Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

196
BAND 16 Verdrängung und Vielfalt Pakistan vor dem Zerfall Abbas Rashid Die Vergangenheit ist kein fremdes Land: Demokratie, Ent- wicklung und Macht in Pakistan Rubina Saigol Die Rolle von Klasse und Politik bei der Radikalisierung von Staat und Gesellschaft in Pakistan Ha- san-Askari Rizvi Politische Parteien und fragmentierte Demokratie Kaiser Bengali Pakistan: Vom Entwicklungsstaat zum Sicherheitsstaat Pervez Hoodbhoy Pakistans nuklearer Pfad: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Azmat Abbas und Saima Jasam Ein Hoffnungsschimmer: die Anwaltsbewe- gung in Pakistan

description

Pakistans Ansehen in der Weltöffentlichkeit ist schlecht. Es wird als das „gefährlichste Land der Welt“ bezeichnet, als Zufluchtsort für Taliban und Al-Quaida. Pakistan, die Atommacht, gilt als unberechenbar und fragil. Diese Sichtweise auf Pakistan ist nicht falsch. Dennoch gibt es auch in Pakistan viele Hoffnungsträger, die sich unermüdlich für Demokratie und Menschenrechte engagieren, oftmals unter großen Gefahren. Pakistan hat eine Zivilgesellschaft, die es trotz aller Rückschläge immer wieder vermag, Einfluss auf die politische Entwicklung des Landes zu nehmen. Die Bewegung der Richter und Anwälte, die erfolgreich gegen die Absetzung des Obersten Richters Iftikhar Chaudry auf die Straße gingen, ist ein solches Beispiel.Die nun vorliegende Publikation will ein differenziertes Bild über die komplexen politischen Prozesse und gesellschaftspolitischen Herausforderungen Pakistans bieten. Autorinnen und Autoren verschiedener Disziplinen präsentieren sowohl Analysen über Defizite und Schwächen als auch Ideen für eine demokratischere und friedlichere Zukunft Pakistans. Mit Beiträgen von Abbas Rashid, Rubina Saigol, Hasan Askari Rizvi, Kaiser Bengali, Pervez Hoodbhoy, Azmat Abbasm und Saima Jasam.

Transcript of Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Page 1: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

BA

ND

16

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Pak

ista

n vo

r dem

Zer

fall

Abb

as R

ashi

d D

ie V

erga

ngen

heit

ist

kei

n fr

emde

s La

nd:

Dem

okra

tie,

Ent

-w

ickl

ung

und

Mac

ht i

n Pa

kist

an R

ubin

a Sa

igol

Die

Rol

le v

on K

lass

e un

d Po

litik

bei

der

Rad

ikal

isie

rung

von

Sta

at u

nd G

esel

lsch

aft

in P

akis

tan

Ha-

san-

Ask

ari

Riz

vi P

olit

isch

e Pa

rtei

en u

nd f

ragm

enti

erte

Dem

okra

tie

Kai

ser

Ben

gali

Paki

stan

: V

om E

ntw

ickl

ungs

staa

t zu

m S

iche

rhei

tsst

aat

Perv

ez

Hoo

dbho

y Pa

kist

ans

nukl

eare

r P

fad:

Ver

gang

enhe

it, G

egen

war

t und

Zuk

unft

Azm

at A

bbas

und

Sai

ma

Jasa

m E

in H

offn

ungs

schi

mm

er: d

ie A

nwal

tsbe

we-

gung

in P

akis

tan

Hei

nric

h-B

öll-

Sti

ftun

g S

chum

anns

traß

e 8,

101

17 B

erlin

D

ie g

rüne

pol

itis

che

Sti

ftun

g Te

l. 03

0 28

53

40

Fax

030

2853

4109

inf

o@bo

ell.d

e w

ww

.boe

ll.de

IS

BN

978

-3-8

6928

-043

-1

Paki

stan

s A

nseh

en in

der

Wel

töff

entl

ichk

eit i

st s

chle

cht.

Es

wir

d al

s da

s „g

efäh

r-lic

hste

Lan

d de

r W

elt“

bez

eich

net,

als

Zufl

ucht

sort

für

Tal

iban

und

Al-

Qua

ida.

Pa

kist

an,

die

Ato

mm

acht

, gi

lt a

ls u

nber

eche

nbar

und

fra

gil.

Die

se S

icht

wei

se

auf

Paki

stan

ist

nich

t fa

lsch

. Den

noch

gib

t es

auc

h in

Pak

ista

n vi

ele

Hof

fnun

gs-

träg

er,

die

sich

une

rmüd

lich

für

Dem

okra

tie

und

Men

sche

nrec

hte

enga

gier

en,

oftm

als

unte

r gr

oßen

Gef

ahre

n. P

akis

tan

hat

eine

Ziv

ilges

ells

chaf

t, d

ie e

s tr

otz

alle

r R

ücks

chlä

ge im

mer

wie

der

verm

ag, E

influ

ss a

uf d

ie p

olit

isch

e E

ntw

ickl

ung

des

Land

es z

u ne

hmen

. Die

Bew

egun

g de

r R

icht

er u

nd A

nwäl

te, d

ie e

rfol

grei

ch

gege

n di

e A

bset

zung

des

Obe

rste

n R

icht

ers

Ifti

khar

Cha

udry

auf

die

Str

aße

gin-

gen,

ist

ein

solc

hes

Bei

spie

l. D

ie v

orlie

gend

e P

ublik

atio

n w

ill e

in d

iffe

renz

iert

es

Bild

übe

r di

e ko

mpl

exen

pol

itis

chen

Pro

zess

e un

d ge

sells

chaf

tspo

litis

chen

He-

raus

ford

erun

gen

Paki

stan

s bi

eten

. A

utor

inne

n un

d A

utor

en v

ersc

hied

ener

Dis

-zi

plin

en p

räse

ntie

ren

sow

ohl

Ana

lyse

n üb

er D

efizi

te u

nd S

chw

äche

n al

s au

ch

Idee

n fü

r ei

ne d

emok

rati

sche

re u

nd fr

iedl

iche

re Z

ukun

ft P

akis

tans

.

DE

MO

KR

AT

IE

BA

ND

16

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Page 2: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall
Page 3: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Verdrängung und Vielfalt – Pakistan Vor dem Zerfall

Page 4: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall
Page 5: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

schriften Zur demokratie

Band 16

Verdrängung und Vielfalt – Pakistan vor dem Zerfallherausgegeben von der heinrich-Böll-stiftung

Page 6: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Verdrängung und Vielfalt – Pakistan vor dem ZerfallBand 16 (dt. Fassung) der Reihe Demokratie

Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung© Heinrich-Böll-Stiftung 2010

Übersetzungen aus dem Englischen von Kathrin Razum, Jochen Schimmang und Rudolf Witzke

Gestaltung: graphic syndicat, Michael Pickardt (nach Entwürfen von blotto Design)Photos: dpaDruck: agit-druck

ISBN 978-3-86928-043-1

Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstraße 8, 10117 Berlint +49 30 28534-0 f +49 30 28534-109 e [email protected] W www.boell.de

Page 7: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

inhalt

Vorwort 7

Einleitung 9

Abbas Rashiddie Vergangenheit ist kein fremdes land: demokratie, entwicklung und macht in Pakistan 11

Rubina Saigol die rolle von klasse und Politik bei der radikalisierung von staat und gesellschaft in Pakistan 41

Hasan-Askari RizviPolitische Parteien und fragmentierte demokratie 73

Kaiser BengaliPakistan: Vom entwicklungsstaat zum sicherheitsstaat 91

Pervez HoodbhoyPakistans nuklearer Pfad: Vergangenheit, gegenwart und Zukunft 119

Azmat Abbas und Saima Jasamein hoffnungsschimmer: die anwaltsbewegung in Pakistan 152

Abkürzungen und Glossar 186

Autorinnen und Autoren 189

Page 8: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Abkühlung in Lahore, Juni 2009

Page 9: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

7

VorWort

Schon seit 1993 ist die Heinrich-Böll-Stiftung in Pakistan mit einem Büro vertreten. Seitdem verfolgen wir die politischen Entwicklungen in Pakistan und setzen uns dort – wo immer möglich – für eine gerechte, rechtsstaatliche und nachhaltige Politik ein. In der deutschen Öffentlichkeit hat Pakistan einen denkbar schlechten Ruf. Es gilt als «das gefährlichste Land der Welt», das islamis-tischen Terroreinheiten wie Al-Qaida Unterschlupf bietet. Pakistan mit seinem mächtigen Militärapparat, der im Besitz von Atomwaffen ist, gilt als unbere-chenbar. Diese Sichtweise auf Pakistan ist nicht falsch. Dennoch gibt es auch in Pakistan viele Hoffnungsträger/innen, die sich unermüdlich für Demokratie, Menschenrechte und für mehr Gleichheit der Geschlechter engagieren, oftmals unter sehr gefährlichen Bedingungen. Pakistan hat eine Zivilgesellschaft, die es trotz aller Rückschläge immer wieder vermag, Einfluss auf die politische Entwick-lung des Landes zu nehmen. Die Bewegung der Richter und Anwälte, die erfolg-reich gegen die Absetzung des Obersten Richters Iftikhar Chaudry auf die Straße gingen, ist ein solches Beispiel.

Unser Büro in Lahore stärkt seit vielen Jahren einige dieser mutigen zivilge-sellschaftlichen Organisationen aus dem Menschenrechts- und Frauenrechts-sektor und kooperiert mit unabhängigen Instituten und der Wissenschaft.

Die Begleitung zivilgesellschaftlicher Debatten in Pakistan, politische Analysen und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit indischen und afghanischen Persönlichkeiten und Organisationen, die den regionalen Austausch als Beitrag zur Krisenlösung suchen, bilden einen weiteren Kern unserer Arbeit. Die Rückvermittlung der pakistanischen Debatten und der regio-nalen Prozesse in die politische Öffentlichkeit Deutschlands haben wir uns darüber hinaus zum Ziel gesetzt.

Die vorliegende Publikation will ein differenziertes Bild über die komplexen politischen Prozesse und gesellschaftspolitischen Herausforderungen Pakistans für eine größere internationale Öffentlichkeit bieten. Autorinnen und Autoren verschiedener Disziplinen präsentieren sowohl ihre Analysen über Defizite und Schwächen als auch Vorstellungen und Ideen für eine demokratischere und friedlichere Zukunft Pakistans. Sie versuchen damit auch, politischen Entschei-dungsträgern einen Weg zu einem besseren Verständnis und zur Zusammenar-beit mit diesem gleichzeitig schwierigen wie faszinierenden Land zu zeigen.

Wir bedanken uns ganz besonders bei den Autorinnen und Autoren sowie unserem vormaligen Leiter des Büros Lahore, Gregor Enste, und bei Saima Jasam, der dortigen Programmkoordinatorin, für ihre politische Initiative und

Vor

wor

t

Page 10: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

8

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

die Betreuung dieses Sammelbandes. Herausgekommen ist eine einmalige Präsentation zeitgenössischer pakistanischer Perspektiven und Stimmen.

Berlin, im November 2010

Barbara Unmüßig Julia ScherfVorstand der Leiterin AsienreferatHeinrich-Böll-Stiftung der Heinrich-Böll-Stiftung

Page 11: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

9

Ein

leit

ung

einleitung

Die Geschichte des demokratischen Pakistans nachzuzeichnen ist kein leichtes Unterfangen. Das Land hat seit seiner Gründung im Jahre 1947 eine vielschich-tige, von Gegensätzen und Widersprüchen geprägte Entwicklung genommen – das gilt sowohl für die Gesellschaft als auch für Politik und Wirtschaft. Die Darstellung dieser Entwicklung fördert ein Konglomerat von Faktoren zutage, die für die Komplexität und Fragilität des gegenwärtigen pakistanischen Staates verantwortlich sind.

Das erste Kapitel des Journalisten Abbas Rashid widmet sich dem geringen Grad an Industrialisierung und dem Mangel an Arbeitskräften zum Zeitpunkt der Gründung Pakistans. Es wirft einen Blick auf die Schwäche von Zivilgesellschaft und politischen Institutionen und zeigt, wie einem föderalen Staat eine zentra-listische Konstruktion übergestülpt wurde, was die Autonomiebestrebungen der Provinzen blockierte. Diese Autonomiebestrebungen bestanden allerdings weiter und bilden gegenwärtig eine der größten Herausforderungen für die Einheit der Republik Pakistan. Rashid reflektiert das militärisch-zivile Ungleich-gewicht und die militärische Dominanz während der Zyklen ziviler und militä-rischer Herrschaft und wirft so ein Schlaglicht auf den gegenwärtigen Stand der Demokratie und der Politik Pakistans. Die Frage der Identität und der ideolo-gischen Kämpfe, die seit Beginn des neu geschaffenen Staates andauern, zeigt deutlich den gegenwärtigen Stand der Dinge in der pakistanischen Gesellschaft.

Die Erkundungen werden fortgesetzt von Rubina Saigol, einer bekannten Wissenschaftlerin und Frauenrechtlerin, die in ihrem Beitrag die Wurzeln der «Islamisierung» und «Radikalisierung» in Pakistan herausarbeitet. Sie durch-leuchtet die Rolle der Zivil- und Militärregierungen wie auch der Zivilgesellschaft im Hinblick auf die «Radikalisierung» und führt nach der Erörterung der Fakten eine Reihe von Vorschlägen für die Verbesserung der Lage an.

Hasan-Askari Rizvi, Wissenschaftler und politischer Analyst, stellt die verschiedenen politischen Parteien in Pakistan vor. Er erläutert die Grundzüge des Parteiensystems und zeigt dabei ihre demokratischen bzw. undemokrati-schen, dynastischen und feudalen innerparteilichen Strukturen auf. Vor dem Hintergrund dieser Determinanten analysiert er den gegenwärtigen Stand der Demokratie in Pakistan und den Wandel, die Fragmentierung und Fragilität des Staates.

Im vierten Beitrag liefert der Ökonom und Wissenschaftler Kaiser Bengali einen detaillierten historischen Überblick über Pakistans Wirtschaftspolitik und die wirtschaftliche Entwicklung von der Gründung des Staates bis heute. Der Autor macht den Wandel Pakistans vom Entwicklungsland zum Sicherheits-

Page 12: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

10

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

staat deutlich, zeigt die Folgen für die Wirtschaft, die Gleichheit und die Armut und kommt zu dem Schluss, dass die Wurzeln der Krise nicht wirtschaftlicher, sondern eher politischer Natur sind.

Pervez Hoodbhoy, Professor für Physik, stellt in seinem Beitrag die atomaren Doktrinen im Lauf der Jahrzehnte sowie die Gefahren für die Sicherheit von Pakistans atomaren Anlagen dar. Dabei verfolgt er die Geschichte der atomaren Kapazitäten Indiens und Pakistans und beschreibt die eminenten Risiken der regionalen Atompolitik. Dabei entwirft er auch ein plastisches Bild von der Instrumentalisierung des pakistanischen Atompotenzials für die pakistanische Außenpolitik. Es wird noch einmal deutlich, wie überschwänglich der pakistani-sche Staat und die Gesellschaft den Status als Atommacht begrüßen. Hoodbhoy verschweigt nicht, mit welch exorbitanten Kosten und einem entsprechenden Ressourcenverbrauch dieser Status aufrechterhalten wird. Der Autor beschließt seine Analyse mit einigen Überlegungen zur inneren Logik und den Folgen des Status als Atommacht.

Der Schlussbeitrag blickt optimistischer auf das demokratische Potenzial Pakistans. Der Journalist Azmat Abbas und Saima Jasam vom Büro Lahore der Heinrich-Böll-Stiftung geben einen Überblick über die Anwaltsbewegung und den Spielraum, den sie allen Teilen der pakistanischen Gesellschaft geöffnet hat. So können wir trotz der historischen Erbschaft Pakistans, der momentanen Radikalisierung, der Militarisierung und der Zersplitterung der Demokratie am Ende doch noch einen Hoffnungsschimmer am Horizont entdecken.

Wir hoffen, dass dieser Band das Wissen über Pakistan um einiges vermehren wird. Die Texte machen uns vertraut mit den Realitäten, den Schwierigkeiten, aber auch mit den erheblichen Möglichkeiten, die das Land hat. Es ist der Leserin und dem Leser überlassen, die eigenen Schlüsse daraus zu ziehen.

Gregor EnsteEhem. Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Lahore, Pakistan

Page 13: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

11

abb

as r

ashi

d D

ie V

erga

ngen

heit

ist

kein

fre

mde

s La

nd: D

emok

rati

e, E

ntw

ickl

ung

und

Mac

ht in

Pak

ista

n

aBBas rashid

die Vergangenheit ist kein fremdes land: demokratie, entwicklung und macht in Pakistan

einleitung

Demokratie und Entwicklung, beides wesentliche Elemente der Nationenbil-dung, haben sich in Pakistan in gefährlichen Bahnen festgefahren. Die Hinder-nisse, auf die sie immer wieder stoßen, müssen als wiederkehrende Muster in der Geschichte Pakistans betrachtet werden. Viele der heutigen Schwierigkeiten des Gemeinwesens gehen auf dessen Anfänge zurück, auf die soziale Formation und die Machtstrukturen, die es übernahm, sowie auf die politischen Entschei-dungen, die zu Beginn getroffen wurden. Der lange und harte Kampf des pakis-tanischen Volkes zur Überwindung dieser Hindernisse zeigte gemischte und paradoxe Resultate. So ist bemerkenswert, dass in einem Land, in dem Religion ein zentraler Faktor in Politik wie Gesellschaft geblieben ist, die politisch-religi-ösen Parteien bei Wahlen regelmäßig zurückgewiesen wurden. Zu jenen, die sich diesen Parteien entgegenstellten, gehörten progressive Dichter wie Faiz Ahmed Faiz1, Wissenschaftler wie der Nobelpreisträger Abdus Salam2, der weltberühmte Philanthrop Abdul Sattar Edhi3 und die erste Premierministerin eines mehrheit-lich muslimischen Staates, Benazir Bhutto. Die Leistungen dieser Personen haben weit über die Landesgrenzen hinaus Anerkennung gefunden.

Trotz seiner Fülle an natürlichen Ressourcen, seiner Leistungsfähigkeit und seinen Talenten hat Pakistan von Anbeginn an in einem unverhältnismäßigen Ausmaß unter Krisen gelitten. Im Folgenden soll dieses Paradox anhand einiger Schlüsselfaktoren untersucht und erklärt werden: (a) Ungleichgewicht zwischen zivilen Institutionen und Militär: Pakistan hat

nicht nur lange Phasen der Militärherrschaft durchgemacht, sondern musste

1 Faiz galt als der überragende progressive Urdu-Dichter seiner Zeit.2 Salam war theoretischer Physiker und erhielt den Nobelpreis für seine Arbeit zu einer

vereinheitlichten Theorie der elektromagnetischen und schwachen Wechselwirkung.3 Laut dem Guinness-Buch der Rekorde betreibt die Edhi-Stiftung das weltweit größte

private Netzwerk an Sanitätsdiensten.

Page 14: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

12

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

auch unter zivilen Regierungen ein hohes Maß an Kontrolle und Entschei-dung durch das Militär hinnehmen.

(b) Instrumentalisierung der Religion: Die Religion wurde auf zynische Weise für politische Zwecke instrumentalisiert, und zwar nicht nur durch die politisch-religiösen Kräfte wie etwa die Jamaat-i-Islami4 (JI) oder die Jamiat-e-Ulama-e-Islam5 (JUI), sondern ebenso durch liberal-säkulare Machthaber, sei es in zivilen (gewählten wie nicht gewählten) oder in Militärregierungen.

(c) Wachstum minus Gleichheit: In der sozialen Entwicklung hat der Aspekt der Gleichheit in Pakistan nur selten eine Rolle gespielt. Die «Trickle-Down-Theorie»6 scheint für die kleine privilegierte Elite in Pakistan ein Glaubensar-tikel zu sein. Ein großer Teil der Bevölkerung hat immer schon eine marginale Existenz geführt, und die Leistungen der verschiedenen Regierungen ließen viel zu wünschen übrig, insbesondere was Bildung und Gesundheitsreform anlangt.

(d) Äußere Abhängigkeit: In den Bereichen Militär und Entwicklung hat sich Pakistan mehr als jedes andere Land an die USA gehalten. Diese Verbindung wurde wiederholt dazu genutzt, Diktatoren zu stützen und das Militär zu stärken. So etwa in den 1950er Jahren, als sich die Armee unter Ayub Khan, der erst Oberbefehlshaber der Streitkräfte und später Präsident war, durch-setzte; damals sahen die USA das pakistanische Militär als ein Bollwerk gegen den Kommunismus an, und es gab ein US-»Kommunikationszentrum» in Badaber7 nahe Peshawar, in der Nordwestlichen Grenzprovinz. Auch Zia ul-Haq, der nach einem Staatsstreich die Macht ergriff, wurde in vollem Umfang durch die USA unterstützt, und Pakistan bekam die Rolle eines Front-staates zugewiesen. Musharraf schließlich galt als verlässlicher Bündnis-partner in Bushs «Krieg gegen den Terror» in Afghanistan und wurde mehr oder weniger bedingungslos unterstützt. Damit verbunden war eine Überbe-wertung von Reichweite und Gehalt der Beziehung zwischen Pakistan und den USA durch die pakistanische Führung. Man berücksichtigte nicht, wie das politische Establishment der USA seine politischen Ziele verstand und dass es dazu neigte, die Beziehung herabzustufen, sobald die angestrebten Ziele erreicht waren.

Während die Abhängigkeit von den USA eine stärkere Militarisierung des Staates mit sich brachte, dürfte die Abhängigkeit von Saudi-Arabien durch

4 Die JI ist eine politisch-religiöse Partei, die von Sayyid Abul Ala Maududi im Jahr 1941 in Lahore gegründet wurde.

5 Die JUI gehört als politisch-religiöse Partei zur muslimischen Deoband-Bewegung. Die JUI entstand durch eine Abspaltung von der Jamiat-ul Ulama-e-Hind im Jahre 1945.

6 In der Praxis oft widerlegt, besagt diese Theorie im Kern, dass die Politik darauf gerichtet werden solle, die ohnehin schon Bessergestellten noch wohlhabender zu machen, so dass etwas von ihrem Wohlstand zu denen am unteren Ende durchsickern könne.

7 Das U-2-Spionageflugzeug, das im Jahr 1960 von der Sowjetunion abgeschossen wurde, war von Peshawar aus gestartet. Der Vorfall führte zu angespannten Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion, wobei letztere natürlich mit Pakistans Rolle keineswegs einverstanden war.

Page 15: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

13

abb

as r

ashi

d D

ie V

erga

ngen

heit

ist

kein

fre

mde

s La

nd: D

emok

rati

e, E

ntw

ickl

ung

und

Mac

ht in

Pak

ista

n

die Verbreitung einer engen, puritanischen, wahabitischen Interpretation des Islam zu einem erheblichen Konservativismus in der Gesellschaft beige-tragen haben. Als Pakistan unter Zia ein Frontstaat wurde, Schlüsselpartner in dem von den USA geführten Kampf gegen die Sowjets in Afghanistan und mit der vollen Unterstützung durch Saudi-Arabien, kam es zu einer macht-vollen Verbindung beider Entwicklungen. China war ein anderer zentraler Verbündeter, doch diese Beziehung hatte nur begrenzten Einfluss auf die internen politischen und sozialen Verhältnisse. Das gleiche gilt für Japan und einige der wichtigsten Handelspartner Pakistans in Europa.

(e) Die Rolle nichtstaatlicher Akteure: Fast von Anfang an wurden nichtstaatliche Akteure zu Instrumenten der Außenpolitik gemacht, was zu einem Prinzipal-Agent-Problem führte (Stern 2000)8. Bereits im ersten Krieg zwischen Indien und Pakistan um Kaschmir im Jahr 1948 waren Stammesangehörige aus der Norwestlichen Grenzprovinz ermutigt worden, eine führende Rolle im Kampf zu übernehmen.

(f) Unbehagen an der Vielfalt: Politiker in Pakistan haben oft Einheitlichkeit mit Einheit verwechselt und Stärke durch Zentralisierung zu erreichen versucht. Durch die Kultur- und Sprachenpolitik wurde Urdu auf Kosten anderer Landessprachen privilegiert, und Pakistan wurde eher wie ein Einheitsstaat als wie eine Föderation regiert.

Kommen wir zurück auf die Gründungsphase Pakistans und die besonderen Umstände seiner Entstehung. Die Muslimliga (ML) unter Muhammad Ali Jinnah, der oft als Quaid-i-Azam (großer Führer) bezeichnet wird, scheint über ein eigenständiges muslimisches Stammland verhandelt zu haben, ohne die Möglichkeit einer Einigung innerhalb eines ungeteilten Indien auszuschließen, die ihr einen Anteil an der Macht gewährt hätte. Die Führung des Indischen Nationalkongresses (Kongresspartei) setzte sich jedoch nie ernsthaft mit diesem Ziel auseinander (Jalal 1985; Sayeed 1978; Singh 2009)9. Die ML hatte sich als Partei indischer Muslime gegründet, doch kann ihr schwerlich die Hauptver-antwortung für die Politisierung der Religion zugewiesen werden. In den 1920er Jahren stand Jinnah der Kalifat-Bewegung in Indien, die für die Restauration des Kalifats von Sultan Abdul-Hamid II in der Türkei eintrat, distanziert gegenüber (Mortimer 1982: 193-195). Der Gebrauch einer religiösen Ausdrucksweise durch die Führer der Unabhängigkeitsbewegung – nicht zuletzt durch Mahatma Gandhi

8 Laut dem Beitrag von Jessica Stern in Foreign Affairs ist Pakistan mit einem Prinzipal-Agent-Problem konfrontiert: «Die Interessen von Pakistan (dem Prinzipal) und jene der militanten Gruppen (dem Agenten) stimmen nicht vollständig überein».

9 Im Jahr 1916 wurde Jinnah auch als der Botschafter der hinduistisch-muslimischen Einheit bezeichnet.

Page 16: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

14

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

selbst10, der in öffentlichen Versammlungen etwa auf Ram Raj11 Bezug nahm (Sayeed, 1978: 96-97)–, gab in gewisser Weise der ML den Ton vor, als diese sich in ihrem Kampf um die Mobilisierung der Massen auf den Islam als wesentliches Identitätsmerkmal festlegte. Iqbals Rede in Allahabad entwarf die Vision eines Muslimstaates: «Ich wünsche mir, dass der Punjab, die Nordwestliche Grenzpro-vinz, Sindh und Belutschistan zu einem einheitlichen Staat verschmelzen. Ob Autonomie innerhalb des britischen Empire oder ohne britisches Empire: Die Bildung eines zusammenhängenden, nordwestindischen muslimischen Staates erscheint mir als die Bestimmung der Muslime, zumindest derjenigen Nordwest-indiens» (Zitat nach Zaidi 1979: 67).

Aber genauso sprach Iqbal auch von einem «muslimischen Indien innerhalb Indiens» und plädierte für ein Abkommen, dass den Muslimen in Nordwest-indien «umfassende Möglichkeiten der Entwicklung innerhalb des indischen Staatswesens» (Mortimer 1982: 198) einräumen sollte. Zur Politisierung der Frage einer Teilung hatten nicht zuletzt die Briten beigetragen. Um besser regieren zu können oder um Politik nach dem Motto «Teile und herrsche» zu betreiben, scheinen sie die Zensuskategorien so gestaltet zu haben, dass die religiösen und ethnischen Zugehörigkeiten nicht mehr so diffus blieben wie zuvor. Und bereits in der Periode des Übergangs von der imperialen Herrschaft zur Autonomie hatte der Staat seine Einwohner mit Staatsbürgerrecht formal aufgeteilt, indem mit dem Indian Councils Act von 1909 getrennte Wählerschaften für Muslime und Hindus eingeführt wurden (Shaheed 2002: 7).

Jedenfalls blieb für Jinnah die Forderung nach einem Staat Pakistan bis ein Jahr vor der Unabhängigkeit verhandelbar: Er akzeptierte im Jahr 1946 den Cabinet Mission Plan, der einen Staat vorsah, bei dem Verteidigung, Außenpolitik und Kommunikation beim Zentrum verblieben, während alle übrigen Gewalten drei Gruppen von Provinzen zugeteilt werden sollten. Es war die Kongresspartei, die diesem Plan nicht zustimmte. Daraufhin akzeptierte Jinnah widerstrebend, was er ein «von Motten zerfressenes Pakistan» nannte. Entsprechend nachdrück-lich wird in der «großen Erzählung» Pakistans die Uneinsichtigkeit der indischen Führung als Schlüsselfaktor für die Teilung Indiens dargestellt. Umgekehrt ist die gängige Lesart in Indien, die Führung der ML sei an der Teilung schuld, da sie einen Staat auf Basis der Religion und die «Vivisektion» Indiens gefordert habe. Diese Sichtweise könnte sich allerdings ändern: Das kürzlich erschienene Buch eines früheren indischen Außenministers rückt die Angelegenheit ins rechte Licht und stellt die indische Sicht in Frage, wonach die damalige Muslimführung an der Teilung des Landes schuld sei (Singh 2009).

10 Gandhi lag es fern, sich dafür zu entschuldigen. Er hatte zum Beispiel an der ersten Kalifat-Konferenz, die im November 1919 in Delhi stattfand, teilgenommen und die Hindus zur Unterstützung des Kalifats aufgefordert, mit dem Argument, dass die Hindus, wenn sie der muslimischen Religion Respekt erwiesen, sich auch Respekt für ihre eigene Religion sichern würden (Mortimer 1982: 194).

11 Herrschaft von Ram oder Rückkehr zu einem mystischen goldenen Zeitalter.

Page 17: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

15

abb

as r

ashi

d D

ie V

erga

ngen

heit

ist

kein

fre

mde

s La

nd: D

emok

rati

e, E

ntw

ickl

ung

und

Mac

ht in

Pak

ista

n

die teilung: eine schwierige geburt und die erblast von mangel und ungleichgewicht

Der Prozess der Teilung forderte einen hohen Preis. Auf beiden Seiten versuchten Millionen von Menschen – je nach ihrer Religionszugehörigkeit und Identität – nach Pakistan oder Indien zu gelangen. Sowohl im Punjab als auch in Bengalen starben nach dem 16. August zwischen 500.000 und einer Million Menschen als Flüchtlinge infolge der Teilung (Wolpert 2006: 176). Während die Muslime nach Pakistan zogen und die Hindus und Sikhs nach Indien, kam es auf beiden Seiten zu einem Massenausbruch der Wut und Rachsucht und zu fürchterli-chen Gräueltaten. Es gab auch noch andere furchtbare Folgen: Entwurzelung, abgebrochene Laufbahnen, Leben, die für immer auseinandergerissen wurden. Und nirgends waren diese Folgen schlimmer als im Punjab, der im neugebildeten Staat Pakistan zur dominanten und bevölkerungsreichsten Provinz wurde.

Versuchen wir einmal, uns ein ganzheitliches Bild von den Bedingungen zu machen, unter denen Pakistan zustande kam. Es wurde aus den Randgebieten Indiens gebildet, wobei seine beiden Landesteile tausend Meilen voneinander entfernt lagen. Seine Nachbarn entlang seiner langen Grenzen im Osten und Westen waren alles andere als freundlich gesinnt. Außerdem grenzte natürlich auch das geteilte Kaschmir an Indien, und der Streit darum spielte bei Pakistans rapider Verwandlung in einen Sicherheitsstaat eine zentrale Rolle.

Ein weiterer wichtiger Faktor war der Mangel an Ressourcen – sowohl materi-eller Art als auch an sozialem Kapital. Der neugegründete Staat kam in den Besitz von weniger als 10 Prozent der industriellen Unternehmen des Subkon-tinents und von nur 6,5 Prozent der industriellen Arbeitskräfte (Gankovsy und Polonskaya 1970: 99). Pakistan übernahm einen Teil von Bengalen, jedoch nicht den industriellen Teil und das soziale Kapital, das sich in der Hauptstadt des verei-nigten Bengalen, d.h. in Kalkutta, konzentrierte.12 Jinnah hatte nichts dagegen, Bengalen vereinigt zu lassen, auch wenn das bedeutete, dass Ostbengalen kein Teil von Pakistan werden würde.13 Pakistan erhielt Sindh, das nicht länger mit Bombay verbunden blieb, sowie Belutschistan und die Nordwestliche Grenz-provinz, zwei Gebiete, die die Briten weitgehend unentwickelt gelassen hatten. Für die Briten war die entscheidende Frage, welche Rolle diese Gebiete in ihrem strategischen Kalkül bezüglich des angrenzenden russischen Reiches spielen könnten. Sie hatten daher versucht, den durch Stammesstrukturen bestimmten Status quo aufrechtzuerhalten, indem sie einerseits den Stammesführern einen gewissen Grad an Autonomie zugestanden und andererseits Unruhen durch militärische Expeditionen zu unterdrücken suchten. Was den Punjab betraf, so kam es dort in Verbindung mit einer neuen Theorie über das kriegerische Wesen des in diesem Gebiet lebenden Menschenschlags zu einer intensiven Rekru-

12 Indiens Anteil an der Industrie und an ausgebildeten Arbeitskräften hatte natürlich ebenfalls offensichtliche Auswirkungen auf seine Entwicklung.

13 Vgl. Alavi 2004: 98.

Page 18: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

16

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

tierung für das Militär. Das heißt nicht, dass es im Punjab unter den Briten zu keinerlei Entwicklung von Landwirtschaft und Infrastruktur gekommen wäre. Vielmehr findet sich dort das ausgedehnteste Netz von Bewässerungskanälen, das die Briten weltweit errichtet hatten. Dennoch bewirkte die Politik, die diese Entwicklung begleitete, dass bestehende Ungleichheiten vergrößert wurden und die Gruppe der Landbesitzer durch Zuteilung von Land an den Bewässerungs-kanälen gestärkt wurde. Auf diese Weise festigten die Briten ihre Vorherrschaft. Den landlosen Armen wurde der Zugang verweigert, und selbst die Bourgeoisie, die in anderen Regionen den Kapitalismus vorangetrieben hatte, litt unter einem Prozess der «Verländlichung» im Punjab (Ali 1989: 241-242). Die anderen beiden Gruppen, die infolge der mit dem Kanalbau verbundenen Kolonisierung an Macht gewannen, waren das Militär und die Bürokratie: Das Militär erhielt Land für die Ansiedlung von Soldaten und die Pferdezucht, und die zivile und für die Bewässerung zuständige Bürokratie wurde durch die Verwaltung und Kontrolle des riesigen Kanalnetzwerkes mächtig. Die Dominanz dieser Gruppen hatte Bestand, was sich der Tatsache verdankt, dass in der neuen Nation über viele Jahre keine Landreformen stattfanden. Die Landreformen, die schließlich im westlichen Landesteil Ende der 1950er Jahre von Ayub Khan und in den frühen 1970er Jahren durch Z. A. Bhutto durchgeführt wurden, erwiesen sich als weitge-hend ineffektiv.

logik der demokratie versus realitäten der macht

Die Anomalien, die in Pakistans politischer und Machtstruktur zutage traten, wurden auch durch die Gebietsverteilung bestimmt. Sie war mit einem Ungleich-gewicht der Macht innerhalb der staatlichen Institutionen, der Gesellschaft sowie zwischen den ethnischen Gruppen verbunden. Zunächst einmal waren die beiden Landesteile tausend Meilen voneinander entfernt. Zudem wurde die Arithmetik der Demokratie durch die Dynamik der Macht unterlaufen. Ost-Pa-kistan beheimatete die Mehrheit der Bevölkerung, während sich die Macht im westlichen Landesteil konzentrierte, weitgehend auf Basis des im Punjab statio-nierten Militärs. Die herrschende Elite suchte daher nach einer demokratischen Ordnung, die die existierende Machtkonstellation nicht umstoßen würde. Es musste eine Formel gefunden werden, die die Mehrheit Ost-Pakistans mit der Minderheit West-Pakistans gleichstellen würde. Diese entstand in Form der One Unit14, durch die vier verschiedene Provinzen/Territorien im Westen in eine Verwaltungseinheit übergingen. Es wurde außerdem entschieden, dass die beiden Landesteile ungeachtet ihrer unterschiedlich großen Bevölkerungszahl in der Legislative gleich stark vertreten sein sollten. Auch im westlichen Landes-teil benachteiligte dieses Arrangement die kleineren Provinzen und schürte Unzufriedenheit. Das Gefühl der Entfremdung in den kleineren Provinzen

14 Die Provinz West-Pakistan wurde im Jahr 1955 durch den Zusammenschluss der Provinzen, Staaten und Stammesgebiete des westlichen Landesteils geschaffen.

