Unzertrennlich in Brissago

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Unzertrennlich in Brissago Betty Wehrli-Knobel und Verena Knobel – Illustrierte Biografien zweier kreativer Frauen Niklaus Starck, porzio.ch

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Betty Wehrli-Knobel und Verena Knobel – Die Biografien zweier kreativer Frauen

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Betty Wehrli-Knobel und Verena Knobel –Illustrierte Biografien zweier kreativer Frauen

Niklaus Starck, porzio.ch

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Mit freundlicher Unterstützung

Comune di Brissago

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Unzertrennlich in BrissagoBetty Wehrli-Knobel und Verena Knobel

Illustrierte Biografien zweier kreativer Frauen

Niklaus Starck

porzio.ch

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Inhaltsverzeichnis

Begegnungen 8Kindheit im Glarner Hinterland 11Der Bürgermeister 23Die Geschichte meines Lebens 26„Co di Campo“, ein verlassenes Haus 30Betty, die Schreibende 33Morgengewitter 40Schweiz im Frieden 42Sonogno, Brauchtum des Verzascatals 46Verena, die Malende 53Himmelfahrtslilien 67Die Casa Antica in Cadogno 69Brissago Jahrzehnte früher 81Erinnerungen eines Enkels 90Brissago, Geschichte und Sehenswürdigkeiten 93Malven – das letzte Richard-Strauss-Lied 104„Vengo subito!“ 107Allernetteste und toleranteste Nachbarn 110Frauen in unserem Land – Maja Müller 112

Unzertrennlich in BrissagoBetty Wehrli-Knobel und Verena KnobelIllustrierte Biografien zweier kreativer FrauenNiklaus Starckporzio.ch, 2014

Titelbild: Verena Knobel, Cà Antica, Cadogno,mit freundlicher Genehmigung von Gertrud und Alex Burger, Küssnacht a.R.

Wer sich für die Tessiner Kultur des 20. Jahrhunderts interessiertstösst immer wieder auf den Namen Knobel, Betty Wehrli-Kno-bel und Verena Knobel. Betty, die ältere der beiden Schwesternhat geschrieben, Verena gemalt. Nach einer idyllischen Kindheitim hinteren Glarnerland erlebten die Mädchen mit ihren Elterndie schicksalhaften Folgen des Ersten Weltkriegs hautnah, siezogen aus dem Glarnerland nach Bern, Spiez, Interlaken undschliesslich wieder zurück nach Glarus. Von dort gingen die bei-den Frauen hinaus in die Welt, jede auf ihrem eigenen Weg. Bettyheiratete und verlor ihren Mann früh. Die Schwestern taten sichzusammen, kamen anfangs der 1950er-Jahre ins Tessin, sie lebtenund wirkten während eines halben Jahrhunderts in ihrer rustikalenCasa Antica im alten Dorfteil Cadogno oberhalb von Brissago.Dort starben die beiden auch, im selben Jahr, unter unterschied-lichen Umständen. Ihr gemeinsames Urnengrab befindet sich aufdem Cimitero del Piano in Brissago.Diese Biografie wurde geschrieben, um zwei ganz besondereMenschen und ihre Werke nicht der Vergessenheit zu überlassen.Es gab weder viel zu formulieren noch zu illustrieren, das habendie Schwestern Knobel bereits zu Lebzeiten übernommen, esgab hauptsächlich zu recherchieren und zusammenzutragen. Die

Biografie erhebt weder den Anspruch auf Richtigkeit noch aufVollständigkeit, sie versteht sich als Versuch, die Liebenswürdig-keit und Kompetenz zweier kreativer Frauen und die Nostalgieder Vergangenheit zu vermitteln.An der Entstehung des Buches waren, in chronologischer Rei-henfolge, beteiligt: Renata Brühlmeier, ihre Grosszügigkeit undihre Bücher und Dokumente, eine „ziemlich freche“ Vespafahrtvon Ascona nach Cadogno bei Brissago an einem frühlingshaf-ten Januarsamstag, Gertrud und Alex Burger und ihre so uner-wartete wie unglaublich herzliche Gastfreundschaft in der CasaAntica. Die Informationen von Giancarlo Kuchler aus Brissagowaren wichtig. Der Schriftverkehr und die Gespräche mit CorryKnobel, vor allem seine und die Fotografien seiner Brüder Rayund Gregory haben die Biografie reicher gemacht. Galleria ....Eva FrassiDer Rest war lustvolle und zufriedene Arbeit.

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Blühende Birke

Die Birke blüht. Goldenes Geflammist ihre Krone,schimmernde Seideder schlanke Stamm.

Duftender Baum, von Bienensängendumpf brausend durchdröhnt,zart, so zart in des Frühlings Drängen.

Birke in Blau des südlichen Tags,lauschen dem Toneschläferig müdenKirchenglockenschlags.

Betty Knobel, aus Hier im Süden

Nahender Frühling

Wasser donnern und schäumenüber Granit und Gneis.Schnee in den kahlen Räumen.Schattenwärts krustet Eis.

Lautlos aber entfaltenseenah sich, sonnenhalbin den Gärten, den alten,die Kamelien bald.

Leuchtende Intarsien,gefügt in das Geäst,künden sie weiss und rötlichnahenden Frühlings Fest.

