V Bewährungsprobe Migration · Michael RothMdB, Staats-minister für Europa im Aus-wärtigen Amt,...

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Seite 54 Verteidigung Behörden Spiegel / November 2015 S054_BS11_All_Schulz V or allem stellen die aktuellen Flüchtlingsströme aber den Zusammenhalt, die Handlungs- fähigkeit und die Solidarität in- nerhalb der Europäischen Uni- on (EU) auf eine harte Probe. Die Haltung der Bundesregierung ist in dieser Frage klar: Europa darf nicht länger zögern, die EU muss jetzt handeln. Deshalb müssen wir eine europäische Asyl-, Flüchtlings- und Migrati- onspolitik verfolgen, die auf dem Prinzip der Solidarität und unse- ren gemeinsamen Werten der Menschlichkeit gründet. Denn es liegt doch auf der Hand: Wie wir mit Migration um- gehen wollen, ist kein italieni- sches, griechisches oder ungari- sches Problem. Die aktuelle Kri- se ist ein gesamteuropäisches Problem, auf das wir gemeinsa- me Antworten finden müssen. Konkret steht die EU vor vier Aufgaben: Seenotrettung, Be- kämpfung von Schleuserban- den, Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitstaaten sowie eine solidarische Vertei- lung der Flüchtlinge unter Wah- rung humanitärer Standards. Erstens: Tausende Menschen haben in Europa ein besseres Leben gesucht – und bei ihrer Flucht über das Mittelmeer ei- nen grausamen Tod gefunden. Für uns muss die Rettung von Menschenleben oberste Priori- tät haben. Es ist inakzeptabel und mit unseren Grundwerten schlichtweg unvereinbar, wenn vor unseren Küsten, vor unseren Augen, Menschen ertrinken. Seit Mai 2015 sind auch zwei deutsche Marineschiffe im Ein- satz, die in den vergangenen Wo- chen mehr als 7.200 Menschen in Seenot gerettet haben. Zweitens: Die skrupellosen Schleuserbanden dürfen mit ih- rem zynischen Geschäftsmodell nicht ungestraft weitermachen. Mit der Anti-Schleuser-Mission EUNAVFOR MED macht die EU klar, dass sie bei den illegalen Aktivitäten auf dem Mittelmeer nicht wegschaut. Die Anti-Pira- terie-Mission Atalanta hat ge- zeigt, dass ein Marineeinsatz wirksame Abschreckung gegen kriminelle Aktionen sein kann. Drittens: Der aktuelle Zustrom von Flüchtlingen ist die Folge dramatischer Entwicklungen in unserer unmittelbaren Nach- barschaft. Die Krisen in den Herkunftsstaa- ten der Flüchtlin- ge – wie Bürger- kriege, zerfallen- de Staatlichkeit, Terrorismus oder Armut – werden wir aber nicht mit Patrouillenboo- ten auf dem Mit- telmeer und mit Zäunen an den EU-Außengrenzen lösen kön- nen. Wir müssen die Ursachen von Flucht und Migration be- kämpfen, nicht die Flüchtlinge! Darum brauchen wir konkrete Antworten, wie wir die Lebens- bedingungen in den Herkunfts- ländern nachhaltig verbessern können. Dabei sind alle Politik- bereiche einzubeziehen – von der Außen- und Sicherheitspolitik über Handel bis hin zu humani- tärer Hilfe und Entwicklungspo- litik. So wollen wir die Voraus- setzungen dafür schaffen, damit die Menschen in ihrer Heimat wieder sicher leben und Flücht- linge und Vertriebene zurück- kehren können. Viertens: Derzeit nehmen gera- de einmal fünf von 28 Mitglied- staaten, darunter auch Deutschland, etwa 80 Prozent der Asylbewerber und Flüchtlin- ge auf. Gelebte Solidarität sieht wahrlich anders aus. Das Dub- lin-System ist nicht mehr zu- kunftsfähig. Deutschland ist be- reit, voranzugehen und Verant- wortung zu übernehmen, aber auf Dauer werden wir diese Auf- gabe nicht alleine schultern kön- nen. Was wir jetzt brauchen, ist eine gemeinsame Kraftanstren- gung aller Mitgliedsstaaten. Des- halb unterstützt Deutschland den Vorschlag der EU-Kommis- sion, innerhalb der EU verbindli- che Standards und Quoten für einen Solidaritätsmechanismus zu verabreden, der sich an Grö- ße, Wirtschaftskraft und Auf- nahmekapazität der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten orientiert. Jeder Mitgliedsstaat hat