Page 19: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

17

abb

as r

ashi

d D

ie V

erga

ngen

heit

ist

kein

fre

mde

s La

nd: D

emok

rati

e, E

ntw

ickl

ung

und

Mac

ht in

Pak

ista

n

korrespondierte oft mit Trennlinien zwischen Sub-Nationalitäten und Ethnien. Es verstärkte sich noch durch die ungleiche ökonomische Entwicklung und den häufigen Rückgriff auf vom Zentrum vorgegebene Anordnungen des Gouver-neurs. Das Bedürfnis, Mehrheit und Minderheit in ein Gleichgewicht zu bringen, trug wesentlich zur Verzögerung bei der Ausarbeitung einer Verfassung bei: Es brauchte volle neun Jahre, diese zu formulieren, so dass sie erst im Jahr 1956 fertiggestellt war. Zu dieser Zeit hatte das Militär bereits erheblich an Stärke gewonnen, auch durch seine Beteiligung an multilateralen Militärbündnissen unter der Schirmherrschaft der USA. 1958 ergriff es dann die Macht, bevor die geplanten Wahlen verfassungsgemäß abgehalten werden konnten.

die mangelnde Balance zwischen staat und gesellschaft und das urban-industrielle defizit

Das Ungleichgewicht zwischen Staat und Gesellschaft bedeutete, dass Pakistan sich, wie viele andere postkoloniale Länder, eher als Staatsnation denn als Natio-nalstaat herausbildete. Angesichts des Entwicklungsstandes der Gebiete, die dem neuen Staat zugefallen waren, waren seine sozialen und politischen Instituti-onen, einschließlich der Partei, die die Pakistan-Bewegung geführt und anschlie-ßend die Macht übernommen hatte, relativ unterentwickelt. Im Gegensatz dazu bildete der Staatsapparat, den das Land in Form eines gut organisierten Militärs und einer disziplinierten Bürokratie übernommen hatte, eine vergleichsweise überentwickelte Struktur (Alavi 1973).15 Das zivil-militärische Ungleichgewicht, das von Beginn an erkennbar war, zeigte sich besonders deutlich in den frühen 1950er Jahren, als ein aktiver Oberbefehlshaber der Armee, General Ayub Khan16, einen Sitz in einem zivilen Kabinett erhielt.

Auf der systemischen Ebene bewirkte das weitgehende Fehlen einer indus-triellen Basis im Lande, dass es kaum eine Bourgeoisie gab und die agrarische Klasse die Herrschaft übernahm. In Belutschistan und der Nordwestlichen Grenzprovinz herrschte fast überall eine Stammesordnung. Dieses Ungleichge-wicht wurde weiter verstärkt durch das Fehlen bedeutender städtischer Zentren. Im ganzen Land gab es nur einige wenige, die als Knotenpunkte für das materi-elle, soziale und intellektuelle Kapital dienen konnte – notwendige Elemente, um die Idee eines modernen, fortschrittlichen und sozialen Staates voranzubringen. Jener Art von Staat, die Jinnah vorschwebte, als er in seiner Rede als Präsident der Konstituierenden Versammlung am 11. August 1947 erklärte: «Ob jemand sich mit einer Religion oder Kaste oder Weltanschauung verbunden fühlt, hat mit den Aufgaben des Staates nichts zu tun... es gibt keine Diskriminierung, keine Unterscheidung zwischen einer Kaste oder einer Weltanschauung und einer anderen. Wir gehen von dem Grundprinzip aus, dass wir alle Bürger sind,

15 Hamza Alavis These, dass der Staatsapparat in postkolonialen Ländern relativ überentwi-ckelt sei, erscheint im Fall von Pakistan besonders relevant.

16 Er wurde aufgefordert, in der zweiten Regierung (1954) von Muhammad Ali Bogra als Verteidigungsminister zu dienen.

Page 20: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

18

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

gleichberechtigte Bürger eines einzigen Staates... Mit der Zeit werden die Hindus keine Hindus mehr sein und die Muslime keine Muslime – nicht im religiösen Sinne, denn das ist der persönliche Glaube jedes Einzelnen, sondern im politi-schen Sinne, als Bürger des Staates.»17

Was nun die Frage nach potenziellen Zentren für Entwicklung betrifft, so gab es nur acht Städte mit mehr als einer Million Einwohnern (Gankovsky und Polanskaya 1970). Davon waren Karatschi und Lahore von besonderer Bedeu-tung für die Provinzen Sindh beziehungsweise Punjab. Zur Zeit der Teilung kam es zum Exodus der in den Städten konzentrierten Nicht-Muslime, insbe-sondere der Hindus, die einen großen Teil der Fachkräfte stellten. Dies konnte nicht ohne Auswirkung auf Schlüsselsektoren wie Verwaltung, Geschäftsleben oder Bildung bleiben. So verloren zum Beispiel das Government College und die Punjab University in Lahore, die ältesten Institutionen des Landes, führende Lehrkräfte, nur weil sie nicht-muslimisch waren. Es besteht kein Zweifel, dass das College auch nach der Trennung noch einige herausragende Lehrkräfte und Studierende vorweisen konnte. Dennoch wurde im Laufe der Jahre deutlich, dass immer weniger Institute über herausragende Lehrkräfte verfügten und hohe akademische Standards bieten konnten. Mochten auch früher schon Defizite existiert haben, so wurde es nun immer schwieriger, für starke und lebendige akademische Institutionen zu sorgen, die für den Prozess der Entwicklung von entscheidender Bedeutung sind. Und die Heranbildung einer kritischen Masse von Arbeitskräften wurde angesichts des von Grund auf veränderten sozialen Kontextes zu einer gewaltigen Herausforderung. Ohne Frage waren andere Bereiche und Institutionen mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert, die aus den Ungewissheiten und der mangelnden Sicherheit infolge der unter-schiedlichen Religionszugehörigkeit der Menschen erwuchsen.

Die mit der Landesteilung einhergehende Gewaltexplosion hätte vorherge-sehen werden müssen. Der Teufelskreis von Tod, Vertreibung und Rache führte dazu, dass das Morden auf beiden Seiten katastrophale Dimensionen annahm. Nur wenige Menschen schienen auf die Worte von Jinnah, Nehru oder Gandhi zu hören, die für Ruhe, Toleranz und schlichten menschlichen Anstand eintraten. Dies galt besonders für den Punjab. Kein einziger der Führer scheint das schiere Ausmaß und den Grad des Wahnsinns vorhergesehen zu haben, der dem Akt der Teilung folgte. Der Punjab erlebte das schlimmste Blutbad – in beide Richtungen überquerten Züge die Grenze, in denen es nur noch wenige Überlebende gab, die über die Gräuel, die sie miterlebt hatten, berichten konnten. Und der Punjab wurde zur führenden Provinz im unabhängig gewordenen Pakistan. Dies musste ernste Auswirkungen für die längerfristigen Beziehungen mit Indien haben. Es trug auch dazu bei, dass Pakistan relativ leicht in einen Sicherheitsstaat verwan-delt werden konnte.

17 Rede als Präsident der Konstituierenden Versammlung von Pakistan in Karatschi. Seiten 25-29 in Jinnah: Speeches and Statements 1947-1948. Karatschi: OUP, 2002.

Page 21: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

19

abb

as r

ashi

d D

ie V

erga

ngen

heit

ist

kein

fre

mde

s La

nd: D

emok

rati

e, E

ntw

ickl

ung

und

Mac

ht in

Pak

ista

n

Trotz des Wahnsinns des Mobs und der schlechten Vorbereitung der Führer beider Seiten muss die größte Verantwortung für das Chaos sicherlich den Briten zugeschrieben werden. Die Übergabe der Macht fand unter der Oberaufsicht von Viceroy Louis Mountbatten statt, den ein zu dieser Zeit in Bengalen dienender führender Offizier großzügig als «Gauner» beschrieb.18 Und der Viceroy machte sich schnellstmöglich aus dem Staub. Auf seine Empfehlung hin wurde das Datum der Unabhängigkeit um ein Jahr vorverlegt. Das befreite die Briten von jeder Verantwortung für die Überwachung eines ordentlichen Übergangs.

die instrumentalisierung der religion

Unmittelbar nach der Unabhängigkeit herrschte bei den politisch-religiösen Gruppen eine gewisse Verwirrung. Sie hatten gegen die Gründung Pakistans opponiert, nicht zuletzt weil das neue Land offenbar von Männern geführt werden sollte, deren Verständnis des Islam sich stark von ihrem eigenen unterschied. Zudem sahen viele muslimische Gelehrte und Geistliche den Verlust an Möglich-keiten, Menschen zu bekehren, als einen Schritt in die falsche Richtung für die Muslime in Indien. Ein Faktor, der diesen Gruppen half, ihre Autorität wieder geltend zu machen, war ihre Strategie, die Idee eines eigenen Heimatlandes für die indischen Muslime mit der einer mehr oder weniger theokratischen Republik zu verschmelzen, gegen die Jinnah allerdings unmissverständlich argumentiert hatte. Doch hatte sich in der Forderung nach einem eigenen Staat die religiöse Sprache durchaus niedergeschlagen. Ein Wissenschaftler schrieb, so komplex die Motivation zur Gründung eines eigenen Landes auch gewesen sein mochte, der «Traum wurde in eine islamische Form gegossen» (Smith 1957: 227). Die Gruppen, die dabei außen vor geblieben waren, begannen schnell, diesen Traum nach ihren eigenen Vorstellungen umzuformen. Mit dieser Herausforderung auf der Ebene der Ideen und Interpretationen setzte sich die herrschende Elite nie ernsthaft auseinander. Jinnah, der nur ein Jahr nach der Gründung Pakistans starb, war nicht mehr in der Lage, seine Vision von Pakistan, die er in seiner Rede vor der Konstituierenden Versammlung 1947 artikuliert hatte, weiterzuverfolgen. Interessant ist, dass auch Vallabhbhai Patel, eine zentrale Figur der indischen Politik, der in der Zeit nach der Unabhängigkeit als wichtigster Rivale Nehrus hervortrat und «einfach die bestehenden Muster der indischen Gesellschaft mitsamt ihren Hierarchien, Besonderheiten und religiösen Vorlieben bekräf-tigen und pflegen wollte», kurz nach Indiens Erlangung der Unabhängigkeit starb und «Nehrus demokratischer, reformistischer Ansatz den konservativeren, autoritäreren von Patel verdrängte» (Khilnani 1999: 33-34). Ein weiterer Faktor war die Tatsache, dass ein gut durchdachter Plan für die praktische Umsetzung von Jinnahs Vision eines liberalen Wohlfahrtsstaates fehlte, in dem Muslime und Nicht-Muslime als gleichberechtigte Bürger leben und ihren Beitrag leisten konnten. Nach der Unabhängigkeit sah sich der «unsichere Liberalismus»

18 Zitiert bei Stanley Wolpert 2006: 176.

Page 22: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

20

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

derer, die an die Macht kamen, unmittelbar mit der willensstarken «religiösen Orthodoxie» konfrontiert (Rashid 1985). Nicht zuletzt neigte die liberal/säkular eingestellte zivile und militärische Elite dazu, die Religion für politische Ziele zu nutzen. Die Forderung, Pakistan solle zu einem «wahren» Islamischen Staat gemacht werden, war bereits kurz nach Erlangung der Unabhängigkeit zu hören. Einige der entsprechenden Gruppen hatten ursprünglich in scharfer Opposition zu Jinnah und seinem Unternehmen gestanden. Und 1953, kaum sechs Jahre nach der Unabhängigkeit, veranschaulichte die Anti-Ahmadiyya-Bewegung, was für einen Staat diese Gruppen anstrebten. Ihre Bereitschaft, in einem Staat, den sie wenige Jahre, manchmal nur Monate zuvor noch vehement bekämpft hatten, die Religion für politische Ziele einzusetzen, war verblüffend. Die Ereig-nisse dieser Zeit zeigten die Neigung der liberal/säkular eingestellten Eliten, die Religion in den Dienst politischer Ziele zu stellen, wenn es ihren Zwecken diente; es war der in Oxford ausgebildete Ministerpräsident des Punjab, der zuließ, dass der Spielraum für die Anti-Ahmadiyya-Bewegung wuchs. Dies war eine bequeme Taktik, um die Zentralregierung unter Premierminister Khwaja Nazimuddin zu stürzen. Der Bericht des Untersuchungsausschusses, den man zur Klärung der Vorfälle einberufen hatte, kam zu dem Schluss, dass die Unruhen im Punjab von den Majlis-e-Ahrar angestiftet worden seien, die «systematisch die Religion für ihre politischen Ziele genutzt haben», und dass sie, wie auch andere politische Gruppen und Ulema, dabei von «öffentlichen Äußerungen des Ministerpräsi-denten, die die Sichtweise, dass die Ahmadis keine Muslime seien, unterstützten, ermutigt worden» seien (Government of Pakistan 1954: 386).

Bezeichnend war auch, dass es keinen nennenswerten Protest auf breiterer gesellschaftlicher Ebene gegen den Angriff auf eine spezielle Sekte gab – ganz gleichgültig, was man von ihrer religiösen Rechtfertigung halten mochte. Damit wurde auf gewisse Weise die «entwaffnende» Funktion der religiös/ideologischen Sprache im Bereich der Politik ins Licht gerückt. Um die Unruhen zu unterdrü-cken, rief man das Militär, und in der Stadt Lahore wurde zum ersten Mal, wenn auch nur örtlich begrenzt und für kurze Zeit, das Kriegsrecht ausgerufen. Gerade einmal fünf Jahre später, im Jahr 1958, wurde das ganze Land unter Militärherr-schaft gestellt, ein Muster, das häufig und für lange Zeiträume wiederholt werden sollte. Der Munir-Bericht, vielleicht der beste, der je von einer Regierungskom-mission in Pakistan verfasst wurde, nahm in seinem letzten Absatz sehr direkt auf die Frage der Regierungsführung Bezug: «...und es ist unsere tiefe Überzeu-gung, dass eine einzige Bezirksverwaltung und ein Polizeipräsident mit dem Ahar [einer Anti-Ahmadiyya-Bewegung] hätten fertig werden können, wenn man ihn ohne irgendwelche politischen Erwägungen als ein reines Problem von Recht und Ordnung behandelt hätte... Doch wenn Demokratie die Unterordnung von Recht und Ordnung unter politische Ziele bedeutet – dann liegt alles in Allahs Hand, und wir beenden diesen Bericht.»19

19 Munir Report: 387.

Page 23: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

21

abb

as r

ashi

d D

ie V

erga

ngen

heit

ist

kein

fre

mde

s La

nd: D

emok

rati

e, E

ntw

ickl

ung

und

Mac

ht in

Pak

ista

n

Etwa ein Jahrzehnt später suchte der moderne, pro-westliche und in Sandhurst ausgebildete General Ayub Khan die Hilfe der Ulema, als er erklärte, die Kandidatur seiner entscheidenden Rivalin in den Wahlen von 1964, Mohtarma Fatima Jinnah20, sei unzulässig, da Frauen im Islam nicht Staatsober-haupt werden könnten (Mumtaz und Shaheed 1987). Doch trotz aller struktu-reller und politischer Zwänge, von denen man hätte erwarten könnte, dass sie viele Menschen anfällig für eine enge, dogmatische Interpretation des Islam machen würden, hat doch die Mehrheit der Menschen immer eine tolerantere Alternative vorgezogen. Sie folgten lieber Jinnah als jenen religiösen Führern, die im ungeteilten Indien die Gründung Pakistans bekämpften. Sie stimmten im Jahr 1970 für Bhutto, während der 1990er Jahre für die Pakistan People’s Party (PPP) und die Pakistan Muslim League (PLM), und nicht zuletzt gaben sie 2008 selbst in Gebieten, die angeblich die Einführung der Scharia forderten, in einer relativ fairen Wahl ihre Stimmen zugunsten der Awami National Party (ANP) und der PPP ab.

transformation in einen sicherheitsstaat: die konfrontation mit indien und die Verbindung zwischen Pakistan und den usa

Das strukturelle und gesellschaftliche Ungleichgewicht seit der Gründung Pakistans wurde durch die Politik mehrerer aufeinanderfolgender Regierungen verstärkt. Indiens Entscheidung, die getroffene Vereinbarung im Hinblick auf die Prinzenstaaten Junagadh, Hyderabad, Kaschmir zu ignorieren, führte dazu, dass Kaschmir zum Zankapfel zwischen den beiden Ländern wurde, und der erste Krieg um Kaschmir entbrannte bereits Monate nach Erlangung der Unabhängig-keit. Dies bereitete den Weg für ein Muster der Allokation von Ressourcen, das einen disproportionalen Transfer von Mitteln an das Militär vorsah. In Teilen des Landes entstand zunehmend das Gefühl, sich in einem Belagerungszustand zu befinden, und der Sicherheitsstaat entwickelte sich.

Dieses Muster trieb das Land zudem in eine ungesunde Beziehung zu den USA, bedingt durch die Einbindung in verschiedene militärische Pakte, darunter in den 1950er Jahren SEATO21 und CENTO22. Die herausragende Stellung des Militärs wurde hierdurch zunehmend gestärkt. Ein Krieg mit Indien im Jahr 1965 brachte Pakistan seinem Ziel, sich den von Indien gehaltenen Teil Kaschmirs zu sichern, kaum näher, führte jedoch fraglos dazu, dass die Entwicklungsanstren-gungen des Landes zum Stillstand kamen. Und er regte Indien möglicherweise

20 Schwester von Muhammad Ali Jinnah.21 Der Südostasienpakt (Southeast Asia Treaty Orgnization, SEATO) war ein Produkt des

Kalten Krieges. Er wurde unter Leitung der USA 1954 gegründet, um den Einfluss der Sowjetunion in Südsostasien einzudämmen. Der Pakt wurde 1977 aufgelöst.

22 Die Central Treaty Organization (CENTO), der spätere Name für den 1955 geschlossenen Bagdad-Pakt, war ebenfalls ein multilaterales Bündnis mit dem Ziel, die Expansion der Sowjetunion zu stoppen. Es wurde 1979 aufgelöst.

Page 24: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

22

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

an, ein stärkeres Interesse an der in Ostpakistan vorherrschenden Unzufrieden-heit mit dem Zentrum zu entwickeln.

Wachstum ohne gleichheit und seine politischen konsequenzen

Es besteht wenig Zweifel daran, dass die Elite des Landes dazu neigte, den Aspekt der Gleichheit in ihrer Wirtschafts- und Entwicklungspolitik zu ignorieren. Das Muster ungleicher Entwicklung, das besonders die Provinzen betraf, sollte ungünstige Folgen für Pakistan haben. In den ersten Jahren der Industrialisie-rung (bis 1965) unter General Ayub Khan gelang es Pakistan, BIP-Steigerungen von 7 Prozent pro Jahr zu erreichen. Die rasche Entwicklung ließ jedoch auch die sich vergrößernde Ungleichheit zwischen westlichem und östlichem Landes-teil deutlich hervortreten. Nach einer auf offiziellen Zahlen beruhenden Schät-zung erhöhte sich die Ungleichheit der Pro-Kopf-Einkommen zwischen den beiden Landesteilen in dem Jahrzehnt zwischen 1960 und 1970 sogar noch.23 Es war kein Zufall, dass zwei Jahre nachdem Ayub Khan abgesetzt worden war, infolge weitverbreiteter Unruhen im Land die Spannungen zwischen den beiden Landesteilen schließlich überkochten. Im Jahr 1971 befand sich das Land in einem richtiggehenden Krieg mit sich selbst. Eine arrogante Militärjunta unter General Yahya Khan, unterstützt durch die schlecht informierte und bewusst irregeführte öffentliche Meinung, weigerte sich, die Entscheidung der ersten allgemeinen Wahl, die auf Grundlage des Erwachsenenstimmrechts im Jahr 1970 abgehalten wurde, anzuerkennen. Mit stillschweigender Zustimmung der Elite im westlichen Landesteil verhinderte sie, dass Sheikh Mujibur Rahman, der im östlichen Landesteil mit überwältigender Mehrheit gewählt worden war, der erste Premierminister des Landes werden konnte. Yahya Khan war zudem schnell bereit, auf den Islam zurückzugreifen, um seiner Regierung einen religi-ösen Anstrich zu geben. Als die militärische Operation in Ostpakistan begann, wurde großzügiger Gebrauch von religiös und ideologisch gefärbter Sprache gemacht (Haqqani 2005: 56). Der von Yahya angeordnete Militärschlag in Ostpa-kistan führte zur Vertreibung von Millionen und forderte ein furchtbares Maß an Todesopfern. Indien ergriff die Gelegenheit und drang in den Raum vor, der durch den Widerstand in Bengalen eröffnet wurde. Es erzwang die Kapitulation der pakistanischen Streitkräfte und eine Teilung des Landes, wodurch Bangla-desch als unabhängiger Staat entstand.24

Während die Folgen exzessiver Zentralisierung und ungleicher Entwicklung in anderen Provinzen nicht so schwerwiegend waren, gab es in Belutschistan ebenfalls ernste Probleme. Die Feindseligkeit wuchs, angeheizt durch örtliche Sardars (Stammesführer), die den Status quo zu erhalten suchten. Sie nutzten die Frustration der Belutschen aus, die (nicht ohne Grund) das Gefühl hatten,

23 Zitiert in The Bangladesh Papers. The Recorded Statements and Speeches of Z. A. Bhutto, Mujeebur-Rahman, Gen. Yahya Khan and other Politicians of united Pakistan (1969-1971, Vanguard Books Ltd, Lahore, ohne Datum: 21.

24 The Bangladesh Papers, op. cit.

Page 25: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

23

abb

as r

ashi

d D

ie V

erga

ngen

heit

ist

kein

fre

mde

s La

nd: D

emok

rati

e, E

ntw

ickl

ung

und

Mac

ht in

Pak

ista

n

dass sie selbst von den Ressourcen ihrer eigenen Provinz nicht profitierten. So lieferte Belutschistan zum Beispiel Erdgas an weit entfernte, allerdings entwi-ckelte Gebiete des Landes, während für die Nutzung in der Provinz selbst nur sehr wenig Erdgas zur Verfügung stand. Der Eindruck, vom Zentrum ignoriert zu werden und dazu noch der Früchte der eigenen reichhaltigen Ressourcen-basis beraubt zu werden, wurde im Laufe der Jahre immer stärker. Belutschistan wurde über lange Zeit immer wieder von Konflikten heimgesucht, insbesondere war dies in den Jahren 1948, 1958, 1974 und zuletzt 2004 der Fall. Sie entstanden jedes Mal aus Verbitterung über die Politik des Zentrums. Nachdem Nawab Akbar Bugti bei einer Operation der Sicherheitskräfte im Jahr 2006 getötet wurde, verschärfte sich die Lage in Belutschistan erneut.

Die Nordwestliche Grenzprovinz hatte ihr eigenes Bündel an Problemen, sowohl politischer als auch ökonomischer und kultureller Natur. Bis zu einem gewissen Grad wurden sie dadurch gemildert, dass in der Region ein erhebliches Maß an militärischer Rekrutierung stattfand. Darüber hinaus war die Grenz-provinz auch in beträchtlichem Maße am Handel beteiligt, insbesondere am Transportgewerbe. Dennoch sind Spannungen mit dem Zentrum wegen der Verteilung der Ressourcen geblieben. Durch die Stammesgebiete unter Bundes-verwaltung (Federally Administered Tribal Areas, FATA), die geografisch an die Provinz angrenzen, doch bei Verwaltung und Politik von ihr abgekoppelt sind, wird die Situation noch verkompliziert. Artikel 247 der Verfassung von Pakistan gewährt den Stammesgebieten einen besonderen Rechtsstatus und setzt damit «die Tradition der Kolonialmächte fort, indem sie die ‹aufsässigen Stammesmit-glieder› einfach nur ‹in Schranken hält›, statt ihnen die Rechte und Privilegien zu gewähren, die sie als verantwortliche und gleichberechtigte Staatsbürger eines unabhängigen Landes beanspruchen könnten» (Ali und Rehman 2001: 45). Die FATA umfassen 27.000 Quadratmeilen und nahezu sieben Millionen Menschen. Dass versäumt wurde, die Bürger aus dem Stammesgürtel gesellschaftlich zu integrieren, hatte schwerwiegende Rückwirkungen auf die Stabilität Pakistans wie auch auf die Bewohner der FATA, die weiterhin marginalisiert bleiben und nach archaischen Gesetzen regiert werden. Premierminister Yusuf Raza Gilani versprach bei seinem Amtsantritt, die Regularien gegen Grenzverbrechen (Frontier Crimes Regulations, FCR1901) abzuschaffen. Diese speziellen Gesetze beinhalten Maßnahmen wie etwa die Kollektivstrafe, mit der ein ganzes Dorf oder ein ganzer Stamm für Verbrechen bestraft werden können, die von einzelnen Mitgliedern begangen wurden. Die FCR übertragen Regierungsvertretern belie-bige und nahezu unbeschränkte Befugnisse über die Stämme. Gleichzeitig findet das Parteiengesetz keine Anwendung auf die FATA: Politischen Parteien wird kein Zugang zu der Region gewährt, deren Bevölkerung dadurch umso schutzloser radikalen Einflüssen ausgesetzt ist. Derweilen hat eine schwache wirtschaftliche Entwicklung in dem Gebiet unweigerlich zu weitverbreiteter Armut geführt. Diese Gesichtspunkte müssen bei dem Versuch berücksichtigt

Page 26: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

24

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

werden, den Aufstieg der Tehrik-i-Taliban Pakistan (TTP)25 in den FATA und die erfolgreiche Ausdehnung ihres Einflusses an der Seite der TNSM26 zu verstehen, wodurch sie auch in besiedelten Gebieten der Nordwestlichen Grenzprovinz wie etwa Swat und Malakand die Herrschaft erlangten. Die militärische Operation, mit der sie wieder zurückgedrängt wurden, führte zur Vertreibung von etwa zwei Millionen Menschen. Die meisten von ihnen kehrten schließlich wieder zurück, doch ihre Häuser und Lebensgrundlagen waren oft zerstört. Hierin zeigt sich ein anderer Aspekt des erwähnten Musters: die Welt vergisst schnell, sobald die unmittelbare Krise unter Kontrolle gebracht worden ist. Mittel für die Wiederein-gliederung der Binnenvertriebenen (Internally Displaced Persons, IDPs) tröpfeln nur spärlich, obwohl das volle Ausmaß der Folgen, wenn sich auch nur ein sehr kleiner Teil dieser Bevölkerung aufgrund seiner Marginalisierung radikalisierte, kaum vorstellbar wäre.

ungleichheit in einem einheitsstaat

Die Entscheidung, Pakistan eher als einen Einheitsstaat zu regieren und zu verwalten denn als Föderation, wie es die Forderung nach einem eigenen Staat ursprünglich beinhaltet hatte, hatte Auswirkungen auf Wirtschaft, Politik und Kultur. Obwohl das BIP zunahm, wuchs auch die Zahl der Menschen, die in Armut lebten. In Karatschi erhöhten sich die Investitionen, in Dhaka jedoch weitaus weniger. Die Ungleichheiten innerhalb der Provinzen blieben ebenfalls sehr ausgeprägt. In Sindh war die Unterstützung für den ländlichen Teil der Provinz kaum der Rede wert. Im Punjab war das Tempo der Entwicklung hoch, doch die südlichen Gebiete blieben zurück. Viele Jahrzehnte später wurde der südliche Punjab zu einem der Schlüsselgebiete, in denen die Militanten Fuß fassten. Dass es nicht zu ernsthaften Landreformen gekommen war, trug zur Fortdauer eines neofeudalen Systems bei, das die Kleinbauern an den Rand drängte. Die Grüne Revolution in den 1960er Jahren hatte einen positiven Effekt auf die landwirt-schaftliche Produktion im Punjab. Doch begünstigte sie wieder die größeren und mittleren Landbesitzer auf Kosten der Kleinbauern und landlosen Pächter, die sich den umfangreicheren Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln, der bei

25 Tehrik-i-Taliban (TTP oder Bewegung der Studenten von Pakistan) ist die wichtigste militante Dachorganisation in Pakistan und steht hauptsächlich im Konflikt mit der Zentralregierung. Zu den erklärten Zielen der Gruppe gehören Widerstand gegen die pakis-tanische Armee, Durchsetzung der Scharia und Vereinigung gegen die NATO-Streitkräfte in Afghanistan.

26 Die Tehrik-i-Nifaz-i-Shariat-i-Mohammadi (TNSM, Bewegung für die Durchsetzung des islamischen Rechts) ist eine militante pakistanische Gruppe, die das Ziel verfolgt, das Scharia-Recht im Lande durchzusetzen. Die Rebellengruppe eroberte im Jahr 2007 einen großen Teil des Swat. Sie wurde von dem Sufi Muhammad im Jahr 1992 gegründet und von Präsident Pervez Musharraf bereits im Januar 2002 wieder verboten.

Page 27: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

25

abb

as r

ashi

d D

ie V

erga

ngen

heit

ist

kein

fre

mde

s La

nd: D

emok

rati

e, E

ntw

ickl

ung

und

Mac

ht in

Pak

ista

n

der neuen Produktionsmethode erforderlich war, nicht leisten konnten.27 Die tief verwurzelte Ungleichheit in diesem System, sowohl entlang vertikaler wie auch horizontaler Linien, hat zur Verschlimmerung der ethnischen und religi-ösen Spaltung und zur Untergrabung des sozialen Konsenses beigetragen. Eine vorgesehene Änderung der Agrarpolitik könnte die Rentabilitätsschwelle sogar auf Tausende von Hektar anheben, um einer unternehmerisch betriebenen Landwirtschaft entgegenzukommen, was noch mehr Menschen auf der Suche nach Arbeit in die Städte treiben (Cohen 2005: 258) und die Schere zwischen Arm und Reich unweigerlich vergrößern würde.

Die Tendenz zur Zentralisierung machte sich auch im kulturellen Bereich bemerkbar. Neben dem Islam hatte man Urdu als zentrales Identitätsmerkmal benannt, als es darum ging, die Menschen für die Forderung nach einem eigenen Staat Pakistan zu gewinnen. Urdu war die Sprache Nordindiens in den Gebieten, in denen die Bewegung für Pakistan am stärksten war – doch ironischerweise waren dies keine Gebiete mit Muslim-Mehrheit, weshalb sie auch nicht Pakistan zugesprochen wurden.

Die muslimische Elite in diesen Gebieten war sich ihres gesunkenen Status im Vergleich zu der Zeit, als ihre Ahnen über den Subkontinent geherrscht hatten, sehr bewusst. Sie suchte daher in ihrer Sprache und Kultur nach Bestätigung. So wurde das Urdu zusammen mit dem Islam zum Unterscheidungsmerkmal für die eigene Identität, insbesondere für diejenigen, die einen eigenen Natio-nalstaat anstrebten. Im unabhängigen Pakistan erhielt das Urdu den Status der Nationalsprache und Lingua franca. Dies war nicht unproblematisch in einem Land, in dem die große Mehrheit der Bürger, einschließlich fast der gesamten Bevölkerung Ostpakistans, tatsächlich Bengali sprach. Selbst die Forderung, dem Bengali wenigstens den Status einer zweiten Nationalsprache neben dem Urdu zuzuerkennen, wurde zunächst abgelehnt, was zu den ersten sprachlich begründeten Unruhen in der Geschichte des Landes führten. Statt die kulturelle Vielfalt des neuen Landes zu feiern und sich auf eine gemeinsame und umfas-sende Sprach- und Kulturpolitik in einem multikulturellen Gemeinwesen zu einigen, privilegierte man die Sprache Urdu und die mit ihr verbundene Kultur auf Kosten regionaler Kulturen (Rashid und Shaheed 1993). Dabei sollte man jedoch nicht vergessen, dass die Sprache als Identitätssymbol in Indien bereits viel früher herausragende politische Bedeutung gewonnen hatte, nämlich im Zusammenhang mit der Modernisierung unter der britischen Herrschaft (Talbot und Singh 2005: 380).

27 Einer der Schlüsselindikatoren für die ungebrochene Macht der landbesitzenden Klasse ist ihr Übergewicht in den Volksvertretungen sowie die Tatsache, dass es in Pakistan, trotz erheblicher Kritik durch inländische Medien und Druck seitens internationaler Finanzin-stitutionen wie des IWF, bis heute keine Steuer auf landwirtschaftliche Einkommen oder etwas Vergleichbares gibt.

Page 28: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

26

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

ungleichheit und konflikt

Die Reaktion auf diese strukturellen und systemischen Ungleichheiten trug zum Aufkommen von Sub-Nationalismus, der Politisierung ethnischer Zugehö-rigkeit und religiösem Extremismus bei. Die gefährliche Mischung von kultu-rellem Nationalismus und wirtschaftlicher Ungleichheit, verbunden mit der schieren Hybris der herrschenden Junta unter General Yahya Khan, bildete die beste Voraussetzung für jene unglückliche Verkettung der Ereignisse, die zur Entstehung eines unabhängigen Bangladesch führten. Auch Yahya Kahn hatte – unabhängig davon, wie er sich in seinem persönlichen Leben verhielt – auf den Islam gesetzt, um seine Herrschaft zu legitimieren. Und der Prozess, das profes-sionelle Image des Militärs systematisch durch ein «politisch-ideologisches Image»28 zu ersetzen, begann bezeichnenderweise während seines Regimes. Im März 1971 billigte die Regierung den Einsatz militärischer Gewalt gegen eine Bewegung, die eindeutig eine Volksbewegung war. Es folgten die schwärzesten Monate in der Geschichte Pakistans. Das Blutvergießen und Chaos, das den Vollzug der Trennung begleitete, war unvorstellbar. Den Soldaten und Offizieren wurde eingeredet, der Aufstand sei von einer Handvoll nicht-muslimischer Übeltäter ausgelöst worden, und sie würden Gottes Werk verrichten, wenn sie diese Bedrohung schonungslos beseitigten. Die Tatsache, dass die Menschen Ostpakistans wenige Monate zuvor in allgemeinen Wahlen abgestimmt und dabei in großer Mehrheit die sechs Punkte des Führers der Awami-Liga, Mujibur-Rahman, unterstützt hatten – ein Programm, das den verbreiteten Wunsch nach einem sehr hohen Grad von Autonomie zum Ausdruck brachte29 –, war nahezu vergessen.

die Verbindung zwischen Pakistan und saudi-arabien: die andere abhängigkeitsbeziehung

Nach 1971 wurde in Pakistan Zulfikar Ali Bhutto trotz seiner langjährigen engen Verbindung mit dem Regime von Ayub Khan zu einem populären Führer. Seine sozialistische Rhetorik brachte ihn in Konflikt mit dem Westen, und seine Regie-rung stützte sich zunehmend auf Hilfe aus dem Mittleren Osten, insbesondere aus Ländern wie Saudi-Arabien und Libyen, die infolge des Ölbooms in den 1970er Jahren im Geld schwammen und Pakistan ökonomisch unter die Arme greifen konnten. Die Zweite Islamische Konferenz, die im Februar 1974 in Lahore abgehalten wurde, machte diese Orientierung deutlich. Mittel aus Saudi-Arabien wurden auch für Pakistans Nuklearprogramm gebraucht, das Bhutto in Reaktion auf die «friedliche Nuklearexplosion»30 Indiens im Mai 1974 beschlossen hatte.

28 Brigadegeneral A. R. Siddiqi, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der Streitkräfte, zitiert bei Hassan Abbas 2005: 55.

29 The Bangladesh Papers, a.a.O.30 Das Projekt trug den Codenamen Lächelnder Buddha, und die Explosion erfolgte anläss-

lich von Buddha Purnima (Geburtstag).

