf die Ramblas zurück.Am 1912, im Jahr des Untergangs der Titanic, gegründe-

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ten Aniskiosk La Cazalla nippen Einheimische und Tou-risten am weißen Schnaps.

Das Füllfederhaltergeschäft

Am Ende der Ramblas, hinter dem Gebäude der Militär-regierung, bei der Puerta de la Paz und dem Kolumbus-denkmal, finden wir die Calle José Anselmo Clavé, so ge-nannt zu Ehren des Gründers der Arbeiterchöre Ende des19. Jahrhunderts.

In dieser Straße befindet sich das Füllfederhalterge-schäft, das Daniel Sempere in Der Schatten des Windesaufsucht und dem er seine literarische Berufung undseine Bücherliebe zuschreibt. Gegenstand seiner Anbe-tung ist »ein prachtvoller, mit weiß Gott wie vielen Kost-barkeiten und Schnörkeln verbrämter schwarzer Füllfe-derhalter«, der im Schaufenster prunkt. Immer wenn seinVater ihn auf einen Spaziergang mitnimmt, beharrt Da-niel darauf, dieses barocke Schreibwunderwerk anzu-schauen. »In meiner Naivität dachte ich, was immer ichmit dieser Feder schriebe, würde überallhin gelangen .. .«Schließlich werden Vater und Sohn eintreten, um sichnach dem wunderbaren Stück zu erkundigen: »Es stelltesich heraus, dass es die Königin der Füllfederhalter war,eine nummerierte Montblanc des Typs ›Meisterstück‹,die, so behauptete jedenfalls feierlich der Geschäftsfüh-rer, keinem Geringeren als Victor Hugo gehört hatte.«Dieser Füller wird Daniel ein Leben lang mit Julián Ca-rax verbinden, dem rätselhaften Verfasser von Der Schat-

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ten des Windes. Vielleicht gab es in dieser Straße wirklicheinmal ein solches Geschäft, aber wir haben seine Schau-fenster ja bereits in einem Romankapitel gesehen.

Kolumbus-Denkmal

In der Umgebung des Kolumbus-Denkmals, anlässlichder Weltausstellung von 1888 errichtet, schlendert Da-niel Sempere umher, bevor er zu den Molen hinübergehtund sich auf die Stufen setzt, die ins Hafenwasser hinab-führen. Es ist Nacht, »und übers Hafenbecken hinwegschwebten das Gelächter und die Musik der Prozessionaus Lichtern und Spiegelungen herüber«. Er erinnert sichdaran, wie ihn sein Vater mit einem Ausflugsschiff zumWellenbrecher brachte: »Von dort aus konnte man denAbhang des Montjuïc mit dem Friedhof und die unend-liche Stadt der Toten sehen.« Schon lange ist er nichtmehr mit einem solchen Schiff gefahren. Sein Sinnenwird von einem Mann mit verbranntem Gesicht unter-brochen, der von ihm Julián Carax’ Der Schatten des Win-des verlangt – um das Buch zu verbrennen. »Ohne einweiteres Wort machte er kehrt und ging mit stammeln-dem Lachen gegen die Molen davon.«

Zu dieser Landebrücke wird Daniel zurückkehren.Und wieder wird er sich auf die Stufen setzen, »die sichim trüben Wasser verloren, am selben Ort, wo ich vor

S. 84/85: Blick auf den Barceloneser Hafen mit der Moleder Hafenrundfahrtschiffe

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vielen Jahren einmal nachts zum ersten Mal Laín Cou-bert gesehen hatte, den Mann ohne Gesicht«. Das Ko-lumbus-Denkmal scheint uns mit seinem Finger auf diedunkle Unermesslichkeit des Rätsels zu stoßen.