dabei Verantwortung zu tragen. Wir wissen, dass derzeit einige unserer Partnerländer diesem neuen Weg noch skeptisch ge- genüberstehen. Aber wir sind bereit, dafür beharrlich Über- zeugungsarbeit zu leisten. In vielen Gesprächen machen wir unseren Partnern Mut und ver- weisen auf die vielen Beispiele gelingender Integration in Deutschland. Vergessen wir nie- mals: Die EU ist wertegebunden, aber eben auch multikulturell, multiethnisch und multireligi- ös. Zuwanderung sollten wir deshalb nicht als Belastung, sondern vielmehr als Chance und Bereicherung für unsere Gesellschaften begreifen. Bewährungsprobe Migration Wie reagieren wir solidarisch und menschenwürdig auf die Flüchtlingsströme? (BS/Michael Roth) Tausende Flüchtlinge haben in den vergangenen Monaten in Europa Schutz vor Krieg, Terror und Verfolgung gesucht. Nach aktuellen Schätzungen werden in diesem Jahr mindestens 800.000 Menschen nach Deutschland kommen. Zum Vergleich: Deutschlands fünft- größte Stadt Frankfurt am Main hat etwas mehr als 700.000 Einwohner. Der Umgang mit der Flüchtlingskrise stellt Deutschland vor eine gewaltige Bewährungsprobe, manch einer spricht gar von einer Generationenaufgabe. Bund, Länder und Kommunen sowie Millionen von haupt- und eh- renamtlichen Helfern tun derzeit alles, um Menschen in Not kurzfristig zu helfen. Der deutsche NATO-Botschafter Dr. Hans-Dieter Lucas – der auch auf der diesjährigen Berliner Si- cherheitskonferenz (BSC) des Behörden Spiegel vorträgt – nannte als Beispiel für die “Be- harrlichkeit in der Diplomatie” das iranische Atomabkommen, an dem er vier Jahre lang als Ver- handlungsführer der Bundesre- publik auf Beamtenebene teilge- nommen hatte. Einen “klaren Rahmen seitens der Politik” for- derte der Bundesvorsitzende des DBwV, Oberstleutnant André Wüstner, beim Weißbuchpro- zess ein. Die offene Diskussionsrunde zur “Realität des Weißbuchpro- zesses” bestritten Generalleut- nant Erhard Bühler, Vizeadmiral Joachim Rühle, Oberst i.G. Mar- cus Ellermann (Stellv. Beauftrag- ter Projektgruppe Weißbuch 2016), Privatdozentin Dr. Ines- Jacqueline Werkner (For- schungsstätte der Evangeli- schen Studiengemeinschaft in Heidelberg) und Oberst a. D. Hans-Joachim Schaprian . Gene- ral Bühler, Abteilungsleiter Pla- nung im BMVg, machte vor dem Hintergrund des aktuellen Bun- deswehr-Umbaus deutlich: “Was wir jetzt nicht brauchen, ist eine sechste Reform!” Sein Abtei- lungsleiter-Kamerad Personal, Admiral Rühle, wies darauf hin, dass man sich aufgrund demo- grafischer Gegebenheiten auch innerhalb der Bundeswehr auf längere Lebensdienstzeiten ein- stellen müsse. Weißbuchprozess im Fokus 11. Petersberger Sicherheitsgespräche (BS/por) Der aktuelle Weißbuchprozess stand ganz klar im Mittelpunkt der 11. Petersberger Gespräche zur Sicherheit, die Ende Oktober in Königswinter stattgefunden haben. Das offizielle Thema lautete: “Die Zu- kunft der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Krisen- und Konfliktprävention”. Veranstaltet wurden sie von dem SPD-Bundestagsabgeordneten Wolfgang Hellmich (Vorsitzender des Verteidigungsausschus- ses), der Karl-Theodor-Molinari-Stiftung e. V. (dem Bildungswerk des Deutschen Bundeswehrverbandes – DBwV) sowie der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e. V. (GSP). Die Singularität des Soldatenbe- rufs (“Leben geben, Leben neh- men”) betonte eingangs Brigade- general a. D. Alois Bach, Vorsit- zender des Freundeskreises. Der Wehrbeauftragte des Deut- schen Bundestages, Dr. Hans- Peter Bartels, bemängelte u. a., dass die für die neue NATO- ”Speerspitze” eingeteilten bei- den deutschen Panzergrena- dier-Kompanien ihre Ausrüs- tung in der ganzen Bundeswehr hätten zusammensuchen müs- sen; der fehlende Rest sei einge- kauft worden. Zu den Anforderungen an künf- tige militärische Führungskräf- te betonte der Kommandeur des