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Begegnungen

Aus Im Lande der Kamelien von Betty Knobel: Jede Begegnung miteinem Menschen ist eine Antwort Gottes. Gerda Cromm in Mitdem Herzen hören. – Vor vielen Jahren, tief in lastenden Schmerzund Ausweglosigkeit gefallen, weil der Tod dem Leben meinesliebsten Menschen ein Ende gesetzt hatte, bin ich Dr. WladimirRosenbaum zum erstenmal begegnet. Um mich einer Krankheit,die somatisch mit jenem Leberleben im Zusammenhang stand,zu erholen, hielt ich mich, immer in ärztlicher Behandlung, in As-cona auf. Eines Tages, als ich, immer in dasselbe Nachsinnen ver-sunken, irgendwie zeit- und weltverloren, an einem Tischchen voreinem längst erkalteten Café crème sass, trat eine Kollegin, eineliebe Freundin, die Schriftstellerin und Radiomitarbeiterin Elisa-beth Thommen, 1888-1960, herzu und setzte sich nach herzlicherBegrüssung mir gegenüber. „Ach, weist du“ sagte sie, „es ist wohlschwer, den Verlust seines Lebenskameraden ertragen zu müssen,doch versuche dir einmal zu überlegen, wie es einer Frau zu Mutesein muss, die eben eine gerichtliche Scheidung vom Partner er-lebte. Es ist dies düster, schwer, aussichtslos.“Ich konnte ihr, die ich schätzte, der ich seit manchem Jahrefreundschaftlich zugetan war, nur stille zuhören, ihr irgendwienicht einmal eine Antwort geben. „Es geht gegen Mittag“, sagte die einige Tessiner Ferientage ge-niessende emsige Journalistin, „komm’, wir wollen eine Kleinig-keit essen, just hier in diesem Restaurant, in dem ich mich seiteh und je so gerne aufhalte.“ Es war das damalige Ristorante Ver-bano gewesen. „Ach, essen?“ erwiderte ich, wohl alles andere als freundlich,doch die zu jener Zeit unentwegt mit Worten und schreiben fürRechte der Frauen kämpfende Elisabeth Thommen liess nichtlocker, und so sassen wir denn bei einem gemeinsamen Mittag-essen, wie dies früher in Zürich oft der Fall gewesen war. Langsam kam endlich ein Gespräch in Gang, während welchemElisabeth Thommen mich auf einmal über den Tisch herüberan der Hand fasste und auf mich einzureden begann: „Hör’ ein-mal, meine Liebe, der Ro sucht eine Halbtags-Sekretärin. Was

meinst du, möchtest du dich nicht einmal bei ihm melden?“„Wer ist Ro?“„Doch Dr. Wladimir Rosenbaum, kennst du ihn nicht?“„Ja, schon, aber...“In irgend einer Weise war es mir immer noch nicht möglich,einen Entschluss zu fassen, anderseits war Elisabeth Thommennie eine Kollegin gewesen, die von einem einmal angepeilten Un-ternehmen wieder zurückging, so dass sie natürlich auch michnicht mehr in Ruhe liesse. Einige Tage später fand bereits dieerste Begegnung mit dem damals immer noch die Galleria d’ArteAntichità in der Casa Serodine an der heutigen Piazza San Pietroausbauenden Dr. Wladimir Rosenbaum statt. Einen Sommerlang habe ich dann jeweils nachmittags als seine Sekretärin gear-beitet. Ich wohnte in einem alten Patrizierhaus im Borgo, daslängst neuerstellten Gebäulichkeiten Platz machen musste. Lang-sam wuchs ich so wieder in die Verpflichtung einer Arbeit, in dieVerbindung mit Menschen, ich möchte sagen, ins Leben hinein.Es war schön, für Dr. W. Rosenbaum nach Diktat Briefe zuschreiben. Ich besuchte, so kam es mir vor, noch einmal HoheSchule deutscher Sprache. Wenn die Amici delle Belle Arti Ascona zur Vernissage einer ihrerAusstellungen im Museo Comunale einladen, gehen wir immermit grösster Freude hin, dies schon deswegen, weil Dr. W. Ro-senbaum als Vorsitzender dieser Vereinigung jeweilen einesprachlich vollendete, lebendige, in Herz und Gewissen zün-dende Ansprache zu halten pflegt. Gerne tritt man in den In-nenhof des 1620 von Giovanni Serodine erbauten Bürgerhaus,das nach Rahn über die schönste Fassade der Schweiz verfügensoll, hinein in die gediegen eingerichteten Räume, recht eigentlichin ein Königreich echter, einmaliger, kostbarer Antiquitäten. Der Begegnung mit Dr. W. Rosenbaum fügt sich immer auch dasGespräch an, das nicht nur zum Nachdenken anregt, sondernspürbar menschlich bereichert, dies ganz im Sinne des Goethe-Wortes: „Was ist herrlicher als das Gold? – Das Licht. – Was isterquickender als das Licht? – Das Gespräch.“„Menschen zu begegnen, das ist Glück“, hat W. Rosenbaum ein-mal in einer seiner Ansprachen festgehalten. An der Hochzeitsfeierseiner Tochter Simone sprach er, ein bedeutsames Knabenerlebniserzählend, vom „Wunder der Begegnung“. Die Rede, die Dr. W. Rosenbaum im Februar 1979 an der Feierzum 90. Geburtstag von Aline Valangin gehalten hat, wird mitder darin dominierenden Quintessenz des Lebens- und Gottes-glaubens allen, die sie mit anhören durften, in Erinnerung blei-

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Das Gespräch mit dem in Ascona verwachsenen und verbunde-nen, bereits in hohem Alter stehenden Besitzer der Galleria CasaSerodine, Arte e Antichità, ist immer, wenn wir ihm begegnen, po-sitiv, wegleitend, ermutigend.

ben. Unvergessen auch die Art und Weise, wie er zu einer Feierauf der Terrasse des Hotels Rivabella in Brissago erschien, vonallen auf das herzlichste willkommene Gestalt, einen Strauss vonLotosblumen vor sich hertragend.

