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Unverkäufliche Leseprobe aus: Volker Ullrich Volker Ullrich Die nervöse Großmacht 1871 – 1918 Die nervöse Großmacht 1871 – 1918 Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt ins- besondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

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Unverkäufl iche Leseprobe aus:

Volker UllrichVolker UllrichDie nervöse Großmacht 1871 – 1918Die nervöse Großmacht 1871 – 1918

Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt ins-besondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort 11

TEIL I DAS DEUTSCHE REICH IM ZEITALTERBISMARCKS

1. Die Gründung des Kaiserreichs 19Die Kaiserproklamation in Versailles 19Der Gründungsmythos des neuen Reiches 22Reichsgründung und europäisches Gleichgewicht 26

2. Probleme der inneren Reichsgründung 29Verfassung und Regierungssystem des Kaiserreichs 29Vom Gründerboom zum Gründerkrach 38Der erste innenpolitische Präventivkrieg: der »Kulturkampf« 45Die innenpolitische Wende von 1878/79 53Der zweite innenpolitische Präventivkrieg:Sozialistengesetz und Sozialgesetzgebung 64

3. Deutsche Aussenpolitik nach 1871 74Halbe oder ganze Hegemonie?Das Deutsche Reich im Konzert der europäischen Mächte 74Bismarcks Drohpolitik: die Krieg-in-Sicht-Krise 1875 79Konfliktverlagerung an die Peripherie:Orientkrise und Berliner Kongreß 1878 83Der Aufbau des Bismarckschen Bündnissystems 88Anfänge deutscher Kolonialpolitik 92

4. Das Ende der Bismarck-Ära 100Die Krise des Bismarckschen Bündnissystems 100Das Dreikaiserjahr 1888 107Bismarcks Sturz 113Bilanz der Bismarck-Ära 120

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inhaltsverzeichnis

TEIL II DAS WILHELMINISCHE DEUTSCHLAND

1. Vom Agrar- zum Industriestaat 127Der große Sprung nach vorn:die wirtschaftliche Entwicklung 1890 bis 1914 127Bevölkerung und Mobilität 135Urbanisierung und soziale Frage 138

2. Das Herrschaftssystem unter Kaiser Wilhelm II. 143Das »persönliche Regiment« 143Die Kanzler nach Bismarck 153Die Stellung des Reichstags 161Parteien und Verbände 165Die Liberalen 166Die Konservativen 169Das Zentrum 171Die Sozialdemokratie 173Industrielle und agrarische Interessenpolitik 176

3. Der »Neue Kurs« in der Aussen- und Innenpolitiknach 1890 182Die Abkehr vom außenpolitischen System Bismarcks 182Das Scheitern der inneren Reformpolitik 188

4. Weltmachtstreben, Schlachtflottenbau undnationale Sammlung 193Anfänge wilhelminischer Welt- und Flottenpolitik(1897–1901) 193Die wachsende außenpolitische Isolierung des DeutschenReiches (1901–1909) 204Die Neuauflage der Sammlungspolitik (1897–1906) 211Die Krise des »persönlichen Regiments«: Bülow-Block,Daily-Telegraph-Affäre und Reichsfinanzreform(1906–1909) 216

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5. Der Weg in die Sackgasse 223Zwischen Entspannung und Krisenverschärfung: die deutscheAußenpolitik 1909 bis 1914 223Zwischen bürokratischem Reformkurs und Selbstblockade:die deutsche Innenpolitik 1909 bis 1914 238

6. Die Flucht nach vorn: Julikrise und Kriegsausbruch 1914 250Die deutsche Risikopolitik im Juli 1914 250Das »Augusterlebnis« 263

TEIL III DIE GESELLSCHAFT DES KAISERREICHS

1. Soziale Schichtung und Gesellschaftsordnung 273Der Adel 273Bürgertum und Kleinbürgertum 279Das Wirtschaftsbürgertum 280Das Bildungsbürgertum 285Das Kleinbürgertum 290Industriell-gewerbliche Arbeiterschaft 297Bauern und Landarbeiter 305Konturen der wilhelminischen Klassengesellschaft 309

2. Frauen in der Männergesellschaft 313Rechtliche Situation 313Familienleben 316Sexualität 322Frauenarbeit 330Frauenbewegung und Frauenemanzipation 335