ZInFü, Generalmajor Jürgen Weigt, dass Führungskultur “nicht befohlen und gelehrt, sondern nur erfahren und gelebt werden” könne. Ausgesprochen interessant waren die Ausführungen von Oberstleutnant André Wüstner, Bundesvorsitzender des DBwV, zu den personellen Ableitungen aus dem ministeriellen Kultur- wandel im Geschäftsbereich des BMVg: Unter Minister Dr. Tho- mas de Maizière und seinem be- amteten Staatssekretär Stépha- ne Beemelmans habe sich die Ressortkultur des Innenminis- teriums (Prozessorientierung) im BMVg breitgemacht, wäh- rend sich anschließend unter Dr. Ursula von der Leyen und ih- rer Staatssekretärin Dr. Kathrin Suder die Kultur des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (Projektorientie- rung) behaupte. Dr. Heiko Biehl, Leitender Wis- senschaftlicher Direktor am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw), stellte die Ergebnisse einer sozialempi- rischen Studie seines Hauses zum Verhältnis von Bundes- wehr und Gesellschaft vor: Da- nach genießen die deutschen Streitkräfte – allen Unkenrufen zum Trotz – ein hohes gesell- schaftliches Ansehen, was durchaus dem kontinentaleuro- päischem Standard entspricht. Er diagnostizierte allerdings ei- ne kritische Haltung zu den Aus- landseinsätzen, sodass offen- kundig eine politische Diskre- panz, aber keine gesellschaftli- che Distanz vorherrscht. Herausforderungen für die Bundeswehr 9. Kolloquium am Zentrum Innere Führung (BS/por) “Bundeswehr – richtig aufgestellt für die Zukunft?” Auf diese Frage versuchte das 9. Kolloquium, das alljährlich am Koblenzer Zentrum Innere Führung (ZInFü) durchgeführt wird, Antworten zu finden. Ver- anstalter waren neben dem ZInFü selbst die Karl-Theodor-Molinari-Stiftung e. V. (KTMS – das Bildungswerk des Deutschen Bundeswehrverbands/DBwV) sowie der Freundeskreis Zentrum Innere Führung e. V. Michael Roth MdB, Staats- minister für Europa im Aus- wärtigen Amt, Mitglied im Beirat der Berliner Sicher- heitskonferenz Foto: BS/spdfraktion.de Susie Knoll, Florian Jänicke B ei der Bewältigung dieser Krisen muss die EU sich die Frage stellen, wie sie ihren außenpolitischen Gestaltungs- anspruch in der Welt künftig definieren und ihr Verhältnis zu ihren Verbündeten ausge- stalten wird. Der Konflikt in der Ukraine und die gemeinsam be- schlossene Einrichtung eines Sanktionsregimes gegen Russ- land haben gezeigt, dass die Mitgliedsstaaten der Europäi- schen Union in der Lage sind, sich auf eine gemeinsame poli- tische Linie zu verständigen und dass sie auch bereit sind, Führungsverantwortung zu übernehmen. Beides wird von unseren transatlantischen Partnern zu Recht eingefordert und ist eine entscheidende Vor- aussetzung für eine aktive, ge- staltende Rolle der EU in der globalen Außen- und Sicher- heitspolitik. Im Umgang mit der aktuellen Flüchtlingskrise zeigen die Mit- gliedsstaaten der EU sich hin- gegen gespalten. Einmal mehr steht die Europäische Union in ihrem Inneren vor einer Bewäh- rungsprobe und muss sich die Frage stellen, wie viel Solidari- tät die Mitgliedsstaaten bereit sind, untereinander aufzubrin- gen, um die vor ihnen liegenden Aufgaben gemeinsam zu bewäl- tigen. Mehr denn je bedarf es angesichts dieser Jahrhun- dertkatastrophe umfassender Anstrengungen, um die Flucht- ursachen zu bekämpfen und die wachsenden Flüchtlings- ströme besser zu koordinieren. Alles andere wäre ein Armuts- zeugnis für die Europäische Union. Die aktuellen Herausforde- rungen erfordern eine Stärkung des außenpolitischen Engage- ments der EU; eine Renationali- sierung der auswärtigen Politik mit Staaten, die um den Preis der europäischen Werte ihre ei- genen Interessen verfolgen, gilt es zu verhindern. Nur wenn Europa solidarisch ist, kann es seine Probleme lösen. National- staatliche Interessen haben je- doch die politischen Diskussio- nen über den Umgang mit den Flüchtlingen in den