Page 29: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

27

abb

as r

ashi

d D

ie V

erga

ngen

heit

ist

kein

fre

mde

s La

nd: D

emok

rati

e, E

ntw

ickl

ung

und

Mac

ht in

Pak

ista

n

Im September desselben Jahres erklärte die von der PPP dominierte Natio-nalversammlung die Ahmadis zur nicht-muslimischen Minderheit. Wenige Monate nach der Konferenz in Lahore hatten die politisch-religiösen Parteien begonnen, entsprechend zu agitieren. Anlass war eine unbedeutende Auseinan-dersetzung zwischen Mitgliedern der Ahmadiyya-Gemeinschaft und der Islami Jamaat-i-Tulaba (der Studentenorganisation der Jamaat-i-Islami) im Mai (Abbas 2005: 81-82). Nach vier Monaten der Agitation war das Ziel erreicht. Ausmaß und Intensität der Unruhen waren weit geringer als bei den sogenannten Anti-Ahma-diyya-Unruhen von 1953. Hatte damals das Militär zum ersten Mal seine Macht unter dem Kriegsrecht ausgekostet, waren es dieses Mal die politisch-religiösen Kräfte, die aus diesem «Sieg» mit einem gesteigerten Gefühl für ihre Macht auf der Straße hervorgingen. Unabhängig davon unterstützte Bhutto infolge von Differenzen mit Präsident Mohammad Daud afghanische Fundamentalisten wie Gulbuddin Hekmatyar, als diese über die Grenze nach Pakistan flohen, was bezeichnend für den wachsenden Einfluss rechtsgerichteter Kräfte in der Ära nach Bangladesch war. Gegen Ende seiner Regierungszeit verbot Bhutto Alkohol und Glücksspiel und erklärte den Freitag statt des Sonntags zum wöchentlichen Feiertag. Diese Gesten sollten die religiöse Rechte beschwichtigen, doch wurden sie politisch als ein Zeichen der Schwäche der Regierung interpretiert und bestärkten das breite Bündnis von Parteien des rechten Flügels und der Mitte darin, sich gegen die Regierung der PPP zusammenzuschließen.

Zia: militarisierter staat und zersplitterte gesellschaft

Die Abspaltung von Ostpakistan während der Militärherrschaft von General Yahya Khan und die darauf folgende Stärkung der religiösen Rechten, auch noch unter Bhutto, schaffte die Voraussetzungen für das, was nun folgte. Wachsender Extremismus und die zunehmende Spaltung und Militarisierung der Gesellschaft sollte zum Kennzeichen der Herrschaft von General Zia ul-Haq werden, der Bhutto durch einen Staatsstreich im Juli 1977 absetzte und die Macht übernahm. Die Tatsache, dass Bhutto Zia unter Übergehung mehrerer ranghöherer Generäle persönlich als Armeechef ausgewählt hatte, wahrscheinlich weil er in ihm die geringste Bedrohung seiner Autorität sah, ist ein gutes Beispiel dafür, wie gewählte Politiker versuchten, die Armee an ihrer Seite zu halten. Nach dem Staatstreich galt Zias erste Sorge der Konsolidierung und Legitimation seiner Macht. Hier trat erneut das Muster zutage, sich die Religion für persönliche Ambitionen und weltliche Ziele dienstbar zu machen. Bhutto blieb auch nach seiner Entmachtung populär, und Zia kam zu der Überzeugung, dass er beseitigt werden müsse. In einer nur als Farce zu bezeichnenden Gerichtsverhandlung wurde der frühere Premierminister zum Tode verurteilt und später dann gehängt. Welche Schande Zia nach dieser Tat in der internationalen Gemeinschaft auch anhaften mochte – als die sowjetischen Panzer im Dezember 1979 in Afghanistan einrollten, war sie vergessen. Pakistan war der offensichtliche Kandidat für die Rolle eines Frontstaates gegen die kommunistische Expansion. Es war nicht das

Page 30: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

28

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

erste Mal, dass die äußeren Verhältnisse eine Wendung zugunsten eines pakis-tanischen Militärdiktators genommen hatten. In den 1950er und 1960er Jahren hatte Pakistans Mitgliedschaft in dem von den USA geführten Militärbündnis gegen den Sowjet-Block Ayub Khans Position gestärkt. Und einer der Gründe für Yahyas arrogante Missachtung der sich anbahnenden Veränderungen in jenem schicksalhaften Jahr 1971 dürfte Pakistans Rolle bei der Herbeiführung des Tauwetters zwischen den USA und China sowie bei Kissingers Besuch in Peking im Jahr 1971 gewesen sein. Bis in die letzten Tage vor der Kapitulation der pakis-tanischen Streitkräfte im östlichen Landesteil bestand die Hoffnung, dass die Siebte US-Flotte eingreifen würde, um dem Regime zu helfen, die vorrückenden indischen Truppen zurückzudrängen. Dass sie es am Ende doch nicht tat, wurde als eine Art von Betrug angesehen.

Pakistans funktion als frontstaat für die usa und die rückwirkungen auf das land

Im Kontext der Nullsummen-Mentalität des Kalten Krieges fanden die USA die Idee reizvoll, Afghanistan gleichsam in ein Vietnam für die Sowjetunion zu verwandeln. In Zia und dem pakistanischen Militär fanden sie einen bereitwil-ligen Partner. Die größte verdeckte Operation der Nachkriegszeit kam zustande, als CIA und ISI zusammenarbeiteten, um die Mudjaheddin, die die sowjetischen Truppen in Afghanistan bekämpften, zu finanzieren, bewaffnen und auszu-bilden. Dieser massive Zufluss an Geld wurde von Saudi-Arabien noch einmal verdoppelt. Intern wurde Zia unantastbar und hatte damit völlig freie Hand. Rücksichtslos unterdrückte er die Opposition. Mithilfe der Jamaat-i-Islami (JI) und einer breiteren konservativen Anhängerschaft (an der Gesamtbevölkerung gemessen eine unbedeutende Minderheit) etablierte er ein System von Gerichten und Gesetzen, mit dessen Hilfe die wahabitische Version des Islam durchge-setzt werden sollte. Die Anhänger dieser engen und dogmatischen Interpreta-tion des Islam wurden vom Staat privilegiert. Es wurde behauptet, die Afghanen würden ihren Krieg für Pakistan kämpfen – war es nicht Allgemeinwissen, dass die Russen schon seit der Zarenzeit die Absicht gehegt hatten, ein warmes Meer zu erreichen? Und die logische Folgerung war natürlich, dass diejenigen, die Zia unterstützen, für den Islam kämpften!

Zia trieb das Atomprogramm, mit dem Bhutto begonnen hatte, aggressiv voran, während die USA auf Afghanistan konzentriert waren. Theoretisch hätte eine nukleare Abschreckungskapazität den Bedarf nach einer großen stehenden Armee drastisch reduzieren sollen. In der Realität allerdings diente sie, unabhängig von ihrem Nutzen für die Abschreckung, vor allem dazu, das zivil-militärische Ungleichgewicht weiter zu verstärken und eine rein militäri-sche Definition von Sicherheit zu verfestigen. Es dürfte nicht überraschen, dass in den darauffolgenden Jahren keine nennenswerte Reduzierung der konventi-onellen militärischen Stärke und der entsprechenden Ausgaben zu verzeichnen

Page 31: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

29

abb

as r

ashi

d D

ie V

erga

ngen

heit

ist

kein

fre

mde

s La

nd: D

emok

rati

e, E

ntw

ickl

ung

und

Mac

ht in

Pak

ista

n

war. Nach Indiens Atomversuchen31 im Jahr 1998 und den aggressiven Stellung-nahmen der indischen Führung fühlte sich Pakistan vollständig im Recht, nur wenige Wochen später eine eigene Serie von Atomwaffentests durchzuführen.

Die engstirnige und eigennützige Haltung der Regierung in Fragen der Religion verstärkte die bestehenden Gegensätze zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen. Es tauchten gut organisierte, gewalttätige Gruppen auf, die die religiöse Intoleranz anheizten und das Land destabilisierten, was im Laufe der Jahre viele Menschenleben kostete und zur massiven Zerstörung von Privatbesitz führte. Zias Machenschaften zur Absicherung seiner Macht waren jedoch nicht auf den religiösen Bereich beschränkt. In Sindh, der Provinz, die am engsten mit der PPP (in der Zia die größte politische Bedrohung für sich sah) verbunden war, förderte er eine ethnisch basierte städtische Partei, die Verei-nigte Volksbewegung (Muttahida Qaumi Movement, MQM), die als Gegenge-wicht zu der auf dem Land verankerten PPP dienen sollte. Gerade in Sindh führte seine Politik dann zu einer Verschärfung der ethnischen Gegensätze. Im Laufe der Jahre hat sein politisches Vermächtnis erheblich zur ethnisch und religiös motivierten Gewalt beigetragen, die von bewaffneten Gruppen entlang dieser Bruchlinien ausgeübt wurde.

Die gegen die Sowjets in Afghanistan gerichtete Partnerschaft der USA mit dem Zia-Regime hatte eine Reihe schwerwiegender Konsequenzen für Pakis-tans innere Verhältnisse. Wie bereits erwähnt, verfolgte Zia die größte politische Partei, die PPP, gnadenlos und ging sogar so weit, ihren Führer, den früheren Premierminister Zulfikar Ali Bhutto, hängen zu lassen. Und die Dynamik, die er in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens in Pakistan in Gang setzte, überdauerte ihn. Er erließ eine Reihe von drakonischen Gesetzen, darunter die Hudood Ordinances32, das Blasphemie-Gesetz33 und die Anti-Ahmadiyya-Ge-setze34 – alles Gesetze, die auf die Schwachen und Machtlosen zielten, insbe-sondere auf Frauen und Minderheiten. Auch zwei Jahrzehnte nach seinem Tod

31 Indien hatte seine erste Atomwaffenexplosion im Jahr 1974 durchgeführt und damit einen wesentlichen Anstoß für das Atomwaffenprogramm Pakistans gegeben

32 Die Hudood Ordinance war ein Gesetz, das im Jahr 1979 als Teil des Islamisierungspro-zesses unter Zia ul-Haq erlassen wurde. Das Hudood-Gesetz diskriminierte Frauen und führte dazu, dass viele unschuldige Frauen lange Haftstrafen erhielten. Es schrieb harte Bestrafungen vor für Zina (außerehelichen Geschlechtsverkehr), Qazf (unberechtigter Zina-Vorwurf), Verletzung des Eigentums (Diebstahl) und Verstoß gegen die Prohibition (Alkoholkonsum). Es wurde im Jahr 2006 durch das Gesetz zum Schutz der Frauen ersetzt bzw. revidiert.

33 Unter den Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung hat Pakistan eines der strengsten Anti-Blasphemie-Gesetze. 295-A des pakistanischen Strafgesetzbuches verbietet es, religiöse Gefühle zu verletzen. 295-B sieht für die Schändung des Koran eine lebens-lange Haftstrafe vor. 295-C schreibt die Todesstrafe oder die Todesstrafe in Kombination mit einer Geldstrafe für «herabwürdigende Äußerungen über den Heiligen Propheten» vor.

34 Ordinance XX hatte das Ziel, «anti-islamische Aktivitäten» zu verhindern. Das Gesetz verbietet es Ahmadis, sich selbst Muslime zu nennen oder «sich als Muslime auszugeben», und erachtet dies als ein Vergehen, das mit drei Jahren Gefängnis zu bestrafen ist.

Page 32: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

30

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

finden sich noch viele davon in den Gesetzbüchern.35 Politiker, die unter seinem Regime eingesetzt worden waren, wurden in späteren Jahren durch die Organi-sationen des militärischen Geheimdienstes unterstützt, um sicherzustellen, dass keine einzelne politische Kraft mächtig genug werden konnte, um zu verhin-dern, dass das Militär den von ihm beanspruchten Einfluss auf die Gestaltung der Politik nehmen konnte. In einem Prozess vor dem Obersten Gerichtshof Pakistans, den ein früherer Chef der pakistanischen Luftwaffe angestrengt hatte, wurde der militärische Geheimdienst (ISI) beschuldigt, Wahlen zum Nachteil der Islamisch-Demokratischen Allianz (Islami Jamhoori Ittehad, IJI) manipu-liert zu haben. Die von Nawaz Sharif geführte Pakistanische Muslimliga war im Jahr 1990 ein wichtiger Koalitionspartner der IJI, der andere wichtige Partner war die JI. In einer Petition mitsamt eidesstattlicher Erklärung hat der frühere Leiter des ISI, General Asad Durrani, der auch einmal Botschafter in Deutschland war, eingeräumt, staatliche Mittel in Höhe von 140 Millionen Rupien ausgegeben zu haben. Das Geld ging vor den Wahlen an ausgewählte Kandidaten der IJI (zitiert bei Rashid 2004: 187). Dies erfolgte auf Anordnung des damaligen Armeechefs General Aslam Beg.

Der längste Schatten, den Zias Vermächtnis warf, waren die unmittelbaren Auswirkungen des Afghanistan-Krieges. Von Peshawar bis Karatschi war kein Bereich der pakistanischen Gesellschaft gegen diese Rückwirkung immun. Der Krieg hatte das ohnehin extreme zivil-militärische Ungleichgewicht noch verschärft. Zias Regierung hatte den ISI ermächtigt, Pakistans Beteiligung an der Afghanistan-Operation zu organisieren. Als Folge davon wurde der ISI weit stärker, als er es je gewesen war. Der Krieg stürzte die afghanische Gesellschaft ins Chaos und machte Millionen von Menschen in Afghanistan zu Flüchtlingen. Drei Millionen von ihnen fanden unter den schlimmsten Bedingungen ihren Weg nach Pakistan. Gleichzeitig wurden systematisch Heroin und Waffen ins Land geschmuggelt. Die Kalaschnikow wurde zu einem Symbol der Gewalt und der Militarisierung der pakistanischen Gesellschaft, die eine Folge des Afghanistan-Krieges war. Das größte Unheil aber brachten die Mudjaheddin selbst, die aus dem Krieg zurückkehrten. Nachdem sich die Sowjets aus Afghanistan zurückge-zogen hatten, verloren die USA jedes Interesse an der Region. Sie hatten erreicht, was sie sich vorgenommen hatten: den Sowjets ihre Demütigung in Vietnam heimzuzahlen.

Nach dem Abzug der Sowjets und der Amerikaner blieb eine große Zahl von Kämpfern zurück, die wenige Fähigkeiten besaßen, außer Krieg zu führen, und bis auf ihre Waffen über wenig Besitz verfügten. Sie kämpften nun untereinander um die Beute, und das geplagte afghanische Volk wurde erneut von den Schre-cken des Krieges heimgesucht. Ein Teil der Veteranen stieß zu den Dschihadisten in Kaschmir (Hussain 2007: 77), wo sich in Reaktion auf die Wahlen von 1987, die

35 Während die Hudood-Gesetze glücklicherweise kürzlich revidiert wurden und nicht mehr angewandt werden können, um Frauen zu unterdrücken, lässt sich das über die Blasphe-mie-Gesetze leider nicht sagen. Diese wurden gegen Minderheiten eingesetzt, aber auch unter Muslimen benutzt, um persönliche Rechnungen zu begleichen.

Page 33: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

31

abb

as r

ashi

d D

ie V

erga

ngen

heit

ist

kein

fre

mde

s La

nd: D

emok

rati

e, E

ntw

ickl

ung

und

Mac

ht in

Pak

ista

n

die Kaschmiris als von der indischen Regierung manipuliert betrachteten, bis zum Jahr 1989 eine Aufstandsbewegung entwickelt hatte. Pakistan ergriff die Gelegen-heit und unterstützte die säkularen und nationalistischen Kaschmiri-Gruppen, die an diesem Kampf führend beteiligt waren. Schließlich jedoch leitete der ISI aus der Befürchtung heraus, die Aufstandsbewegung könnte langsam auslaufen, seine Unterstützung auf die extremistischen Gruppen um (Rashid 2008: 111). Es gibt auch die These, Zia habe eine solche Strategie ohnehin im Auge gehabt und nur auf die rechte Gelegenheit gewartet (Haqqani 2005: 273). Pakistan selbst sollte bald die Folgen zu spüren bekommen. «Vom Dschihad gegen Ungläubige in einem fremden Land dazu überzugehen, die angeblichen Feinde des Islam im eigenen Land zu bekämpfen, ist ein kleiner Schritt. Der gewaltige Zufluss an Geld und ein wachsendes Machtgefühl veränderten das Ansehen des Mullah...» (Hussain 2007: 77). Vor fast zehn Jahren schrieb Jessica Stern: «Pakistan sieht sich heute einem typischen Prinzipal-Agent-Problem gegenüber: Die Interessen Pakistans (des Prinzipals) und die der militanten Gruppen (des Agenten) sind nicht völlig deckungsgleich... Durch Begünstigung der Aktivitäten irregulärer Kräfte in Kaschmir befördert die pakistanische Regierung ungewollt das inländi-sche Sektierertum...» (Stern 2000).

Es wird geschätzt, dass die Zahl der Madrassen seit der Zeit der Teilung bis heute von etwa 136 auf über 30.000 angestiegen ist (Abbas 2005: 204). Viele der Madrassen sind nicht registriert, so dass zuverlässige Zahlen schwierig zu bekommen sind. Die große Mehrzahl wurde während und nach der Regierungs-zeit von Zia gegründet. Einem pakistanischen General im Ruhestand zufolge gründete Zia «eine Reihe von Deeni Madaris entlang der afghanisch-pakistani-schen Grenze ... in der Absicht, eine Front von religiös orientierten Schülern zu bilden, die die afghanischen Mudjaheddin bei der Vertreibung der Sowjets aus Afghanistan unterstützen könnte» (Abbas 2005: 114). Dies ist allerdings nur ein Aspekt des Madrassen-Phänomens. Man kann wohl davon ausgehen, dass die große Mehrzahl der Madrassen in Pakistan mit solchen strategischen Überle-gungen nicht in direkten Zusammenhang gebracht werden können und dass sie im Kern nicht als Brutstätten für Extremisten anzusehen sind. Die Zahl ihrer Schüler wird auf weniger als drei Prozent der Schulkinder insgesamt geschätzt. Madrassen können jedoch in ein «Kontinuum des Konservatismus» eingeordnet werden, eine Art rechtes Milieu, in dem die Madrassen ihren Teil dazu beitragen, günstige Vorbedingungen für den Extremismus zu schaffen. Zia ul-Haq nutzte dieses Milieu für seine politischen Ziele und stärkte es dadurch massiv. Das Debakel um die Lal Masjid (Rote Moschee) im Juli 2007 unter Musharraf zeigte,

Page 34: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

32

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

wie verschiedene Komponenten dieses Systems in einer explosiven Situation aufeinandertreffen können – mit Langzeitkonsequenzen.36

Dass die verfahrene Situation um die Rote Moschee in solch furchtbarer Weise außer Kontrolle geraten konnte, hing mit der langjährigen Politik zusammen, Extremisten in dem Glauben, sie würden «Agenten» bleiben, die der «Prinzipal» jederzeit unter Kontrolle hat, einen gewissen Raum zuzugestehen. Doch diese Rechnung geht eben nicht immer auf. Die Musharraf-Regierung, die sich im Jahr 2007 mit dem Fall der Roten Moschee auseinandersetzen musste, behandelte die Situation nicht als ein Problem von Recht und Ordnung und ließ sie offenbar aus politischen Gründen eskalieren. Möglicherweise betrachtete man sie als willkom-mene Ablenkung von der wachsenden Bewegung der Anwälte für die Wieder-einsetzung des Obersten Richters Pakistans, der von Musharraf unrechtmäßig abgesetzt worden war. Die übermäßige Verzögerung eines wirksamen Eingrei-fens war mit einem hohen Preis verbunden. Als man schließlich befand, dass die Eskalation weit genug gegangen sei, führte der ungehemmte Gebrauch von Schusswaffen durch das Militär zu einem unnötig hohen Verlust an Menschen-leben. Der Vorfall gab dem Terrorismus massiven Auftrieb und gilt zumindest als einer der Gründe für die Welle von Selbstmordattentaten, von denen das Land danach heimgesucht wurde.

Die Politik militärischer Stärke nach außen ging mit wachsendem Sektie-rertum innerhalb des Landes einher. Die Ausbreitung religiöser Gewalt war nicht zuletzt eine logische Konsequenz der Vision Zias von Pakistan als einem Islami-schen Staat – eine Vision, die insbesondere von der Gemeinschaft der Schiiten als nicht neutral gegenüber den verschiedenen islamischen Glaubensrichtungen betrachtet wurde. Ein Teil der schiitischen Gemeinschaft war durch die Macht-übernahme von Ayatollah Khomeini im Iran mit neuem Glaubenseifer erfüllt worden. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass auf den Petrodollar-Boom im Mittleren Osten, der Mitte der 1970er Jahre eingesetzt hatte, im Jahr 1977 in Pakistan die Machtübernahme durch Zia gefolgt war (der infolge der sowje-tischen Invasion in Afghanistan im Jahr 1978 massive Unterstützung durch die USA erhielt) sowie im Iran im Jahr 1979 die Machtübernahme durch Khomeini.

36 Ein Bericht der BBC fasste die Ereignisse zusammen und stellte sie in einen größeren Zusammenhang, so dass die Vielfalt der Komponenten deutlich wurde: «Anfang Juli war die Moschee Schauplatz einer blutigen Belagerung, die mit dem Tod von mehr als 100 Menschen endete, als die pakistanischen Truppen das Gebäude stürmten. Schon vor dem Blutvergießen war die Moschee für ihren Radikalismus bekannt gewesen und hatte als Schüler überwiegend Hardliner aus der Nordwestlichen Grenzprovinz und den Stammesgebieten angezogen, wo die Unterstützung für die Taliban und Al-Qaida stark ist. Eine religiöse Schule für Frauen, die Jamia Hafsa Madrassa, war direkt an die Moschee angebaut. Eine Madrassa für männliche Schüler lag nur wenige Fahrminuten entfernt. Die Moschee wurde von Anfang an häufig von Mitgliedern der Elite der Stadt besucht, darunter Premierminister, Armeechefs und Präsidenten. Der am längsten herrschende Diktator Pakistans, General Zia ul-Haq, galt als enger Freund des früheren Oberhaupts der Lal Masjid, Maulana Abdullah, der für seine Reden über den Dschihad (heiligen Krieg) berühmt war.» http://news.bbc.co.uk/2/hi/south_asia/6503477.stm

Page 35: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

33

abb

as r

ashi

d D

ie V

erga

ngen

heit

ist

kein

fre

mde

s La

nd: D

emok

rati

e, E

ntw

ickl

ung

und

Mac

ht in

Pak

ista

n

Pakistan hatte sich unter Bhutto angesichts der Distanziertheit der USA ohnehin schon Saudi-Arabien angenähert, dessen finanzielle Unterstützung es nach der Abspaltung Ostpakistans benötigte. Zudem betrachtete Saudi-Arabien Pakis-tans Atombombenprogramm als einen Faktor der Stärke nicht nur für das Land, sondern für die gesamte muslimische Welt. Unter Zia, der den Wert dieser Verbindung nicht nur aus ganz weltlichen Gründen zu schätzen wusste, sondern selbst der wahabitischen Version des Islam anhing, wurde die Beziehung zu Saudi-Arabien noch enger. Die Saudis wiederum waren, besonders nach dem Aufstieg Khomeinis im Iran, darum bemüht, ihren Einfluss in den benachbarten Ländern einschließlich Pakistans zu stärken.

das bleibende Vermächtnis Zias

Von den späten 1980er Jahren bis zu den späten 1990er Jahren wechselten sich die beiden größten politischen Parteien an der Regierung ab, doch diese «demokra-tische Dekade», die manchmal auch als «die verlorene Dekade» bezeichnet wird, bewirkte keinerlei Veränderung an den Grundzügen von Pakistans politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen. Die eine der beiden wichtigsten Parteien, die Pakistanische Muslimliga-Nawaz, verdankte Zia viel. Die Muslimliga war einst die Partei von Jinnah gewesen und hatte der Gründung von Pakistan vorgestanden. Doch im Laufe der Jahre hatte sie sich in zahlreiche Gruppen zersplittert, die – oft als Juniorpartner von Militärdiktatoren – um einen Anteil an der Macht konkur-rierten. Eine Untergruppe der Partei hatte Zia sich regelrecht zum Werkzeug gemacht; ihre Führung wurde umgestaltet und ihre Orientierung an den Insti-tutionen, der Politik und dem sozialen Rahmen ausgerichtet, die Zia eingeführt hatte. Nach Zias Tod bei einem Flugzeugabsturz gelangte die PPP durch einen Wahlsieg im Zentrum an die Macht. Doch die Partei unter Führung der jungen und unerfahrenen Benazir Bhutto wurde durch das zivile und militärische Estab-lishment neutralisiert, das wenig Einmischung in die bestehende Politik in Bezug auf die Atomwaffenfrage, Afghanistan und Indien duldete. Die Gründung der Islami Jamhoori Ittahad (IJI) oder Islamisch-Demokratischen Allianz durch den Chef des ISI war nach dessen eigenem Eingeständnis notwendig, um ein Gegen-gewicht zu einer im Aufstieg begriffenen politischen Kraft zu schaffen: der Pakis-tanischen Volkspartei (Pakistan People’s Party, PPP). Aufgrund ihrer politischen Verbindung mit dem Afghanistan- und Indienproblem, wo die Armee den Kurs festlegte, konnten die militanten Gruppen auch unter der von Benazir geführten PPP nicht wirksam unter Kontrolle gebracht werden, und der Konservativismus blieb ganz allgemein sehr präsent. Zudem blieb der saudi-arabische Einfluss bestehen. Nawaz Sharif hatte seinerseits kein Problem damit, das Scharia-Ge-setz (15. Verfassungsänderungsgesetz) einzubringen, um unter einem religiösen Deckmantel die Macht in seinem Amt zu konzentrieren. Sharif hatte, wiederum entgegen der eigentlichen Rangfolge, General Pervez Musharraf zum Armee-chef befördert. Sie überwarfen sich angesichts der Frage, wer für das Debakel im Kargil-Krieg verantwortlich sei, in dem Musharraf gutes taktisches Denken

Page 36: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

34

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

bewiesen hatte, während es ansonsten jedoch an einer Vorstellung fehlte, welche strategischen Folgen die Operation für Pakistan haben würde. In einem weiteren Staatsstreich der Armee setzte Musharraf die Regierung ab und machte sich selbst zum Regierungschef, um später Präsident zu werden.

musharraf: festhalten am alten muster

Musharraf übernahm die Macht, ohne dass es großen Widerstand aus der Bevöl-kerung gegeben hätte. Teilweise kann dieses Hinnehmen den wirtschaftlich schwierigen Zeiten zugeschrieben werden, die das Land zu bewältigen hatte. Der Druck auf Pakistan hatte zugenommen, nachdem Sharif, in Reaktion auf die indischen Atombombenversuche von 1998, die Entscheidung getroffen hatte, eigene Atomtests durchzuführen. Wie Zia bot sich auch Musharraf seine große Chance erst zwei Jahre nach der Machtübernahme, als die Ereignisse des 11. September 2001 die internationale politische Landschaft veränderten. Unmittelbar nach dieser Tragödie wurde Musharraf von Präsident Bush vor das bekannte Ultimatum gestellt: «Entweder seid ihr auf unserer Seite oder ihr seid auf der Seite unserer Feinde...» Musharraf traf sehr schnell die Entscheidung, die USA vorbehaltlos zu unterstützen, und so fand sich Pakistan erneut in einer Unterstützerrolle für einen von den USA angeführten Krieg. Es sollte mit seinen an Afghanistan grenzenden FATA (Stammesgebieten unter Bundesverwaltung) als «Amboss» dienen, während die Truppen der USA und der Nato in Afghanistan den «Hammer» bilden würden. Doch letztlich trieb Musharraf ein doppeltes Spiel. Sehr selektiv und mit minimalem Aufwand wurde gegen die Aktivitäten der Taliban in Pakistan vorgegangen, die im Wesentlichen von den FATA aus operierten. Es war eine Sache der Feinabstimmung, das eben Nötige zu tun, um die USA zufriedenzustellen, die ja in großem Umfang finanzielle Kompensation und Hilfe leisteten. Doch das Militär war sich auch des wachsenden indischen Einflusses in Afghanistan bewusst. Einige der militanten Gruppen in diesen Gebieten waren in den Augen des militärischen Establishment daher von strate-gischem Wert: Wenn die USA Afghanistan verließen, womit früher oder später zu rechnen war, würden sie helfen, Indien in Schach zu halten, besonders in den von Paschtunen beherrschten Gebieten entlang der Grenze.

Musharraf trat für «aufgeklärte Mäßigung» ein. Doch seine Suche nach einer politischen Basis und Überlebensstrategie führte dazu, dass er wichtige poten-zielle Partner ignorierte, die von Bedeutung gewesen wären, hätte er tatsäch-lich ernsthaft eine solche Agenda verfolgen wollen. Er wies Avancen der liberal orientierten PPP zurück, die weiterhin Pakistans populärste Partei blieb und besonders in Sindh und im Punjab stark war, den beiden bevölkerungsreichsten Provinzen des Landes. Und in der NWFP ging er ein Bündnis mit der Muttahida Majlis-e-Amal (MMA) ein, statt sich im Sinne der Mäßigung für die liberale und

Page 37: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

35

abb

as r

ashi

d D

ie V

erga

ngen

heit

ist

kein

fre

mde

s La

nd: D

emok

rati

e, E

ntw

ickl

ung

und

Mac

ht in

Pak

ista

n

säkulare ANP zu entscheiden. Die MMA37 war eine Allianz von sechs politisch-religiösen Parteien, deren Zusammenschluss von den Geheimdiensten vermit-telt worden war. Letztere standen zudem in dem starken Verdacht, den Kandi-daten der MMA zu einem weit größeren Sieg verholfen zu haben, als er von ihren Leistungen ausgehend zu erwarten gewesen war. Jedenfalls waren die MMA oder die Parteien, aus denen sie bestand, in früheren Wahlen von einem solchen Erfolg weit entfernt gewesen, und vor allem blieben sie es auch danach in den landesweiten Wahlen, die im Jahr 2008 abgehalten wurden.

Musharrafs politische Kurzsichtigkeit offenbarte sich auch darin, dass er die Pakistanische Muslimliga spaltete, um sich eine eigene Basis zu schaffen, sowie in seiner vorbehaltlosen Unterstützung der ethnisch orientierten Muttahida Qaumi Movement (MQM)38, um so der PPP etwas entgegenzusetzen. Mushar-rafs Taktiken unterschieden sich in dieser Hinsicht kaum von denen, die sein militärischer Vorgänger Zia ul-Haq viele Jahre zuvor angewandt hatte. Doch in den beiden Provinzen, die an Afghanistan grenzten, führte Musharrafs Politik zu einer bedrohlichen Verschärfung der Situation. In der NWFP bedeutete seine Allianz mit der MMA, dass den Militanten Zeit und Raum gegeben wurde, sich in den Stammesgebieten und auch den benachbarten «ruhigen» Gebieten wie Malakand und Swat zu reorganisieren. Teilweise war dies ein Resultat der Politik des Militärs, mit Kommandanten wie etwa Baitullah Mehsud in Waziristan «Friedens»-Abkommen39 zu schließen, die darauf hinausliefen, den Militanten in ihren Gebieten das Sagen zu überlassen, um dafür außerhalb ihres Herrschafts-bereichs nicht von ihnen angegriffen zu werden. So fand die Führung der Taliban in Belutschistan Zuflucht, während das säkulare und nationalistische Element in den Stämmen weiter entfremdet wurde. Der Tiefpunkt dieser Entwicklung wurde mit der Ermordung von Nawab Akbar Bugti im Jahre 2006 erreicht. Obwohl er als Sirdar oder Stammesführer nicht sonderlich populär gewesen war, hatte sich Bugti in den vorangegangenen Jahren zu einer Art Sprecher für die Rechte der Belutschen entwickelt. Das war einer der Gründe, warum seine Ermordung die Bevölkerung der Provinz so aufbrachte.

Unter Musharraf war es tendenziell zu einem starken Wachstum des BIP gekommen, doch auch hier gab es ein Muster, das an die Ära von Ayub erinnerte: Während die Wachstumsrate stieg, blieb die Ungleichheit ein wesentliches Merkmal der Gesellschaft. Der Sensitive Price Index40, der für die große Mehrheit der Bevölkerung, die nahe der Armutsgrenze lebt, von größter Aussagekraft ist, verzeichnete einen weit stärkeren Anstieg als die allgemeine Inflationsrate.

37 Als Allianz von sechs islamistischen Parteien erzielte die Muttahida Majlis-e-Amal (MMA, Vereinigte Aktionsfront) bei der Wahl 45 Sitze, ein relativ gutes Ergebnis, doch letztlich nicht mehr als 11 Prozent der Gesamtstimmenzahl.

38 Die MQM wurde 1984 unter der Herrschaft von Zia gegründet. Obwohl sie auf das urbane Sindh beschränkt blieb, war sie im Provinz- wie im nationalen Parlament stark vertreten.

39 Es war nicht Bestandteil dieser Abkommen, die Militanten zu entwaffnen.40 Weitgehend auf Rohstoffen beruhend und sehr empfindlich für Schwankungen der

Nachfrage. (Anm. der Red.)

Page 38: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

36

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Musharraf machte Indien einige aufsehenerregende Avancen und verwäs-serte Pakistans Anspruch auf Kaschmir in mancher Hinsicht, indem er eine Pose der moralischen Überlegenheit einnahm, statt sich auf einen Rechtsstandpunkt zu stellen. Er erklärte, Pakistan sei bereit, über die Resolutionen des Sicherheits-rats hinauszugehen, die Indien dazu verpflichteten, eine Volksabstimmung durchzuführen, um zu klären, ob die Kaschmiris bei Indien bleiben wollen oder sich für Pakistan entscheiden würden. Somit veränderte er die bis dahin von Pakistan verfolgte Politik und signalisierte, dass es im wesentlichen Indiens Aufgabe sei, die Kaschmiris zufriedenzustellen (etwa durch das Angebot einer weitreichenden Autonomie oder Selbstverwaltung): Was für diese akzeptabel sein würde, das würde auch für Pakistan akzeptabel sein. Doch Indien ließ sich Zeit, und Präsident Musharraf wurde von der neu entstandenen Anwaltsbewe-gung überrascht, die ihn im Jahre 2008 schließlich zum Rücktritt zwang.

Die Ermordung von Benazir Bhutto im Dezember 2007 war ein Schlag für den pakistanischen Staat. Trotz all ihrer Fehler und der Korruptionsvorwürfe, die allerdings hauptsächlich auf ihren Ehemann zielten, war sie eine populäre Führungsfigur geblieben. Sie erkannte, was die drängenden Probleme Pakistans waren, zu denen nicht zuletzt die wachsende Bedrohung durch Extremismus und Gewalt gehörte, die den Zusammenhalt der Nation gefährdeten und denen es entgegenzutreten galt. Letztlich wurde dann Asif Ali Zardari, ihr Mann, gebeten, an ihrer Stelle die Führung der Partei zu übernehmen; schließlich wurde er auch zum Präsidenten gewählt. Seine Regierung bietet bislang ein gemischtes Bild. Persönlich ist er weiterhin unbeliebt. Das Ansehen seiner Regierung wird durch eine großzügig betriebene Vetternwirtschaft, die in der politischen Kultur Pakis-tans endemisch ist, nicht unbedingt gehoben. Geschichten über Korruption bis in die höchsten politischen Ebenen machen weiterhin die Runde. Andererseits scheint die Regierung die Lage erkannt zu haben, was die Militanz und die damit verbundenen Probleme betrifft, und hier entschlossen die Anstrengungen der Streitkräfte zu unterstützen. Sie versucht, das Phänomen des Extremismus in der Öffentlichkeit angemessen dazustellen – keine einfache Aufgabe angesichts der Tatsache, dass eine Reihe von politischen Parteien anfänglich sehr verwir-rende Botschaften aussandte. Ein Teil der Konfusion hatte damit zu tun, dass die «islamischen» Qualitäten der Taliban betont wurden, statt dass man das Augen-merk auf ihre extremen Vorgehensweisen, ihre wahllos ausgeübte Gewalt und ihre unmissverständliche Herausforderung der staatlichen Autorität gerichtet hätte. Doch bleibt die mangelhafte Regierungsführung ein zentrales Element der derzeitigen Lage, zu der die Ungeduld der PML-N, der wichtigsten Opposi-tionspartei unter der Führung von Nawaz Sharif, das ihre beträgt. Dieser ist laut Umfragen heute der beliebteste politische Führer in Pakistan. In welche Richtung sich Pakistan weiterbewegt, hängt davon ab, welche Lektionen wir in unserer schwierigen Vergangenheit gelernt haben und welche Entscheidungen wir, hoffentlich auf Grundlage einer vernünftigen Einschätzung unserer Möglich-keiten wie unserer Grenzen, künftig treffen werden.