3. Bildung – Wissenschaft – Kultur 340Das Schulwesen 340Die Volksschulen 340Die höheren Schulen 344

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Universitäten und Hochschulen 347Ausbau und Differenzierung 347Professoren und Studenten 350Anfänge der Großforschung 355Kultur im Kaiserreich 357Offizielle Reichskunst und künstlerische Avantgarde 357Anfänge moderner Massenkultur 367

4. Nationalismus – Antisemitismus – Militarismus vor 1914 376Die Radikalisierung des Nationalismus und derAufstieg der Agitationsverbände 376Die Ausbreitung des Antisemitismus 383Die Militarisierung der Gesellschaft und dieSchwäche der Gegenkräfte 397

TEIL IV DER ERSTE WELTKRIEG

1. Kriegführung und Politik 1914 bis 1916 407Vom Scheitern des Schlieffenplans bis zum SturzFalkenhayns 407Das Streben nach Hegemonie: die Kriegszielbewegungund die Politik Bethmann Hollwegs 419Das Dilemma der Friedenssondierungen 433Burgfriede, innenpolitische Neuorientierung und dieSpaltung der Sozialdemokratie 446

2. Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur im Kriege 456Die Organisation der Kriegswirtschaft 456Soziale Auswirkungen des Krieges 464»Heimatfront« und Schützengraben: der Kriegsalltag 471Die Radikalisierung des Antisemitismus 485Kultur und Krieg 494

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3. Das Epochenjahr 1917 507Die Entscheidung für den uneingeschränkten U-Boot-Kriegund der Kriegseintritt der USA 507Die russische Februar-Revolution und ihre Rückwirkungenauf Deutschland 513Die Julikrise 1917, der Sturz Bethmann Hollwegs und derBeginn der Parlamentarisierung 522

4. Der Zusammenbruch 1918 530Die Januarstreiks: das Vorspiel zur Revolution 530Der Gewaltfrieden von Brest-Litowsk und das deutscheOstimperium 536Das Scheitern der deutschen Frühjahrsoffensive 546Die wilhelminische Gesellschaft in der Auflösung 552Reform von oben und Revolution von unten 557Das Ende 571

Bilanz und Ausblick 574

AnhangAnmerkungen 595Ausgewählte Bibliographie 681Nachwort zur Neuausgabe:Neue Forschungen zum Kaiserreich 701Abbildungsnachweis 753Register 754

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TEIL I

DAS DEUTSCHE REICH IMZEITALTER BISMARCKS

»Schwarz, weiß und rot! um ein PanierVereinigt stehen Süd und Norden;Du bist im ruhmgekrönten MordenDas erste Land der Welt geworden:Germania, mir graut vor dir!«

(Georg Herwegh: Epilog zum Kriege,Februar 1871)

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1. Die Gründung des Kaiserreichs

Die Kaiserproklamation in Versailles

Es war bitterkalt im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles, an jenem18. Januar 1871, als das deutsche Kaiserreich ausgerufen wurde. DasGanze war eine militärische Veranstaltung. Wohin der Blick auch fiel –Uniformen, Helme, Säbel, Fahnen und Standarten; die wenigenGestalten im Frack verloren sich inmitten dieser kriegerischen Ge-sellschaft.1 Das Volk war nicht vertreten, nicht einmal durch eineAbordnung des gewählten Parlaments, des norddeutschen Reichstags –ein getreues Abbild der Tatsache, daß der kleindeutsch-preußischeNationalstaat nicht durch demokratischen Willensentscheid, sonderndurch Siege auf dem Schlachtfeld zustande gekommen war.

Um den besiegten Gegner zusätzlich zu demütigen, hatte man – eineInstinktlosigkeit ohnegleichen – als Ort der Proklamation gerade jenesPrachtschloß Ludwigs XIV. gewählt, mit dem sich für viele FranzosenRuhm und Glanz einer vergangenen Epoche verbanden. Und auch dasDatum war von hohem Symbolwert: 170 Jahre zuvor, am 18. Januar1701, hatte der Sohn des Großen Kurfürsten als Friedrich I. den Kö-nigsthron in Preußen bestiegen. Die preußische Geschichte, so solltesuggeriert werden, war nun endlich an ihrem Zielpunkt angelangt.»Morgen ist hier großer Mummenschanz, d. h. es soll der deutscheKaiser proklamiert werden, am alten Krönungstag der preußischenKönige«, notierte Paul Bronsart von Schellendorff, ein hoher General-stabsoffizier, am 17. Januar in sein Tagebuch, und er mokierte sich überdie »Helden des Zeremoniells«, die schon in Versailles eingetroffenwaren.2