letzten Wo- chen dominiert. Damit dennoch eine Lösung für die akute Ver- teilung der bereits in der EU an- gekommenen Flüchtlinge ge- funden werden konnte, haben die EU-Justiz- und Innenminis- ter am 22. Sep- tember 2015 erstmals das im Lissaboner Ver- trag gestärkte Mehrheitsprin- zip angewandt und damit die quotierte Verteilung von 120.000 Menschen auf die Län- der der Gemeinschaft beschlos- sen. Dieser Schritt war nötig, damit die EU handlungsfähig und vor allem auch glaubwür- dig bleibt. Zu Recht warnt die Hohe Vertreterin der EU für Au- ßen- und Sicherheitspolitik, Fe- derica Mogherini, vor einem An- sehens- und Glaubwürdig- keitsverlust der Europäischen Union, wenn diese nicht in der Lage ist, ihre nach außen ver- tretenen Werte auch innerhalb ihrer Grenzen umzusetzen. GSVP Damit die Europäische Union künftigen sicherheitspoliti- schen Herausforderungen ef- fektiver begegnen kann, ist eine Weiterentwicklung der Ge- meinsamen Sicherheits- und Verteidigungpolitik (GSVP) un- erlässlich. Es gilt, Europa dau- erhaft zu einem handlungsfähi- gen außenpolitischen Akteur und einem verlässlichen Bünd- nispartner zu machen. Vor die- sem Hintergrund wurde auf der Tagung des Europäischen Ra- tes am 25./26. Juni 2015 be- schlossen, dass die Überlegun- gen für eine neue Europäische Sicherheitsstrategie, die bis Juni kommenden Jahres vor- liegen soll, fortgeführt werden sollen. Diese Strategie muss der veränderten Sicherheitssi- tuation in Europas Nachbar- schaft Rechnung tragen und re- gionale Prioritäten in den EU- Außenbeziehungen definieren. Auf der Sitzung des Europäi- schen Rates im Juni verstän- digte man sich darauf, die GSVP künftig “wirksamer, bes- ser wahrnehmbarer und stär- ker ergebnisorientiert zu ge- stalten, sowohl die zivilen als auch die militärischen Fähig- keiten weiterzuentwickeln und die europäische Verteidigungs- industrie (…) zu stärken”. The- men der Gemeinsamen Sicher- heits- und Verteidigungspolitik sollen künftig regelmäßig auf der Tagesordnung des Europäi- schen Rates stehen. Dies sind Schritte in die richtige Rich- tung, doch müssen die Mitglie- der der Europäischen Union politischen Willen zeigen, diese Schritte gemeinsam zu gehen. Krisenbewältigung Mehr außenpolitisches Engagement der Europäischen Union (BS/Dr. Hans-Gert Pöttering) Die Europäische Union (EU) sieht sich heute mehr denn je mit einer Vielzahl von außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen konfrontiert, auf die sie gemeinsame Antworten finden muss. Erstmals seit Jahrzehnten wurden in Europa mit der völkerrechts- widrigen Annexion der Krim wieder gewaltsam Grenzen verschoben und damit die Grundlagen der europäischen Friedensordnung infrage gestellt. Das russische Vorgehen in der Ukraine hat deutlich gemacht, dass Russland bereit ist, seine Interessen gegenüber den westlichen Partnern auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Der Vormarsch des “Islamischen Staates” (IS) in Syrien und Irak erschüttert die Fundamente des Staa- tensystems im Nahen Osten. Nicht zuletzt durch die hohe Anzahl an Flüchtlingen aus dieser Region, die vor dem Krieg in Syrien und dem Terror des “Islamischen Staates” Zuflucht in den Ländern der Europäischen Union suchen, strahlt dieser Krisenherd längst auch nach Europa aus. Dr. Hans-Gert Pöttering, Prä- sident des Europäischen Parlaments a. D., Vorsitzen- der der Konrad-Adenauer- Stiftung und Mitglied im Beirat der Berliner Sicher- heitskonferenz Foto: BS/CDU Niedersachsen War Schirmherr des 9. ZInFü-Kollo- quiums: Dr. Hans-Peter Bartels, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages. Foto: BS/ZInFü Gaben Statements zum Weißbuchprozess ab (v.l.n.r.): Ulrike Merten (Präsi- dentin der GSP), der SPD-Bundestagsabgeordnete Sebastian Hartmann (Mo- derator), Oberstleutnant André Wüstner und Wolfgang Hellmich MdB. Foto: BS/Portugall