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Familie Knobel, Mutter Verena, Kinder Verena, 1912, Markus, 1920 und Betty, 1904, VaterxxxxMelchior

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Kindheit im Glarner Hinterland

Betty, die ältere der beiden Schwestern, kam am 13. Juli 1904 imWeiler Zusingen bei Haslen, Kanton Glarus, als Tochter des Mel-chior, Kontorist, und der Verena, geborene Zweifel, zur Welt.Über die Herkunft der Knobels sei nichts überliefert, schriebBetty in Vergessene Reise? über diejenige der Zweifels jedoch zi-tierte sie ihren 1843 geborenen Zusinger Grossvater Peter Zwei-fel: „Mein Vater war ein Balthasar Zweifel, Fabrikarbeiter, meinGrossvater ein Samuel Zweifel von Linthal, später Bürger vonSchwanden, der, erst dreissig Jahre alt, beim Holzen ums Lebengekommen ist. Sein Vater hiess Adam Zweifel, und auch dessenVater trug den gleichen Vornamen. Der Vater dieses letztenAdam Zweifel hiess Rudolf und war Tagwenvogt von Linthal.Der Vater dieses Rudolf Zweifel, der von 1693 bis 1755 lebte,

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war Ratsherr Johann Rudolf Zweifel von Linthal. Ein noch frü-herer Vorfahr war der ennetbirgische Gesandte zu Lauis, Lugano,Hans Heinrich Zweifel, und dessen Vater war der Ratsherr undKirchenvogt Fridolin Zweifel.“ Es folgt eine Auswahl von Zitaten aus Vergessene Reise?, der BettyKnobel den Untertitel Eine Kindheit im Glarner Hinterland gab: DasBabettli? Ja, so war ich in der Kirche von Schwanden vom PfarrerKind getauft worden. Später, als ich in der Ecole Supérieure de Com-merce pour jeunes filles in Neuenburg war, wurde dieser Name ge-ändert. Ich wurde dort kurzerhand von Babettli zu Bettyumgetauft. Man hatte gar den professeur de français, Monsieur PierreBreuil, über diese Namens-Umbenennung befragt, der sie ent-schieden befürwortete. Was aber würde der Vater, was die Mut-ter, was die Zusinger Grosseltern dazu sagen? ‚Ach, es ist ja nurdie Abkürzung des eigentlichen Namens’, lautete die Antwort,als ich die bereits zur Tatsache gewordene Namensänderung da-heim vorbrachte, ‚warum auch nicht?’. [...] Meine vergesseneReise, meine Kindheit also, hat im Weiler Zusingen bei Haslenim Glarner Hinterland ihren Anfang genommen. Die Elternwohnten dort im Hause der Grosseltern. Mein Vater, wie auchsein Schwiegervater, mein Grossvater also, war Comptoirist, imVolksmund ‚Schryber’ geheissen. War der Vater der ‚SchryberMelcher’, so war der Grossvater der ‚Schryber Beeter’, PeterZweifel. Beide arbeiteten im Büro der Firma Daniel Jenny & Cie.im Sand, Haslen. Ihren Weg zur Arbeit legten sie selbstverständ-lich zu Fuss zurück, doch als der Grossvater in späteren Jahrenbeinleidend wurde, won er böösi Bei überchuu het, kam jeden Morgender Fuhrmann Hösli aus Haslen mit seinem Leiterwagenfuhr-werk vor das Haus und brachte ihn an seine Arbeitsstätte. DasGrossmütterlein, kleingewachsen, schlank und fein, d Barble oderds Bääbi, wie Barbara Zweifel, geborene Zopfi genannt wurde,packte dann das Mittagessen für den Grossvater in einen grossenHenkelkorb, und miteinander brachten wir es ihm in die ‚Ma-schine’, also zur Spinnerei und Weberei Jenny.“ Nachdem Betty Vatereine Stelle als Buchhalter und Korrespondent bei der Firma Gal-latin & Cie. in Leuggelbach, ‘auf der anderen Seite der Linth’ an-genommen hatte, stand auch ein Wohnortwechsel an. „Mir händmöse plündere. Ich erinnere mich gut, wie man Bettladen, Kästenund Stühle, überhaupt alles, was uns gehörte und was die Gross-eltern uns mitgaben, die Treppen hinunter und hinaus in einenhohen, verschliessbaren Wagen trug, dem ein Pferd vorgespanntwurde.“ Die Schule besuchte Betty Knobel in Leuggelbach. „DieSchüler, Mädchen und Buben, aller sieben Primarklassen wurden

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Und jetz ä kä Tolgge mii! Verstande!’ ‚Ja, Herr Leerer’, antworteteich selig und war froh, dass die Sache noch so gut abgelaufenwar.“ [...] Auch die Leuggelbacher Kinder haben sich an der Fas-nacht verkleidet. Mit Rasseln und tschätternden Tromptetenrannten sie durchs Dorf und genossen das Narrenfest auf ihreArt. An den Hängen klebte überall noch Schnee, druchweichtvom tagelang wuchtenden Föhn. Welch ein Vergnügen, sich indiesen Schnee zu setzen und den Hang hinunterzurutschen! ImFasnachtsgewand? – Klar. Ich trug eines, das die Mutter vonStoffresten aus dem Alten Geschäft geschneidert hatte, ein Rot-käppchenkostüm. Die Spuren dieser Rutschbahn konnte manam Hang zwischen den Halten bis hinunter gegen den Übergangder Bahnlinie sehen. Und – nicht nur! Das Fasnachtsstöffleinwar eben alles andere als farbecht gewesen, das Unterröckli, dasHösli, das Hemdli waren völlig durchnässt und rot gefärbt. Hätteda eine vielbeschäftigte Mutter ihrem Kinde nicht ein wenig dieLeviten lesen sollen? – Als wir noch im untern Hause wohnten,hielt die Mutter ein ganzes Schärlein Hühner. Auf Ostern färbtesie die schönsten Eier, die man sich denken konnte, ihrer viele.Was tat der Vater? Er verteilte davon. Die Kinder kamen, einessagte es im Dorf dem andern, und immer verteilte der Vater wei-