Fast hätte die Zeremonie noch in letzter Minute abgesagt werdenmüssen. Denn König Wilhelm I., der sich ohnehin nur widerstrebendzur Annahme der Kaiserwürde hatte entschließen können, weil erinstinktiv spürte, daß er damit »von dem alten Preußen … Abschied

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20 die gründung des kaiserreichs

nehmen müßte«3, sperrte sich bis zuletzt gegen den ihm von Bismarckzugedachten Titel Deutscher Kaiser. Hätte der preußische König ge-ahnt, daß Bismarck den bayerischen Monarchen Ludwig II. erst durcherhebliche finanzielle Zuwendungen hatte bewegen können, Wil-helm I. im Namen der deutschen Fürsten die Kaiserkrone anzubieten –sein Widerstand wäre vermutlich noch heftiger ausgefallen. Wennschon, dann wollte er wenigstens Kaiser von Deutschland heißen. Demaber widersetzte sich Bismarck, weil damit ein territorialer Herr-schaftsanspruch verbunden schien, der den mühsam ausgehandel-ten Kompromiß mit den süddeutschen Staaten hätte in Frage stellenkönnen.

Die Gegensätze in der Titelfrage überschatteten noch die Zeremonieim Spiegelsaal. Im Anschluß an eine kurze Ansprache Wilhelms I. ver-las Bismarck, »der ganz grimmig verstimmt aussah«, »in tonloser, jageschäftlicher Art und ohne jegliche Spur von Wärme oder feierlicherStimmung« die Proklamation An das deutsche Volk.4 Darin wurdedie heikle Titelfrage insofern ausgeklammert, als nur von der »deut-schen Kaiserwürde« die Rede war. Auch der Großherzog von Badenvermied es in seinem Hoch auf »Seine Kaiserliche und KöniglicheMajestät, Kaiser Wilhelm«, die Empfindlichkeiten der einen wie deranderen Seite zu reizen. Und doch blieb bei Wilhelm I. eine nachhal-tige Verstimmung zurück. Bei der anschließenden Gratulationscourübersah er ganz bewußt den Mann, der die deutsche Einheit unterPreußens Führung zustande gebracht hatte. »Diese Kaisergeburt wareine schwere«, beklagte sich Bismarck einige Tage später in einem Briefan seine Frau Johanna, »und Könige haben in solchen Zeiten ihre wun-derlichen Gelüste, wie Frauen, bevor sie der Welt hergeben, was siedoch nicht behalten können. Ich hatte als Accoucheur mehrmals dasdringende Bedürfnis, eine Bombe zu sein und zu platzen, daß derganze Bau in Trümmer gegangen wäre.«5

Nicht nur auf den Reichsgründer selbst, sondern auch auf man-chen anderen Teilnehmer wirkte die Inszenierung vom 18. Januar1871 alles andere als erhebend. Vor allem die anwesenden Bayernempfanden Trauer bei dem Gedanken, künftig einem von Preußendominierten Deutschland anzugehören. »Ach Ludwig«, schrieb PrinzOtto am 2. Februar an seinen königlichen Bruder, »ich kann Dir

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21die kaiserproklamation in versailles

gar nicht beschreiben, wie unendlich weh und schmerzlich es mirwährend der Zeremonie zu Mute war, wie sich jede Faser in meinemInnern sträubte und empörte gegen all das, was ich mit ansah …Alles so kalt, so stolz, so glänzend, so prunkend und großtuerischund herzlos und leer … Mir war’s so eng und schal in diesem Saale,erst draußen in der freien Luft atmete ich wieder auf. Dieses wärealso vorbei.«6