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Seite 54 Verteidigung Behörden Spiegel / November 2015

S054_BS11_All_Schulz

Vor allem stellen die aktuellenFlüchtlingsströme aber den

Zusammenhalt, die Handlungs-fähigkeit und die Solidarität in-nerhalb der Europäischen Uni-on (EU) auf eine harte Probe. DieHaltung der Bundesregierungist in dieser Frage klar: Europadarf nicht länger zögern, die EUmuss jetzt handeln. Deshalbmüssen wir eine europäischeAsyl-, Flüchtlings- und Migrati-onspolitik verfolgen, die auf demPrinzip der Solidarität und unse-ren gemeinsamen Werten derMenschlichkeit gründet.Denn es liegt doch auf der

Hand: Wie wir mit Migration um-gehen wollen, ist kein italieni-sches, griechisches oder ungari-sches Problem. Die aktuelle Kri-se ist ein gesamteuropäischesProblem, auf das wir gemeinsa-me Antworten finden müssen.Konkret steht die EU vor vierAufgaben: Seenotrettung, Be-kämpfung von Schleuserban-den, Zusammenarbeit mit denHerkunfts- und Transitstaatensowie eine solidarische Vertei-lung der Flüchtlinge unter Wah-rung humanitärer Standards.Erstens: Tausende Menschen

haben in Europa ein besseres

Leben gesucht – und bei ihrerFlucht über das Mittelmeer ei-nen grausamen Tod gefunden.Für uns muss die Rettung vonMenschenleben oberste Priori-tät haben. Es ist inakzeptabelund mit unseren Grundwertenschlichtweg unvereinbar, wennvor unseren Küsten, vor unserenAugen, Menschen ertrinken.Seit Mai 2015 sind auch zweideutsche Marineschiffe im Ein-satz, die in den vergangenen Wo-chen mehr als 7.200 Menschenin Seenot gerettet haben. Zweitens: Die skrupellosen

Schleuserbanden dürfen mit ih-rem zynischen Geschäftsmodellnicht ungestraft weitermachen.Mit der Anti-Schleuser-MissionEUNAVFOR MED macht die EUklar, dass sie bei den illegalen

Aktivitäten auf dem Mittelmeernicht wegschaut. Die Anti-Pira-terie-Mission Atalanta hat ge-zeigt, dass ein Marineeinsatzwirksame Abschreckung gegenkriminelle Aktionen sein kann.Drittens: Der aktuelle Zustrom

von Flüchtlingen ist die Folgedramatischer Entwicklungen inunserer unmittelbaren Nach-

barschaft. DieKrisen in denHerkunftsstaa-ten der Flüchtlin-ge – wie Bürger-kriege, zerfallen-de Staatlichkeit,Terrorismus oderArmut – werdenwir aber nicht mitPatrouillenboo-ten auf dem Mit-

telmeer und mit Zäunen an denEU-Außengrenzen lösen kön-nen. Wir müssen die Ursachenvon Flucht und Migration be-kämpfen, nicht die Flüchtlinge!Darum brauchen wir konkreteAntworten, wie wir die Lebens-bedingungen in den Herkunfts-ländern nachhaltig verbessernkönnen. Dabei sind alle Politik-

bereiche einzubeziehen – von derAußen- und Sicherheitspolitiküber Handel bis hin zu humani-tärer Hilfe und Entwicklungspo-litik. So wollen wir die Voraus-setzungen dafür schaffen, damitdie Menschen in ihrer Heimatwieder sicher leben und Flücht-linge und Vertriebene zurück-kehren können.Viertens: Derzeit nehmen gera-

de einmal fünf von 28 Mitglied-staaten, darunter auchDeutschland, etwa 80 Prozentder Asylbewerber und Flüchtlin-ge auf. Gelebte Solidarität siehtwahrlich anders aus. Das Dub-lin-System ist nicht mehr zu-kunftsfähig. Deutschland ist be-reit, voranzugehen und Verant-wortung zu übernehmen, aberauf Dauer werden wir diese Auf-

gabe nicht alleine schultern kön-nen. Was wir jetzt brauchen, isteine gemeinsame Kraftanstren-gung aller Mitgliedsstaaten. Des-halb unterstützt Deutschlandden Vorschlag der EU-Kommis-sion, innerhalb der EU verbindli-che Standards und Quoten füreinen Solidaritätsmechanismuszu verabreden, der sich an Grö-ße, Wirtschaftskraft und Auf-nahmekapazität der einzelnenEU-Mitgliedsstaaten orientiert.Jeder Mitgliedsstaat hat dabeiVerantwortung zu tragen.Wir wissen, dass derzeit einige

unserer Partnerländer diesemneuen Weg noch skeptisch ge-genüberstehen. Aber wir sindbereit, dafür beharrlich Über-zeugungsarbeit zu leisten. Invielen Gesprächen machen wirunseren Partnern Mut und ver-weisen auf die vielen Beispielegelingender Integration inDeutschland. Vergessen wir nie-mals: Die EU ist wertegebunden,aber eben auch multikulturell,multiethnisch und multireligi-ös. Zuwanderung sollten wirdeshalb nicht als Belastung,sondern vielmehr als Chanceund Bereicherung für unsereGesellschaften begreifen.