vom Lehrer gemeinsam in ein- und demselben geräumigen Zim-mer des Leuggelbacher Schulhauses unterrichtet. [...] Wenn mannicht aufpasste und zu den Sachen nicht Sorge trug, konnte sichder Leuggelbacher Lehrer sehr erzürnen, so zum Beispiel, wennwir im Schönschreibeheft einen Tolggen vorweisen mussten.Ohne Folgen ging so etwas nie vorüber. Es gab auf jeden Falleinen Verweis, einen Faustschlag aufs Pult, und wenn dasTolggen-Missgeschick kurz darauf wieder vorkam, konnte essogar eine Tatze absetzen. Mir passierte es, dass auf der letztenSeite des Schönschreibeheftes einmal ein grosser Tintenkleksprangte. Schon längstens hätte ich natürlich während der Schön-schreibestunde zum Pult gehen und mir vom Lehrer ein neuesHeft erbitten müssen. Doch ich wartete ... ich wartete ... Dasnächste Mal dann ... Aber das nächste Mal ging ich wieder nicht,ich fürchtete eben doch des Lehrers Strenge und Konsequenz.Wie erschrak ich aber, als dieser auf seinem Rundgang durch denSchulraum plötzlich neben mir stehen blieb und fragte: ‚Chnobel,we lang waartisch du eigentli, bis du chunnsch ä nüüs Heft guhole? Sine, gib Antwort!’ Mein lakonisches ‚Schu lang!’ erzürnteihn ganz besonders. ‚Chum use ussem Bangg! Chum vüre ä dsPult!’ , befahl er mir. Dann am Pult: ‚So, da hesch ä nüüs Heft.

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Zusingen

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ter gefärbte Eier, dies auch noch am Vormittag des Ostersonn-tags, während die Mutter in der Küche einen Braten überwachteund in der Stube den Tisch festlich deckte. Als sie zwischenhineinin der Türe erschien und heraustrat auf den kleinen Platz vordem Haus, waren just noch zwei der prächtigen, gefärbten Eierübrig geblieben, und die Mutter wünschte, mit einer Bestimmt-heit, welche man sonst an ihr nicht kannte, dass wenigstens diesebeiden Eier noch für das Babettli bleiben sollten. Auch sie selbsthätte gerne eines gehabt. Und der Vater? Nun, er hätte die letztenzwei eben auch noch verschenkt. Die Kinder hätten Freude ge-habt, meinte er. Die Mutter schüttelte den Kopf. Ich streicheltemein Ei mit den aufgefärbten Geissblüemli, den Veilchen, demLöwenzahnblatt, eines jener Ostereier, wie wir sich heute noch,in unserem Alter, das Verendli und ich, hier unten im Tessin, amBerghang von Brissago, nach Mutters Art färben. [...] Nacheinem schweren Unwetter war die Linth über ihre Ufer getretenund hatte überall, im Grosstal und im Kleintal, im Unterlandauch, grossen Schaden angerichtet. Schutt musste weggeschau-felt, Dämme mussten errichtet werden. Was aber war im Jahre1911 geschehen? Einmal nahm mich der Vater mitten in derNacht aus dem Schlafe auf, legte mir das Pelerinenmäntelchenum und trug mich aus dem Haus hinaus über den Zaum auf dieWiese. Dann kam auch die Mutter nach. Ich war wach genug,um zum Himmel hinauf zu schauen und – zum ersten Mal – diePracht der Sterne erblicken zu können. ‚Weisch, es erdbebnet,Babettli’, sagte der Vater und drückte mich fest an sich. Nach ei-niger Zeit konnte man das Haus wieder betreten. Ich wurde zuBett gebracht und schlief ein. [...] Einmal durfte ich mit demVater an die Landsgemeinde. Wir fuhren mit dem Zug nach Gla-rus. Leuggelbach hatte nämlich, es war im Jahr 1913, sein Halte-stellchen erhalten, ein Ereignis, das damals festlich gefeiertworden war. In Glarus stellte mich der Vater bei der Familie sei-nes Militärfreundes ab, während er sich zu den Landsgemeinde-Verhandlungen in den Ring auf den Zaunplatz begab. Als erdann mit seinem Freunde wieder zurückkam, wurden wir alle zuTisch gebeten, und es gab das traditionelle Landsgemeinde-Mit-tagessen: Kalberwürste, Herdöpfelstock, gekochte gedörrteZwetschgen. [...] Eines Tages eröffnete mir die Mutter, dassgegen Abend der Samichlaus käme. Sie ermahnte mich, mit derGfätterliwaar schön Ordnung zu haben, anständig zu sein, wenner komme und nichts Dummes zu sagen. ‚Der chunnt aber langnüüd’, soll ich, was mit später dann und wieder etwa vorgehaltenwurde, genörgelt haben. Ungeduldig wartete ich auf den Mann

im roten Mantel, mit der roten Mütze, dem weissen Bart, demSack und der Rute, bis er endlich polternd in die Stube trat. Wohlwar der Samichlaus soweit mit mir zufrieden, doch rügte er meinHerumstehen auf der Strasse, das ewig lange Nichtheimkom-men, wenn ich mit dem Scheesenwagen nach Luchsingen ge-schickt würde usw. usw. Er gab mir zwei Chräämli und einSäcklein mit spanischen Nüssli. Auf einmal musste ich lachen.‚Warum lachisch du, Chind?’, wollte der Samichlaus wissen. ‚Dubisch ja nu dr Vatter’, antwortete ich. Der Samichlaus verliess da-rauf die Stube. Die Mutter meinte, dass ich das zum Samichlausnicht hätte sagen dürfen. ‚Jä, isch es dä nüd dr Vater gsii?’, be-harrte ich. ‚Mir müend nä dä halt fraage’, lautete ihre Antwort,worauf sie mich kurzentschlossen ins Bett schickte. – Acht Jahre