Ganz anders wurde die Reichsgründung offenbar in Deutschland er-lebt, und zwar auch in den süddeutschen Staaten, wo es vor 1870 nochstarke Aversionen gegen einen Anschluß an den Norddeutschen Bundgegeben hatte. Der nationalliberale Reichstagsabgeordnete Hans Vik-tor von Unruh beobachtete während einer Reise durch Baden undWürttemberg im Frühjahr 1871: »In allen Schenkstuben hingen, wennauch schlechte, wohlfeile Bildnisse des Kaisers, Bismarcks, des Kron-prinzen und Moltkes … Kaiser und Reich fanden enthusiastische Zu-stimmung.«7 Unter dem Eindruck der Kaiserkrönung in Versailles undder Kapitulation von Paris wenige Tage später schrieb der auf demrechten Flügel der Nationalliberalen stehende Historiker Heinrich vonSybel an seinen langjährigen politischen Weggefährten HermannBaumgarten: »Wodurch hat man die Gnade Gottes verdient, so großeund mächtige Dinge erleben zu dürfen? Und wie wird man nachherleben? Was zwanzig Jahre der Inhalt alles Wünschens und Strebensgewesen, das ist nun in so unendlich herrlicher Weise erfüllt! Wohersoll man in meinen Lebensjahren noch einen neuen Inhalt für das wei-tere Leben nehmen?«8

Dennoch gab es gerade für die Nationalliberalen keinen Grund zurEuphorie. Zwar hatte sich Bismarck seit 1866 mit ihnen ausgesöhnt,weil er nur zu genau wußte, daß das Werk der deutschen Einheit ohneoder gar gegen die stärkste gesellschaftliche Kraft der Zeit, die bürger-liche Nationalbewegung, nicht vollendet werden konnte. Zugleich aberhatte der Kanzler sorgfältig darauf geachtet, daß Reichstag und Par-teien im Prozeß der Reichsgründung von jedem direkten Einfluß aufden Gang der Verhandlungen ferngehalten wurden. Das deutscheReich sollte als dynastische Gründung ins Leben treten, durch Verein-barung der Fürsten und nicht durch die Initiative des Parlaments. Undso war die Kaiserproklamation am 18. Januar zuallererst auch ein

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22 die gründung des kaiserreichs

dynastischer Akt, wobei in der Dominanz der Uniformen der Charak-ter des neuen Reiches als eines Militärstaats unübersehbar zutage trat.»Dieser militärisch-höfische Charakter, der dem deutschen Kaisertumin der Stunde seiner Geburt aufgeprägt wurde, hat ihm angehaftet, so-lange ein Hohenzoller die Kaiserkrone getragen hat. Das wurde eineGrund-Tatsache der deutschen politischen Entwicklung.«9 In diesesUrteil des liberalen Publizisten Erich Eyck aus dem Londoner Exil 1943ist bereits die Kenntnis des Späteren, des unrühmlichen Endes der Ho-henzollernmonarchie 1918, eingegangen. Aus der Perspektive von 1871nahm sich der weitere Gang der Dinge nicht so eindeutig aus. Soschwer die Hypothek auch wog, die aus der Konstellation der Geburts-stunde erwuchs – die Weichen waren damit noch nicht unausweichlichauf Scheitern und Untergang gestellt. Wie sich der deutsche National-staat, der aus drei Kriegen hervorgegangen war, in der äußeren und in-neren Politik entwickeln, welche Kräfte in ihm vorherrschen, wie sichinsbesondere das Machtverhältnis zwischen Krone, Regierung undParlament verteilen und ob es den Liberalen gelingen würde, die mi-litärstaatlich-autoritäre Prägung der Gründungsphase zu überwinden,das mußte sich in der Zukunft erweisen.

Der Gründungsmythos des neuen Reiches

Aus staatsrechtlicher Sicht war die Kaiserproklamation in Versaillesnur eine, wenn auch wichtige Etappe auf dem Wege zur Reichsgrün-dung. Mindestens ebenso bedeutsam war die Verabschiedung derneuen Reichsverfassung durch den Reichstag am 16. April 1871. Dochnicht dieser Tag wurde zum Symbol deutscher Einheit, sondern dieSzene im Schlosse von Versailles, die unter Ausschluß der Öffentlich-keit stattgefunden hatte. Künstler, Publizisten, Historiker wetteifertendarin, sie zum nationalen Großereignis, zum identitätsstiftendenSchöpfungsakt zu verklären. Auf der Skala nationaler Gedenktage imKaiserreich rangierte das Reichsgründungsfest an erster Stelle – nochvor Kaisers Geburtstag am 22. März (später, zu Zeiten Wilhelms II.,am 27. Januar) und dem Sedantag am 2. September.10

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Die Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles, 18. Januar 1871.Gemälde von Anton von Werner (Friedrichsruher Fassung).