Page 39: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

37

abb

as r

ashi

d D

ie V

erga

ngen

heit

ist

kein

fre

mde

s La

nd: D

emok

rati

e, E

ntw

ickl

ung

und

Mac

ht in

Pak

ista

n

fazit

Die meisten Staaten können wahrscheinlich auf eine Reihe von Schwachpunkten hinweisen, die in ihrer Entstehungsgeschichte begründet liegen. Pakistan dürfte allerdings mit einem unverhältnismäßig großen Maß an derartigen Nachteilen an den Start gegangen sein. Doch sein Volk erwies sich als fähig, seine Möglich-keiten besser zu nutzen, als zu erwarten war. Die Menschen haben sich gegen militärische und autoritäre Herrschaft gewehrt, ob diese nun ideologisch oder durch Sicherheitserwägungen begründet war. Wann immer sich die Möglich-keit bot, haben sie eher liberal-säkulare Parteien in die Regierung gewählt als jene, die den Islam in einer engen und dogmatischen Weise interpretieren. Wie jüngste Ereignisse und Umfragen belegen, lehnt die große Mehrheit die Taliban und deren politisch begründeten Extremismus ab, den sie unter dem Deckmantel der Religion zu propagieren suchen. Die pakistanische Zivilgesellschaft hat sich auf unerwartete Weise behauptet. Zum Beispiel rechneten nur wenige mit der landesweiten Anwaltsbewegung, die nahezu zwei Jahre lang den Protest gegen Musharrafs Entscheidung, den Obersten Richter von Pakistan (CJP) zu entlassen, aufrechterhielt. Es gibt weltweit sicher nur wenige Beispiele für eine solche Bewegung von Akademikern. Zuvor hatten schon Frauen, die zusammen mit den Minderheiten immer als erste zum Opfer jener politischen Projekte wurden, die den Islam für ihre Ziele instrumentalisierten, eine Reihe von Gruppen im ganzen Land gegründet, um sich gegen diskriminierende Gesetze und harte Bestra-fungen zu wehren. Und dieser Kampf geht immer noch weiter. Auch Pakistans sehr rege Medien haben es in ihrem Kampf weit gebracht. Dieser hatte unter Zia, der Journalisten zu einem besonderen Ziel seiner repressiven Politik machte, seinen Höhepunkt erreicht.

Einer der entscheidenden Faktoren, der die Entwicklung von Pakistan massiv gestört hat, ist die Feindschaft mit Indien. Sie resultierte aus dessen Weigerung, seinen Verpflichtungen gegenüber Kaschmir gerecht zu werden. Diese Feind-schaft führte dazu, dass ein großer Anteil der Ressourcen für militärische Zwecke verwendet wurde, einschließlich eines Atomwaffenprogramms, das als minimale Abschreckung gedacht war. Zudem hat Pakistan ein bedenkliches Syndrom externer Abhängigkeit entwickelt, das sich insbesondere im Verhältnis zu den USA zeigt und das das Ungleichgewicht zwischen den Institutionen im eigenen Lande noch weiter verstärkt hat. Diese Abhängigkeit verhindert eine ausgegli-chene Beziehung zwischen den USA und Pakistan, die doch von wechselsei-tigem Vorteil wäre. Während die Lage der Menschen im indischen Teil Kasch-mirs weiterhin ein großes Problem ist, teilen heute immerhin die beiden größten Parteien des Landes die Sichtweise, dass dieses Problem durch Verhandlungen und verbesserte Beziehungen mit Indien gelöst werden muss. Sowohl Benazir Bhutto, als auch Nawaz Sharif und nun Asif Zardari haben sich darum bemüht, die Beziehungen zu Indien zu verbessern, allerdings nur mit begrenztem Erfolg, da in beiden Ländern große Teile der Wählerschaft für diese Anstrengung erst noch gewonnen werden müssen.

Page 40: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

38

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Pakistan braucht heute eine neue Definition von Sicherheit: eine die es ihm ermöglicht, die internen Herausforderungen genauso anzugehen wie die externen. Gleichheit bei der ökonomischen Entwicklung, Gesundheitsfürsorge und Bildung müssen zu zentralen Anliegen der Politik werden. Sie sind ebenso wichtig für die Sicherheit des Landes wie militärische Bereitschaft, wenn nicht wichtiger. Während der Islam zweifellos auch weiterhin einen zentralen Stellen-wert im Leben der Mehrheit der Bürger behalten wird, gäbe es doch ebenso guten Grund, wieder an die gemeinsame Vergangenheit als eine reiche und vielfältige Kultur des Indus-Tales anzuknüpfen. Um unser Nationalbewusstsein um eine bedeutsame Dimension zu ergänzen, täten wir gut daran, «das Indus-Becken als die Grundlage unserer territorialen nationalen Einheit»41 zu begreifen. Doch zunächst kommt es vor allem darauf an, die mangelhafte Regierungsführung zu verbessern und ein Gleichgewicht zwischen den Elementen von Staat und Gesellschaft zu finden. Pakistan ist ein großes Land mit enormen natürlichen und menschlichen Ressourcen. Es darf nicht in den Beschränkungen und dem Ungleichgewicht gefangen bleiben, die es praktisch seit seiner Entstehung begleitet haben, sondern muss sie überwinden, wenn es die aktuellen Heraus-forderungen erfolgreich meistern will. Das ist eine Aufgabe, die durch wenig wohlgesinnte Nachbarn und die unvorhersehbare Weltlage nicht eben erleich-tert wird.

literatur

Abbas, Hassan (2005): Pakistan’s Drift into Extremism: Allah, the Army, and America’s War on Terror, New York, S. 81-82.

Alavi, Hamza (2004): «The Territorial Dimension of Pakistani Nationhood», in: Abbas Rashid (Hg.): Pakistan: Perspectives on State and Society, Lahore, S. 85-102.

Alavi, Hamza (1973): «The State in Post-Colonial Societies: Pakistan and Bangladesh», in: K. Gough and H.P. Sharma (Hg.): Imperialism and Revolution in South Asia, New York, London.

Ali, Imran (1989): The Punjab Under Imperialism, New Delhi, S. 241-42. Cohen, Stephen Philip (2005): The Idea of Pakistan, Lahore, S. 258. Gankovsky, Y. V., und L. R. Gordon-Polonskaya (1970): A History of Pakistan (1947-1958),

Lahore, S. 99. Government of Pakistan (1954): Report of the Court of Enquiry Constituted under Punjab Act II

of 1954 to Enquire into the Punjab Disturbances of 1953, Government of Pakistan, Lahore, S. 386.

Haqqani, Husain (2005): Pakistan: Between Mosque and Military, Lahore, S. 56. Hussain, Zahid (2007): Frontline Pakistan: The Struggle with Militant Islam, Lahore, S.77; S.

273. Jalal, Ayesha (1985): The Sole Spokesman: Jinnah, the Muslim League and the Demand for

Pakistan, Cambridge. Khilnani, Sunil (1999): The Idea of India, New York, S. 33-34. Mortimer, Edward (1982): Faith and Power, London, S. 193-95. Mumtaz, Khawar, und Shaheed, Farida (1987): Two Steps Forward One Step Back: Women of

Pakistan, London.

41 Alavi, zitiert in Rashid 2004: 101.

Page 41: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

39

abb

as r

ashi

d D

ie V

erga

ngen

heit

ist

kein

fre

mde

s La

nd: D

emok

rati

e, E

ntw

ickl

ung

und

Mac

ht in

Pak

ista

n

Rashid, Abbas (1985): «Pakistan: The Ideological Dimension», in: Asghar Khan (Hg.): Islam, Politics and the State: The Pakistan Experience, London, S. 69-94.

Rashid, Abbas (Hg.) (2004): Pakistan: Perspectives on State and Society, Lahore, S.187. Rashid, Abbas, und Shaheed, Farida (1993): Pakistan: Ethno-Politics and Contending Elites,

Discussion Paper 45, UNRISD. Rashid, Ahmed (2008): Descent into Chaos: How the war against Islamic extremism is being lost

in Pakistan, Afghanistan and Central Asia, London, S. 111. Sayeed, Khalid bin (1978), Pakistan. The Formative Phase:1957-1948, Karatschi, S. 96-97. Shaheed, Farida (2002): Imagined Citizenship: Women State and Politics in Pakistan, Shirkat

Gah, Lahore, S. 7. Singh, Jaswant (2009): Jinnah: India-Partition, Independence, New Delhi. Smith, Wilfred Cantwell (1957): Islam in Modern History, London, S. 227. Stern, Jessica (2000): «Pakistan’s Jihad Culture», Foreign Affairs, November/December, Council

on Foreign Relations, New York. Talbot, Ian, und Singh, Gurharpal (Hg.) (2005): Region and Partition: Bengal, Punjab and the

Partition of the Subcontinent, Karatschi, S. 380. Wolpert, Stanley (2006): Shameful Flight: The Last Years of the British Empire in India, Karat-

schi, S. 176. Zaidi, A. M. (1979): Evolution of Muslim Political Thought in India, Michiko & Panjathan, New

Delhi, Vol.1, S. 67.

Page 42: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

In der Bibliothek des Präsidentenpalastes in Islamabad, Oktober 2008

Page 43: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

41

rub

ina

saig

ol D

ie R

olle

von

Kla

sse

und

Polit

ik b

ei d

er R

adik

alis

ieru

ng v

on S

taat

und

Ges

ells

chaf

t in

Pak

ista

n

ruBina saigol

die rolle von klasse und Politik bei der radikalisierung von staat und gesellschaft in Pakistan

Angesichts der humanitären Katastrophe, die in Pakistan ihren Lauf nimmt, und des dort herrschenden Klimas der Angst ist es von größter Dringlichkeit, die als «Radikalisierung» oder «Talibanisierung» bezeichneten Phänomene zu begreifen. Auch wenn es schwierig ist, solche Prozesse zu erfassen und zu analysieren, während sie noch im Gange sind und sich täglich neue Wendungen ergeben, können zu diesem Zeitpunkt doch gewisse Thesen zur sozialen, ökonomischen und politischen Dynamik aufgestellt werden.

Mit den Begriffen «Radikalisierung» und «Talibanisierung» wird das immer häufiger zu beobachtende Phänomen beschrieben, dass eine bestimmte Art von Religion als Rechtfertigung für die Eroberung von und die Herrschaft über Territorien, Bevölkerungen und Ressourcen sowie die gewaltsame Etablie-rung bestimmter Rechts- und Gesellschaftssysteme benutzt wird. Ungezügelte Gewalt, etwa in Form von grausigen Morden, Enthauptungen, Auspeitschungen, Verstümmelungen und ähnlichem, ist ein zentraler Bestandteil dieses neuen Phänomens. Die Erzeugung massiver Angst scheint eine Grundlage für die Schaf-fung derartiger gesellschaftlicher und politischer Systeme zu sein. Man versetzt die Menschen in Angst, um sie unter Kontrolle zu halten und dafür zu sorgen, dass sie sich dem Diktat der Führer fügen.

Es ist eine weit verbreitete Tendenz, Radikalisierung als ein rein ideologisches Phänomen zu betrachten. Religiöser Fanatismus, Extremismus und Militanz, oder wie immer man es nennen will, werden oft als Zeichen von Rückständig-keit, von mangelnder Bildung und Zivilisiertheit, als Ausdruck einer barbari-schen beziehungsweise primitiven Weltsicht betrachtet. Der Rückgriff auf in der Kolonialzeit geprägte Gegensatzpaare wie etwa rückständig versus modern, primitiv versus zivilisiert, ungebildet versus aufgeklärt erhellt die Problematik keineswegs, sondern verschleiert sie vielmehr. Kategorien wie rückständig, primitiv, barbarisch oder vormodern eignen sich nicht zur Erklärung, da sie auf sich selbst zurückverweisen: Jemand hat eine bestimmte Tat begangen, weil er barbarisch ist, jemand ist barbarisch, weil er eine bestimmte Tat begangen hat. Das Denken in psychologischen und ideologischen Kategorien, die bestimmten Menschen eine natürliche Neigung zu Gräueltaten unterstellen, ist letzten

Page 44: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

42

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Endes essentialistisch. Doch solche Erklärungsansätze erübrigen sich, weil sie die Geschichte und die materielle Realität ignorieren, die wesentliche Bestand-teile der Dynamik des Radikalismus darstellen. Das Denken in übergreifenden ideologischen Kategorien scheint sich auf eine Art biologischen Determinismus zu stützen, weshalb es als zutiefst rassistisch gelten muss. Wer zur Erklärung historischer Phänomene nur auf Ideologie, Glaube oder Geisteshaltung verweist, lässt außer Acht, wie wichtig es ist, spezifische Akteure in den Kontext spezifi-scher historischer Umstände und materieller Interessen einzuordnen.

Statt Extremismus und Gewalt als inhärente Eigenschaft einer bestimmten Religion oder Kultur, eines bestimmten Volkes oder Glaubenssystems zu betrachten, empfiehlt es sich, die politische Ökonomie der Radikalisierung zu untersuchen, um die materiellen Umstände offenzulegen, die ihr möglicherweise zugrunde liegen. Es erscheint sinnvoll, den Konflikt zwischen den konkurrie-renden Klassen zu analysieren, die versuchen, ihre Hegemonie zu etablieren und sich der Religion oder einer bestimmten Form von Religion zu bedienen, um ihre Position in der sozialen und ökonomischen Hierarchie zu verteidigen. Der Islam eignet sich offenbar gut dafür, Klassenprivilegien und Ausbeutung zu verbrämen. In vielen islamischen Ländern bekunden «die oberen Gesellschaftsschichten im verzweifelten Bemühen um eine ideologische Absicherung ihrer gesellschaftli-chen und materiellen Vorteile in zunehmendem Maße ihre Zugehörigkeit zum Islam» (Rodinson 1966: 226). Die herrschende Klasse nutzt den Islam, um ihre konservative Einstellung religiös zu untermauern. Eine historische Evaluation der Verbindungen zwischen bestimmten Interpretationen von Religion und politischer Macht kann dazu dienen, den Radikalismus zu entmystifizieren und in die Geschichte sowie den Kontext materieller Konflikte einzuordnen. Die Instrumentalisierung der Religion zur Erlangung, Wahrung und Ausweitung von Klassenmacht wiederum könnte ihre zunehmende Verbreitung und ihren hegemonialen Aufstieg innerhalb von Staat und Gesellschaft erklären.

theoretische grundlagen

Dieser Beitrag bezieht seine theoretische Grundlage aus bestimmten Entwick-lungen innerhalb des westlichen politischen Diskurses, aus dem die modernen Auffassungen von Staat und Gesellschaft abgeleitet wurden (Kant 1994; Rousseau 2009; de Tocqueville 1964). Insbesondere die liberalen Philosophen der Aufklä-rung haben Entscheidendes zur Theorie des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft beigetragen (Hegel 1991; Hobbes 1931; Locke 1821). Karl Marx und verschiedene marxistische Staats- und Gesellschaftsphilosophen haben diesen Diskurs noch vertieft und bereichert.

Mit der Renaissance, der Reformation und der Aufklärung nahm in Europa der Einfluss der Geistlichen auf die weltliche Sphäre ab, und das Säkulare gewann allmählich die Oberhand. Die Macht der Geistlichen erodierte, und die Verbindung zwischen Klerus und Staat wurde schwächer. Während sich Staat und Gesellschaft als separate, wenn auch sich überlappende Bereiche heraus-

Page 45: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

43

rub

ina

saig

ol D

ie R

olle

von

Kla

sse

und

Polit

ik b

ei d

er R

adik

alis

ieru

ng v

on S

taat

und

Ges

ells

chaf

t in

Pak

ista

n

bildeten, wurde die Religion in den Bereich des Privaten verwiesen und das öffentliche Leben auf das Fundament rationaler Ordnung und säkularen Rechts gestellt. Zwar waren die Gesellschaften weiterhin mehr oder minder religiös, doch wurde der Staat nun als frei von Religion betrachtet und gemäß wissen-schaftlichen, rationalen und bürokratischen Prinzipien definiert. Die Religion konnte nicht mehr benutzt werden, um die Macht von Königen, Adel und Klerus zu konsolidieren. Mit der Französischen Revolution 1789 entstand eine der Frühformen des modernen Staates.

Karl Marx unterscheidet zwischen der politischen und der bürgerlichen Gesellschaft, die er in einem System von Produktion und Reproduktion ansie-delt. Die bürgerliche Gesellschaft ist Marx zufolge Ausdruck der Interessen der Bourgeoisie. Sie wird durch die Produktions- und Reproduktionsverhält-nisse definiert und bildet die Basis, auf der sich der Staat als Überbau erhebt. Marx ordnete die Religion diesem Überbau zu und bezeichnete sie als «Opium des Volkes», das den Menschen helfe, die bürgerliche Ordnung als natürlich und gottgegeben hinzunehmen. «Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks»1 (Marx 1843). Die sozialen und ökonomischen Bedingungen, die «geistlosen Zustände», die die Menschen zwingen, in Armut und Erniedrigung zu leben, binden sie noch enger an die Religion, denn diese bietet ihnen eine Erklärung für die Ursachen von Not und Elend. Der französi-sche Philosoph und Vertreter des strukturalistischen Marxismus Louis Althusser betrachtete die Kirche als einen der mächtigen ideologischen Staatsapparate, die jene Ideologien reproduzieren, die es der Bourgeoisie ermöglichen, ihre Klassen-macht zu erhalten und zu erweitern (Althusser 1984)

Der für die Überlegungen in diesem Aufsatz maßgebliche Philosoph ist der italienische Marxist Antonio Gramsci, der das Konzept von Hegemonie und Gegenhegemonie entwickelte. Ihm zufolge ist die Zivilgesellschaft die Sphäre, in der die herrschenden Klassen ihre Hegemonie sichern (Gramsci 1971), in der die Ideen der Herrschenden die Hegemonie erlangen, so dass die Ideologien der herrschenden Klasse den Menschen naheliegend, vernünftig und dem Allge-meinwohl dienlich erscheinen.

Die Argumentation von Marx, Althusser und Gramsci – dass nämlich die Religion ein Stützpfeiler für die Klasseninteressen sei – ist für diesen Aufsatz von herausragender Bedeutung. Sie könnte die Auffassung entkräften, der Radika-lismus sei allein eine Frage von Glaube und Ideologie und habe keine struktu-relle Grundlage.

1 Dt. Zitat aus: Karl Marx: «Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie», in: Deutsch-Fran-zösische Jahrbücher 1844, S. 71f. (Anm. der Red.)

Page 46: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

44

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

religion und macht in der unabhängigkeitsbewegung

Der Staat Pakistan entstand als Produkt eines binären religiösen Nationalismus, der Muslime und Hindus als zwei grundsätzlich unvereinbare, moralisch gegen-sätzliche, feindliche Nationen definierte (Saigol 1994, 1995). Im Rahmen eines dichotomen Paradigmas entstanden, das von der Unvereinbarkeit der beiden Religionen ausging, wurde Pakistan gleichsam zum Gefangenen seiner eigenen Geschichte und hatte Mühe, sich von seinem Gründungsmythos, der Zwei-Nationen-Theorie, zu lösen (Saigol 2006). Die These von den zwei diametral entgegengesetzten, feindlichen Nationen wird ursprünglich Syed Ahmad Khan zugeschrieben, der die Unterschiede zwischen Hindus und Muslimen heraus-strich und die Demokratie mit dem Argument ablehnte, sie werde zur Herrschaft der Hindus führen. Im Rahmen des Kampfes für einen pakistanischen Staat wurde die Zwei-Nationen-Theorie dann von den Führern der Muslimliga bekräf-tigt (Ali 2009).

Während die Ideologie zweier nach der Religion geschiedener Nationen als Haupttriebkraft des islamischen Separatismus in Nordindien gilt, werden Klasseninteressen als Grund für die Forderung nach einem pakistanischen Staat im offiziellen, staatlichen Diskurs ignoriert. 1906 – ein Jahr nachdem die Teilung Bengalens die mit der unterschiedlichen Religionszugehörigkeit verbundenen sozialen Gegensätze noch verschärft hatte – wurde in Dhaka die Muslimliga gegründet, und die Hindus begannen für die Aufhebung der Teilung zu agitieren. Die Gründer der Muslimliga entstammten den muslimischen herrschenden Gruppen und dem Kreis der Nawabs. Im Dezember 1906 kam im Haus des Nawab Salimullah die Muhammadan Educational Conference zusammen, und bedeutende Persönlichkeiten wie Nawab Viqar-ul-Mulk und Nawab Mohsin-ul-Mulk wurden gebeten, die erste Satzung der bei diesem Treffen gegründeten All India Muslim League zu verfassen. An der Spitze derer, die sich für die Rechte der Muslime einsetzten, standen also Angehörige des damaligen Landadels.2 1909 wurde der religiöse Separatismus durch die Morley-Minto-Reformen instituti-onalisiert, indem der Forderung nach getrennten Wählerschaften stattgegeben wurde. Doch erst mit der Kalifat-Kampagne und dem Scheitern der zur Zeit des Lucknow-Paktes 1916 lautstark verkündeten hinduistisch-muslimischen Einheit begannen die muslimischen Eliten die Religion im Sinne ihres Dominanzstre-bens zu islamisieren (Ali 2009).

Zwar wurde die Unabhängigkeitsbewegung letztlich von der Schicht der Angestellten angeführt (Alavi 1992), doch ins Leben gerufen wurde sie von reichen Grundbesitzern, die sich durch die Forderung nach Landreformen, die auf der Agenda des Indian National Congress stand, bedroht fühlten. Gegründet wurde die Muslimliga also zur Verteidigung der Klasseninteressen der muslimi-schen Grundbesitzer (Gankovsky und Polonskaya 1964). Die Teilung Bengalens wurde zwar 1911 auf immensen öffentlichen Druck hin rückgängig gemacht,

2 www.storyofpakistan.com

Page 47: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

45

rub

ina

saig

ol D

ie R

olle

von

Kla

sse

und

Polit

ik b

ei d

er R

adik

alis

ieru

ng v

on S

taat

und

Ges

ells

chaf

t in

Pak

ista

n

doch hatten sich die Scheide- und Konfliktlinien mittlerweile tief ins Bewusst-sein der Menschen eingegraben. Die Religion verkörperte in zunehmendem Maße Unterschiedlichkeit und Trennung und wurde mehr und mehr politisch instrumentalisiert. Die Idee eines muslimischen Staates fiel bei Mittelschicht und Angestellten auf fruchtbaren Boden. Auch Muhammad Ali Jinnah, ein durch und durch säkular orientierter Konstitutionalist und ursprünglich auch entschiedener Nationalist, der sich für ein vereintes Indien einsetzte, machte sich letzten Endes die Religion zunutze, um Muslime für die Schaffung eines eigenen Heimatlandes zu mobilisieren. 1940 verkündete er:

«Es ist ausgesprochen schwer zu verstehen, warum unsere hinduistischen Freunde das wahre Wesen von Islam und Hinduismus nicht erkennen. Es handelt sich nicht um Religionen im engeren Sinne, sondern um unterschiedliche und klar voneinander abgegrenzte Gesellschaftsordnungen, und es ist Träumerei, zu glauben, Hindus und Muslime könnten jemals eine gemeinsame Nationa-lität entwickeln. Die Vorstellung von einer einigen indischen Nation ist irrig und gefährlich und wird Indien ins Verderben führen, wenn wir nicht rechtzeitig umdenken. Hindus und Muslime haben eine unterschiedliche religiöse Weltan-schauung, ein eigenes Brauchtum und eine eigene Literatur. Weder heiraten sie untereinander noch essen sie miteinander, sie gehören zwei verschie-denen Kulturen an, die auf entgegengesetzten Auffassungen und Vorstellungen beruhen.»3

Was als Bewegung zur Verteidigung der Interessen des Landadels begonnen hatte, wurde mit der Zeit zu einer Bewegung, die sich auf religiöse Unterschiede berief. Die Religion wurde zur dominanten Ideologie, zur hegemonialen «Wahrheit», auf deren Fundament die neue Nation errichtet werden sollte. In ihrer Funktion als Opium des Volkes verschleierte sie die Tatsache, dass der Forderung nach einem eigenen Staat die Klasseninteressen des Landadels zugrunde lagen. Und so begann man die Interessen der muslimischen herrschenden Klasse als die der Allgemeinheit, auch der Beherrschten und Unterdrückten, anzusehen.

die debatte um die definition Pakistans

Sobald Pakistan als fragiles, notdürftig mit dem Faden der Religion zusammen-geheftetes neues Gebilde auf der Weltkarte erschienen war, begannen die Ausei-nandersetzungen um Ideologie und Bedeutung Pakistans. Schon im August 1947 imaginierte Jinnah, in dessen Augen der exklusivistische religiöse Nationalismus seinen Zweck erfüllt und somit ausgedient hatte, einen säkularen Staat, in dessen Geschäften die Religion keine wichtige Rolle spielte. In seiner berühmten Rede vor der verfassungsgebenden Versammlung sagte er:

«Wenn Sie Ihre Vergangenheit hinter sich lassen und in der Überzeugung zusammenarbeiten, dass jeder einzelne von Ihnen, egal welcher Gemeinschaft er

3 Auszug aus der Ansprache des Präsidenten, die der Quaid-e-Azam [großer Führer] am 22./23. März 1940 in Lahore hielt.

Page 48: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

46

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

angehört, welches Verhältnis er früher zu Ihnen hatte, was seine Hautfarbe, seine Kaste, sein Glaube ist, zuallererst ein Bürger dieses Staates mit gleichen Rechten, Privilegien und Pflichten ist, dann werden ungeahnte Fortschritte möglich sein. Sie sind frei: frei, ihre Tempel, ihre Moscheen oder jegliches andere Gottes-haus im Staate Pakistan zu besuchen. Sie können jeglicher Religion, Kaste und Glaubensrichtung angehören, unabhängig von den Geschäften dieses Staates. Es beginnt nun die Zeit, in der es keine Diskriminierung mehr gibt, keine Unter-scheidung zwischen dieser und jener Gemeinschaft, zwischen dieser und jener Kaste oder Glaubensrichtung. Wir gehen ab jetzt von dem Grundsatz aus, dass wir alle Bürger, gleichberechtigte Bürger, eines Staates sind.»4

Der neue Staat, den M. A. Jinnah sich vorstellte, sollte auf dem Grundsatz der Gleichheit aller Staatsbürger beruhen. Doch natürlich kann es keine Gleichheit aller Bürger geben, solange eine Religion als offizielle Staatsreligion gilt, denn dadurch ist die Staatsbürgerschaft derjenigen, die einer anderen Glaubenge-meinschaft angehören, automatisch weniger wert. Genau dazu kam es schon kurze Zeit nach Jinnahs Tod 1948, als die Partei Jamaat-e-Islami, die mit dem Argument gegen die Gründung Pakistans opponiert hatte, eine säkulare Staats-führung könne keinen Staat aufbauen, der auf dem Islam beruhe, mit einer hegemonialen religiösen Ideologie auf den Plan trat. So kam auch beim Aufbau des neuen Staates der Gründungsmythos in Form der Zwei-Nationen-Theorie wieder ins Spiel.

Nach dem Tod des überragenden M. A. Jinnah fiel die Aufgabe, die neue Nation zu definieren, einigen jener Personen und Parteien zu, die der Idee eines eigenen pakistanischen Staates ursprünglich ablehnend gegenüberge-standen hatten – Maulana Maududi und der Jamaat-e-Islami. Mehr als jede andere religio-politische Partei haben die Jamaat-e-Islami und ihre Studenten-organisation, die Islami Jamiat-e-Tulaba, Einfluss auf die pakistanische Politik, Wirtschaft und Gesellschaft genommen. Maulana Maududi führte die Bewegung für den Aufbau eines theokratischen Staates in Pakistan schon bald nach ihrer Entstehung an (Mir 1986). Die Pakistan-Bewegung wurde nun zur «Bewegung zur Errichtung eines islamischen Staates statt eines Nationalstaates» umdefiniert (Mir 1986: 159).

1949, ganze zwei Jahre nach der Staatsgründung Pakistans, drängten die Jamaat-e-Islami und Maulana Maududi die Verfassunggebende Versammlung, die Objectives Resolution zu verabschieden. In dieser vom Premierminister Liaquat Al Khan eingebrachten Resolution wurde erklärt, dass die künftige Verfas-sung Pakistans nicht durchweg nach europäischem Vorbild gestaltet, sondern nach der Ideologie und dem demokratischen Glauben des Islam ausgerichtet werden würde. Im ersten und wichtigsten Artikel dieser Resolution wurde bekräf-tigt, dass die Herrschaft über die ganze Welt bei Allah liege.5 Effektiv nahm dieser Artikel dem Volk die Souveränität und gab sie in die Hände derer, die für sich

4 Ansprache vor der Verfassunggebenden Versammlung, 11. August 1947.5 Objectives Resolution, Artikel 2-A. Pakistanische Verfassung.

Page 49: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

47

rub

ina

saig

ol D

ie R

olle

von

Kla

sse

und

Polit

ik b

ei d

er R

adik

alis

ieru

ng v

on S

taat

und

Ges

ells

chaf

t in

Pak

ista

n

beanspruchten, den Willen Allahs zu kennen: der Geistlichen. Der dritte Artikel der Objectives Resolution bekräftigte noch einmal die Macht einer Religion über alle anderen, indem er vorgab, dass «die Grundsätze von Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Toleranz und sozialer Gerechtigkeit gemäß ihrer Definition durch den Islam befolgt werden.»6 Auf der Grundlage von religösem Nationalismus entstanden, blieb der Staat nun in dieser beschränkenden Ideologie befangen.

Die Resolution wurde fünf Tage lang hitzig diskutiert. Die führenden Regie-rungsmitglieder und eine ganze Reihe nicht-muslimischer Mitglieder der Verfas-sunggebenden Versammlung, insbesondere solche aus Ost-Bengalen, gaben dabei den Ton an. Die nicht-muslimischen Mitglieder äußerten ernsthafte Befürchtungen hinsichtlich ihrer Position und Rolle im Falle der Umsetzung dieser neuen Politik. Die Minderheitenvertreter erkannten das in der Resolu-tion enthaltene Potenzial für die Entstehung eines theokratischen Staates und erhoben berechtigte Einwände. Ihr wichtigster Einwand war der, dass die Regie-rung hier versuche, Politik und Religion zu vermischen, was dem Geist der Demokratie zuwiderlaufe. Hinduistische Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung führten ins Feld, dass die Objectives Resolution in allen grund-legenden Punkten von Muhammad Ali Jinnahs Haltung abweiche. Sri Chandra Chattopadhyaya sagte: «Für mich spricht aus dieser Resolution nicht die Stimme des großen Erschaffers Pakistans, des Quaid-i-Azam, ja nicht einmal die des Ehrenwerten Mr. Liaquat Ali Khan, des Premierministers von Pakistan, sondern die der Ulema dieses Landes.»7

Im selben Geiste äußerte sich Birat Chandra Mandal: Jinnah habe «unmiss-verständlich erklärt, dass Pakistan ein säkularer Staat sein werde» (Ghazali 1996). Bhupendra Kumar Datta ging noch einen Schritt weiter und merkte an: «Wäre diese Resolution zu Lebzeiten des großen Erschaffers von Pakistan, des Quaid-i-Azam, in dieser Versammlung eingebracht worden, hätte sie anders ausge-sehen» (Ghazali 1996). Die hinduistischen Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung warnten, dass die Auswirkungen dieser Resolution selbst im ländlichen Raum zu spüren sein würden (Ali 2009).

Die nicht-muslimischen Mitglieder der Verfassunggebenden Versamm-lung wandten sich auch gegen die neue Vorstellung der Souveränität Allahs, die der Gleichheit aller Bürger entgegenstehe. Die Minderheitenvertreter waren der Ansicht, die Scharia sei der Moderne nicht angemessen, und brachten die Befürchtung zum Ausdruck, religiöse Extremisten könnten versuchen, einen theokratischen Staat zu errichten, der religiösen Minderheiten gegenüber feindlich eingestellt sein würde. Doch die Muslime in der Verfassunggebenden Versammlung setzten sich über diese berechtigten und geradezu visionären Sorgen hinweg und machten so den Weg frei für den Einsatz und Missbrauch der Religion durch die künftigen herrschenden Klassen Pakistans. Ungeachtet der ernsthaften Einwände der Minderheitenvertreter, die ihren muslimischen

6 Ebd., Artikel 3.7 Zitiert nach Ghazali, Islamic Pakistan: Illusions and Reality, Islamabad 1996.

Page 50: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

48

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Kollegen vergeblich in Erinnerung riefen, dass sich der Gründer Pakistans für den Schutz der Minderheiten und ihrer Rechte eingesetzt hatte, wurde die Resolution verabschiedet.

Maulana Maududi präsentierte eine ausgefeilte Theorie des islamischen Staates in Form folgender Erklärung: «Der Islam ist das genaue Gegenteil der säkularen westlichen Demokratie. Das ideelle Grundprinzip der westlichen Demokratie ist die Volkssouveränität. Die Gesetzgebung ist Vorrecht des Volkes, folglich müssen die Gesetze der Geisteshaltung und den Ansichten des Volkes entsprechen. Der Islam lehnt die Idee der Volkssouveränität ab und errichtet sein Gemeinwesen auf dem Fundament der Souveränität Gottes und der Statthalterschaft.»8

Indem er effektiv auf einen theokratischen Staat zusteuerte, nahm Maulana Maududi dem Volk das Recht, sich selbst zu regieren, denn Gottes Wille erschloss sich nur den Geistlichen. Doch nicht nur die theokratisch und feuda-listisch gesinnten Politiker und die Geistlichen profitierten von der Negierung der Volkssouveränität. Auch die zivile und später die militärische Bürokratie machten sich diese Einstellung zunutze, um ihre eigenen Interessen durchzu-setzen (Mir 1986). Die Theorie von der göttlichen Souveränität war ein politi-scher Trick, mittels dessen sich jene, die sich als Vertreter Seines Wortes und Gesetzes ausgaben, die absolute Macht sichern wollten. Die Idee der göttlichen Souveränität wurde zum Instrument in den Händen späterer Militärdiktatoren wie auch ziviler Machthaber, die die Religion im Sinne ihrer eigenen Interessen interpretierten. Maududi betrachtete Pakistan als einen weltanschaulichen Staat, dessen alleingültige Weltanschauung der Islam sein sollte. Seine Theorie des islamischen Staates umfasste detaillierte rechtliche und konstitutionelle Grundsätze. Er war der Ansicht, ein islamischer Staat könne nicht demokra-tisch sein, weil die Demokratie es ermögliche, dass Gesetze durch den Willen der Mehrheit verändert werden könnten, selbst wenn die Mehrheit irre. Eines der bestimmenden Merkmale des islamischen Staates ist Maududi zufolge der Dschihad, die Pflicht zur universellen Verbreitung des Glaubens. Der islamische Staat war somit zwangsläufig expansiv und strebte die Bildung eines Weltstaates an (Ahmad 1976).