Bewährungsprobe MigrationWie reagieren wir solidarisch und menschenwürdig auf die Flüchtlingsströme?

(BS/Michael Roth) Tausende Flüchtlinge haben in den vergangenen Monaten in Europa Schutz vor Krieg, Terror und Verfolgung gesucht. Nachaktuellen Schätzungen werden in diesem Jahr mindestens 800.000 Menschen nach Deutschland kommen. Zum Vergleich: Deutschlands fünft-größte Stadt Frankfurt am Main hat etwas mehr als 700.000 Einwohner. Der Umgang mit der Flüchtlingskrise stellt Deutschland vor eine gewaltigeBewährungsprobe, manch einer spricht gar von einer Generationenaufgabe. Bund, Länder und Kommunen sowie Millionen von haupt- und eh-renamtlichen Helfern tun derzeit alles, um Menschen in Not kurzfristig zu helfen.

Der deutsche NATO-BotschafterDr. Hans-Dieter Lucas – der auchauf der diesjährigen Berliner Si-cherheitskonferenz (BSC) desBehörden Spiegel vorträgt –nannte als Beispiel für die “Be-harrlichkeit in der Diplomatie”das iranische Atomabkommen,an dem er vier Jahre lang als Ver-handlungsführer der Bundesre-publik auf Beamtenebene teilge-nommen hatte. Einen “klarenRahmen seitens der Politik” for-derte der Bundesvorsitzende desDBwV, Oberstleutnant AndréWüstner, beim Weißbuchpro-zess ein.Die offene Diskussionsrunde

zur “Realität des Weißbuchpro-zesses” bestritten Generalleut-nant Erhard Bühler, VizeadmiralJoachim Rühle, Oberst i.G. Mar-cus Ellermann (Stellv. Beauftrag-ter Projektgruppe Weißbuch2016), Privatdozentin Dr. Ines-Jacqueline Werkner (For-schungsstätte der Evangeli-

schen Studiengemeinschaft inHeidelberg) und Oberst a. D.Hans-Joachim Schaprian . Gene-ral Bühler, Abteilungsleiter Pla-nung im BMVg, machte vor demHintergrund des aktuellen Bun-deswehr-Umbaus deutlich:“Was wir jetzt nicht brauchen, ist

eine sechste Reform!” Sein Abtei-lungsleiter-Kamerad Personal,Admiral Rühle, wies darauf hin,dass man sich aufgrund demo-grafischer Gegebenheiten auchinnerhalb der Bundeswehr auflängere Lebensdienstzeiten ein-stellen müsse.

Weißbuchprozess im Fokus11. Petersberger Sicherheitsgespräche

(BS/por) Der aktuelle Weißbuchprozess stand ganz klar im Mittelpunkt der 11. Petersberger Gespräche zurSicherheit, die Ende Oktober in Königswinter stattgefunden haben. Das offizielle Thema lautete: “Die Zu-kunft der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Krisen- und Konfliktprävention”. Veranstaltet wurdensie von dem SPD-Bundestagsabgeordneten Wolfgang Hellmich (Vorsitzender des Verteidigungsausschus-ses), der Karl-Theodor-Molinari-Stiftung e. V. (dem Bildungswerk des Deutschen Bundeswehrverbandes –DBwV) sowie der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e. V. (GSP).Die Singularität des Soldatenbe-

rufs (“Leben geben, Leben neh-men”) betonte eingangs Brigade-general a. D. Alois Bach, Vorsit-zender des Freundeskreises.Der Wehrbeauftragte des Deut-schen Bundestages, Dr. Hans-Peter Bartels, bemängelte u. a.,dass die für die neue NATO-”Speerspitze” eingeteilten bei-den deutschen Panzergrena-dier-Kompanien ihre Ausrüs -tung in der ganzen Bundeswehrhätten zusammensuchen müs-sen; der fehlende Rest sei einge-kauft worden.Zu den Anforderungen an künf-

tige militärische Führungskräf-te betonte der Kommandeur desZInFü, Generalmajor JürgenWeigt, dass Führungskultur“nicht befohlen und gelehrt,sondern nur erfahren und gelebtwerden” könne.Ausgesprochen interessant