Die junge Familie mit Babettli

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dieses Dorfes im Glarner Hinterland in der Geschichte genannt.Nie wurde dort eine Schlacht geschlagen, nie ein Sieg errungen.Keine Burg wurde geplündert, kein Vogt verjagt. Immerhin sindSuwarows Soldaten auf ihrem makaberen Zug über den Pani-xerpass von Elm nach Graubünden gefährlich nahe herange-kommen, und man behauptet, dass Wortbrocken aus jenerfernen Zeit sich in der Mundart des Dorfes wie überhaupt imGlarnerland, bis auf den heutigen Tag erhalten haben. So sprichtman z.B. immer noch von einem ‚Gane’, une canne, wenn maneinen Spazierstock meint. Eine ganz bestimmte Verneinung kannimmer noch durch ‚näpa’, ne pas, ausgedrückt werden. Auch ‚Ge-lörettli’, quelle heure est-il?, wird noch vernommen. Diesesprachlichen Überbleibsel können aber auch auf den französi-schen Solddienst der Glarner zurückgehen. – In diesem Dörf-chen Leuggelbach wurde mein Schwesterlein, das Verendli,geboren. Daran erinnere ich mich noch ohne Weiteres, allerdings

lang war ich das einzige Kind meiner Eltern. In dieser Zeit er-lebte ich einen Altjahrabend bei den Leuggelbacher Urgrossel-tern. Es war Tradition, dass alle Familienmitglieder an jenemAbend zu einem guten Nachtessen zusammenkamen, das die Ur-grossmutter zubereitet hatte: der Grossvater, das Bäsi Marieliund der Vetter Methis, die Bäsi Briine und der Vetter Fritz undwir. Damit sich alle um den runden Tische setzen konnten, muss-ten sämtliche Stabellen aus der Küche und dem Treppenhaus ge-holt werden. Es war ‚wagger iigfüüret’ worden. In der Stube wares denn auch entsprechend warm. ‚Zu warm!’, fand der Vaterund zog seinen Tschopen aus. Erst hemdsärmelig fühlte er sichwohl. Nach und nach machten es der Urgrossvater, der Gross-vater, machten die Vettern es ihm nach. [...] In der Erinnerungwird mir das kleine Dorf Leuggelbach hinter Schwanden, nachNidfurn, dem Leuggelbach-Fall zu Füssen, unter dem Gischt desniederstürzenden Wassers, wieder lebendig. Nie wurde der Name

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Babettli, auf der Bank sitzend, zweite von rechts

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nicht in dem Sinne, dass mir etwa er-klärt wurde, dass jetzt dann ein Brü-derchen, was dem Vater am liebstengewesen wäre, oder, mir lieber, einSchwesterchen zur Welt kommenwürde, aus dem Leib der Mutter he-raus. Es war Herbst und die Ferienwaren eben zu Ende gegangen. Dabemerkte der Vater eines Morgens,dass das Babettli jetzt für einige Tagenach Zusingen gehen würde. Kaumhatte die Mutter mir noch ein eiligstgeschriebenes Briefchen in dieSchürzentasche gesteckt, höcktemich der Vater vorn aufs Velo undliefert mich nach rascher Fahrt beiGrossvater und Grossmutter in Zu-singen ab. [...] Wenige Zeit darauferschien, mitten am Tage, in Zusin-gen der Vater. Sollte er denn nicht,fragte ich ihn, jetzt in Leuggelbachim Alten Geschäft im Büro sein?‚Nein, nein!’, lautete seine Antwort,‚weisst du, wir haben ein Meiteli, einSchwesterchen, bekommen. DerStorch hat es gebracht!’ Als ich wie-der nach Leuggelbach zurückgeholtwurde, wünschte ich zu wissen, wiedas denn so gewesen sei mit demStorch, etwas das mich weit mehr in-teressierte als das kleine Mädchenmit dem roten Köpfchen und denrabenschwarzen Haaren, das im Stu-benwagen lag und andauernd schlief.‚Ja’, bestätigte der Vater, ‚der Storchhat das Verendli gebracht. Durch dieDachluke.’ ‚Durch die Dachluke? Istder Storch denn nicht zu gross ge-wesen, um dort durchzuschlüpfen?’‚Ja, die Dachluke war schon einwenig klein, darum hat der Storchauch einige Federn verloren. Wart’,ich zeige sie dir!’ Tatsächlich hielt er

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Verena vor des Grossvaters Haus in Zusingen, links das Bienenhaus