Nachdem der Staat auf der Grundlage einer exklusivistischen, dominanten, der herrschenden Klasse dienlichen Form von religösem Nationalismus gestaltet worden war, vermochten die nachfolgenden herrschenden Eliten die Religion problemlos als Legitimations- und Machtwerkzeug einzusetzen. Die Verbindung zwischen Staat und Religion wurde im Laufe der Zeit noch enger, da zivile wie militärische, religiöse wie moderate Machthaber die Religion als legitimierende Ideologie und Mittel zum Erhalt der Klassenmacht einsetzten.

8 Zitiert nach Mir: Religion and Politics in Pakistan, 1986, S.160.

Page 51: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

49

rub

ina

saig

ol D

ie R

olle

von

Kla

sse

und

Polit

ik b

ei d

er R

adik

alis

ieru

ng v

on S

taat

und

Ges

ells

chaf

t in

Pak

ista

n

der Zusammenhang zwischen religion und macht in Pakistan

Ein kurzer Blick auf die Geschichte Pakistans zeigt, dass praktisch alle Macht-haber, ob zivil oder militärisch, religiös oder «aufgeklärt-moderat», die Religion als Werkzeug zur Erlangung und Wahrung von Macht benutzten. Diese Instru-mentalisierung der Religion für machtpolitische Zwecke führte umgekehrt wiederum dazu, dass religiöse Ideologien bekräftigt und gestärkt wurden und es zu heftigen konfessionellen, ideologischen und letztlich gewalttätigen Konflikten darüber kam, welche Form von Religion den pakistanischen Staat definieren würde.

Nach der Verabschiedung der Objectives Resolution im Jahr 1949 wurde ein sogenanntes Basic Principles Committee ins Leben gerufen, das die Richt-linien für die Formulierung der Verfassung festlegen sollte. Im Dezember 1952 legte es der Verfassunggebenden Versammlung in einem Bericht das Ergebnis seiner Arbeit vor. Gemäß diesem Bericht sollte das Staatsoberhaupt Pakistans ein Muslim sein, der in einer gemeinsamen Sitzung der Legislative (Central Legislature) per Stimmenmehrheit auf fünf Jahre gewählt werden sollte. Doch Khawaja Nazimuddin, der Premierminister, der die zweite Fassung des Berichts vorgelegt hatte, wurde im April 1953 seines Amtes enthoben, was in erster Linie auf die Bewegung Tahaffuz-e-Khatam-e-Nabuwat zurückzuführen war, die im Punjab zu politischen Unruhen angestachelt hatte. Die im Punjab von der Majlis-e-Ahrar ins Leben gerufen Anti-Ahmadiyya-Bewegung wurde von Mumtaz Daultana, dem Chief Minister des Punjab, unterstützt.9 Die Bewegung fasste auch in anderen Landesteilen Fuß und führte zu weit verbreiteter Anarchie. Die Religion, die immer wieder von den Herrschenden zur Machtlegitimation einge-setzt wurde, entfaltete in den Händen skrupelloser Politiker ihre entzweiende Wirkung (Ali 2009).

Nach der Absetzung von Khawaja Nazimuddin ernannte der Generalgou-verneur Muhammad Ali Bogra zum Premierminister. Gemäß der 1953 von ihm eingebrachten sogenannten «Bogra Formula» erhielt anstelle des Rates der Ulema der Oberste Gerichtshof die Befugnis, zu entscheiden, ob ein Gesetz mit der Lehre des Heiligen Koran und der Sunna übereinstimmte. Mittlerweile hatten die Politiker offenbar weithin akzeptiert, dass die Gesetze entsprechend den Geboten der Religion gestaltet werden würden. Der Staat entwickelte sich Schritt für Schritt zu einem religiös definierten politischen Gebilde.

1955 wurde Chaudhry Muhammad Ali zum Premierminister ernannt; er gestaltete die Verfassung von 1956 und erreichte, dass sie von der Verfassungge-benden Versammlung verabschiedet wurde. Eines der grundlegenden Merkmale der Verfassung von 1956 war ihr islamischer Charakter. Dennoch wurde die Objectives Resolution ihr nur als Präambel vorangestellt, nicht aber in den Haupt-text aufgenommen. Die islamischen Bestimmungen waren in den Richtlinien für die Staatspolitik enthalten. Sie beinhalteten unter anderem die Bedingung, dass

9 www.storyofpakistan.com

Page 52: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Schülerinnen in Islamabad, April 2009

Page 53: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

51

rub

ina

saig

ol D

ie R

olle

von

Kla

sse

und

Polit

ik b

ei d

er R

adik

alis

ieru

ng v

on S

taat

und

Ges

ells

chaf

t in

Pak

ista

n

der Präsident ein Muslim sein müsse. Diese Bestimmung ist ausschließend und somit einer der Faktoren, die der Gleichheit der Staatsbürger entgegenstehen. Eine andere Bestimmung sah die Gründung einer Organisation für islamische Forschung vor, deren Ziel es sein sollte, die wahre islamische Gesellschaft zu definieren und zu etablieren. Pakistan erhielt offiziell den Namen «Islamische Republik Pakistan», was den ausschließenden Charakter des Staates noch unter-strich, der jetzt per definitionem ein religiöser Staat war. Es wurde festgesetzt, dass kein Gesetz erlassen werden konnte, das mit den Geboten des Islam unver-einbar war, und dass bestehende Gesetze mit diesen Geboten in Übereinstim-mung gebracht werden sollten. Ob ein Gesetz mit dem Islam vereinbar war oder nicht, würde die Nationalversammlung entscheiden. Der Koranunterricht wurde für alle Muslime zur Pflicht, und der Kauf und Verkauf von Alkohol war fortan verboten. Eine der Aufgaben des Staates würde darin bestehen, die Bande der Einheit zwischen den muslimischen Staaten zu stärken. Innerhalb der ersten neun Jahre seines Bestehens hatte sich Pakistan unverkennbar in Richtung eines durch den Islam definierten Staates entwickelt und von der Sorte Staat entfernt, den M.S. Jinnah in seiner am 11. August vor der Verfassunggebenden Versamm-lung gehaltenen Rede skizziert hatte.

Im Oktober 1958 setzte Präsident Ayub Khan Iskandar Mirza ab, wurde zum alleinigen Machthaber in Pakistan und regierte das Land dann ein Jahrzehnt lang als allmächtiger Diktator. 1962 wurde Pakistans zweite Verfassung verkündet, kraft derer das Land von einer parlamentarischen Demokratie in einen Präsidi-alstaat umgewandelt wurde. Trotz seiner eher säkularen Weltsicht machte sich auch Ayub Khan die Religion zunutze, um sich zu legitimieren und seine Position abzusichern. Somit führte er die bestehende Tendenz fort, den Islam als Macht- und Herrschaftsinstrument zu benutzen.

Die Verfassung von 1962 enthielt wie ihre Vorgängerin zahlreiche islamische Bestimmungen. Die Präambel basierte auf der Objectives Resolution. Ursprüng-lich hatte der neue Staat den Namen «Republik Pakistan» getragen. Doch als die Nationalversammlung im Juni 1962 tagte, wurden Forderungen laut, den Namen entsprechend der Vielzahl islamischer Bestimmungen in der Verfas-sung um das Wort «Islamische» zu ergänzen. Im Dezember 1962 wurde Pakistan dann im ersten Zusatzartikel zur Verfassung in «Islamische Republik Pakistan» umbenannt. Desweiteren wurde festgeschrieben, dass kein Gesetz erlassen werden dürfe, das mit der Lehre und den Vorschriften des Islam, wie sie in Koran und Sunna festgehalten sind, unvereinbar sei, und dass alle bereits existierenden Gesetze mit Koran und Sunna in Übereinstimmung gebracht werden würden. Gemäß der Verfassung von 1962 konnte nur ein Muslim Präsident des Landes werden. Diese Ausschlussbestimmungen, die eine religiöse Gemeinschaft über alle anderen stellten, hatte die Ungleichheit der Bürger zur Folge.

Um sich die Bürgerschaft dienstbar und gefügig zu machen, übernahm der Staat die Aufgabe, den Menschen eine religiöse Weltsicht zu vermitteln. Zu diesem Zwecke wurde der obligatorische Unterricht in Koran und Islamiyat eingeführt. Die Freiheit, sich für eine oder auch gar keine Religion zu entscheiden, wurde

Page 54: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

52

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

durch die Verfassung eingeschränkt. Desweiteren sah die Verfassung die Regulie-rung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse vor: die korrekte Organisa-tion von Zakat, Waqf und Moscheen wurde verfassungsmäßig gewährleistet. Sodann wurde festgelegt, dass konkrete Maßnahmen ergriffen werden würden, um alles, was im Islam als soziales Übel galt, wie etwas der Alkoholkonsum oder das Glücksspiel, auszurotten. Diese detaillierte Regulierung der Gesellschaft durch die Umdeutung von Sünden in Verbrechen und die staatliche Kontrolle persönlichen Verhaltens machte Pakistan zu einem totalitären Staat, denn die Bürger konnten keine eigenen moralischen Entscheidungen mehr treffen. Statt solcherlei persönliche Entscheidungen den Menschen selbst zu überlassen, so dass jeder seine ganz eigene Beziehung zu Gott entwickeln konnte, übernahm es der Staat, Gut und Böse zu definieren, indem er Handlungen kriminalisierte, die in einer bestimmten Religion verboten sein mochten, aber gesellschaftlich betrachtet nicht unbedingt schädlich waren.

In den Richtlinien für die Staatspolitik wurde festgelegt, dass man Maßnahmen ergreifen würde, um es den pakistanischen Muslimen zu ermög-lichen, ihr Leben entsprechend den Grundprinzipien des Islam einzurichten. Tatsächlich aber äußerte sich das eher als Zwang, denn es wurde den Menschen verwehrt, sich frei für einen Glauben zu entscheiden und selbst zu bestimmen, auf welche Weise sie ihn praktizieren wollten. Zu erklären, dass die nötigen Einrichtungen geschaffen werden würden, um es den Menschen zu ermöglichen, den Sinn des Lebens gemäß der islamischen Lehre zu erkennen, bedeutete, dass es den Menschen nicht erlaubt war, ihre Religion selbst zu interpretieren und sie entsprechend ihrem ganz persönlichen Glauben zu praktizieren. Indem der Staat durch diese massiven Eingriffe in die Privatsphäre und die sozialen Bezie-hungen moralische Kontrolle ausübte, durchdrang die Religion die Gesellschaft immer mehr. Religion war also nicht mehr eine Frage der subjektiven, individu-ellen Entscheidung, sondern sie nahm hegemonialen Charakter an.

Die Übergriffe des totalitären Staates auf das Privatleben seiner Bürger wurde durch die Schaffung eines Advisory Council of Islamic Ideology institutionali-siert, dessen Mitglieder vom Präsidenten berufen wurden. Die Funktion dieses Gremiums bestand darin, der Regierung Empfehlungen hinsichtlich der Frage zu geben, wie man die Muslime des Landes ermuntern und befähigen konnte, ihr Leben nach den Grundsätzen des Islam auszurichten. Der «Council of Islamic Ideology» wurde ermächtigt, alle bestehenden Gesetze daraufhin zu untersu-chen, wie sie mit der islamischen Lehre laut Koran und Sunna in Übereinstim-mung gebracht werden könnten. Dieser Vorstoß zur Schaffung einer islamischen Gesellschaft wurde durch die geplante Gründung eines Islamic Research Insti-tute durch den Präsidenten ergänzt, einer islamischen Forschungseinrichtung, deren Aufgabe es laut Verfassung sein sollte, Forschung und Lehre auf dem Gebiet des Islam zu betreiben, um so die Wiederherstellung einer muslimischen Gesellschaft auf wahrhaft islamischer Basis zu unterstützen. Der Staat sah seine Funktion nicht etwa darin, den kollektiven Willen des Volkes abzubilden und ein Symbol für die Bestrebungen des Volkes darzustellen, sondern vielmehr darin,

Page 55: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

53

rub

ina

saig

ol D

ie R

olle

von

Kla

sse

und

Polit

ik b

ei d

er R

adik

alis

ieru

ng v

on S

taat

und

Ges

ells

chaf

t in

Pak

ista

n

eine islamische Gesellschaft aufzubauen. Er definierte sich selbst als einen Staat, der sich einmischte und sich das Recht herausnahm, in die Details des täglichen Lebens einzugreifen. Wie um den islamischen Charakter des Staates noch zu untermauern, wurde in der Verfassung erklärt, dass man die Bande der Einheit zwischen den muslimischen Ländern stärken werde.

Zur Zeit Ayub Khans war die Religion also zur bewährten Methode der Herrschenden geworden, Macht und Kontrolle zu wahren und auszuüben. Ayub Khan nutzte die Religion ganz unverfroren, wenn sie seinem Machterhalt dienen konnte. Bei den Wahlen 1965 sicherte er sich die Unterstützung der Ulema, die die Ansicht vertraten, dass der Islam keine Frau als Staatsoberhaupt dulde. Die orthodoxen religiösen Parteien, darunter auch die von Maulana Maududi geführte Jamaat-e-Islami, die wiederholt erklärt hatten, dass eine Frau in einem islamischen Land nicht das höchste Amt innehaben könne, änderten ihre Haltung und unterstützten die Kandidatur von Fatima Jinnah. Was exemplarisch das von Grund auf opportunistische Wesen sowohl der religiösen als auch der säkularen herrschenden Gruppen Pakistans belegt. Sie legten die Dinge immer so aus, wie es ihrem Machtstreben dienlich war. Ayub Khan gewann die Wahl, doch sein «Jahrzehnt der Entwicklung» entpuppte sich in vielfacher, sowohl politischer wie auch ökonomischer und sozialer Hinsicht als eine zehnjährige Katastrophe für Pakistan. 1969 sah sich Ayub Khan zum Rücktritt gezwungen und übergab die Macht an Yahya Khan, einen weiteren Militärdiktator. Nach Pakistans Nieder-lage im Krieg im Dezember 1971 trat Yahya Khan zurück; das Präsidentenamt übernahm nun Zulfiqar Ali Bhutto, dessen Pakistanische Volkspartei (PPP) 1970 die Wahl in Westpakistan gewonnen hatte. Schon 1966 hatte Z. A. Bhutto in einer Ansprache verkündet: «Der Islam ist unser Glaube, die Demokratie ist unsere Regierungsform, der Sozialismus ist unsere Wirtschaftsform. Alle Macht dem Volk.» Z. A. Bhutto verwob Islam und Sozialismus notdürftig und nannte das Ergebnis «islamischen Sozialismus». Auf diese Weise wollte er sein Programm legitimieren, das eine Umverteilung von Geld und Macht vorsah und neue Elite-strukturen zu schaffen drohte. Er setzte sowohl die Religion als auch den Sozia-lismus ein, um seine Macht zu festigen, die ihm wiederum dazu diente, seine feudale Basis zu stärken.

Die Verfassung von 1973, die während der ersten Regierungszeit der Pakis-tanischen Volkspartei formuliert und verabschiedet wurde, erhielt die Aussage aufrecht, dass die Herrschaft über die ganze Welt allein bei Allah dem Allmäch-tigen liegt. In den einleitenden Artikeln wurde desweiteren erklärt, dass der «Islam die Staatsreligion Pakistans» sei (Artikel 2), womit die inhärente Ungleich-heit muslimischer und nicht-muslimischer Staatsbürger zum Prinzip erhoben wurde. Die Verfassung versprach die Errichtung einer Ordnung, in der «die Grundsätze von Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Toleranz und sozialer Gerech-tigkeit gemäß ihrer Definition durch den Islam befolgt werden.» Die liberalen Prinzipien der Demokratie, Freiheit und Gleichheit wurden dem Islam unterge-ordnet, wodurch automatisch die Gleichheit der Nicht-Muslime verneint und ihre Freiheiten beschnitten wurden. Wie zuvor wurde erneut das Ziel formuliert,

Page 56: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

54

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

«Muslime einzeln und in ihrer Gesamtheit zu befähigen, ein Leben in Überein-stimmung mit den Grundprinzipien des Islam zu führen», sowie «einen demokra-tischen Staat auf Grundlage der islamischen Prinzipien sozialer Gerechtigkeit» zu schaffen. Die Regel, dass nur ein Muslim Präsident oder Premierminister werden konnte, wurde ebenfalls beibehalten. Obwohl er persönlich eine säkulare und liberale Haltung pflegte, benutzte Ayub Khan den Islam als politisches Werkzeug und unterminierte so den säkularen sozialistischen Staat, für den er eigentlich eintrat.

Die Verfassung von 1973 bekräftigte eine Reihe der islamischen Vorschriften aus den vorherigen Verfassungen. Der Name «Islamische Republik Pakistan» wurde beibehalten, und der Islam wurde zur Staatsreligion erklärt. Indem der Staat eine Religion zur offiziellen Religion machte, kam den Anhängern anderer Glaubensrichtungen unweigerlich ein geringerer Status zu. Das Prinzip des Islam als Staatsreligion wurde durch die in der Verfassung verankerte Zielsetzung bekräftigt, alle bestehenden Gesetze mit der Lehre des Islam gemäß Koran und Sunna in Übereinstimmung zu bringen und keine Gesetze zu erlassen, die mit dieser Lehre unvereinbar waren. Erneut wurde in der Verfassung die Notwen-digkeit eines Beratungsgremiums für islamische Weltanschauung benannt, das der Nationalversammlung und den Provinzparlamenten Empfehlungen hinsichtlich der Frage unterbreiten sollte, wie man die pakistanischen Muslime befähigen und ermuntern könne, ihr Leben nach den Grundsätzen des Islam auszurichten. Desweiteren wurde festgesetzt: «Der Präsident oder Gouverneur einer Provinz kann sich, eine Kammer der Nationalversammlung beziehungs-weise ein Provinzparlament muss sich, sofern zwei Fünftel seiner Mitglieder es verlangen, bezüglich der Frage, ob ein Gesetzesvorschlag mit der Lehre des Islam übereinstimmt, um Rat an den Islamic Council wenden.»

Die Verfassung von 1973 bekräftigte nicht nur die in den vorangegangenen Verfassungen proklamierte Haltung zum Islam, sondern verlieh dem Staat zudem die Macht, darüber zu entscheiden, wer ein Muslim ist und wer nicht. Zum ersten Mal enthielt die pakistanische Verfassung eine Definition «des Muslim»: «Ein ‹Muslim› ist jemand, der an die Einheit und Einzigartigkeit Allahs und an die absolute Endgültigkeit des Prophetentums des islamischen Propheten Muhammad glaubt und der niemanden, der nach Muhammad (SAWS) behauptet hat oder behauptet, ein Prophet zu sein, in welchem Sinne des Wortes auch immer, als Propheten oder religiösen Reformer anerkennt beziehungsweise an ihn glaubt.»10 Indem sich der Staat das Recht anmaßte, zu definieren, was ein Muslim ist, wurde denjenigen Menschen, die unterschiedlichen, mitein-ander im Konflikt stehenden oder rivalisierenden Formen und Sekten des Islam angehörten, dieses Recht genommen.

Durch diese monolithische und homogenisierte Definition des «Muslim» sollte offenbar die staatliche Kontrolle über Bedeutung und Interpretation bekräf-

10 «PBUH» steht für «Peace Be Upon Him», «Friede sei mit ihm». «SAWS» steht für die arabi-sche Fassung: «sallallahu alayhi wa salaam». (Anm. der Red.)

Page 57: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

55

rub

ina

saig

ol D

ie R

olle

von

Kla

sse

und

Polit

ik b

ei d

er R

adik

alis

ieru

ng v

on S

taat

und

Ges

ells

chaf

t in

Pak

ista

n

tigt und der Bevölkerung eine alleingültige Sichtweise aufgezwungen werden. Am deutlichsten – und mit katastrophalen Folgen – zeigten sich die Auswir-kungen einer solchen staatlichen Definition, als im zweiten Zusatzartikel zur Verfassung im September 1974 zum ersten Mal die Ahmadiyya Muslim Jamaat (Qadiani) sowie die Lahore-Ahmadiyya-Bewegung für die Verbreitung des Islam (Lahori) zu nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften und ihr Führer Mirza Ghulam Ahmad zum Betrüger erklärt wurden. Die Anti-Quadiani-Aufstände der 1950er Jahre trugen jetzt ihre vergifteten Früchte, und Maulana Maududis Traum, bestimmte Sekten aus dem Islam auszuschließen, wurde während der Amtszeit des demokratisch regierenden Z. A. Bhutto schließlich wahr.

Die tiefe Durchdringung der Gesellschaft mit religiösem Gedankengut setzte sich fort, und in der Verfassung wurde festgeschrieben, dass man Maßnahmen ergreifen werde, um den Unterricht in Koran und Islamiyat obligatorisch zu machen. Dahinter stand die Absicht, das Erlernen der arabischen Sprache zu unterstützen und zu erleichtern sowie sicherzustellen, dass der Koran korrekt gedruckt und veröffentlicht wurde. Es war nicht mehr genug, den Islam zu fördern, sondern nun sollte auch das Erlernen der arabischen Sprache erleichtert werden, was die sich intensivierenden Beziehungen Pakistans zu Saudi-Arabien und den Golfstaaten unterstrich; auch das Ziel einer Stärkung der Bindungen zu anderen islamischen Staaten wurde erneut bekräftigt. In die sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen wurde ebenfalls massiv eingegriffen, denn in der Verfassung wurde die korrekte Organisation von Zakat, Waqf und Moscheen garantiert, außerdem wurden Prostitution, Glücksspiel und Alkoholkonsum sowie Druck, Veröffentlichung und Verbreitung obszöner Literatur und Reklame verboten. Mit der staatlichen Definition, was als obszön anzusehen ist, erreichte die moralische Kontrolle durch den Staat ihren Höhepunkt. Dieser massive Vorstoß ins Privatleben der Bürger bereitete der aggressiven «Islamisierungs»-Agenda von General Zia den Weg, der nach dem Putsch gegen Z.A. Bhutto die Macht übernahm.

1977 wurde Z.A. Bhutto wegen Wahlmanipulation angeklagt, und die Pakistan National Alliance (PNA), eine gegen Bhutto gerichtete Bewegung, machte sich den Zorn verschiedener Teile der Bevölkerung und rivalisierender Parteien zunutze. Obwohl die PNA auch säkulare und liberale Politiker umfasste, nahm die Bewegung schnell religiöse Züge an. Mit ihrer Behauptung, der Koran sei ihr Manifest, gelang es ihr, in ganz Pakistan eine beträchtliche Zahl von Anhängern zu gewinnen. So wurde die Religion, die Bhutto benutzt hatte, um die Bevölke-rung für seine Agenda zu gewinnen, jetzt zum Werkzeug in den Händen seiner Widersacher. Die PNA, ein Bündnis aus neun Parteien, nutzte die Moscheen, um die Massen aufzuputschen, und versuchte dabei den Eindruck zu erwecken, sie engagiere sich nur für die Umsetzung des Nizam-i-Mustafa, des von General Zia propagierten Islamischen Systems. Die Führer der Bewegung kritisierten den sozialistischen Ansatz Bhuttos und behaupteten, er habe das Vertrauen in den Islam verloren. Die Ulema machten Stimmung für einen Dschihad zur Rettung des Islam, der angeblich durch ein böses Regime gefährdet sei. Die Pakistan

Page 58: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

56

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

National Alliance versprach, in Form des Nizam-i-Mustafa den Islam und die Scharia konkret umzusetzen.

Die neun Sterne auf der Flagge der Pakistan National Alliance repräsen-tierten ein widersprüchliches und vielfältiges Parteienkonglomerat mit so unter-schiedlichen Agenden wie der von Khan Abdul Wali Khans nationaler Awami-Partei, die sich Säkularismus und Sozialismus auf die Fahnen geschrieben hatte, Asghar Khans Partei Tehrik-e-Istiqlal, die den Säkularimus predigte, Maududis islamistische Hardliner-Partei Jamaat-e-Islami und Mufti Mahmuds Jamiat-Ulema-e-Islam, die eine Deobandi-Version von Islam und Scharia vertrat.11 Was sie vereinte, war allein ihr Widerstand gegen Z. A. Bhuttos autokratischen Regie-rungsstil. Doch ihre Instrumentalisierung des Islam zur Erringung der Macht führte zu der längsten und schlimmsten Militärdiktatur Pakistans, die sich mittels einer strengen und fundamentalistischen Version des Islam legitimierte.

Bhuttos verspäteter Versuch, die Islamisten durch kosmetische und symboli-sche Maßnahmen versöhnlich zu stimmen – so erklärte er etwa den Freitag zum wöchentlichen Feiertag und verbot Alkohol und Spielhöllen –, reichte in den Augen seiner Gegner nicht aus und kam außerdem zu spät. Obwohl es Anzeichen einer Annäherung zwischen Z. A. Bhutto und der Opposition gab, ergriff General Zia am 5. Juli 1977 die Gelegenheit, die gewählte Zivilregierung per Staatsstreich zu entmachten und eine Militärherrschaft zu etablieren. Es folgte eine Zeit, in der die Religion, die schon alle vorherigen Machthaber für ihre Zwecke einge-setzt hatten, zum vorrangigen ideologischen Instrument wurde, das die durch Überweisungen aus den Golfstaaten und Saudiarabien reich gewordenen neuen Klassen benutzten, um ihre Hegemonie zu sichern.

General Zia ul-Haq etablierte 1980 das Parlament, dessen 284 Mitglieder, darunter viele Ulema, er als Präsident alle selbst berufen hatte. General Zia bediente sich des Islams als der mächtigsten und hegemonialen Ideologie, um seine widerrechtliche Machtübernahme zu rechtfertigen. Er veranlasste tiefgrei-fende Veränderungen in fast allen Lebensbereichen, vom ganz Privaten bis hin zum öffentlichen Leben. Weder vorher noch hinterher in der Geschichte Pakis-tans war der Staat so totalitär und strafend wie in dieser Phase. Jeder Lebensbe-reich, vom Politischen zum Sozialen, Ökonomischen und Kulturellen unterlag der Überwachung und Kontrolle durch die Regierung, und die Menschen wurden gezwungen, ihr Leben nach der vom Staat vorgegebenen Religionsinterpretation zu gestalten.

General Zia ul-Haqs Definition des Islam beruhte zu einem großen Teil auf den Lehren der islamischen Hochschule Dar ul-Ulum Deoband und entsprach somit der religiösen Einstellung der Jamaat-e-Islami. Ursprünglich hatte die Objectives Resolution die Präambel der pakistanischen Verfassung gebildet. Unter General Zia ul-Haq wurde sie 1985 in Form des Artikels 2A in die Verfas-

11 Die neun großen Parteien der PNA waren Jamiat Ulema-e-Islam, die pakistanische Muslimliga, Jamaat-e-Islami, Jamiat Ulema-e-Pakistan, Pakistan Democratic Party, National Democratic Party (vormals Nationale Awami-Partei [Wali]), Tehrik-e-Istiqlal, Khasksar Therik, Azad Kashmir Muslim Conference.

Page 59: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

57

rub

ina

saig

ol D

ie R

olle

von

Kla

sse

und

Polit

ik b

ei d

er R

adik

alis

ieru

ng v

on S

taat

und

Ges

ells

chaf

t in

Pak

ista

n

sung integriert. Das Modell für das laufende «Islamisierungsprojekt» war Maulana Maududis Staatstheorie, und die Jamaat-e-Islami war zu dieser Zeit die einzige Partei, die frei agieren konnte. Die pakistanische Wirtschaft klammerte General Zia zehn Jahre lang aus dem Prozess der Islamisierung aus, denn Pakis-tans finanzielle Interessen waren an das globale Wirtschaftssystem gebunden, das auf Zinszahlungen beruht. In der inländischen Wirtschaft wurden kosmeti-sche Veränderungen veranlasst. Justiz, Bildungswesen und die Medien hingegen wurden weitreichenden Veränderungen unterworfen (Jehangir & Jilani 1990; Saigol 1993, 1994 und 1995; Malik & Hussain 1996).

Es ist sinnvoll, sich an dieser Stelle etwas näher mit Maududis Auslassungen zu den Rechten und der Stellung der Frau im Islam zu befassen. Maududi ließ keinerlei modernes, westliches oder liberales Gedankengut zu, sondern berief sich ausschließlich auf Islam und Sunna. Und zwar so konsequent, dass er sogar die obligatorische Registrierung von Eheschließungen ablehnte (Ahmad 1976). Er hielt das von der Scharia vorgegebene Prinzip des Ehevertrags für ausreichend und wandte sich mit dem Argument gegen die Ernennung von Standesbeamten, dass der Islam Berufsgeistliche nicht billige. Die Nichtregistrierung von Eheschlie-ßungen war ein großes Problem für muslimische Frauen, da die Männer einfach durch das dreifache Aussprechen der Scheidungsformel («talaq») die Scheidung vollziehen, diese aber nach Belieben auch wieder rückgängig machen konnten, so dass die Frauen ihnen schlicht ausgeliefert waren. Die Registrierung hingegen gibt den Frauen einen Beweis für die Eheschließung an die Hand, so dass sie, ob verheiratet oder geschieden, ihre Rechte einfordern können.

Maulana Maududi legte seine Ansichten zur gesellschaftlichen und rechtli-chen Stellung der Frau in seinem 1963 erschienenen Buch Purdah dar (Maududi 1963). In diesem Buch führte er den Untergang der großen Kulturen auf die Frau zurück, die er als Stellvertreterin Satans bezeichnete. Ein islamischer Staat, so seine Beteuerung, werde die muslimische Kultur erhalten, indem er die Frau vor den Extremen eines Daseins als Dienstmagd oder ausgehaltene Geliebte bewahre (Ahmad 1976; Haque 1987). Maududi erklärte sehr entschieden, wenn ein islami-scher Staat im eigentlichen Sinne errichtet werden solle, müsse die gesellschaft-liche Stellung der Frau exakt der Vorgabe der Scharia entsprechen, denn wenn die Frauen nicht die ihnen vorbestimmte Rolle spielten, werde die muslimische Zivilisation zusammenbrechen. Maududis Sicht der Geschlechterrollen gründete auf der Theorie der getrennten Sphären, derzufolge der Mann seinen Platz in der öffentlichen, mit der Produktion verbundenen Sphäre habe, die Frau den ihren dagegen in der privaten Sphäre der Reproduktion (Haque 1987). Er betrachtete das Verhältnis zwischen den Geschlechtern als komplementär und auf gegensei-tiger Abhängigkeit beruhend. Den freien Umgang der Geschlechter miteinander missbilligte er aufgrund des Chaos, das daraus erwachsen könne, zutiefst.

Maulana Maududi vertrat die Ansicht, die Zuerkennung bestimmter Bürger-rechte an Frauen sei unangebracht und schade dem Wohl des Landes, denn es handele sich dabei um eine «Imitation des Westens». Er fand, dass Frauen nicht das Recht haben sollten, ins Parlament gewählt zu werden, weil das gegen

Page 60: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

58

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

den Geist des Islam verstoße. Maududi erklärte, die aktive Arbeit in Politik und Verwaltung sei nichts für Frauen und solle den Männern vorbehalten bleiben. Allerdings empfahl er die Bildung eines eigenen Frauenparlaments, das sich vor allem um Belange des weiblichen Geschlechts wie etwa Frauenbildung oder frauenspezifische Gesundheitsfragen kümmern solle. Hinsichtlich wichtiger Themen, die auch die Frauen beträfen, würde das Männerparlament dieses Frauenparlament zu Rate ziehen (Ahmad 1976). Maulana Maududi propagierte also die komplette Trennung der Geschlechter und verwies Frauenfragen an ein eigenes Frauenparlament, so als seien das keine Belange von allgemeiner, natio-naler Bedeutung. Frauen hatten Maududi zufolge einen anderen Bürgerstatus als Männer. In den von General Zia eingeleiteten sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Maßnahmen spiegelten sich Maulana Maududis Thesen wider.

In einer Rede an die Nation im Dezember 1978, mit der er dem von ihm ersonnenen Islamischen System Geltung verschaffen wollte, beschuldigte Zia ironischerweise die Politiker, den Namen des Islam für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen: «Viele Herscher haben im Namen des Islam getan, was sie wollten.» Kaum war seine Regierung an der Macht, implementierte sie ein Programm der öffentlichen Selbstverpflichtung zur Umsetzung des Nizam-e-Mustafa, was eine Abkehr von dem bis dahin geltenden, von den Briten hinterlassenen angelsäch-sisch geprägten Rechtssystem bedeutete. Als einleitende Maßnahme zur Schaf-fung einer islamischen Gesellschaft verkündete General Zia die Einführung von Scharia-Gerichten. Ein paralleles Rechtssystem, bestehend aus dem Federal Shariat Court und der Shariat Bench des Obersten Gerichtshofes sowie anderen islamischen Gerichten, wurde etabliert. Weitere Maßnahmen zur Islamisierung von Rechtsordnung und Gerichtswesen umfassten die Hudood-Verordnungen von 1979, die Qisas(Vergeltungs)- und Diyya(Blutgeld)-Verordnungen (die 1990 zum Gesetz wurden) und das Beweisrecht von 1984. Letztere Gesetze wirkten sich massiv auf den Schutz, die Sicherheit und die gesellschaftliche Stellung von Frauen und Minderheiten aus, deren Bürgerrechte dadurch stark eingeschränkt wurden (Jahangir & Jilan 1990). General Zias Islamisierungskampagne, die mit öffentlichen Auspeitschungen, der Prügelstrafe und anderen schweren Strafen für die Armen und Schwachen, Frauen und Minderheiten einherging, erzeugte ein Klima der Angst.

Schon mit dem zweiten Zusatzartikel zur Verfassung 1974 waren bestimmte Sekten des Islam ausgegrenzt worden. Unter Zia erreichten die Angriffe gegen religiös Andersdenkende ihren Höhepunkt. Das Pakistanische Strafgesetzbuch (Pakistan Penal Code, PPC) und die Strafprozessordnung (Criminal Procedure Code, CrPC) wurden 1980, 1982 und 1986 um Verordnungen ergänzt, die jegliche Respektlosigkeit gegenüber dem Propheten Muhammad (SAWS), den Ahl al-Bayt (Familienmitgliedern Mohammads), Sahaba (Gefährten Muhammads) oder Sha’ar-i-Islam (Symbolen des Islam) als gerichtlich verfolgbare Vergehen mit einer Gefängnisstrafe, Geldstrafe oder beidem belegten. Eine maßgebliche Ergänzung dieser Gesetze war die Verordnung XX aus dem Jahr 1984, die es den Ahmadiyyah untersagte, sich als Muslime zu bezeichnen, die islamische Termi-

Page 61: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

59

rub

ina

saig

ol D

ie R

olle

von

Kla

sse

und

Polit

ik b

ei d

er R

adik

alis

ieru

ng v

on S

taat

und

Ges

ells

chaf

t in

Pak

ista

n

nologie zu verwenden oder islamische Rituale zu vollziehen. Während andere religiöse Minderheiten ihren Glauben mit gewissen Einschränkungen ausüben konnten, durften die Ahmadiyya weder das Hochzeitsritual noch andere Rituale ihrem Glauben entsprechend ausüben.12 Tausende Mitglieder der verfolgten Ahmadiyya-Gemeinschaft flohen aus Pakistan, um Schikanen oder gar der Bedrohung ihres Lebens zu entgehen. Während Zias Herrschaft wurden viele schiitische Muslime und Politiker ermordet; der bekannteste Fall ist sicher der Justizmord an Premierminister Zulfikar Ali Bhutto.

1986 wurde vom Majlis-e-Shoora das Strafrecht (Anpassungsgesetz III) verabschiedet, das den Paragraphen 295-C zum bestehenden Blasphemiege-setz hinzufügte: Wer durch gesprochene oder geschriebene Worte oder bildliche Darstellung, durch Unterstellungen, Zweideutigkeiten oder Anspielungen, direkt oder indirekt, den heiligen Namen des Heiligen Propheten Muammad (Friede sei mit ihm) besudelt, wird mit dem Tod oder lebenslanger Haft und einer Geldbuße bestraft.» Um 1991 wurde beim Federal Shariat Court eine Petition eingereicht, in der beantragt wurde, Paragraph 295-C möge nur noch die Todesstrafe, nicht aber lebenslange Haft vorsehen. Der Petition wurde stattgegeben, und diese Entscheidung wurde später vom Scharia-Berufungsgericht des Obersten Gerichtshofs bestätigt. Das Blasphemiegesetz, das die Todesstrafe vorsieht, wurde gegen Muslime eingesetzt, um persönliche Rechnungen zu begleichen, doch vor allem und auf besonders perfide Weise wurde es gegen Nicht-Mus-lime gerichtet, insbesondere Ahmadis und Christen, oft im Zusammenhang mit Streitigkeiten um Besitz und Geld. Die Religion wurde nun auch als Waffe gegen persönliche Feinde gebraucht. Der totale Staat konnte seine Bürger allein aufgrund von sprachlichen Äußerungen umbringen.