Keiner hat so zur Popularisierung des Gründungsmythos beigetra-gen wie Anton von Werner mit seinem berühmten Bild der Kaiserpro-klamation, das, unzählige Male reproduziert, zur nationalen Ikone derDeutschen wurde. Der Historienmaler hatte am 15. Januar 1871 einTelegramm des preußischen Hofmarschalls von Eulenburg erhaltenmit der Aufforderung, sich umgehend ins Hauptquartier nach Ver-sailles zu begeben, wo er etwas seines »Pinsels Würdiges erleben«würde.11 Er traf gerade noch rechtzeitig ein, um die Zeremonie imSpiegelsaal mitzuerleben. Noch in Versailles begann Anton von Wer-ner mit Entwürfen und Skizzen. Es dauerte allerdings noch einigeJahre, bis das Werk vollendet und am 22. März 1877, dem 80. Geburts-

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24 die gründung des kaiserreichs

tag Wilhelms I., dem Kaiser als Geschenk der Fürsten und freien Städteüberreicht werden konnte.

Das großflächige Gemälde suchte den Eindruck einer detailge-treuen, fast photographischen Wiedergabe des Geschehens zu erwek-ken; in Wirklichkeit lieferte Anton von Werner durch die Kompositionund das Arrangement der Figuren eine bestimmte idealisierende undheroisierende Interpretation des historischen Ereignisses.12 Noch deut-licher zeigt sich diese Tendenz in der zweiten Fassung des Bildes von1882: Die Hauptprotagonisten, allen voran Wilhelm I. und Bismarck,sind hier unverkennbar in den Mittelpunkt gerückt. Anstelle der blauenDienstuniform trägt der Reichskanzler jetzt die weiße Galauniformder Kürassiere, wodurch er gleichsam als eine germanische Licht-gestalt die Blicke in besonderer Weise auf sich zieht. MittelalterlicheReichsidee und preußischer Machtstaatsgedanke wurden in der Ikono-graphie des Gründungsaktes miteinander verschmolzen, Vergangen-heit und Gegenwart versöhnt in der Vorstellung einer besonderennationalen Sendung der Hohenzollern, die am 18. Januar ihre Erfül-lung gefunden habe.

In den nationalliberalen Historikern der Reichsgründungszeit fanddieser Ursprungsmythos seine wirkungsmächtigsten Propagandisten.Gebannt vom militärischen Sieg über Frankreich und dem staatsmän-nischen Geschick Bismarcks, verfolgten sie den deutschen BerufPreußens bis ins Mittelalter zurück. In dieser teleologischen Sicht derReichsgründung »erschien die preußisch-deutsche Geschichte als einsich mit Notwendigkeit erfüllender Entwicklungsprozeß, der vonLuther und der Reformation über den Großen Kurfürsten und Frie-drich den Großen bis zur preußischen Reformzeit führte, um dann imWerk Bismarcks seinen krönenden Abschluß zu finden«.13 Es werdewohl nicht mehr allzulange dauern, spottete der große Basler Histori-ker Jacob Burckhardt am Ende des Jahres 1872, »bis die ganze Welt-geschichte von Adam an siegesdeutsch angestrichen und auf 1870/71orientiert sein wird«.14

Mit seiner nach 1871 begonnenen Deutschen Geschichte im19. Jahrhundert verfolgte Heinrich von Treitschke, der historiogra-phische Herold des neuen Reiches, die Absicht, »eine allen Gebildetengemeinsame nationale Geschichtsüberlieferung« zu schaffen und da-

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25gründungsmythos des neuen reiches

mit ein »einmütiges Gefühl froher Dankbarkeit« zu wecken – Dank-barkeit vor allem für jene »politischen Helden«, die den »Traum vompreußischen Reich deutscher Nation« verwirklicht hätten.15 Daß alleindie idealisierte preußische Militärmonarchie das Werk der Reichsgrün-dung vollbringen konnte – das stand für Treitschke, das stand für diegesamte borussisch geprägte Historikerzunft nach 1871 ganz außerFrage: »Die Macht Preußens in unserem neuen Reiche ist von langerHand her durch redliche stille Arbeit vorbereitet; darum wird siedauern.«16 Neben Anton von Werners Gemälde hat Treitschkes Ge-schichtsschreibung das historisch-politische Bewußtsein der Deut-schen nach 1871, vornehmlich jener Schichten, die sich selbst für ge-bildet hielten, am stärksten geformt.