waren die Ausführungen vonOberstleutnant André Wüstner,Bundesvorsitzender des DBwV,zu den personellen Ableitungen

aus dem ministeriellen Kultur-wandel im Geschäftsbereich desBMVg: Unter Minister Dr. Tho-mas de Maizière und seinem be-amteten Staatssekretär Stépha-ne Beemelmans habe sich dieRessortkultur des Innenminis -teriums (Prozessorientierung)

im BMVg breitgemacht, wäh-rend sich anschließend unterDr. Ursula von der Leyen und ih-rer Staatssekretärin Dr. KathrinSuder die Kultur desBundesminis teriums für Arbeitund Soziales (Projektorientie-rung) behaupte.Dr. Heiko Biehl, Leitender Wis-

senschaftlicher Direktor amZentrum für Militärgeschichteund Sozialwissenschaften derBundeswehr (ZMSBw), stelltedie Ergebnisse einer sozialempi-rischen Studie seines Hauseszum Verhältnis von Bundes-wehr und Gesellschaft vor: Da-nach genießen die deutschenStreitkräfte – allen Unkenrufenzum Trotz – ein hohes gesell-schaftliches Ansehen, wasdurchaus dem kontinentaleuro-päischem Standard entspricht.Er diagnostizierte allerdings ei-ne kritische Haltung zu den Aus-landseinsätzen, sodass offen-kundig eine politische Diskre-panz, aber keine gesellschaftli-che Distanz vorherrscht.

Herausforderungen für die Bundeswehr9. Kolloquium am Zentrum Innere Führung

(BS/por) “Bundeswehr – richtig aufgestellt für die Zukunft?” Auf diese Frage versuchte das 9. Kolloquium,das alljährlich am Koblenzer Zentrum Innere Führung (ZInFü) durchgeführt wird, Antworten zu finden. Ver-anstalter waren neben dem ZInFü selbst die Karl-Theodor-Molinari-Stiftung e. V. (KTMS – das Bildungswerkdes Deutschen Bundeswehrverbands/DBwV) sowie der Freundeskreis Zentrum Innere Führung e. V.

Michael Roth MdB, Staats-minister für Europa im Aus-wärtigen Amt, Mitglied imBeirat der Berliner Sicher-heitskonferenz

Foto: BS/spdfraktion.de Susie Knoll,

Florian Jänicke

Bei der Bewältigung dieserKrisen muss die EU sich

die Frage stellen, wie sie ihrenaußenpolitischen Gestaltungs-anspruch in der Welt künftigdefinieren und ihr Verhältniszu ihren Verbündeten ausge-stalten wird. Der Konflikt in derUkraine und die gemeinsam be-schlossene Einrichtung einesSanktionsregimes gegen Russ-land haben gezeigt, dass dieMitgliedsstaaten der Europäi-schen Union in der Lage sind,sich auf eine gemeinsame poli-tische Linie zu verständigenund dass sie auch bereit sind,Führungsverantwortung zuübernehmen. Beides wird vonunseren transatlantischenPartnern zu Recht eingefordertund ist eine entscheidende Vor-aussetzung für eine aktive, ge-staltende Rolle der EU in derglobalen Außen- und Sicher-heitspolitik.Im Umgang mit der aktuellen

Flüchtlingskrise zeigen die Mit-gliedsstaaten der EU sich hin-gegen gespalten. Einmal mehrsteht die Europäische Union inihrem Inneren vor einer Bewäh-rungsprobe und muss sich dieFrage stellen, wie viel Solidari-

tät die Mitgliedsstaaten bereitsind, untereinander aufzubrin-gen, um die vor ihnen liegendenAufgaben gemeinsam zu bewäl-tigen. Mehr denn je bedarf esangesichts dieser Jahrhun-dertkatastrophe umfassenderAnstrengungen, um die Flucht-ursachen zu bekämpfen unddie wachsenden Flüchtlings-ströme besser zu koordinieren.Alles andere wäre ein Armuts-zeugnis für die EuropäischeUnion. Die aktuellen Herausforde-

rungen erfordern eine Stärkungdes außenpolitischen Engage-ments der EU; eine Renationali-sierung der auswärtigen Politikmit Staaten, die um den Preisder europäischen Werte ihre ei-genen Interessen verfolgen, gilt

es zu verhindern. Nur wennEuropa solidarisch ist, kann esseine Probleme lösen. National-staatliche Interessen haben je-doch die politischen Diskussio-nen über den Umgang mit denFlüchtlingen in den letzten Wo-chen dominiert. Damit dennocheine Lösung für die akute Ver-teilung der bereits in der EU an-