Die staatliche Regulierung noch der persönlichsten Aspekte des gesellschaft-lichen Lebens beschränkte sich nicht auf die Kleidung der Frauen, ihr Recht, Sport zu treiben, sich frei zu bewegen und zu arbeiten, sondern es erstreckte sich auch auf die Definition von Tugend und Laster. Der Alkoholkonsum war per se gemäß der Pakistanischen Strafordnung nicht strafbar, doch 1977 wurde es den pakistanischen Muslimen gesetzlich verboten, Wein zu verkaufen und zu

12 General Zia ul-Haq verkündete die Verordnung XX am 26. April 1984. Sie verbot es den Mitgliedern der Ahmadiyya-Gemeinschaft, ihre religiösen Zeremonien zu vollziehen und Gebete zu verrichten. Er erklärte: «Diese Verordnung kann als ‹(Verbots- und Straf-)Verordnung 1984 zu den anti-islamischen Aktivitäten der Quadiani-Gruppe, der Lahori-Gruppe und den Ahmadis› bezeichnet werden.» In Artikel 298-C dieses Gesetzes steht: «Jegliches Mitglied der Quadiani-Gruppe oder der Lahori-Gruppe (die sich ‹Ahmadis› oder auch anders nennen), das sich direkt oder indirekt als Muslim ausgibt, seinen Glauben als islamisch bezeichnet, seinen Glauben predigt oder verbreitet, durch gesprochene oder geschriebene Worte beziehungsweise bildliche Darstellungen oder in irgendeiner anderen, die religiösen Gefühle von Muslimen verletzenden Weise andere dazu ermuntert, seinen Glauben anzunehmen, wird mit einer Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren sowie einer Geldbuße bestraft.» Tausende von Verfahren gegen Ahmadis wurden angestrengt. In einem Fall wurde auf Betreiben eines Geistlichen aus dem Nachbarort sogar die gesamte, 35.000 Menschen umfassende Bevölkerung eines Ahmadyyia-Ortes angeklagt.

Page 62: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

60

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

konsumieren; bei Verstoß drohte sechsmonatige Haft, eine Geldstrafe in der Höhe von 5000 Rupien oder auch beides. Gemäß der Zina(Unzucht)-Verord-nung (Bestandteil der Hudood-Verordnungen) wurden die Bestimmungen zum Thema Unzucht dergestalt verändert, dass Frau und Mann, wenn sie für schuldig befunden wurden und unverheiratet waren, mit jeweils hundert Peitschenhieben bestraft wurden. Wenn sie verheiratet waren, sollten sie zu Tode gesteinigt werden. Es war den Menschen nicht mehr möglich, ihr ganz eigenes, individu-elles Wertesystem zu entwickeln. Die Moral und ihre Überwachung, Regulierung und Durchsetzung wurden zur öffentlichen Angelegenheit. Während der Staat mittels der Quisas- und Diyyat-Verordnungen den Mord zum privaten Verbre-chen erklärte, so dass die Verwandten des Opfers Entschädigung oder Vergeltung fordern konnten, wurden Unzucht und Ehebruch, also Privatangelegenheiten, als Verbrechen gegen den Staat und öffentliche Angelegenheit definiert.

Neben der Regulierung des gesellschaftlichen Lebens wurden auch die Wirtschaftsbeziehungen der strikten Kontrolle durch den Staat unterworfen. Alle Inhaber von Sparkonten mussten einen Mindestbetrag an Zakat entrichten, außerdem wurde die Ushr-Steuer eingeführt. Im Islam gelten Mildtätigkeit und das Geben von Almosen als Privatsache. Doch der Staat negierte diese Entschei-dungsfreiheit und erzwang die Anpassung jeglicher wirtschaftlicher Aktivität an die offizielle Religion. Da die pakistanische Wirtschaft bei ausländischen Gebern stark verschuldet war und Zia enge Verbindungen zu westlichen Mächten hatte, auf deren Großzügigkeit er angewiesen war, wurden die internationalen Wirtschaftsbeziehungen von den islamischen Vorschriften ausgenommen. Was belegt, dass Zia die Religion ganz opportunistisch für seine Zwecke nutzte, denn wenn es seinem materiellen Vorteil diente, spielten die Vorschriften des Islam plötzlich keine Rolle mehr.

In seinem unverfrorenen Gebrauch der Religion zur Selbstlegitimierung übertraf Zia all seine Vorgänger. Im Dezember 1984 führte er eine Volksabstim-mung durch, in der man nur entscheiden konnte, ob man ihn als künftigen Präsi-denten wählen oder ablehnen würde. Die Frage war gezielt so formuliert, dass nur wenige Muslime den Mut aufbringen würden, sie negativ zu beantworten: Es wurde gefragt, ob die Bevölkerung Pakistans wolle, dass das islamische Scharia-Recht eingeführt werde. Eine bejahende Antwort wurde als Entscheidung für Zia gewertet. Wie nicht anders zu erwarten, waren über 95 Prozent der Stimmen Ja-Stimmen. Zia nutzte die Volksabstimmung, um sich für weitere fünf Jahre wählen zu lassen. Obwohl nur zehn Prozent der registrierten Wähler an dieser nur als Farce zu bezeichnenden Volksabstimmung teilnahmen, betrachtete General Zia das Ergebnis als Bestätigung seiner Politik. Während Zias Herrschaft war die Verschmelzung von Staat und Religion sowie von politischem Islam und den herrschenden Klassen perfekt.

Als hochgradig destruktive und langfristige Folgen der unter General Zia betriebenen Instrumentalisierung der Religion für politische Zwecke müssen Pakistans Beteiligung als Frontstaat im afghanischen Dschihad sowie die Entste-hung der Mudjaheddin-Bewegung zur Vertreibung der Sowjetunion aus Afgha-

Page 63: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

61

rub

ina

saig

ol D

ie R

olle

von

Kla

sse

und

Polit

ik b

ei d

er R

adik

alis

ieru

ng v

on S

taat

und

Ges

ells

chaf

t in

Pak

ista

n

nistan betrachtet werden. Der Islam war nun nicht mehr bloß ein Machtinst-rument für die örtliche herrschende Klasse, sondern er wurde zum Werkzeug im globalen imperialistischen Kampf um Öl- und Gasvorkommen in West- und Zentralasien. Der Islam wurde zum Verbündeten des westlichen Kapitalismus. Der Versuch der Sowjetunion, sich über Afghanistan und Pakistan Zugang zu einem Warmwasserhafen zu verschaffen, wurde von den USA blockiert, indem der Islam, dem man enorme Wirkungsmacht bei den Muslimen beider Länder zuschrieb, beschworen wurde.

Die verheerendste Folge von General Zias Terrorregime, das von der ameri-kanischen Regierung unter Reagan finanziert wurde, war die starke Zunahme fundamentalistischer und konfessionell-sektiererischer Parteien, deren Anhänger mit der Zeit immer dreister und kampflustiger wurden. Die Defini-tion des islamischen Staates bleibt umstritten, und verschiedene Sekten wettei-ferten um die Anerkennung ihrer Interpretation des Islam als der einzig wahren. Dies führte zu massiven, oft gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Sekten. In den Jahrzehnten nach der von Zia betriebenen Islamisierung nahm die Sektengewalt exponentiell zu, und Hunderte von Menschen wurden verletzt oder getötet (Rashid 1997). Die von der Deobandi-Partei Jamaat-e-Islami vertre-tene fundamentalistische Glaubensrichtung Wahhabiya dominierte, doch noch mehrere andere Spielarten des Islam konkurrierten um eine dominante Position auf staatlicher Ebene. Religiöse Parteien, die in Pakistan bis dahin bei keiner Wahl einen nennenswerten Anteil der Stimmen gewonnen hatten, wurden der Bevölkerung durch die staatliche Politik aufgezwungen.

Verkompliziert wurde die Lage durch die sowjetische Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 und den folgenden, durch Saudi-Arabien und die USA finanzierten afghanischen Dschihad, in dem Pakistan als Frontstaat fungierte. Die astrono-mischen Geldbeträge, die zur Bekämpfung des Kommunismus im benachbarten Afghanistan nach Pakistan flossen, ermöglichten die Bildung einer Vielzahl von militanten Dschihad-Gruppen in den an Afghanistan angrenzenden nördlichen und westlichen Regionen Pakistans. In seinem sehr gründlich recherchierten Buch Jihad-e-Kashmir o Afghanistan präsentiert der Journalist Muhammad Amir Rana aufschlussreiche Fakten. Nach der sowjetischen Invasion Afghanistans im Jahr 1979 legte die amerikanische Regierung unter Jimmy Carter einen geheimen Fonds in Höhe von 500 Millionen Dollar an, um die Bildung von Terrorgruppen zu finanzieren, die gegen die Sowjets kämpfen sollten. Die Existenz dieses «Opera-tion Cyclone» genannten Fonds wurde nicht nur vor der Öffentlichkeit, sondern auch vor dem Kongress geheim gehalten. In den folgenden Jahren zahlten Saudi-Arabien und die amerikanische Regierung unter Reagan insgesamt 3,5 Milliarden Dollar an General Zias Regime, damit Madrassen für den afghanischen Dschihad gegründet wurden. Die CIA bildete Kämpfer an der Brooklyn School in New York und in Virginia aus. In Pakistan wurden vom britischen Geheimdienst sowie dem pakistanischen Nachrichtendienst ISI, der wiederum mit der CIA zusammen-arbeitete, Kämpfer ausgebildet. Diese Mudjaheddin sollten gegen die Sowjets vorgehen.

Page 64: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

62

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Der größte Zuwachs an religiösen Parteien war zwischen 1979 und 1990 zu verzeichnen, und er ist zu einem großen Teil auf eine rasante Zunahme an konfessionell-sektiererischen Gruppen zurückzuführen. Während die Zahl mit dem Dschihad verbundener Organisationen um 100 Prozent stieg, betrug der Zuwachs an konfessionell-sektiererischen Parteien 90 Prozent. Zugleich entstanden in diesem Zeitraum überall in Pakistan neue religiöse Schulen. Vor 1980 hatte es im Land insgesamt 800 religiöse Schulen gegeben, und diese Zahl hatte um drei Prozent pro Jahr zugenommen. Ende 1986 war die Zuwachsrate der «deeni madaris» auf beeindruckende 136 Prozent gestiegen. Im Jahr 2002 gab es in Pakistan 7.000 Institutionen, die einen höheren Abschluss in Religionslehre anboten (Rana 2002). Derzeit schätzt man, dass in Pakistan zwischen 18.000 und 22.000 Madrassen betrieben werden, in denen über 1,5 Millionen Kinder Unter-richt erhalten.

Zu der Vielzahl militanter und konfessionell-sektiererischer Gruppen gehören unter anderem Jaish-e-Muhammad, Harkat-ul-Mujahideen, Lashkar-e-Islam, Lashkar-e-Tayyaba, Hizb-ul-Mujahideen, Harkat-ul-Jehad-ul-Islami, Al-Badr Mujahideen, Tehreek-e-Nifaz-e-Shariat-e-Muhammadi, Sipah-e-Sa-haba-e-Pakistan (Rashid 1997; Rana 2002). Extremistische und gewalttätige islamistische Gruppen, die bis dahin in Pakistan nicht sehr verbreitet gewesen und auf wenig Widerhall gestoßen waren, begannen sich in beängstigendem Tempo zu vermehren. Religiös-politische Parteien wie die Jamiat–ul-Ulema-e-Islam, die vom Fundamentalismus der Wahhabiten und Deobandis geprägt waren, schulten die Taliban ideologisch. Auch Jahre nach der Niederlage der Sowjetunion in Afghanistan und dem Fall der Berliner Mauer haben die Militanz und der Extremismus, die durch die globalen Mächte in der Nordwest-lichen Grenzprovinz Pakistans (North West Frontier Province, NWFP) und den dortigen Stammesgebieten entfesselt wurden, nicht nachgelassen, sondern sind noch stärker geworden. Viele afghanische Mudjaheddin formierten sich später, Anfang der 1990er Jahre, zu einer anderen Art von Dschihad-Gruppen wie eben den Taliban und Al-Qaida. Der Islam ist mittlerweile stark in das globale imperi-alistische Projekt eingebunden, und im Laufe dieser Entwicklung nahmen auch die islamistischen Bewegungen transnationalen Charakter an und verloren ihre territoriale Bindung.

General Zia unterstützte nicht nur die Taliban und Al-Qaida, sondern er war auch der Gönner von Sheikh Abdullah von der Roten Moschee in Islamabad, der 1977 die Beziehungen zu ihm zu festigen suchte. Diese Verbindungen blieben bis zu General Zia ul-Haqs Tod im Jahr 1988 bestehen. Sheikh Abdullah machte sich die engen Beziehungen zu Zia zunutze und bekam während dessen gesamter Regierungszeit das Amt des Vorsitzenden des Central Comittee for Verifying the Start of Hegira Month übertragen (etwa: Zentralkomitee zur Festlegung des Monatsbeginns nach der Mondhidschra13). Letztlich führte diese Verbin-dung dann – lange nach Zias Tod – zu dem Fiasko um die Rote Moschee und

13 Mondkalender, dem Muslime auf der ganzen Welt folgen.

Page 65: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

63

rub

ina

saig

ol D

ie R

olle

von

Kla

sse

und

Polit

ik b

ei d

er R

adik

alis

ieru

ng v

on S

taat

und

Ges

ells

chaf

t in

Pak

ista

n

die Koranschule Jamia Hafsa in Islamabad, als Extremisten im Namen der Religion Menschen entführten, Verbrechen begingen und monatelang morali-sche Kontrolle ausübten, bis die Armee sie im Juli 2007 im Rahmen der Opera-tion Silence überwältigte. Dies führte zu Vergeltungsmaßnahmen seitens der Anhänger der Roten Moschee in Form einer Welle von Selbstmordattentaten im ganzen Land. Auch lange nach seinem Tod bei einem Flugzeugabsturz im August 1988 ist General Zia in Pakistan weiterhin präsent, wie Militanz, Radikalismus und Terror täglich beweisen.

Auf General Zias Tod folgte ein Jahrzehnt ziviler demokratischer Regierungen unter Benazir Bhutto bzw. Nawaz Sharif. Trotz ihrer säkularen und liberalen Haltung diente sich auch Benazir Bhutto der religiösen Lobby an, um ihre politi-sche Macht zu sichern. Als während ihrer zweiten Amtszeit (1993-1996) in Kabul die Taliban an die Macht kamen, bezeichnete ihr Innenminister Naseerullah Babar diese als «unsere Kinder». Nawaz Sharif wurde 1990 als Führer der konser-vativen Islamischen Demokratischen Allianz zum Premierminister gewählt. Im darauffolgenden Jahr wurde der Enforcement of Shariat Act verabschiedet, der die Scharia zum obersten Gesetz des Landes erhob und festschrieb, dass die Gesetze im Sinne der Scharia zu interpretieren seien.14 Dabei ging es explizit um die Islamisierung von Bildung, Wirtschaft und Massenmedien (Saigol 1993). Ebenso wurde auf die Begriffe «Obszönität» und «Vulgarität» Bezug genommen, die von jedermann zum Zwecke der persönlichen Vergeltung missbraucht werden konnten. Die weiterhin bestehenden internationalen finanziellen Verpflich-tungen und Verträge wurden aber – wie schon erwähnt – von der Islamisierung der Wirtschaft ausgenommen.

Als ehemaliger Protegé General Zias setzte Nawaz Sharif dessen Agenda gewissenhaft um. In seiner zweiten Amtszeit brachte Sharif seine berüchtigte Shariat Bill (15. Zusatzartikel zur Verfassung) ein, die ihn, wäre sie verabschiedet worden, zum Amir-ul- Muminin (Führer der Gläubigen) gemacht hätte, denn sie hätte ihm die Macht verliehen, Tugend und Laster zu definieren und diese Definition dem Land aufzuzwingen. Doch bevor die Shariat Bill verabschiedet werden konnte, wurde Nawaz Sharif durch einen Militärputsch entmachtet. Sowohl Benazir Bhutto als auch Nawaz Sharif und ihre jeweilige Partei hatten immer engen Kontakt zu den religiösen Parteien und instrumentalisierten die Religion zur Erlangung und zum Erhalt der Macht. Und indem man die Religion benutzt, um seine Macht abzusichern und zum absoluten Herrscher zu werden, stärkt man umgekehrt natürlich die Hegemonie des religiösen Diskurses und die religiösen Parteien, die diesen als ihr Ressort betrachten.

Auf zehn Jahre demokratischer Herrschaft folgte erneut eine lange Periode des Kriegsrechts, in der General Musharraf zum absoluten Herrscher wurde und alle Macht auf sich vereinte. Er riss viele der Befugnisse des Premierminis-ters an sich und wurde zum allmächtigen Präsidenten, wobei er zugleich den Posten des Generalstabschefs behielt. Obwohl er sich – offenkundig berech-

14 Enforcement of Shariat Act, 1991. Act X von 1991.

Page 66: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

64

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

nend – liberal und «aufgeklärt-moderat» gab, war Musharraf alls andere als ein liberaler und moderater Herrscher, verstieß zweimal gegen die Verfassung und beschädigte das Rechtssystem, die Hauptstütze eines liberalen Staates. Nach dem Angriff auf das World Trade Center am 11.9.2001 vollzog Musharraf osten-tativ seine berühmte Kehrtwende hinsichtlich seiner Afghanistan-Politik. Doch es herrschte der weitverbreitete – durch Belege gestützte – Verdacht, dass er doppeltes Spiel trieb und einen Teil der amerikanischen Gelder verwendete, um extremistische Gruppen zu unterstützen, die der Staat als «strategische Mittel» gegen Indien geschaffen hatte.15 Entgegen seiner Selbstdarstellung als moderner und moderater Herrscher rief er die Muttahida-Maijlis-e-Amal (MMA, Vereinigte Aktionsfront) ins Leben, ein Bündnis von sechs religiösen Parteien, und er sorgte dafür, dass sie die Wahlen im Jahr 2002 gewann. In der Folge fungierte die MMA als «freundliche Opposition» und unterstützte Musharraf, der sie dafür in der Nordwestlichen Grenzprovinz (NWFP) und Belutschistan ungehindert regieren ließ. Er nutzte alle ihm verfügbaren Mittel, um die beiden relativ moderaten und beliebten Führer Benazir Bhutto und Nawaz Sharif aus Pakistan fernzuhalten, was dazu führte, dass ihre Parteien nicht effektiv an den Wahlen teilnehmen konnten.

Im Gegenzug dafür, dass er die MMA in der Nordwestprovinz an die Macht gebracht hatte, konnte Musharraf den 17. Zusatzartikel zur Verfassung durch-setzen. Dieser entlastete ihn von seinen politischen Sünden und ermöglichte es ihm, bis Dezember 2004 Generalstabschef zu bleiben. Musharraf ignorierte diese zeitliche Vorgabe jedoch und hielt bis November 2007 an seinem militärischen Amt fest, was er wiederum dadurch erreichte, dass er die religiösen Parteien für seine Zwecke nutzte. Im Jahr 2005 verabschiedete das Parlament der Nordwest-provinz die Hasba Bill, mittels der die Scharia eingeführt und der Talibanisie-rung der Provinz der Weg geebnet wurde.16 Doch in diesem Falle schritt der Oberste Gerichtshof Pakistans ein und erklärte, die Hasba Bill verstoße gegen die in der Verfassung von 1973 garantierten Grundrechte. Die Art und Weise, wie der Militärherrscher die religiösen Parteien taktisch nutzte, um seine Herrschaft zu verlängern, und diese ihrerseits versuchten, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen, brachte Pakistan dem Radikalismus ein weiteres Stückchen näher, indem die Religion untrennbar mit der Politik verknüpft und ihre Hegemonie gestärkt wurde.

Die Tendenz, extremistischen Gruppen entgegenzukommen und ihren unrechtmäßigen Forderungen nachzugeben, bestand weiter, als im August 2008 Musharraf gehen musste, die Pakistanische Volkspartei die Regierung übernahm

15 Im September 2009 gab der General a.D. Pervez Musharraf öffentlich zu, dass er die von den USA zum Kampf gegen den Terrorismus gezahlten Hilfsgelder benutzt hatte, um die bewaffneten Kräfte gegen Indien zu stärken.

16 Das erklärte Ziel der Hasba Bill war die Konsolidierung politischer Macht, denn es hieß darin, die Realisierung des islamischen Lebensstils beruhe auf dem Prinzip Amer-Bil-Maroof und Nahi-Anil-Munkir (das Unziemliche verbieten und das Gute praktizieren). Es liegt auf der Hand, wer darüber bestimmen sollte, was unziemlich und was gut war.

Page 67: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

65

rub

ina

saig

ol D

ie R

olle

von

Kla

sse

und

Polit

ik b

ei d

er R

adik

alis

ieru

ng v

on S

taat

und

Ges

ells

chaf

t in

Pak

ista

n

und die Demokratie wiederauflebte. Die Nizam-e-Adl-Verordnung, auf die sich die von der Nationalen Awami-Partei (ANP) gestellte Regierung der Nordwestpro-vinz und Sufi Muhammads Tehreek-e-Nifaz-e-Shariat-e-Muhammadi (TNSM) einigten und die von einem dienstbaren Parlament gefügig verabschiedet und von Präsident Asif Ali Zardari im April 2009 unterzeichnet wurde, ist ein weiteres Beispiel dafür, wie eine säkulare, liberale Partei – in diesem Falle die ANP – religi-ösen Extremisten entgegegenkommt, um an der Macht zu bleiben. Die Nizam-e-Adl etablierte einen parallelen «Staat im Staate», in dem religiöse Extremisten und Militante das Sagen hatten (Saigol 2009).

PPP und ANP, die beide als demokratische, liberale und säkulare Parteien galten, stimmten nicht nur der Einführung der Scharia in der Region Malakand zu, sondern hatten auch keine Probleme damit, ein Bündnis mit der Jamiat-ul-Islam (F) von Maulana Fazl-ur-Rehman aufrechtzuerhalten, der als Vater der Taliban gilt. Andererseits weigerte sich das Regierungsbündnis, den von einem Militärdiktator unrechtmäßigerweise seines Amtes enthobenen Obersten Richter wieder einzusetzen – und strafte somit sein Bekenntnis zur liberalen parlamen-tarischen Demokratie Lügen. Der Oberste Richter wurde erst wieder einge-setzt, als Druck auf die Regierung ausgeübt wurde. Sie unterstütze also indirekt die unrechtmäßigen Handlungen eines Diktators. Dass die Regierenden nicht wirklich zur liberalen parlamentarischen Demokratie standen, zeigte sich auch in ihrem unübersehbaren Widerwillen, den 17. Zusatzartikel zur Verfassung zu annullieren, obwohl dieser auf einen Diktator zurückging, der die Verfassung bis zur Unkenntlichkeit manipuliert hatte. Das mangelnde Engagement scheinbar demokratischer, säkularer und liberaler Parteien für den Aufbau eines demokra-tischen, säkularen und liberalen Staates ist einer der Hauptgründe dafür, dass es Pakistan bislang nicht gelungen ist, sich aus dem Würgegriff des religiösen Extre-mismus zu befreien. Zwar können diese Parteien ihr Versagen zum Teil auf die Weigerung des allmächtigen Establishment zurückführen, sich der gewählten Regierung unterzuordnen, doch ist nicht anzunehmen, dass sich das Establish-ment der Wiedereinsetzung des Obersten Richters oder der Rückführung der Verfassung in ihre alte Form widersetzt hätte. Dass sich die Regierungsparteien den religiösen Parteien derart andienten, ist in erster Linie darauf zurückzu-führen, dass sie um jeden Preis ihre Macht erhalten wollten. Zudem wurde, so Mubarak Alis These, die mangelnde Grundversorgung der Bevölkerung oft durch Appelle an deren religiöse Gefühle übertüncht (Ali 2009).

Der Pakt zwischen der Provinzregierung und den Swat-Taliban entstand aus der Not, da es den Ordnungsmächten nicht gelungen war, abscheuliche Verbrechen wie Mord, Enthauptung und Plünderungen durch die Taliban zu verhindern. Der Provinzregierung blieb nichts anderes übrig, als sich auf ein Abkommen einzulassen, um so den Frieden zu sichern, was sich jedoch als vergebliche Hoffnung entpuppte. Das Nizam-e-Adl-Abkommen erwies sich bald als nutzlos, denn die Gewalt dauerte an, die Taliban weigerten sich, die Waffen niederzulegen, und Sufi Muhammad war in seiner Ablehnung von Demokratie, Verfassung, Parlament und Justiz nicht zu erschüttern. Er sprach offen von

Page 68: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

66

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

seinem Traum, seine Version des Scharia-Rechts in ganz Pakistan und darüber hinaus zu etablieren. Auch wurde recht bald deutlich, dass man das Friedensab-kommen zwar mit Sufi Muhammad von TNSM geschlossen hatte, die Kontrolle in Swat aber letztlich in den Händen des kompromisslosen Fazlullah lag, der offenbar eher Baitullah Mehsuds Tehrik-i-Taliban in Waziristan nahestand. Aus der Erkenntnis heraus, dass es katastrophale Folgen gehabt hatte, einer illegalen bewaffneten Miliz nachzugeben, und unter dem Druck nationaler und interna-tionaler Kritiker führte die Regierung im Mai 2009 die Operation Raah-e-Raast durch, um das Swat-Tal und später auch Waziristan von Terroristen zu säubern. Die Regierung brauchte nicht lang, um zu erkennen, wie dumm es war, einen Pakt mit dem Teufel zu schließen.

Pakistans sechzigjährige Geschichte belegt hinlänglich, dass die Allgegenwart von religiösem Radikalismus und Gewalt nicht allein auf Ideologie und Faktoren des gesellschaftlichen Überbaus zurückzuführen sind. Denn dieser Ansatz ließe die historischen, ökonomischen und materiellen Faktoren außer Acht, die an der Entstehung eines Phänomens wie dem der Taliban beteiligt sind. Die Taliban, oder unter welchem Begriff man die große Bandbreite an religiösen Extremisten auch zusammenfassen mag, sind eine moderne, zeitgenössische soziale Forma-tion. Sie benutzen moderne Waffen und Techniken, um Gebiete, Menschen und Ressourcen unter ihre Herrschaft zu bringen. Sie sind also ganz gewiss keine Überbleibsel aus einer lang vergangenen Zeit oder eine vormoderne Manifesta-tion von Fanatismus.

Der moderne religiöse Fanatismus in Pakistan ist ein Produkt des Zusam-menspiels verschiedener kapitalistischer, imperialistischer, nationaler und lokaler Faktoren. Was die religiöse Gewalt betrifft, die ihre Grundlage angeblich im Islam hat, so haben viele Autoren auf globale und transnationale Faktoren hingewiesen (Rashid 2001, 2008). Pakistans herrschende Klasse hat von Anfang an auf die Religion zurückgegriffen und sich mit rückschrittlichen Kräften verbündet, um das weltliche Ziel politischer Macht zu erreichen. Zugleich hat sie sich zu diesem Zweck die Unterstützung globaler und imperialistischer Mächte wie Saudi-Arabien und der USA gesichert. Im Gegenzug hat Saudi-Arabien den Einfluss des Wahabismus in Südasien beträchtlich vergrößert, und die USA haben die ehemalige Sowjetunion besiegt und die Kontrolle über die Route zu den Reichtümern des Kaspischen Meers erlangt.

Die verschiedenen Spielarten von Taliban (und es gibt deren viele) sind keine anti-imperialistischen Kräfte, wie manche Romantiker uns gern glauben machen würden. Die religiösen Eiferer bereiteten dem amerikanischen Imperialismus den Boden, der wiederum ihr Wirken begünstigte. Kriege wie die in Irak und Afghanistan sind letztlich imperialistische Kriege um Öl, Gas und andere Boden-schätze, also um Energiequellen. Die Energiepolitik in Kombination mit der Gaspipeline- und Ölpolitik fand in der Religion, insbesondere im Islam, einen nützlichen Verbündeten, mit dessen Hilfe sich verlässlich Konkurrenzmächte

Page 69: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

67

rub

ina

saig

ol D

ie R

olle

von

Kla

sse

und

Polit

ik b

ei d

er R

adik

alis

ieru

ng v

on S

taat

und

Ges

ells

chaf

t in

Pak

ista

n

besiegen und der Zugang zu kostbaren Bodenschätzen sichern ließen.17 Pakistan liegt geographisch im Mittelpunkt konkurrierender Mächte: Saudi-Arabien, Iran, der USA, China, Russland und Europa. Die herrschenden politischen Klassen von Ländern wie Afghanistan und Pakistan haben durchweg mehr als bereitwillig am imperialistischen Projekt mitgewirkt, um sich dadurch ihrerseits die Macht zu sichern. Als Fazit lässt sich sagen, dass es von zentraler Bedeutung ist, die politi-sche Ökonomie der religiösen Gewalt zu erkennen, statt diese nur mit gewissen ideologischen Merkmalen der beteiligten Akteure erklären zu wollen.

der Weg zum Überleben – ein neuer staat

Die zentrale These dieses Aufsatzes ist die, dass Terrorismus und Extremismus nicht nur ein Ergebnis ideologischen und rückschrittlichen Denkens sowie mangelnder Bildung sind. Vielmehr wurzeln die Probleme, mit denen sich Pakistan konfrontiert sieht, in grundlegenden sozio-ökonomischen und klassen-spezifischen Ungleichheiten, die es der herrschenden Klasse ermöglicht haben, statt der toleranteren und friedlicheren Religionsformen, die bei der besitzlosen Klasse vorwiegend zu finden sind, orthodoxe, rigide und fundamentalistische Formen von Religion zu fördern und zu begünstigen. Als Pakistan sich im Sinne des arabischen Ursprungs des Islam umdefinierte, wurden die toleranteren, synkretistischeren und friedlicheren südasiatischen Religionsformen durch strenge, buchstabengläubige, eindimensionale Formen des arabischen Islam verdrängt (Ali 2009).

Die Lösung liegt also nicht allein darin, die Bildung der Menschen zu verbes-sern, die Medien zu reformieren und zu versuchen, die Werte der friedlichen Koexistenz und Toleranz zu vermitteln. Zwar wäre dieser Ansatz sicher ein wichtiger Bestandteil einer Transformationsstrategie, doch beträfe er nur den gesellschaftlichen Überbau. Auch auf der grundlegenden Ebene der sozio-öko-nomische Strukturen müssten jedoch Veränderungen stattfinden.

Zunächst, und das wäre das wichtigste, müssten grundlegende Landre-formen durchgeführt werden, um den Wohlstand gleichmäßiger in der Bevöl-kerung zu verteilen. Solch eine Maßnahme würde, sofern sie wohldurchdacht wäre, die Klassenverhältnisse in den ländlichen Regionen bestimmter Landes-teile verändern und so die Armut reduzieren. Der Einfluss der Grundbesitzer auf die Aufrechterhaltung des Status quo, ob über die Religion oder ihre Verbin-dungen zum Militär, würde geringer werden. Zugleich wären Familien nicht gezwungen, aufgrund ihrer bitteren Armut ein oder zwei ihrer Kinder in eine Koran-Schule zu geben, wo ihnen eine Ideologie des Hasses und Terrors einge-impft wird. Investitionen in produktive Tätigkeiten könnten es mehr Menschen ermöglichen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, so dass sie nicht die einzig

17 Vgl. Pepe Escobars Artikel «Pipelinestan goes Af-Pak», Central Asia, 14. Mai 2009, http://www.atimes.com/atimes/Central_Asia/KE14Ag01.html

Vgl. außerdem Escobars «Balochistan is the ultimate prize», South Asia, 9. Mai, 2009. http://www.atimes.com/atimes/South_Asia/KE09Df03.html

Page 70: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

68

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

verfügbare Einkommensquelle wahrnehmen müssten, die ihnen die Madrassen bieten. Wären die feudalen Strukturen, die in Teilen Pakistans bestehen, erst einmal beseitigt, würden hoffentlich mehr Angehörige der Mittelschicht in den Parlamenten mitwirken und dort Gesetze schaffen, die nicht nur eine Gesell-schaftsschicht begünstigen. Die Umverteilung des Reichtums muss auch die Generäle mit einbeziehen. Das Militär stellt mittlerweile nicht nur den größten Teil der Großgrundbesitzer, sondern ist auch an einer Reihe von Unternehmen beteiligt (Siddiqa 2007). Der Anteil des Militärs an der Volkswirtschaft muss reduziert werden, damit es zu einer wirklich professionellen, von Militanten unabhängigen Streitkraft wird.

Zugleich müssen die Stammesgebiete des Landes entwickelt werden, und im Zuge der entsprechenden Entwicklungsmaßnahmen müssen Arbeitsplätze für Jugendliche geschaffen werden, sowohl auf dem Land wie in der Stadt. Die Produktionsbasis des Landes muss gestärkt werden, indem ein Schwerpunkt auf die soziale und wirtschaftliche Entwicklung gelegt wird. Wenn Jugendliche die Möglichkeit haben, in einer produktiven Wirtschaft regulär zu arbeiten, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass sie sich verlockt fühlen, durch die Ausübung religiöser oder anderer Gewalt ihr Auskommen zu finden. Die sozio-ökonomi-schen Strukturen des Landes müssen von Grund auf umgekrempelt werden, wenn die Menschen davon abgebracht werden sollen, sich am Dschihad zu beteiligen, der ihnen lukrativ erscheint und Macht zu verleihen verspricht.

Die Finanzierungsquellen für die extremistischen Gruppen müssen zum Versiegen gebracht werden. Es ist nicht genau bekannt, woher das Geld für den Terror kommt.18 Doch einiges weist darauf hin, dass es mindestens drei Quellen gibt: 1. private Spenden von wohlhabenden Bürgern aus dem Land sowie aus der muslimischen Diaspora in den USA, Saudi-Arabien, Großbritannien und den Vereinigten Arabischen Emiraten; 2. der Drogenhandel; 3. der Waffen-handel. Früher wurde der Dschihad gegen die Sowjetunion offiziell von CIA und ISI, also vom pakistanischen und amerikanischen Staat finanziert. Das scheint heute jedoch nicht mehr der Fall zu sein, das Geld stammt nur noch aus privaten Quellen und kriminellen Aktivitäten. Die Sicherheitskräfte müssen diese Quellen aufspüren und die Geldströme unterbinden, denn solange Geld fließt, werden auch die terroristischen Aktivitäten anhalten.