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mir ein paar schwarze Federn unter die Augen. ‚Aber, ein Storchist doch weiss, hat der Lehrer gesagt’, zweifelte ich. Ob denn die-ser Storch schwarze Federn gehabt habe? ‚Ja?, bekräftigte derVater. – Das Verendli ist dann grösser geworden. Einmal gingendie Mutter, das Schwesterchen und ich zur Bahnstation Nidfurn,um den Zug nach Hätzingen zu besteigen. Wir hatten im Sinn,die Bäsi Rosine zu besuchen. Das Verendli war dem hochbeinigenUmstrüb-Wägeli gottlob nun entwachsen und beinelte wackermit, bis wir in Hätzingen bei der Bäsi Rosine eintrafen, die beimSpritzenhaus wohnte. Es ging nicht lange, bis das Verendli schondie Bäsi bat: ‘Gimmer, bis so guet, e Chaartschuufle und es Beseli.Ich wett vorusse achlei wüsche.’ Tatsächlich kehrte das kleineMädchen dann das steinige Plätzchen vor der Haustüre. Bald sas-sen wir aber bei der guten Gotte wieder am gedeckten Tisch, tran-ken Kaffee und assen ein Stück Angge- oder Truesne-Zelte.Bevor wir uns zur Bahnstation Luchsingen-Hätzingen begebenmussten, war das Verendli schon wieder mit Chaartschuufle undBeseli an der Arbeit. Es gwünderte aber auch im Hühnerstall, fanddort ein frischgelegtes Ei, und wollte es eiligst ins Haus bringen.Doch stolperte das Kind und fiel hin. Das Ei lag zerbrochen, zer-fliessend auf dem grasigen Boden. ‘Schäm di, Verendli!’, sagte dieMutter, worauf mein Schwesterchen sie verwundert ansah undzu sich selbst sagte: ‘Ich schäme si nüüd.’ [...] Da der Urgrossvaterund die Urgrossmutter in das Haus ihres Sohnes, unseres Gross-vaters, an der unteren Strasse im Dorf gezogen waren, mietetenwir uns in jenem halben Hause ein, in dem sie viele Jahre langgewohnt hatten. Das ganze Haus gehörte dem TapezierermeisterMarx Speich. Es gab dort einen Garten, und Wiesland reichtefast bis ans Haus. Die Petrollampen brauchten wir nicht mehr.Man drehte einen Schalter und schon brannte das Licht. Es warwunderbar! Man musste auch nicht mehr das Wasser im Kup-ferkessel vom Brunnen holen. Welche Wohltat, fliessendes Was-ser in der Küche! [...] Beim Brunnen – diese Erinnerung ist mirimmer lebendig geblieben – geschah etwas Unerhörtes. Anjenem ganz besonderen Tag im Monat August war es sehr heiss,und niemand befand sich dort. Es isch ä kä Mäntsch umme gsii;denn es herrschte wirklich eine Bruthitze. Auf der Brunnen-mauer sass das Setty, mit ihm noch ein anderes LeuggelbacherMädchen, doch welches, daran erinnere ich mich nicht mehr. Eswar jedenfalls das Setty, welches fragte: ‘He, losed, wämmer nüdim Brunne bade? Bi dener Hitz?’ Vorschlag gemacht – Tat aus-geführt. Im Nu hatten wir unser Gewand ab- und weggelegt undstiegen, nackt wie wir waren, in das kühle Wasser. Wir schwader-

ten, wir plantschten, wir spritzten, wir hatten – heute würden wirsagen – unseren Plausch. Jemand musste uns drei Brunnennixenbeobachtet haben und erstattete schnell zuständigen Orts Be-richt. Und da kam schon weidli meine Mutter gelaufen, holtemich aus dem Brunnenbett heraus und erklepfte mich öffentlich.Den beiden Mitbadenden befahl sie, sich rasch anzuziehen undzu verschwinden. [...] Während dieses kleine dörfliche Leben vorsich ging, bereitete sich Furchtbares vor: Der Erste Weltkriegbrach aus. Eines Abends läuteten die Kirchenglocken, die vonLuchsingen und die von Schwanden. ‚Das ist die Sturmglocke’,bemerkten alle, die aus den Häusern traten. Anschliessend gingder Weibel durch das Dorf, mit lauter Stimme verkündend, dasszur Mobilisation der schweizerischen Armee aufgerufen sei unddie Wehrmänner des Bataillons 85 in Glarus einzurücken hätten.‚Der Vater ist nicht da’, jammerte die Mutter, ‚wo mag er wohlsein? Vielleicht immer noch im Welschland, am Schützenfest!Vielleicht fahren überhaupt schon keine Züge mehr!’ Sie holteden Tornister von der Ruessdili herunter, den Kaputt, die Uni-form, die Marschschuhe. Sie rüstete Hemden, Socken und Ta-schentücher. Dann schickte sie mich ins Bett. Das Verendlischlief schon. Spät in der Nacht kam dann – mit einem für dieHeimkehrenden eingesetzten Extrazug – der Vater heim. Erschlief nur kurze Zeit, rollte dann seinen Kaputt, packte den Tor-nister und machte sich fürs Einrücken bereit. Dann ass er nochetwas z Morged, sagte uns allen adiö, und mit dem frühen Sechs-uhrzug rückte der Fourier Melchior Knobel nach Glarus ein. Esgab damals noch kein Telefon, jedenfalls nicht dort, wo wirwohnten. Die Mutter wartete also täglich auf Bericht und freutesich über jeden Brief, über jede Ansichtskarte aus dem Bündner-land, aus Splügen, Zillis oder Juf, aus Innerferrera. Seine eigenenSchockoladenration schickte der Vater heim. Er sorgte gut fürseine Truppe, und die Soldaten mochten ihn gern. Zeitlebensblieben die Dienstkameraden jener Mobilisationszeit mit ihm be-freundet, so Fourier Tschudi, der Willi Jakober, ein Dürst undmancher andere. [...] Während der ganzen Zeit der schweizeri-schen Grenzbesetzung bis zum Ende des Ersten Weltkriegeswohnten die Mutter, das Verendli und ich nicht in Leuggelbach,sondern bei den Grosseltern in Zusingen. [...] Der Grossvater,kräuterkundig wie kaum jemand, und der auch eine Heilsalbe her-stellte, von der er immer wieder einmal ein Töpfchen voll ver-kaufte, wandte ein Mittel gegen Warzen, nämlich Schöllkraut, an.Wir mussten das Kraut suchen gehen, und er strich uns den gel-ben Saft der Stengel auf diese und jene Wärre, die dann eines