Von Anfang an trug der neue Reichsnationalismus Züge eines über-schießenden Selbstbewußtseins, verbunden mit einem Gestus an-maßender Überheblichkeit gegenüber anderen Nationen, vor allemdem besiegten Frankreich. Deutlich wurde das bereits beim triumpha-len Empfang der heimkehrenden Truppen in Berlin am 16. Juni 1871.Ein Augenzeuge, der Dichter Berthold Auerbach, schrieb einen Tagspäter an einen Freund: »Als die 81 französischen Trikoloren und gol-denen Adler vorübergetragen wurden und ein Jubelschrei ohnegleichenerdröhnte, da durchschauerte es mich unsagbar: es ist vollbracht, dersinnenverwirrende blutlechzende Dämon der Gloire ist niedergewor-fen, hoffentlich für alle Zeit.«17

Daß der Sieg über Frankreich nicht nur der Tüchtigkeit der Armee,sondern auch der Überlegenheit deutscher Kultur zu verdanken sei,war eine weitverbreitete Überzeugung. In seinen UnzeitgemässenBetrachtungen von 1873 warnte Friedrich Nietzsche vor solchemTriumphalismus: »Von allen schlimmen Folgen aber, die der letzte mitFrankreich geführte Krieg hinter sich drein zieht, ist vielleicht dieschlimmste ein weitverbreiteter, ja allgemeiner Irrtum: der Irrtum deröffentlichen Meinung und aller öffentlich Meinenden, daß auch diedeutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe und deshalb jetzt mitden Kränzen geschmückt werden müsse, die so außerordentlichen Be-gebnissen und Erfolgen gemäß seien. Dieser Wahn ist höchst verderb-lich: nicht etwa, weil er ein Wahn ist – denn es gibt die heilsamstenund segensreichsten Irrtümer – sondern weil er im Stande ist, unseren

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26 die gründung des kaiserreichs

Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, jaExstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des deutschen Rei-ches.«18

Reichsgründung und europäisches Gleichgewicht

Generationen von Historikern haben die Vollendung der deutschen

Einheit dem überragenden politischen Genie Bismarcks zugeschrie-

ben. Tatsächlich wurde sie entscheidend begünstigt durch eine unge-

wöhnliche internationale Konstellation: jenes »Wellental der Großen

Politik« (Ludwig Dehio)

19

nach dem Krimkrieg (1854–56), das die Mitte

Europas weitgehend vom Druck der Großmächte entlastete. Rußland

konzentrierte sich nach der Niederlage auf die Expansion in Ostasien

und die Modernisierung seiner Gesellschaft. Der große Nachholbedarf

an inneren Reformen setzte der außenpolitischen Manövrierfähigkeit

des Zarenreiches Grenzen.

20

Auch die Aufmerksamkeit der englischen

Politik war durch innenpolitische Probleme, vor allem durch die

Kämpfe um die Wahlrechtsreform, dazu von globalen Verpflichtungen

des Empire stark in Anspruch genommen. Was die Verhältnisse in

Mitteleuropa betraf, verfolgte die britische Regierung eine Politik der

Nichteinmischung, wobei sie gegen die Errichtung eines von Preußen

dominierten deutschen Nationalstaats im Prinzip nichts einzuwenden

hatte, weil sie darin ein Gegengewicht zu den Ambitionen Napo-

leons I I I., mithin eine Garantie für das Gleichgewicht auf dem Konti-

nent erblickte.

21

Das relative Desinteresse sowohl Rußlands als auch Englands an

Zentraleuropa erleichterte es Bismarck, den Krieg mit Österreich um

die Vorherrschaft in Deutschland 1866 und die Auseinandersetzung

mit Frankreich 1870 zu begrenzen. Wenn der Reichskanzler später be-

tonte, daß die deutsche Einheit »unter dem bedrohenden Gewehr-

anschlag des übrigen Europa ins Trockene gebracht« worden sei,

22

dann war das eine Übertreibung, die die eigenen Verdienste in beson-

ders hellem Lichte erstrahlen lassen sollte.

Nach der Schlacht von Sedan, der Abdankung Napoleons I I I. und

dem Bekanntwerden der Pläne für eine Annexion Elsaß-Lothringens