Wenn Pakistan sich aus dem derzeitigen Sumpf befreien soll, ist ein grund-sätzlicher Paradigmenwechsel vonnöten, nicht nur in der nationalen Sicher-heitspolitik, sondern auch hinsichtlich seiner staatlichen Selbstdefinition. Um überleben zu können, muss sich Pakistan von einem Nationalen Sicherheits-staat zu einem Staat wandeln, der auf wirtschaftliche Entwicklung ausgerichtet ist. Das enorme Gewicht, das aufgrund der – vermeintlichen oder tatsächli-chen – Bedrohung durch Indien auf die nationale Sicherheit gelegt wird, müsste geringer werden. Der Friedensprozess mit Indien muss wiederbelebt werden, damit die vorhandenen Ressourcen und Energien für die wirtschaftliche und

18 Vgl. Rahimullah Yusufzais Artikel: «The big question mark» in: The News, 21. Juni 2003.

Page 71: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

69

rub

ina

saig

ol D

ie R

olle

von

Kla

sse

und

Polit

ik b

ei d

er R

adik

alis

ieru

ng v

on S

taat

und

Ges

ells

chaf

t in

Pak

ista

n

soziale Entwicklung Pakistans genutzt werden können. Dies bedeutet auch, dass die Außen- und Verteidigungspolitik von demokratisch gewählten Regierungen statt vom Sicherheitsestablishment betrieben werden muss. Die gewählten Regierungen haben durchaus die Neigung zu einem Friedensabschluss mit Indien gezeigt, doch das Sicherheitsestablishment, das von dem Hass zwischen den Nachbarländern in jedem Sinne profitiert, hat bisher alle Versuche, die ungelösten Probleme anzugehen, blockiert. Pakistan muss sich von seiner alten, hinfälligen Politik, Afghanistan als Rückzugsraum im Sinne der «strategischen Tiefe» und Gruppen wie die Taliban als «strategische Kräfte» zu betrachten, verab-schieden, um den Terrorismus besiegen zu können. Die Taliban sind zu «schädli-chen Kräften» geworden, die bezwungen und abgestoßen werden müssen. Auch die alte Strategie, «Indien aus tausend Stichen bluten zu lassen», indem man die Unterwanderung des indischen Teils von Kaschmir durch Militante unter-stützte und einen langfristigen Konflikt niedriger Intensität aufrechterhielt, muss aufgegeben werden. Denn diese Strategie hat eine Lösung des Kaschmirkonflikts verhindert und Pakistan zudem innerhalb der internationalen Gemeinschaft in eine wenig beneidenswerte Position gebracht. In der nationalen Sicherheitspo-litik ist ein neuer Ansatz notwendig, der sich aus einer radikalen Umdefinition des Staates und seiner Prioritäten ergibt.

Solange die «Nationale Sicherheit», so wie sie vom Militär definiert wird, die wichtigste nationale Priorität bleibt, ist es unwahrscheinlich, dass Pakistan als zukunftsorientiertes, wirtschaftlich entwickeltes und demokratisches Land den Weg zum Wohlstand beschreitet. Das Paradigma der nationalen Sicherheit muss durch das der menschlichen Sicherheit ersetzt werden, denn dieses umfasst die wirtschaftliche und soziale Sicherheit der Bevölkerung. Das Paradigma der nationalen Sicherheit begünstigt für gewöhnlich die Elite und die herrschende Klasse, die den Staat dominieren. Sobald jedoch die wirtschaftliche und soziale Entwicklung auf der Grundlage einer gerechten Verteilung der Früchte dieser Entwicklung zur nationalen Priorität werden, wird die Bedeutung von Krieg und Militarismus automatisch abnehmen. Daher darf es nie wieder zum militä-rischen Sturz demokratisch gewählter Regierungen und Parlamente kommen. Machtübernahmen durch das Militär haben verheerende Auswirkungen auf die nationalen Institutionen und schwächen die Zivilgesellschaft und die demokra-tischen Mechanismen, die ansonsten ethnischen Konflikten sowie Terrorismus und Extremismus entgegenwirken könnten.19

Pakistan müsste einen echten Paradigmenwechsel vollziehen, indem es seine auf der Religion basierende nationale Herrschaftsideologie verändert. Artikel

19 Vgl. den Bericht der International Crisis Group, Pakistan: The Militant Jihadi Challenge, Asia Report No.164, 13. März 2009. Dort heißt es: Musharrafs achtjähriges Regime führte dazu, dass die Regierungstätigkeit fast zum Erliegen kam, und hinterließ staatliche Insti-tutionen wie Polizei und Gerichte in desolatem Zustand. Die politische Einmischung des militärischen Establishments hat nicht nur die technischen Kapazitäten der Polizei geschwächt, sondern auch ein konsequentes Vorgehen gegen radkale Dschihad-Gruppen verhindert.» (S. 29)

Page 72: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

70

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

2 der Verfassung definiert den Islam als Staatsreligion und zielt darauf ab, alle Gesetze mit ihm in Übereinstimmung zu bringen. Diese religiöse Definition des Staates schließt automatisch all jene aus, die anderen Religionen angehören – sie sind keine gleichberechtigten Staatsbürger mehr. Dies steht im Widerspruch zu Artikel 25 des Grundrechtekatalogs, der alle Staatsbürgerinnen und -bürger für gleich erklärt. Solche Widersprüche im Grundgesetz des Landes müssen besei-tigt werden, damit alle Staatsbürgerinnen und -bürger unabhängig von Religion, Geschlecht, ethnischer und konfessioneller Zugehörigkeit vor dem Gesetz als gleich gelten. Zwar reicht die formale Gleichheit nicht aus, sie muss auch konkret umgesetzt werden, doch ist sie ein erster Schritt, um die vielen Hierarchien und Spaltungen in der Gesellschaft abzubauen.

Die Trennung von Religion und Politik ist sowohl für den Staat als auch für die Religion von Vorteil. Was den Staat betrifft, so würde diese Trennung die im Grundgesetz angelegte Ungleichheit der Bürgerinnen und Bürger beseitigen. Der Staat wäre in der Lage, Gesetze zu erlassen und Politik zu machen, ohne sich dabei auf irgendeine Religion beziehen zu müssen. Und auch die Religion würde dadurch, dass sie von dem «schmutzigen» Geschäft der Politik losgelöst wäre, gewinnen. Sie würde nicht mehr von Extremisten und Fanatikern entwürdigt und könnte nicht mehr von den Herrschenden zur Absicherung ihrer Macht und Legitimität missbraucht werden. Die Verunglimpfung, die sie durch die Verbin-dung mit Terrorismus und kriminellen Handlungen erfährt, würde durch die erhabeneren, auf einer ernsthaften philosophischen Diskussion beruhenden Aspekte des religiösen Denkens ersetzt werden.

Es wird vielfach angenommen, dass die Bewahrung der Gründungideologie des Staates unabdingbar für dessen Überleben sei und man alles tun müsse, um seine Ursprungsmythologie zu erhalten. Doch dynamische Gesellschaften offenbaren ein wichtiges Geheimnis: Wandel und Entwicklung sind für das Überleben genauso wichtig wie die Bewahrung von Traditionen. Manchmal müssen Gründungsmythen im Licht der veränderten Umstände noch einmal neu betrachtet werden. Wenn Pakistan der inneren Bedrohung, der es heute ausgesetzt ist, standhalten will, muss der Staat radikal neu gedacht werden.

literatur

Ahmad, Sayed Riaz (1976): Maulana Maududi and the Islamic State, Lahore.Alavi, Hamza (1992): «The Politics of Ethnicity in Pakistan», in: Akbar Zaidi: Regional Imbalances

and the National Question in Pakistan, Lahore.Ali, Mubarak (2009): Pakistan in Search of Identity, Pakistan Study Centre, Karatschi.Althusser, Louis (1984): Essays on Ideology, London.de Tocqueville, Alexis (1964): Democracy in America, New York.Gankovsky, Y.V. und Polonskaya, L.R. Gordon (1964): A History of Pakistan, Moskau.Ghazali, Abdus Sattar (1996): Islamic Pakistan: Illusions and Reality, Islamabad.Gramsci, Antonio (1971): Selections from Prison Notebooks, New York.Haque, Israrul (1987): Towards Islamic Renaissance, Lahore.Hegel, G.W.F. (1991): Elements of the Philosophy of Right, hg. von Allen W. Wood, Cambridge.Hobbes, Thomas (1931): Leviathan, London und Toronto.

Page 73: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

71

rub

ina

saig

ol D

ie R

olle

von

Kla

sse

und

Polit

ik b

ei d

er R

adik

alis

ieru

ng v

on S

taat

und

Ges

ells

chaf

t in

Pak

ista

n

Jahangir, Asma; Jilani, Hina (1990): The Hudood Ordinances: A Divine Sanction? Lahore. Kant, Immanuel (1994): Ethical Philosophy, Indianapolis. Locke, John (1821): Two Treatises of Government, London.Malik, Maha, und Hussain, Neelam (1996): Reinventing Women: Representation of Women in the

Media during the Zia Years, Lahore. Marx, Karl (1843): Critique of Hegel’s Philosophy of the Right, Cambridge.Maududi, Abul Ala (1963): Purdah, Lahore (Erstauflage 1939).Mir, Safdar (1986): «Religion and Politics in Pakistan», in: Engineer, A.I (Hg.): Islam in Asia,

Lahore, S. 145-170.Rana, Muhammad Amir (2002): Jehad-e-Kashmir-o-Afghanistan, Jehadi Tanzeemon Aur

Mazhabi Jamaaton Ka Aik Jaiza, Lahore. Rashid, Abbas (1997): «The Politics and Dynamics of Violent Sectarianism», in: Making Enemies,

Creating Conflict: Pakistan’s Crises of State and Society, hg. von Zia, Ahmad und Iftikhar, Lahore, S. 27-50.

Rashid, Ahmad (2001): Taliban: Islam, Oil and the New Great Game in Central Asia, London.Rashid, Ahmad (2008): Descent into Chaos: The US and the Failure of Nation Building in

Pakistan, Afghanistan, and Central Asia, New York. Rodinson, Maxine (1966): Islam and Capitalism, Middlesex. Rousseau, Jean Jacques (2009): The Social Contract, Washington D.C. Saigol, Rubina (1993): «Shariat Bill 1991: Impact on Women and Education», in: Education:

Critical Perspectives, Lahore, S. 181-200.Saigol, Rubina (1994): «The Boundaries of Consciousness: Interface Between the Curriculum,

Gender and Nationalism», in: Locating the Self: Perspectives on Women and Multiple Identi-ties, hg. von N. Khan, R. Saigol und Afiya S. Zia, Lahore, S. 41-76.

Saigol, Rubina (1995): Knowledge and Identity: Articulation of Gender in Educational Discourse in Pakistan, Lahore.

Saigol, Rubina (2003): «History, Social Studies and Civics and the Creation of Enemies», in: The Social Sciences in the 1990s, hg. von S. Akbar Zaidi, Islamabad, S. 223-282.

Saigol, Rubina (2006): «The State and the Limits of Counter-Terrorism: The Case of Pakistan and Sri Lanka», in: Understanding Terrorism in South Asia: Beyond Statist Discourses, hg. von Imtiaz Ahmad, New Delhi, S. 93-152.

Saigol, Rubina (2009): «Talibanization of Pakistan: Myths and Realities», in: South Asian Journal, No. 25, Lahore, S. 52-86.

Siddiqa, Ayesha (2007): Military Inc.: Inside Pakistan’s Military Economy, London, Ann Arbor.

Page 74: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ein paschtunischer Junge in Amlokdara, Swat-Tal, August 2005

Page 75: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

73

has

an-a

skar

i riz

vi P

olit

isch

e Pa

rtei

en u

nd f

ragm

enti

erte

Dem

okra

tie

hasan-askari riZVi

Politische Parteien und fragmentierte demokratie

Bei einer politischen Partei handelt es sich um eine Gruppe von Menschen, die sich auf der Basis eines gemeinsamen politischen Programms organisiert haben. Sie artikuliert und bündelt die Interessen und Belange ihrer Mitglieder in Forderungen und Optionen, die auf einer breiten Basis ruhen. Im Verfolg ihrer politischen Agenda und ihrer Bemühungen mobilisiert sie Menschen, um die Macht zu erlangen und auszuüben, normalerweise über Wahlen im Rahmen der Verfassung und der Gesetze. Politische Parteien sind für den demokratischen Prozess unerlässlich. Es ist unmöglich, sich eine demokratische und repräsen-tative Herrschaft und eine politische Führung ohne frei organisierte politische Parteien vorzustellen. Diese Tatsachen werden ganz zutreffend als «ubiquitäres Phänomen des heutigen politischen Lebens» beschrieben (Macridis 1967: 9).

Pakistan übernahm mit seiner Unabhängigkeit im August 1947 seine politi-schen Parteien von Britisch-Indien. Damals gab es weniger als zehn politische Parteien. In der ersten Verfassunggebenden Versammlung waren ursprünglich nur zwei repräsentiert. Dies waren die Muslim League, die die pakistanische Unabhängigkeitsbewegung führte, und die Kongresspartei, die ein Ableger der Kongresspartei Britisch-Indiens war. Letztere war eine reine Hindu-Partei aus Ostbengalen (Ostpakistan). Später tauchten andere politische Parteien inner-halb und außerhalb der Verfassunggebenden Versammlung auf.

Seit der Unabhängigkeit haben sich dann in allen Teilen des Landes immer mehr politische Parteien gebildet. Im Jahr 2009 gibt es mehr als 80 registrierte und nicht registrierte politische Parteien, obwohl nur 15 bis 20 davon in der Politik wirklich eine Rolle spielen. Seit 1988 haben zwei politische Parteien dominiert, die Pakistan People’s Party (PPP) und die Muslim League (von ihr gab es zu verschiedenen Zeiten verschiedene Fraktionen). Jedoch war keine von beiden je in der Lage, ohne Zusammenarbeit mit kleineren und regionalen politischen Parteien eine stabile Regierung zu bilden.

die anfänge und ihre auswirkungen auf die heutigen politischen Parteien

Die Anfänge und die Entwicklung politischer Parteien in Pakistan unterscheiden sich deutlich von dem Entstehungsprozess politischer Parteien in den europä-ischen Staaten und in Amerika. Dort bildeten sich politische Parteien mit der

Page 76: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

74

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Entwicklung repräsentativer Herrschaft. Ursprünglich bildeten die Mitglieder der ersten repräsentativen Versammlungen Gruppen, die sich mit der Ausdehnung des Wahlrechts zu Parteien entwickelten und später organisatorische Netzwerke aufbauten. Der Aufstieg der politischen Parteien und ihre Schlüsselrolle im politischen Prozess folgten der Einführung der repräsentativen Demokratie. Nachdem einmal politische Parteien entstanden waren, trugen sie dazu bei, die Demokratie zu stärken.

Im Falle Pakistans gehen die Wurzeln der politischen Parteien auf die Zeit der britischen Herrschaft in Indien zurück. Die indische Kongresspartei wurde 1885 gegründet und die Muslim League 1906. Beide Parteien entstanden als Interessengruppen und waren weniger das Ergebnis eines demokratischen Prozesses. Die Muslim League wurde als Forum gebildeter Muslime gegründet, die ihre Position zu den Entwicklungen in Indien gegenüber der britischen Kolonialregierung deutlich machen und den Schutz ihrer Rechte und Interessen wahrnehmen sollte. Sie hatte auch zum Ziel, Missverständnisse zwischen der britischen Kolonialregierung und indischen Muslimen auszuräumen.

Die Ausbreitung der Muslim League hatte mit der Einführung gewählter Vertretungen unter den Bedingungen des restriktiven Wahlrechts in Britisch-Indien wenig zu tun. Ihr Charakter änderte sich, als sie sich in eine nationalis-tische Bewegung verwandelte, die für britische Muslime in Indien ein eigenes Homeland forderte: Pakistan. Damit verwandelte sie sich aus einer elitären Interessenvertretungsgruppe in eine breite nationalistische Bewegung. Sie versuchte, sich in der muslimischen Bevölkerung zu verankern, und beteiligte sich engagiert an den Wahlen von 1946. Nach der Unabhängigkeit wurde das allgemeine Wahlrecht sowohl in Indien wie in Pakistan eingeführt. Aus diesen Gründen hatte die Rolle der Muslim League als nationalistischer Bewegung einen weitreichenden Einfluss auf ihre Rolle in Pakistan und beeinflusste auch die Entwicklung der anderen Parteien dort.

Für die Beurteilung des Charakters und der Rolle der politischen Parteien im unabhängigen Pakistan sind drei Faktoren aus der Zeit vor der Unabhängigkeit ausschlaggebend: die Transformation einer nationalistischen Bewegung – der Muslim League – in eine nationalistische Partei, die von der Bevölkerung über gesellschaftliche und wirtschaftliche Trennlinien hinaus unterstützt wurde; eine bewusste Entmutigung der Gegnerschaft gegen die Muslim League, die die Opposition gegen diese Partei mit Opposition gegen den pakistanischen Staat gleichsetzte; und die Tatsache, dass die Haltung der Opposition gegen die Kolonialherrscher von den politischen Parteien beibehalten wurde. Ihre Zielrich-tung übertrug sich dann auf die Regierung nach der Unabhängigkeit.

Als Pakistan zur Demokratie und zum allgemeinen Wahlrecht überging, war die Frage der nationalen Identität und des Nationalstaats nicht geklärt. Dagegen waren in Europa und Nordamerika die Fragen des Nationalstaats und der nationalen Identität weitgehend gelöst, als die Demokratie und das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurden. Wichtig ist weiterhin, dass Pakistans politische und gesellschaftliche Ordnung damals auf vielfältigen ethnischen, sprachlichen,

Page 77: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

75

has

an-a

skar

i riz

vi P

olit

isch

e Pa

rtei

en u

nd f

ragm

enti

erte

Dem

okra

tie

regionalen und religiösen Pfeilern ruhte. Diese Identitäten haben sich bis heute mit konsolidierten Strukturen am Leben erhalten. Moderne Kommunikations- und Transportmittel sind wirkungsvoll dazu genutzt worden, diese Identitäten besser zu organisieren, um politisches Kapital daraus zu schlagen. Gleichwohl haben einige politische Parteien sich bemüht, solche Trennlinien zu umgehen oder durchlässig zu machen, indem sie umfassende politische Agenden formu-lierten. Das sind die überregionalen politischen Parteien. Ihre Bemühungen waren jedoch nicht immer von Erfolg gekrönt, obwohl diese Parteien sich in unterschiedlichem Ausmaß als übergreifende Sammelbecken angeboten haben, die die Trennungen überwinden sollten.

Die politischen Parteien, die vorrangig regionale, ethnische und andere klien-telgebundene Interessen vertreten, arbeiten in einem engen, partikularistischen politischen Rahmen und nutzen den Wahlkampf, um ihren exklusiven Charakter hervorzuheben. Regionale oder ethnische Politik wird so durch den demokrati-schen Prozess gefördert und zugleich der Partikularismus. Die religiösen politi-schen Parteien andererseits sind exklusiver und sektiererischer. Die meisten von ihnen distanzieren sich von den anderen politischen Parteien, differieren aber auch untereinander aufgrund ihrer konfessionellen Divergenzen inner-halb des Islam, sprich der einzelnen islamischen Sekten. Mit anderen Worten, solche Parteien fördern gleich zwei verschiedene Arten gesellschaftlicher und politischer Spaltung: die Differenzen zwischen den islamischen Parteien und die Differenzen gegenüber den anderen Parteien.

Anfänglich, in der Gründungsphase Pakistans, gingen die regionalen und ethnischen Spaltungen im Aufstieg der nationalistischen Bewegung unter. Sie kamen jedoch wieder ans Tageslicht, als die nationalistische Euphorie des Unabhängigkeitskampfes wenige Jahre nach der Unabhängigkeit zu schwinden begann. Die Muslim League versäumte es, die Rolle einer landesweiten Partei zu übernehmen, die politische Loyalität über die vielfachen gesellschaftlichen und kulturellen Trennlinien hinaus für sich beanspruchen konnte. Die Nachfolger von Muhammad Ali Jinnah und Liaquat Ali Khan, ihrer großen Führer, hatten kein nationales Format – die meisten verfügten über eine regionale Verankerung, ihre Ausstrahlung ging nicht über ihre Region oder Provinz hinaus. Folglich übernahmen einige Exbürokraten die politische Führung und seit 1958 die im Milieu des Militärs oder der Bürokratie herangezüchteten Führer, die überhaupt kein öffentliches Charisma besitzen. In dieser Situation versäumten es die politi-schen Parteien, eine Rolle als Sammelbecken und Ort der Integration zu spielen, und trugen zur Fortdauer und Verstärkung der sozialen und politischen Zersplit-terung Pakistans bei.

Das deutlichste Anzeichen für den fragmentierten Charakter des politischen Systems waren die Resultate der Wahlen von 1970. Daraus gingen zwei politi-sche Parteien als Sieger hervor. Beide hatten jedoch nur eine regionale Basis. Die Awami League und die Pakistan People’s Party (PPP) siegten haushoch in Ost- bzw. Westpakistan. Jedoch hatte die Awami League nicht einen einzigen Kandi-daten in Westpakistan aufgestellt, und die PPP nahm nicht an den Wahlen in

Page 78: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

76

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Ostpakistan teil. Sie existierte dort praktisch nicht. Das machte es den beiden Parteien schwer, einander bei der Teilung der Macht 1971 entgegenzukommen, besonders weil das militärische Establishment gegen die Awami League einge-stellt war.

Seit dem Jahr 1988, als Pakistan vorübergehend zu einer bürgerlich-demokra-tischen Herrschaft zurückkehrte, gibt es drei große Gruppen politischer Parteien, die drei divergente politische und gesellschaftliche Trends widerspiegeln und bis heute die nationale politische Bühne zu beherrschen scheinen. Zunächst die beiden überregionalen und landesweit vertretenen Parteien: die PPP und die Pakistan Muslim League – Nawaz Group (PML-N). Diese politischen Parteien sind in allen vier Provinzen vertreten, und ihre Kandiaten werden traditionell in allen Provinzen gewählt. Die PPP ist besonders in Sindh und im Punjab stark. Die PML-N hat ihre stärkste Basis im Punjab, während ihre Wahlergebnisse in den anderen Provinzen schwankend sind. Zweitens gibt es einige ethnische und regio-nale politische Parteien, deren Anhängerschaft wesentlich aus einer Region oder einer ethnischen Gruppe kommt. Dazu gehören unter anderem die Mutthaida Quami Movement (MQM), die hauptsächlich von der Urdu sprechenden Bevöl-kerung des städtischen Sindh unterstützt wird (Malik 1995; Haq 1995), und die Awami National Party (ANP), die den paschtunischen ethnischen Nationalismus in der North West Frontier Province (NWFP) repräsentiert. Anders als diese gibt es zahlreiche andere Parteien auf ethnischer Basis, die in allen vier Provinzen Sindh, NWFP, Belutschistan und dem Punjab operieren. Drittens gibt es einige islamische Parteien. Das sind hauptsächlich Parteien, die die religiösen Schriften streng und buchstabengetreu auslegen und ein puritanisches islamisches politi-sches System wollen. Dennoch stimmen sie untereinander nicht überein, was die genauen Einzelheiten eines islamischen Staates im Hinblick auf die politischen, wirtschaftlichen und administrativen Einrichtungen und den politischen und gesellschaftlichen Prozess angeht. Sie spiegeln auch die konfessionelle Zersplit-terung Pakistans wider, die sich im Laufe der Jahre verschärft hat, als der pakis-tanische Staat unter General Zia ul-Haq für islamische Orthodoxie und Militanz plädierte. Diese islamischen Parteien verstärken die religiösen Spaltungen, was wiederum die gesellschaftliche und politische Harmonie und Stabilität beein-trächtigt.

die hauptmerkmale der politischen Parteien Pakistans

Pakistans Parteien haben einige spezifische Besonderheiten, die ihre politische Kraft und ihre Rolle im politischen System des Landes erklären helfen.

Vom Einparteien- zum Mehrparteiensystem

Pakistan begann praktisch als Einparteiensystem, machte dann aber einen Transformationsprozess zum Mehrparteiensystem durch, in dem keine einzelne Partei in der Lage ist, das politische System zu dominieren. In der frühen Zeit

Page 79: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

77

has

an-a

skar

i riz

vi P

olit

isch

e Pa

rtei

en u

nd f

ragm

enti

erte

Dem

okra

tie

der Unabhängigkeit war die Muslim League die tonangebende Partei, weil sie den Unabhängigkeitskampf geführt und die Macht von den Briten übernommen hatte. Es gab sowohl innerhalb und außerhalb der Verfassunggebenden Versammlung andere politische Parteien, aber sie waren zu schwach, um die Dominanz der Muslim League in Frage zu stellen. Deshalb dominierte die Muslim League die politische Bühne «nicht allein auf dem gesetzgeberischen und ministerialen Gebiet, sondern beherrschte auch die von Gouverneuren regierten Provinzen und die hohe Diplomatie. Sie hatte in der ersten Verfassunggebenden Versammlung und in allen Provinzparlamenten die überwältigende Mehrheit» (Aziz 1976: 71).

Die dominante Position der PML zerfiel jedoch allmählich, und sie verlor bis 1954 ihre herausragende Bedeutung. Die PML versäumte es, sich wirklich von einer nationalistischen Bewegung in eine nationale Partei zu verwandeln, und begann ihren Elan nach dem Rückzug von Mohammad Ali Jinnah im September 1948 einzubüßen (13 Monate nach der Unabhängigkeit). Seine Nachfolger hatten nicht Jinnahs Format und waren nicht in der Lage, die Partei zu einer einigen und effektiven politischen Maschinerie zu machen. Akut wurde die Führungs-krise nach der Ermordung von Liaquat Ali Khan, dem ersten Premierminister Pakistans und einem prominenten Führer der Unabhängigkeitsbewegung, im Oktober 1951 in Rawalpindi (Rizvi 2003: 62). Die Partei geriet unter die Vorherr-schaft der Landbesitzerklasse, für die keine Notwendigkeit bestand, die Partei zu einer effektiven Organisation zu machen oder auf die Stärkung der Demokratie hinzuarbeiten. «Die League wurde sehr schnell zum Monopol einer Klasse, [die] sie zur Verwirklichung ihrer eigenen politischen Ziele und zur Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen Interessen einsetzte» (Ahmad 1970: 131).

Schwache Führer und innere Zerwürfnisse brachten nicht wenige Mitglieder dazu, die Partei zu verlassen und eigene Parteien zu gründen. Die Partei bekam ihre inneren, schwächenden Konflikte durch die Konkurrenz regionaler Führer nicht in den Griff und wurde anfällig für die Manipulationen durch den General-gouverneur oder Präsidenten, der mit Hilfe der Bürokratie die wechselseitigen Eifersüchteleien und Rivalitäten der politischen Führer manipulierte, um seine eigene Macht zu stärken.

Tatsächlich hatten sich die inneren Konflikte in der Muslim League innerhalb eines Jahres nach der Gründung Pakistans entwickelt. In der North West Frontier Province (NWFP) erschütterte der Konflikt zwischen Khan Abdul Qayum Khan und dem Pir Arminul Hasnat aus Manki die Partei; der letztgenannte verließ die Muslim League. Im Punjab wurde die Partei durch den Konflikt zwischen Iftikhar Hussain Khan aus Mamdot und Mian Mumdaz Daultana geschwächt. Der erstere bildete 1950 eine neue Partei, die Jinnah Muslim League. Eine andere Partei, die Azad Pakistan Party, wurde 1952 durch ehemalige Mitglieder der Muslim League gebildet (Mahmood 2000: 120). In der Provinz Sindh beeinträchtigten Fehden zwischen verschiedenen feudalen Gruppen die Muslim League. In Ostben-galen (Ostpakistan) schlossen sich 1949 einige ehemalige Mitglieder der Muslim

Page 80: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

78

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

League und andere zusammen, um die Awami Muslim League zu gründen, die die hauptsächliche und zentrale Opposition zur Muslim League werden wollte.

Der entscheidende Schlag kam, als verschiedene Oppositionsparteien sich zusammenschlossen, um für die Wahlen zum Provinzparlament in Ostpakistan das erste Oppositionsbündnis zu bilden, die United Front, die in dieser Provinz die herrschende Muslim League besiegte (Afzal 1976: 60-86, 93, 97; Rashiduz-zaman 1970). Das beendete die politische Dominanz der Muslim League offiziell; verschiedene starke regionale Parteien kämpften fortan um die Macht, was politische Polarisierung und Instabilität zur Folge hatte.

Schwache Organisation und innere Zerrissenheit

Unter schwacher Organisation und innerer Zerrissenheit leiden alle Parteien. In der Theorie haben die politischen Parteien eine Organisationsstruktur, die von der Spitze bis zur untersten Ebene reicht. Die Wahrheit sieht jedoch ganz anders aus. Die Parteiorgane auf nationaler und regionaler Ebene treten nur sporadisch in Funktion – nach Anweisung der Führungsspitze. Auf den Ebenen darunter ist das organisatorische Netzwerk schwach oder nicht existent, ausgenommen zu Zeiten der allgemeinen Wahlen, wenn die Kandidaten der Partei örtliche Partei-einheiten aktivieren oder neue kreieren, die aus ihren Anhängern und Unter-stützern bestehen. Auf diese Weise sind die Parteien ganz auf einzelne Persön-lichkeiten ausgerichtet, die politische Durchschlagskraft und örtlichen Einfluss haben. Diese Führer dominieren die lokale Politik und schaffen oft eine Partei-organisationen, die sich ganz um sie dreht. Da die Institutionalisierung fehlt, leiden die Parteiorganisationen unter internen Fehden, die auf persönlichen Abneigungen, regionalen Besonderheiten und politischer Konkurrenz beruhen.

Innerparteiliche Fraktionsbildung ist ein weit verbreitetes Phänomen. Jede Fraktion verfolgt dabei eine doppelte Zielrichtung. Einerseits bemüht sie sich darum, die Identifikation mit dem obersten Führer der Partei oder einem seiner engen Vertrauten herzustellen, um ihre innerparteiliche Macht zu stärken. Andererseits versucht sie, die rivalisierende Fraktion auf der lokalen Ebene auszumanövrieren. Wenn die innerparteiliche Konkurrenz und der Konflikt zwischen den Fraktionen heftig werden, brechen einige Fraktionen auseinander und gründen eben eine neue Partei, oder sie schließen sich einer anderen an. Die Muslim League ist das beste Beispiel für innerparteiliche Fraktionsbildung und dafür, wie verschiedene Fraktionen verschiedene Muslim Leagues bildeten – von denen es zeitweise sechs bis acht gab.

Mehrmals versuchte man, die Fraktionen der PML wieder zu vereinen. Die erzielten Übereinkommen hatten jedoch nie lange Bestand.

Da die lokalen Fraktionen mit unterschiedlichen Führern auf der nationalen Ebene vernetzt sind, hängt ihr politischer Einfluss davon ab, über welche Macht ihr Schirmherr auf der nationalen Ebene der Partei verfügt. In gewisser Hinsicht werden die verschiedenen Fraktionen zu Interaktionsnetzwerken der verschie-denen obersten Führer mit der lokalen Parteiebene. Diesen Punkt kann man sehr

Page 81: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

79

has

an-a

skar

i riz

vi P

olit

isch

e Pa

rtei

en u

nd f

ragm

enti

erte

Dem

okra

tie

gut an den Parteien und der Politik in Sidh und im Punjab demonstrieren, die weitgehend von der Klasse der Landeigentümer dominiert werden, von denen die meisten relativ stabile Anhängerschaften haben. Viele von ihnen brauchen keine Unterstützung durch die Partei, um die Wahlen zu gewinnen. Sie sind mehr ihren persönlichen sowie den Gruppeninteressen im lokalen Kontext verpflichtet als irgendeiner abstrakten politischen Ideologie. Ihre Verbindung mit der natio-nalen Ebene der Partei und deren Führern ist hauptsächlich durch persönliche Beziehungen und örtliche Rivalitäten bestimmt, durch materielle Bereicherung und vor allem dadurch, wie sie ihren Einfluss in den lokalen Machtstrukturen stärken können. Keith Callard, ein anerkannter politischer Experte, lag durchaus nicht falsch, als er schrieb, dass die pakistanische Politik von «einer großen Zahl führender Persönlichkeiten» betrieben wurde, «die mit ihrer politischen Klientel lockere Vereinbarungen treffen, um die Macht zu erlangen und zu erhalten... Diejenigen ohne ausgeprägte Ideen, die jedoch die Gesetzgeber, das Geld und die Einflusssphären kontrollieren, waren dabei tendenziell am erfolgreichsten» (Callard 1957, 63).

Die einzigen Ausnahmen bilden die Kaderparteien, die über eine starke Parteiorganisation und über innere Disziplin verfügen. Ihre Anziehungskraft auf die Massen ist jedoch begrenzt. Das beste Beispiel einer Kaderpartei in Pakistan ist die Jamaat-i-Islami, deren Wahlerfolge jedoch bekanntlich bescheiden waren. Die regierenden Parteien stützen sich andererseits auf die Staatsmaschinerie und den bürokratischen Apparat, um die breiten Bevölkerungsschichten zu errei-chen und die Partei auf regionaler und lokaler Ebene zu stärken. Deshalb haben die Regierungsparteien gegenüber den anderen einen klaren Vorteil, wenn es darum geht, einen halbwegs gut aufgestellten Parteiapparat und funktionierende Verfahren zu demonstrieren.

Innerparteiliche Demokratie

Da es an einer starken inneren Organisation mangelt, sind die Parteien weitge-hend vom Charisma und dem politischen Einfluss ihrer Führer abhängig. Ein Parteiführer hat bei der Leitung der Parteiarbeit, in Abstimmung mit seinen engsten Vertrauten und Beratern, freie Hand. Er berät sich keineswegs immer mit den formell die Politik bestimmenden Organen seiner Partei. Diese Organe treten periodisch zusammen, entweder um die Entscheidungen des Führers abzusegnen oder um zu verschiedenen Fragen ihren Standpunkt darzulegen, dessen Übernahme und Umsetzung aber ganz im Ermessen des Führers liegt. Die Partei funktioniert mehr durch informelle Beratungen als durch die Nutzung der formalen Parteigremien.

Das pakistanische Gesetz verlangt nach einer bestimmten Anzahl von Jahren innerparteiliche Wahlen. Solche Wahlen werden abgehalten, um den Vorsit-zenden auf nationaler Ebene zu wählen, doch das ist mehr ein formaler Akt als eine Praxis echter innerparteilicher Demokratie, bei der die Mitglieder zwischen mehreren Kandidaten wählen können. Ein starker und einflussreicher Führer,

Page 82: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

80

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

der die Partei personifiziert, wird leicht wiedergewählt, meist ohne Gegenkandi-daten. Erwähnt werden muss, dass jede Partei ihr eigenes Wahlverfahren hat und die oberste Spitze nicht zwingend durch die einfachen Mitglieder gewählt wird. Oft wird der Führer indirekt durch Parteiorgane auf nationaler oder regionaler Ebene gewählt.

Allgemein gilt, dass offene und freie Wahlen oft das Fraktionsgerangel verschärfen. Diese Fraktionen beschuldigen sich gegenseitig, nicht existierende Parteimitglieder für die Wahlen registrieren zu lassen, Mittel der Einschüchte-rung und Bedrohung einzusetzen und die Wahlen zu manipulieren. In einigen Fällen weigert sich die Verliererfraktion, den Wahlsieg der Gegenseite zu akzep-tieren, da dieser Ausdruck innerer Zerrissenheit sei; manche Fraktionen oder Führer verlassen in der Folge die Partei. Um solche Situationen zu umgehen, benennt die Parteiführung von sich aus oft Führer für die unteren Parteiebenen. So werden Würdenträger auf Bezirks- und Ortsebene zum Beispiel eher benannt, anstatt von den einfachen Mitgliedern in dem entsprechenden Bezirk oder Ort gewählt zu werden.

Die personalisierte und autoritäre Struktur der politischen Parteien und die kaum vorhandene innerparteiliche Demokratie ist der Ausdruck einer feudalen Geisteshaltung, die die gesamte pakistanische Politik beherrscht. Der Partei-führer und seine engsten Vertrauten führen die Partei oft wie ein persönliches Lehen. Da es in der Gesellschaft an demokratischer Kultur mangelt, trifft ihre personalisierte Lenkung der Parteiangelegenheiten kaum auf Widerstand. Wenn überhaupt, dann ist der Druck in der Partei, offene und auf Wettbewerb beruhende innerparteiliche Wahlen durchzuführen, nur sehr schwach. Die Parteiführer werden für ihr autoritäres Parteimanagement kaum kritisiert. Sollte es eine Opposition gegen den Parteiführer geben, ist dies eher die Folge einer fraktionellen Auseinandersetzung als ein Protest gegen die autoritäre Regelung der Parteiangelegenheiten. Einige der Parteien sind so tief in ihren ethnischen, regionalen und religiös-sektiererischen Prämissen gefangen, dass sie an offene und auf Wettbewerb beruhende innerparteiliche Wahlen nicht glauben.