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Schulhaus in Leuggelbach

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Tages auch wirklich verschwand. [...] Gerne stieg ich auf denEstrich, uf d Tili hinauf. Ich mochte schon den Geruch, der dortoben herrschte, ganz besonders: getrocknete Teekräuter wieHandscheli, Zytröösli, Augentrost, Schafgarben, Gundelrebe,Fünffingerkraut und Thymian. Immer gehörte zu meinem Besuchauf dem Estrich aber das Herumschnüffeln, ein ‚Ummegwün-dere’, etwas, das mir eigentlich auch untersagt worden war.Ebenso sollte ich auf keinen Fall auf dem angestellten Treppchenauf die oben unter dem Giebel der Hausfassade entlanglaufendeAltane hinaus. Ich stieg aber doch auf sie hinunter, wobei ich, wiedie Grossmutter, wenn sie den Karren mit dem Halbi Anggeschob, zuerst auch ‚verschnuufe’ und mich der luftigen Höhe an-passen musste. Dann aber, wunderbar! Die Aus- die Weitsicht hi-nüber zum Kneugrat, zum Bächistock, hinein in das Tal, hinunterzum Vorderglärnisch! [...] Als eines Tages am spätern NachmittagNachbars Rösli die Zeitung brachte, standen zuoberst auf der ers-ten Seite dicke Buchstaben, und ich las, im Treppenhaus hinauf-steigend, ‚Ende des Krieges. Die Wehrmänner werden entlassen.’Schnell rannte ich zur Mutter, ihr dies zu zeigen. Ha, wie polterteder Grossvater sein ‚Saggerdifutterdinunderdiö“ daher, als er ge-wahrte, dass nicht er als erster die Zeitung erhalten hatte! Wirfreuten uns aber alle. Der Krieg war zu Ende. Der Vater würdewieder heimkommen. [...] Zuerst müsse er jetzt ein paar Tageausruhen, meinte der Vater. Nach diesen wenigen Ruhetagensetzte er sich aufs Fahrrad und meldete sich bei seiner Firma inLeuggelbach zurück. Der Bescheid, den er an jenem Abend vondort nach Zusingen zurückbrachte, war so schlimm, dass wir alletraurig waren und uns zu fürchten begannen. Die Buntdruckereiin Leuggelbach erhielt aus dem Balkan keine Bestellungen mehr.Der Betrieb musste sofort stark eingeschränkt, wenn nicht gargeschlossen werden. Der Vater hatte, zuerst mündlich, dann auchnoch schriftlich, die Kündigung erhalten. [...]Eines Tages abergeschah etwas: Ein glarnerischer Offizier, der in der Eidgenös-sischen Militärverwaltung in Bern eine höhere Stelle bekleidete,verschaffte dem Vater eine Anstellung im Oberkriegskommissariatin Bern. So mussten wir nach Bern ziehen. Wieder ‚plündere’![...] Es war ein einschneidendes, ich möchte sagen, ein überausverwundendes Herausreissen gewesen, das uns damals getroffenhatte. Aus dem stillen, dem heimeligen, lieben Glarner Hinter-land sich in die Bundeshauptstadt Bern einpassen? Es fiel unsnicht leicht. Zu meiner grössten Enttäuschung erwiderte dortniemand mein freundliches Grüezi, ja, man bedachte mich nichteinmal mit einem dankenden Blick. Auf mein Gejammer be-

Vater Melchior

lehrte mich der Vater, der sich rasch und gut an die städtischenVerhältnisse angepasst hatte, dass sich eben in der Stadt nur jeneMenschen gegenseitig begrüssen, die sich persönlich kennen. [...]Alles war anders. So viel Schönes war, ich empfand dies jedenfallsso, unwiderruflich zu Ende gegangen. Nach bernischer Schul-ordnung hätte ich bereits vor zwei Jahren die Prüfung in die Se-kundarschule machen müssen. Ich konnte jedoch ohne einesolche eintreten, eine Sekundarklasse überspringen und eine an-dere in Windeseile nachholen. Bei einem Fräulein Bichsel in derLänggasse hatte ich mich für Französisch-Nachhilfeunterrichteinzufinden. Der Weg zu ihr war weit, wie auch der tägliche Wegzur Schule. Aber selbst der Vater konnte es sich nicht leisten, imTram in sein Büro zu fahren, wir mussten sparen. [...] Nach zweiJahren wurde der Vater als Buchhalter in die Pulverfabrik Wim-mis versetzt. Wir mussten schon wieder zusammenpacken undnach Spiez ziehen, wo wir im dortigen Mühlegässli eine Woh-nung fanden. Wieder Neueingewöhnung also! Wir waren richtigeNomaden geworden. Die wohltuend verständnisvollen Lehrerder Spiezer Sekundarschule, die dem Glarnermädchen wohlge-sinnten Mitschüler und Mitschülerinnen haben mir den SpiezerAufenthalt allerdings ganz gewaltig erleichtert und in jeder Weise

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verschönt. In Spiez wurde noch unser Bruder Markus Melchiorgeboren, der nun auch schon seit über zwanzig Jahren in Minusiobei Locarno lebt und Prokurist der Filiale Locarno des wohl be-deutendsten schweizerischen Reisebüro-Unternehmens ist, miteiner Brissaghesin verheiratet, Vater dreier Söhne. [...] In der Be-triebsorganisation der Pulverfabrik Wimmis ergaben sich für un-seren Vater wiederum eher folgenschwere Änderungen, und alsnächste Tätigkeit folgte die Mitarbeit an der schweizerischenVolkszählung im entsprechenden Büro in Interlaken. Die Familiemusste schon wieder ‚plündere’, also ein drittes Mal. – Meine Se-kundarschulzeit war zu Ende. Was sollte nun mit mir geschehen?Vor allem vom finanziellen Standpunkt aus war es für den Vaterein schwerer Entschluss, ja, es war eine richtige Opfertat, michin die Handelsschule nach Neuenburg zu schicken. Ein Licht-blick zeigte sich, als der Vater zum Grundbuchbeamten des Kan-tons Glarus gewählt wurde. So zogen denn meine vom Schicksalsolcherweise geführten Eltern noch einmal um, diesmal aber, fastmöchte ich sagen, heim in das gelobte Land, in die Stadt Glarus,in eine Wohnung an der Bärengasse, die wir uns überaus heimeligeinzurichten verstanden. Ich habe aber immer ein heftiges Heim-weh nach dem Dorf der Kindheit in mir getragen, und eines mei-ner ersten Gedichte, das ich heute mitleidig wieder lese, hattedem einst so gequälten Kinderherzens verlassenen Leuggelbachgegolten. Es lautet:

Dr Töödi lüüchtet volle Glanzund d Welder sind so summerstill.Ich weiss es Doorf, wo traume will,vo aller Welt vergesse ganz.