g e k o m m e n e nFlüchtlinge ge-funden werdenkonnte, habendie EU-Justiz-und Innenminis -ter am 22. Sep-tember 2015erstmals das imLissaboner Ver-trag gestärkteMehrheitsprin-

zip angewandt und damit diequotierte Verteilung von120.000 Menschen auf die Län-der der Gemeinschaft beschlos-sen. Dieser Schritt war nötig,damit die EU handlungsfähigund vor allem auch glaubwür-dig bleibt. Zu Recht warnt dieHohe Vertreterin der EU für Au-ßen- und Sicherheitspolitik, Fe-

derica Mogherini, vor einem An-sehens- und Glaubwürdig-keitsverlust der EuropäischenUnion, wenn diese nicht in derLage ist, ihre nach außen ver-tretenen Werte auch innerhalbihrer Grenzen umzusetzen.

GSVP

Damit die Europäische Unionkünftigen sicherheitspoliti-schen Herausforderungen ef-fektiver begegnen kann, ist eineWeiterentwicklung der Ge-meinsamen Sicherheits- undVerteidigungpolitik (GSVP) un-erlässlich. Es gilt, Europa dau-erhaft zu einem handlungsfähi-gen außenpolitischen Akteurund einem verlässlichen Bünd-nispartner zu machen. Vor die-sem Hintergrund wurde auf der

Tagung des Europäischen Ra-tes am 25./26. Juni 2015 be-schlossen, dass die Überlegun-gen für eine neue EuropäischeSicherheitsstrategie, die bisJuni kommenden Jahres vor-liegen soll, fortgeführt werdensollen. Diese Strategie mussder veränderten Sicherheitssi-tuation in Europas Nachbar-schaft Rechnung tragen und re-gionale Prioritäten in den EU-Außenbeziehungen definieren. Auf der Sitzung des Europäi-

schen Rates im Juni verstän-digte man sich darauf, dieGSVP künftig “wirksamer, bes-ser wahrnehmbarer und stär-ker ergebnisorientiert zu ge-stalten, sowohl die zivilen alsauch die militärischen Fähig-keiten weiterzuentwickeln unddie europäische Verteidigungs-industrie (…) zu stärken”. The-men der Gemeinsamen Sicher-heits- und Verteidigungspolitiksollen künftig regelmäßig aufder Tagesordnung des Europäi-schen Rates stehen. Dies sindSchritte in die richtige Rich-tung, doch müssen die Mitglie-der der Europäischen Unionpolitischen Willen zeigen, dieseSchritte gemeinsam zu gehen.

KrisenbewältigungMehr außenpolitisches Engagement der Europäischen Union

(BS/Dr. Hans-Gert Pöttering) Die Europäische Union (EU) sieht sich heute mehr denn je mit einer Vielzahl von außen- und sicherheitspolitischenHerausforderungen konfrontiert, auf die sie gemeinsame Antworten finden muss. Erstmals seit Jahrzehnten wurden in Europa mit der völkerrechts-widrigen Annexion der Krim wieder gewaltsam Grenzen verschoben und damit die Grundlagen der europäischen Friedensordnung infrage gestellt.Das russische Vorgehen in der Ukraine hat deutlich gemacht, dass Russland bereit ist, seine Interessen gegenüber den westlichen Partnern auchmit militärischen Mitteln durchzusetzen. Der Vormarsch des “Islamischen Staates” (IS) in Syrien und Irak erschüttert die Fundamente des Staa-tensystems im Nahen Osten. Nicht zuletzt durch die hohe Anzahl an Flüchtlingen aus dieser Region, die vor dem Krieg in Syrien und dem Terrordes “Islamischen Staates” Zuflucht in den Ländern der Europäischen Union suchen, strahlt dieser Krisenherd längst auch nach Europa aus.

Dr. Hans-Gert Pöttering, Prä-sident des EuropäischenParlaments a. D., Vorsitzen-der der Konrad-Adenauer-Stiftung und Mitglied imBeirat der Berliner Sicher-heitskonferenz

Foto: BS/CDU Niedersachsen

War Schirmherr des 9. ZInFü-Kollo-quiums: Dr. Hans-Peter Bartels,Wehrbeauftragter des DeutschenBundestages. Foto: BS/ZInFü

Gaben Statements zum Weißbuchprozess ab (v.l.n.r.): Ulrike Merten (Präsi-dentin der GSP), der SPD-Bundestagsabgeordnete Sebastian Hartmann (Mo-derator), Oberstleutnant André Wüstner und Wolfgang Hellmich MdB.

Foto: BS/Portugall