Ich weiss es Doorf, wo Granium blüend,wo Brunne singed lys am Taag,wo d Lüüt – ä nee verschlossne Schlaag –vu früe bis späät hert werche müend.

S isch anestellt ä d Felsewand.Ä Wasserfall stützt drüber hii.We chuu s doch dette einsam siiim chlyne Doorf im Hinderland!

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Jaa, einsam. Aber das isch guet!Du wirfsch dr Grossstadtplunder fortund schwygsch und machsch nu wänig Woort,wie s jede i dem Döörfli tuet.

Du losisch, wänn vu wytem here müedi Aabedglogge singt,wänn s vu verhalne Liedere chlingt,weemüetig, truurig fascht, und schwäär.

Äs Doorf im Glaarner Hinderland ...S isch ds Doorf vu diner Juged gsii.Jetz lüüchted s uuf im Aabedschyund leit si still ä d Felsewand.

Dr Herrgott bhüeti s allewyl,jaruus, jarii, zu jeder Zyt!Es blybt ... und giengisch nuch so wyt ...di Heimet doch, dis Wanderzyl.

Später haben sich die Tore der weiten Welt geöffnet: Zuerst ein-mal die welsche Schweiz, die Stadt Genf, dann Dänemark, Eng-land mit längerem Aufenthalt, dazwischen längere Aufenthaltein der Stadt Glarus, glückliche zehnjährige Ehezeit in Graubün-den, Verlust des geliebten Mannes durch den Tod, journalisti-sche und redaktionelle Berufsverpflichtungen in Zürich,beruflich bedingte Reisen nach Istanbul, Wien, Oslo, die USAund Kanada. Nun, da wir zwei Schwestern, das damalige Ver-endli, die heutige Malerin und Zeichnerin Verena Knobel, undich, älter geworden sind, und, wie man das nennt, im Ruhestandleben, wohnen wir hier unten im Tessin, am Berghang desGrenzortes Brissago, in einem einfachen, alten Rustico, dochstehen wir mit der alten Kinderheimat seit eh und je immer inguter gedanklicher Verbindung. Es kann vorkommen, dass Fe-rienleute an der Türe unserer Wohnküche vorübergehen, lautund vernehmlich plaudernd. Wenn es das geliebte Glarner-deutsch ist, öffnen wir natürlich die Türe, und es gibt dann aufder kleinen Piazza davor ein manchmal ganz langes, schönesGespräch, das seine Fortsetzung in unserer Küche finden kann.

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Der Bürgermeister

Aus Hier im Süden von Betty Knobel: Schon seit vielen Jahrensind wir immer wieder, in jedem Frühling, in jedem Herbst, indiesem südlichen Grenzort mit seinen 2’300 Einwohnern (wäh-rend der Saison ihrer 4’300) gekommen. Seit zwei Jahren wohnenwir ständig hier. Wir fühlen uns hier daheim. Heute sitzt il Sindaco, der Bürgermeister Cesare Conti Rossini,ein eher kleingewachsener Mann, lebendig, aufgeschlossen, dy-namisch, bei uns in der Wohnküche. Sogleich entspinnt sich einreges Gespräch.Ob er denn seit je im alten, so schönen, echt tessinischen Patri-zierhaus wohne, oben am Scheitelpunkt der Freitreppe, die imDorfkern die Via Cantonale säumt, in dem auch die moderneBackstube (der Sindaco ist Bäckermeister) und der Verkaufsladenfür Brot und Gebäck aller Art zu finden ist, möchten wir wissen.Dieses Haus, erhalten wir zur Antwort, gehöre seit 700 Jahrenin den Besitz der Familie. Er nun sei bereits in der fünften Ge-neration als Bäckermeister tätig.„Sie sprechen gut deutsch, Sie sprechen sogar Schwiizerdüütsch,Signor Sindaco, wie kommt das?“, fragen wir weiter. „Ja, in Luzern habe ich seinerzeit die Bäckerlehre gemacht. Dannarbeitete ich in Zürich. Während der Mobilisation des ZweitenWeltkrieges habe ich hauptsächlich Militärdienst geleistet.“Dass der Bürgermeister so gut den schweizerdeutschen Dialektspricht und versteht, erklärt wohl auch die Tatsache des gutenKontaktes mit den Confederati, den Deutschschweizern, die sichin Brissago niedergelassen haben, über den il Sindaco selber ehr-lich erfreut ist. Cesare Conti Rossini, Mitglied der Freisinnigen Partei, ist seit 1962Bürgermeister von Brissago, seit fünfzehn Jahren also. Ehrenvollwurde er jeweilen immer wieder bestätigend gewählt. Er berichtetuns von den Aufgaben, die er zu erfüllen hat, nämlich Gemein-deratssitzungen vorbereiten und präsidieren, Vorschläge ausar-beiten, Betreuung der Vormundschaftsbehörde, Behandlungbaulicher Probleme und jene der Wasserversorgung und des Ge-wässerschutzes, Durchführung der Gemeindeabstimmung usw.

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