Was die Kaderparteien wie die Jamaat-i-Islami angeht, so wählt sie ihren Parteiführer durch ihre Mitglieder auf fünf Jahre. Die Mitgliedschaft ist jedoch begrenzt, was die Parteibosse in die Lage versetzt, die Wahlen ohne allzu große Probleme zu bestehen. Und selbst in der Jamaat-i-Islami werden die anderen Mitglieder der Parteispitze durch den gewählten Parteiführer nach parteiin-ternen Beratungen ernannt.

Probleme der Oppositionsrolle

Traditionell nehmen die Regierungsparteien gegenüber der Opposition eine ablehnende, sogar feindliche Haltung ein. Zwischen 1947 und 1958 hat die Regierung deshalb die Entwicklung einer funktionsfähigen Opposition nicht begünstigt. Die ersten Herrscher Pakistans glaubten, für die Bildung einer Partei in Opposition zur Muslim League gebe es keine zwingende Notwendigkeit, da

Page 83: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

81

has

an-a

skar

i riz

vi P

olit

isch

e Pa

rtei

en u

nd f

ragm

enti

erte

Dem

okra

tie

diese ja die Bewegung für die Gründung Pakistans geführt hatte. Liaquat Ali Khan, Pakistans erster Premier (1947-51), sagte im Oktober 1950: «Die Bildung neuer politischer Parteien in Opposition zur Muslim League ist gegen die vitalsten Interessen Pakistans. Wenn die Muslim League nicht stark und mächtig ist und der Wildwuchs neuer Parteien nicht sofort gestoppt wird, wird Pakistan, das unter großen Opfern ins Leben gerufen wurde, nicht überleben, das versi-chere ich Ihnen.»1

Aus diesem Grund wandte die Muslim League gegenüber der Opposition eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche an. Um die Opposition oder einzelne ihrer Mitglieder zu umgarnen, lockte man sie mit materiellen Zuwendungen oder hohen Regierungsposten. Auf der anderen Seite wurde der Staatsapparat dazu benutzt, die Oppositionsführer mit falschen Korruptionsvorwürfen und anderen Anschuldigungen zu schikanieren. Die Tradition der Nichtanerken-nung der legitimen Rolle der Opposition, die in den ersten Jahren der Unabhän-gigkeit etabliert worden war, blieb bestehen und beeinträchtigte so den politi-schen Prozess. In gleicher Manier missachteten auch die Oppositionsparteien die demokratische Norm, die Rechte der Regierungsparteien zu respektieren, und opponierten oft willkürlich gegen jede von der Regierung angeregte Politik. Zeitweise machte es die Opposition der Regierung nahezu unmöglich, die Verfas-sunggebende Versammlung bzw. die Nationalversammlung und die Provinzpar-lamente ordnungsgemäß zu führen. Regelwidriges Verhalten und sogar Gewalt-tätigkeiten waren zwischen 1951 und 1958 auf den Fluren der Parlamente nichts Ungewöhnliches. Im September 1958 gab es im Parlament Ostpakistans eine Massenschlägerei. Einige Mitglieder des Parlaments, darunter der Sprecher, wurden verletzt. Der Parlamentssprecher starb später im Krankenhaus.

Während der Zeit, die auf die neue Verfassung folgte, 1962-69, waren die Beziehungen zwischen Regierung und Opposition so extrem angespannt, dass Präsident Ayub Khan die Regierungsgeschäfte autoritär führte. Seine Herrschaft endete nach vielen Demonstrationen und gewaltsamen Aktionen im März 1969. Das Muster angespannter Beziehungen zwischen Regierung und Opposition wiederholte sich in den Jahren 1972-77, als Zulfikar Ali Bhutto an der Macht war. Obwohl Regierung und Opposition gemeinsam der Verfassung von 1973 zustimmten, dauerte die Zusammenarbeit nicht lange. Regierung und Opposi-tion kehrten zu einem feindseligen Umgang miteinander zurück. 1975 wurden einige Oppositionsführer wegen Verschwörung gegen den Staat inhaftiert. Die Beziehungen waren so angespannt, dass der Großteil der Opposition es begrüßte, als der Armeechef in einem Staatsstreich im Juli 1977 Bhuttos Regierung stürzte, und sich einige der Oppositionsparteien sogar der Militärregierung anschlossen.

Auch in der Zeit der Zivilregierungen von 1988-1999 waren die Beziehungen zwischen Regierung und Opposition gestört. Zwei große politische Parteien, die PPP und die Pakistan Muslim League – Nawaz Group (PML-N) beherrschten die politische Bühne. Die Führerin der PPP, Benazir Bhutto, war zweimal Premier-

1 Statesman vom 28. Oktober 1950.

Page 84: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

82

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

ministerin (1988-1990 und 1993-1996), und auch Nawaz Sharif hatte dieses Amt zweimal inne (1990-1993 und 1997-1999). Während dieser Jahre befanden sich die beiden Parteien im Kriegszustand miteinander. Wer von ihnen gerade an der Regierung war, wandte bürokratischen und rechtlichen Druck an, um den anderen zu schikanieren. Wer gerade in der Opposition war, machte gegen die Regierung der anderen Partei Propaganda wegen Korruption und Misswirt-schaft. Sie begrüßten jeweils die Entlassung der anderen Regierung durch den Präsidenten mit Unterstützung des Armeechefs.

Das Verhältnis zwischen PPP und PML-N hat sich nach den Wahlen von 2008 verbessert. Sie befinden sich nicht mehr in einem Kampf um jeden Preis gegen-einander. Trotz ihrer politischen Differenzen scheinen sie gegenseitige Zurück-haltung zu üben: Die regierende PPP schikaniert nicht die Führer der Opposi-tion, und die Opposition unterhält mit der PPP Arbeitsbeziehungen und legt der Parlamentsarbeit keine unnötigen und übertriebenen Hindernisse in den Weg. Sollte sich eine solche Interaktion zwischen Regierung und Opposition länger halten, würde Pakistans Demokratie gestärkt werden.

Das veränderte Verhältnis zwischen PPP und PML-N kann auf zwei entscheidende Entwicklungen zurückgeführt werden. Erstens haben die Führer beider Parteien unter der Militärregierung von General Musharraf gelitten. Sowohl Benazir Bhutto als auch Nawaz Sharif mussten einige Jahre ins Exil. Sie erkannten, dass ein erbarmungsloser Kampf zwischen zivilen politischen Führern ein wunderbarer Vorwand für die Armeeführung ist, die Macht zu übernehmen. Deshalb hatten sie sich dafür entschieden, eine gemäßigte Politik zu betreiben und unnötige Konfrontationen zwischen Regierung und Opposi-tion zu vermeiden. Zweitens hat die gesellschaftliche Kritik am Erscheinungsbild der politischen Führer und Parteien die politischen Führer besonders der beiden großen Parteien, PPP und PML-N, dazu gebracht, ihre eigene politische Rolle zu überdenken. Die Kritik richtete sich besonders gegen ihre konfliktbezogene Politik und ihr Versagen bei der Schaffung einer stabilen politischen Ordnung. Die privaten Medien erhöhten wesentlich den Druck auf sie, ihre politischen Ziele mit Zurückhaltung und Maß zu verfolgen.

Seitdem lässt sich feststellen, dass die PPP und die PML-N trotz unter-schiedlicher Auffassungen kooperieren. Festzuhalten ist, dass sich Regierung und Opposition zum ersten Mal in Pakistans Geschichte nicht im Kriegszustand miteinander befinden. Die gegenwärtig verbesserte Zusammenarbeit nährt die Hoffnung, dass Pakistans wiederbelebte Demokratie von Dauer sein könnte und dass beide Seiten zukünftig die Buchstaben und den Geist der Verfassung und der Gesetze achten werden.

Wiederholte restriktionen gegen die politischen Parteien

Der wiederholte Zusammenbruch der verfassungsmäßigen politischen Ordnung und Restriktionen haben das Wachstum der politischen Parteien stark behin-dert. Die Hauptverantwortung dafür liegt bei den Militärregierungen. Als General

Page 85: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

83

has

an-a

skar

i riz

vi P

olit

isch

e Pa

rtei

en u

nd f

ragm

enti

erte

Dem

okra

tie

Ayub Khan im Oktober 1958 das Kriegsrecht verhängte, wurden politische Aktivi-täten verboten und Parteien an der Arbeit gehindert (ihre Büros wurden durch die Militärregierung versiegelt). Als die Militärregierung beendet und im Juni 1962 eine neue Verfassung gegeben wurde, erhielten die politischen Parteien trotzdem nicht wieder ihre Zulassung. In der Folge stimmte Ayub Khan unter starkem politischem Druck der Wiederzulassung zu, übernahm aber, um am Ruder zu bleiben, den Vorsitz einer der Fraktionen der PML, Pakistan Muslim League – Convention (PML-C) genannt, die 1962 gebildet wurde, um Ayub Khans Politik zu unterstützen.

Um die Aktivitäten der Parteien zu regeln, wurde 1962 ein Gesetz über die politischen Parteien verabschiedet. Dieses Gesetz ist immer noch in Kraft, aber es gab Änderungen. Auf dem heutigen Stand verpflichtet das Gesetz die politi-schen Parteien, sich bei der pakistanischen Wahlkommission registrieren zu lassen, wenn sie an den Wahlen teilnehmen wollen, zu innerparteilichen Wahlen der Vorsitzenden und zur jährlichen Offenlegung der Einnahmen und Ausgaben der Partei. Sollten sie diesen Auflagen nicht nachkommen, können politische Parteien verboten werden.

Ein weiterer politischer Bruch erfolgte durch die Ausrufung der zweiten Militärregierung durch General Yaya Khan im März 1969. Zwar wurden die politi-schen Parteien nicht vollends verboten, aber es herrschte ein zeitweiliges Verbot politischer Betätigung. Dieses Verbot wurde aufgehoben, damit die Parteien an den Wahlen von 1970 teilnehmen konnten.

Dagegen agierte die dritte Militärregierung von General Zia ul-Haq mit eiserner Faust gegen die Parteien und die politischen Führer, die seine Legiti-mität in Frage stellten. Sehr viele politische Führer und Aktivisten wurden festge-nommen und entweder zu Gefängnisstrafen verurteilt oder ausgepeitscht.

Die letzte Militärregierung unter General Pervez Musharraf hat die Parteien nicht verboten, aber ihre Aktivitäten erheblich eingeschränkt. Vor allem die großen nationalen Parteien, die PPP und die PML-N, wurden drangsaliert. Musharraf äußerte mehrmals, für die Führer dieser Parteien gebe es in der pakistanischen Politik keinen Platz. Tatsächlich kehrten beide Parteien triumphal auf die politi-sche Bühne zurück, als das Musharraf-Regime in 2007/2008 schwächer wurde.

Somit blockierten, zusammengefasst, politische Diskontinuität und Restrik-tionen die Entwicklung der politischen Parteien in Pakistan. Daher konnten sich die Parteien nicht zu kohärenten und effektiven politischen Institutionen entwickeln. Alle Militärregierungen haben erfolgreich versucht, die politischen Kräfte zu entzweien und zu zersplittern und eine ihnen genehme Führung zu schaffen, indem sie politisch unbedeutende Figuren förderten. Ayub Khan führte die Wahlen 1962 ohne Parteien durch, und Zia ul-Haq schloss die Parteien von der Wahl 1985 ebenfalls aus. Er plante das auch für die Wahlen von 1988, starb aber bei einem Flugzeugunglück, bevor die Wahlen stattfinden konnten. Doch nicht nur das, alle Militärherrscher betrieben auch massive Propaganda gegen Politiker, warfen ihnen Korruption, Misswirtschaft und Schädigung des nationalen Interesses vor. General Ayub Khans Militärregierung schloss einige

Page 86: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

84

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

hundert politische Führer, darunter ehemalige Premierminister, für sechs Jahre vom öffentlichen Leben aus. General Yaya Khan untersagte eine ganze Reihe politischer Aktivitäten, bevor das Datum für die Wahlen von 1970 festgesetzt wurde. General Zia ul-Haq gab einige Weißbücher über die «Verbrechen» der von Zulfikar Ali Bhutto geführten Zivilregierung heraus und ging sehr hart gegen diejenigen vor, die gegen seine Militärregierung opponierten. General Pervez Musharraf, Militärherrscher wie seine Vorgänger, machte die politischen Führer für die politischen Übel und die wirtschaftlichen Probleme Pakistans verantwort-lich. Die Militärherrscher selbst stellten sich gerne als Retter Pakistans dar.

Es gab drei politische Parteien in Pakistan, die verboten wurden. Die erste war die Kommunistische Partei Pakistans, die im Juli 1954 verboten wurde. Obwohl das Verbot formell nicht aufgehoben wurde, trat die Kommunistische Partei Pakistans in den frühen 1970er Jahren wieder in Erscheinung. Heute besteht sie aus einer kleinen Anzahl Aktivisten und ist im Bewusstsein der Mehrheit der Bevölkerung nicht präsent. Die Jamaat-i-Islami wurde 1964 durch die Regierung von Ayub Khan verboten, aber der oberste Gerichtshof hob das Verbot noch im selben Jahr auf. Im Februar 1975 wurde die National Awami Party (NAP) durch die Regierung Zulfikar Ali Bhutto verboten, was der Oberste Gerichtshof bestä-tigte. Zuerst gründeten die NAP-Aktivisten daraufhin im November 1975 die National Democratic Party (NDP), im Jahr 1986 die Awami National Party (ANP), die NDP lösten sie auf. Nach den Wahlen von 2008 trat die ANP in die Regierung ein, außerdem stellt sie die Provinzregierung in NWFP.

auf dem Weg zu zwei starken politischen Parteien

Seit den Wahlen von 1988 macht sich nach und nach ein interessanter Trend in der pakistanischen Politik bemerkbar. Zwei populäre politische Parteien beherr-schen seitdem die politische Bühne: die PPP und die PML-N. Obwohl sie beide in ihren Hochburgen große Stimmengewinne verzeichneten, mussten sie zur Bildung einer stabilen Regierung allerdings mit kleineren und regionalen Parteien verhandeln. Das hat die kleineren und regionalen Parteien in die Lage versetzt, auf der nationalen Bühne mitzumischen und dort an der Macht teilzuhaben.

PPP und PML-N waren bei den Wahlen 1988, 1990, 1993 und 1997 die beiden führenden Parteien. Sie bekamen die Mehrheit der Stimmen. Beide Parteien bildeten jeweils zwei Regierungen, und alle diese vier Regierungen waren Koali-tionen. Das reibungslose Funktionieren der von der PPP oder PML-N geführten Regierung hing großenteils von der Fähigkeit der größeren Partei ab, mit den kleineren Parteien in der Koalition reibungslos zusammenzuarbeiten. Bei den Wahlen von 2002 gewann jedoch die Pakistan Muslim League-Quaid-i-Azam Group (PML-Q), eine Pro-Musharraf-Fraktion der PML, die meisten Parlaments-sitze vor der PPP. Die PML-N wurde dritte Kraft. Folglich bildete die PML-Q eine Koalitionsregierung für die nächsten fünf Jahre.

Die Wahlen von 2008 sahen die Rückkehr von PPP und PML-N auf die ersten beiden Plätze. Die PPP siegte gegen drei kleinere regionale Parteien, Mutthaida

Page 87: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

85

has

an-a

skar

i riz

vi P

olit

isch

e Pa

rtei

en u

nd f

ragm

enti

erte

Dem

okra

tie

Quami Movement (MQM), ANP und Jamiat-i-Ulema-I-Islam Fazur Rahman (JUIF), und bildete eine Koalition. Auch die PML-N war für einige Zeit Mitglied dieser Koalition. Auf der Provinzebene arbeiten diese beiden wichtigsten Parteien im Punjab weiter zusammen, wo die PPP Mitglied der von der PML-N geführten Koalition ist. Dennoch ließ die Militärregierung von General Pervez Musharraf nichts unversucht, um PPP und PML-N zu schwächen und auseinan-derzubringen, während sie die stärkste Opposition gegen ihn bildeten. Aber trotz Manipulationen und Bemühungen auf höchster Ebene hatte Musharraf keinen Erfolg – beide Parteien lagen bei den Wahlen 2008 vorne.

Die Entwicklung von PPP und PML-N als die größten Parteien ist in der Tat ein positiver Trend, wenn man vor allem an die verschlungenen Wege denkt, die das Land seit seiner Gründung gehen musste. Wie auch immer, keine von beiden Parteien kann eine stabile Regierung ohne Unterstützung der kleineren Parteien bilden. Das sichert ohne Zweifel politische Kontinuität und Stabilität und stärkt die Beziehungen zwischen der nationalen und der regionalen Ebene und den kleineren Parteien. Letztere haben so Anteil am politischen Prozess auf natio-naler Ebene.

Wir können hoffen, dass das Zweiparteiensystem, welches sich herausge-bildet hat, Demokratie und Föderalismus stärken wird, indem die großen politi-schen Parteien ihre Beziehungen zu den kleineren und regionalen pflegen, um eine Regierung bilden zu können.

die rolle der geheimdienste

Die Herrschaft des Militärs in Pakistan hat zu einer einflussreichen Rolle der Geheimdienste in der Politik geführt. Seit der Zeit der Militärregierung von General Zia ul-Haq haben zwei vom Militär beherrschte Geheimdienste, die Inter-Services Intelligence (ISI) und die Military Intelligence (MI), aktiv an der Politik mitgewirkt. Diese durch Zias Regime erstarkten Geheimdienste waren in der Lage, den politischen Prozess krass zu verzerren und die politischen Führer zu manipulieren, um die Interessen der Militärregierung zu schützen. So sehr übrigens, dass ihre Einmischung selbst nach dem Ende der Herrschaft des Generals fortgesetzt wurde. Während des Wahlkampfs 1988 half die ISI sogar dabei, ein Bündnis verschiedener Parteien gegen die PPP zu schmieden. Die Islami Johoori Ittehad (IJI), die unter der Führung von Nawaz Sharif die verschiedensten politischen Elemente zu einer Opposition gegen die PPP zusam-menbrachte, war tatsächlich eine Kreatur der ISI. Sie unterstützte 1988 den Wahlkampf der IJI gegen die PPP. Bei den Wahlen 1990 wurde die ISI wieder aktiv, wandte aber diesmal eine andere Methode an: Sie verteilte unter den oppositio-nell gegen die PPP eingestellten politischen Führern 60 Millionen Rupien. Die ISI wollte verhindern, dass die PPP die Wahlen klar gewinnen würde, und sie wollte eine Gegenmacht etablieren. Die Geheimdienste versuchten auch, einige Parla-mentsmitglieder für das Misstrauensvotum gegen die Regierung Benazir Bhutto im Jahr 1989 auf ihre Seite zu bringen. Dieser Versuch schlug jedoch fehl.

Page 88: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

86

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

ISI und MI waren nützliche Werkzeuge für die politischen Interessen von General Pervez Musharraf. Einige, vielleicht alle Gespräche zwischen den politi-schen Führern und Musharraf fanden durch Vermittlung und manchmal auch unter Beteiligung dieser Geheimdienste statt. Auch das erste Gespräch zwischen General Pervez Musharraf und Benazir Bhutto fand durch Vermittlung der ISI statt. Im Jahr 2007 nahm Musharraf dann direkt den Kontakt zu ihr auf.

Jede Untersuchung der pakistanischen Politik und der Rolle der politischen Parteien ist, um es ganz deutlich zu sagen, unzureichend, wenn sie nicht den Einfluss der Geheimdienste betrachten. Ihre Rolle in der Politik hat zweifellos weitreichende negative Folgen für das Wachstum der politischen Parteien in Pakistan gehabt.

islamische politische Parteien

Es gibt einige islamische Parteien in Pakistan. Manche von ihnen wie die Jamaat-i-Islami (JI), die Kahksar Tehrik und die Majlis-i-Ahrar bildeten sich schon in der Zeit vor der Unabhängigkeit heraus. Einige neue islamische Parteien entstanden in der Zeit danach. Die religiöse und politische Ausrichtung all dieser Parteien kann als orthodox und konservativ bezeichnet werden – sie legen die religiösen Texte buchstabengläubig aus. Sie sind allesamt Gegner der westlichen Kultur und kämpfen gegen deren Einflüsse auf die pakistanische Gesellschaft. Die meisten von ihnen stehen einer bestimmten islamischen Glaubensrichtung nahe, was ihre Anziehungskraft auf die entsprechenden Anhänger beschränkt. Die Jamiat-i-Ulema-i-Islam (JUI) ist mit der Deobandi-Tradition des Islam gleichzusetzen. Die Jamiat-i-Ulema-i-Pakistan (JUP) identifiziert sich mit der Barelvi-Tradi-tion des Islam. Die Jamiat-e-Ahle Hadith (Hadees) repräsentiert die islamische Tradition der Ahle-Hadith. In all diesen Parteien gibt es Fraktionen. Es hat auch wenige Parteien in der Tradition der Shia gegeben, die jedoch kaum Wahlerfolge aufzuweisen hatten.

Diese Parteien fordern die Einführung einer islamischen politischen Ordnung. Sie betonen die Überlegenheit des traditionellen islamischen Rechts (der Scharia), haben aber bis heute keinen Verfassungsentwurf zustande gebracht, der ihre Vorstellung eines islamischen Staats wiedergeben würde. Wichtiger ist, dass es zwischen den Islamisten nicht den geringsten Konsens über die Institu-tionen und Verfahrensweisen eines islamischen politischen Systems gibt. Ihre sektiererischen Differenzen und die religiöse Orthodoxie erschweren es ihnen, die islamischen Prinzipien in konkrete Institutionen und Verfahrensweisen zu übersetzen. Dennoch haben diese Parteien ergebene und religiös motivierte Mitglieder und Mitarbeiter, doch bei Wahlen ist ihre Anziehungskraft begrenzt. Ihren höchsten Stimmenanteil erzielten sie bei den Wahlen von 2002 mit 11,2 Prozent der Stimmen. Im Allgemeinen liegt ihr Stimmenanteil konstant bei 5 bis 6 Prozent. Über allgemeine und freie Wahlen allein können sie also nicht an die Macht gelangen.

Page 89: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

In Rawalpindi, April 2009

Page 90: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

88

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

fazit

Pakistan hat ein Mehrparteiensystem, in dem eine große Zahl von Parteien ihre Kandidaten bei den Wahlen ins Rennen schickt. Im Jahr 2008 nahmen 45 Parteien an den Wahlen teil, im Jahr 2002 waren es noch 77. Die größte Anzahl, nämlich 97, war bei den Wahlen 1997 angetreten.2 Es gibt darüber hinaus eine Reihe nicht registrierter Parteien, die nicht an den Wahlen teilnehmen, aber politisch aktiv sind und zu nationalen und internationalen Fragen Stellung nehmen. Diese politischen Parteien repräsentieren ein sehr breites politisches Spektrum, das von einer säkularen und linksliberalen Ausrichtung über Mitte-Rechts bis zu rechtsgerichteten und religiösen Orientierungen reicht.

De facto ist Pakistan heute auf dem Weg zu einem System mit zwei großen Parteien, die ihre politische Vormachtstellung untermauert haben, von denen aber keine eine stabile Regierung bilden kann, ohne einige regionale und kleinere Parteien einzubeziehen. Es ist zu erwarten, dass dieses Muster sich festigt, vorausgesetzt, der demokratische Prozess wird nicht erneut durch das Eingreifen des Militärs unterbrochen.

Die politischen Parteien Pakistans werden durch starke Persönlichkeiten beherrscht, und es mangelt ihnen an innerparteilicher Demokratie. Die Organi-sationsstrukturen aller Parteien sind oligarchisch, was durch innerparteiliche Wahlen kaum gemildert wird, weil diese nicht frei sind und nicht auf Wettbe-werb beruhen. Im Normalfall sind die Wahlen nur indirekt und werden sorgfältig vorbereitet, oder die Parteien wählen als Führer immer wieder dieselbe charis-matische Persönlichkeit. Die Führerkultur ist in Pakistan fest verankert, haupt-sächlich durch feudale und autoritäre Normen, die die Chancen der Demokratie innerhalb und außerhalb der Parteien schmälern.

Das Fehlen innerparteilicher Demokratie bedeutet aber nicht unbedingt, dass die Parteien den demokratischen Prozess im politischen System nicht fördern können. Die Erfahrungen in Nordamerika und Europa zeigen, dass innerparteiliche Demokratie der Demokratisierung des politischen Systems und der Gesellschaft folgt. Da autoritäre Tendenzen in der pakistanischen Gesell-schaft unübersehbar sind, spiegeln die politischen Parteien diese Tendenzen wider. Wenn jedoch die Demokratie im politischen System Pakistans weiter Wurzeln schlägt und regelmäßig freie und faire Wahlen stattfinden, wird es den politischen Parteien in Zukunft schwerfallen, eine autoritäre und personalisierte Parteiorganisation beizubehalten. Klar ist, dass diese quasi natürliche Entwick-lung der Parteien auch durch die wiederholte Militärherrschaft behindert wurde. Da sie während der Zeit der Militärregierungen ums Überleben kämpfen mussten, wurden die Fragen der innerparteilichen Demokratie in den Hinter-grund gedrängt.

Einige Parteien können als Sammelbecken angesehen werden, die die sozio-ökonomischen, ethnischen und regionalen Spaltungen Pakistans überwinden

2 Daily Times vom 14. Februar 2008.

Page 91: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

89

has

an-a

skar

i riz

vi P

olit

isch

e Pa

rtei

en u

nd f

ragm

enti

erte

Dem

okra

tie

helfen. Politische Parteien wie die PPP und verschiedene Fraktionen der PML, besonders die PML-N und die PML-Q, sind quasi Volksparteien, die bestrebt sind, in allen Provinzen und in den verschiedensten ethnischen und regionalen Gruppen Anhängerschaft zu gewinnen. Diese Parteien haben politisch umfas-sende Programme. Dagegen haben die meisten anderen Parteien örtliche, regio-nale oder ethnische Ausrichtungen. Zwar mögen diese Parteien scheinbar alle betreffende Slogans benutzen, aber Unterstützung finden sie hauptsächlich in eng begrenzten Regionen oder Ethnien. Sie vertiefen so die existierenden gesell-schaftlichen Spaltungen.

In der politischen Klasse gibt es Differenzen über die Formulierung einer pakistanischen Nationalidentität und die Bestimmung des Verhältnisses zum Islam. Einige weitere ungelöste Konflikte betreffen das Verhältnis von Zentrum und Provinz, den Grad regionaler Autonomie und besonders das Manage-ment und die Verteilung finanzieller und wirtschaftlicher Ressourcen zwischen Provinzen und politischen Gruppen. Diese Differenzen haben die Fragmentie-rung im politischen System Pakistans erhalten, obwohl man auch berücksich-tigen muss, dass einige regionale und Dissidentenbewegungen bei der Propagie-rung ihrer politischen Forderungen immer sehr lautstark die Stimme erheben.

Die politischen Parteien sind leider nicht in der Lage gewesen, dauerhafte Übereinkünfte – wenn schon keinen Konsens – über diese strittigen Fragen zu erzielen. Das beeinträchtigt aber die Entwicklung ziviler Institutionen und Verfahren. Man muss den Parteien zugute halten, dass die wiederholten Restrik-tionen durch die Militärregierungen die Parteien dabei behindert haben, über diese Fragen eine Verständigung auf breiter Basis herzustellen. Wenn der demokratische Prozess aber über einen längeren Zeitraum andauert und freie und faire Wahlen regelmäßig stattfinden, dann könnten die politischen Parteien auch die Möglichkeit haben, im politischen System integrativ zu wirken.

Andererseits haben die politischen Parteien auch ihre Konsensfähigkeit gezeigt und ihren Nutzen für einen Wandel im politischen System bewiesen. Doch aufgrund der Brüche in der demokratischen Entwicklung war ihre Wirkung manchmal minimal. Von Zeit zu Zeit haben sich die Parteien mit anderen gesell-schaftlichen Gruppen zusammengetan, um politische Bewegungen in Gang zu setzen. Zu diesen beachtenswerten politischen Bewegungen gehörten die gegen Ayub in den Jahren 1968/69, gegen Benazir Bhutto 1977, die Bewegung für die Wiederherstellung der Denokratie (Movement for the Restoration of Democracy, MRD) gegen General Zias Militärregierung 1983 und 1986. Die meisten Parteien, wenn auch nicht alle, schlossen sich ebenso der Anwaltsbewegung (2007/08) gegen die Bestrebungen des damaligen Präsidenten Pervez Musharraf an, den Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs zu entlassen (worauf die Außerkraftset-zung der Verfassung und die Ausrufung des Ausnahmezustands im November 2007 folgte), sowie den Versuch, mehr als 60 Richter des Obersten Gerichts-hofs zu entlassen. Der Erfolg dieser Bewegung war ein Triumph der Anwälte, der Unterstützergruppen und der politischen Parteien, die sich der Bewegung anschlossen.

Page 92: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

90

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Trotz aller Schwächen der Parteien übten diese doch Druck auf die zivilen und auch die Militärregierungen aus. Sie spielten eine wichtige Rolle bei der Artikulation und Bündelung politischer Forderungen, die zum einen die Erwar-tungen ethnischer oder regionaler Gruppen und zum anderen Hoffnungen über diese Trennungen hinaus auszudrücken vermochten. Die politischen Parteien Pakistans haben sich ernsthaft den Problemen wie dem des Charakters des politischen Systems, des Föderalismus und der provinziellen Autonomie, der Demokratie, der sozialen Gerechtigkeit und des Verhältnisses zwischen Islam und dem Gemeinwesen gewidmet. Man darf erwarten, dass die Parteien die demokratischen Normen und den Vorrang der verfassungsmäßigen Ordnung und der Rechtsstaatlichkeit in Pakistan stärken werden.

Die religiösen Parteien wollen für sich selbst im Namen des Islam einen Nutzen aus dem politischen System ziehen. Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass sie vom gewählten Parlament oder durch Regierungsakte ein derartiges Privileg oder ein Vetorecht im Hinblick auf die Gesetzgebung bekommen werden. Anders als im Iran, wird das letzte Wort zur islamischen Natur des Rechts und der Regie-rungstätigkeit weiterhin beim gewählten Parlament liegen.

Der fortdauernde Anstieg islamistischer Militanz gefährdet die Demokratie und die innere Stabilität, und die islamischen Parteien distanzieren sich weitge-hend von militanten Gruppen, darunter auch die Taliban. Dennoch fungieren die religiösen Parteien oft als deren politische Speerspitze und wehren sich dagegen, dass gegen diese militanten Gruppen vorgegangen wird. Die meisten dieser Parteien teilen sogar die Vorstellungen der Taliban einer mehr oder weniger reinen islamischen Ordnung, auch wenn sie untereinander in den Details und der Frage, inwieweit Gewalt zur Durchsetzung einer islamischen Ordnung gerechtfertigt ist, nicht einig sind.

literatur

Afzal, M. Rafique (1976): Political Parties in Pakistan, 1947-1958, National Commission on Historical and Cultural Research, Islamabad.

Ahmad, Mushtaq (1970): Government and Politics in Pakistan, Karatschi.Aziz, K. K. (1976): Party Politics in Pakistan, 1947-1958, National Commission on Historical and

Cultural Research, Islamabad.Callard, Keith (1957): Pakistan: A Political Study, London.Haq, Farhat (1995): Rise of the MQM in Pakistan, Asian Survey, 25 (11), November 1995, S.

90-104.Macridis, Roy C. (1967): Political Parties: Contemporary Trends and Ideas, New York.Mahmood, Safdar (2000): Pakistan: Political Roots and Development, 1947-1999, Karatschi.Malik, Ifthikar H. (1995): Ethno-Nationalism in Pakistan: A Commentary on Muhjar Qaumi

Mahaz (MQM) in Sindh, South Asia, XXVIII (2), Dezember 1995, S. 49-72. (Research Journal published from Australia).

Rashiduzzaman, M. (1970): The Awami league in the Political Development of Pakistan, Asian Survey, 10 (7), Juli 1970, S. 574-587.

Rizvi, Hasan Askari (2003): Military, State and Society in Pakistan, Lahore.

Page 93: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

91

kai

ser

Ben

gali

Paki

stan

: Vom

Ent

wic

klun

gsst

aat

zum

Sic

herh

eits

staa

t

kaiser Bengali

Pakistan: Vom entwicklungsstaat zum sicherheitsstaat

Die Weltwirtschaft ist in einer Krise. Viele Banken in den USA, in Großbritannien und in anderen Ländern sind zusammengebrochen bzw. nur dadurch gerettet worden, dass eine Maßnahme aus dem sozialistischen Repertoire kopiert wurde: Verstaatlichung. Der durch die neoliberale Politik hervorgerufene wirtschaft-liche Zusammenbruch hat eine weltweite Rezession ausgelöst, die Millionen von Menschen auf der ganzen Welt Arbeitsplätze und Existenz gekostet hat.

Pakistan ist dieser Finanzkrise entkommen, vor allem deshalb, weil das Land auf den Weltfinanzmärkten keine Rolle spielt. Dennoch spürt auch Pakistan die Folgen der weltweiten wirtschaftlichen Rezession. Pakistans Wirtschaftskrise ist jedoch älter als die Weltwirtschaftskrise. Tatsächlich ist Pakistans Wirtschaft seit einem Vierteljahrhundert im Abstieg begriffen. Es gab kurze Perioden, in denen scheinbar Wachstum und Fortschritt stattfand – aber eben nur scheinbar.

Das ist bedauerlich, wenn man bedenkt, dass Pakistan kein armes Land ist; es ist reich an Ressourcen und könnte die Arbeitslosigkeit innerhalb einer Genera-tion beseitigen, den Analphabetismus sogar noch früher. Stattdessen ist Pakistan von Krise zu Krise getaumelt, muss alle 10 Jahre in der Welt betteln gehen und verlangt den Armen und der Mittelklasse des Landes hohe Kosten ab.

Die Wurzeln dieser Krisen sind nicht wirtschaftlicher, sondern politischer Natur. Tatsache ist, dass der pakistanische Staat auf dem falschen Weg ist und die Wirtschaft des Landes in eine Sackgasse manövriert hat. Wie konnte das geschehen? Um diese Frage beantworten zu können, muss man einen Blick auf die wirtschaftliche Entwicklungsgeschichte des Landes werfen.

Die sechs Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit Pakistans können in zwei etwa gleich lange Abschnitte unterteilt werden: die Zeit, in der es ein Entwick-lungsland, und die Zeit, in der es ein Sicherheitsstaat war. Das Entwicklungs-land umfasst die ersten 30 Jahre nach der Unabhängigkeit 1947 bis zum Sturz der Bhutto-Regierung 1977. Der Militärputsch von 1977 war der Beginn des Abstiegs des Entwicklungslands und die Geburtsstunde des Sicherheitsstaates. Von da an hörte die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung auf, das oberste Ziel des Staates zu sein.

Page 94: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

92

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

1 die Phase als entwicklungsland: 1947 bis 1977

In dieser Phase löste eine ganze Reihe von Regierungen einander ab. Von 1947 bis 1958 gab es Zivilregierungen, von 1958 bis 1971 Militärregimes und von 1972 bis 1977 eine Zivilregierung. Alle Regierungen und Regimes – ob zivil oder militä-risch – von 1947 bis 1971 waren kapitalistisch orientiert. Die Regierung 1972 bis 1977 hatte eine sozialistische Orientierung. Dennoch sah sich jede Regierung oder jedes Regime – ob zivil oder militärisch, kapitalistisch oder sozialistisch – der wirtschaftlichen Entwicklung als oberstem Staatsziel verpflichtet.

In dieser Phase wurde eine ganze Reihe wirtschaftlicher Aktivposten geschaffen. Megaprojekte wie das Sindh Industrial Trading Estate, der Mangla-Damm, der Tarbela-Damm, Port Qasim, Stahlwerke, große Elektrizitätswerke und Fabriken, die große Autobahn Karatschi-Haiderabad usw. entstanden allesamt in den ersten 30 Jahren, in der Entwicklungslandphase des Landes. Diese Projekte brachten Quantensprünge in der Produktivität und spielen noch immer eine Schlüsselrolle bei der Schaffung von Einkommen, Arbeit und Export.

Hinweise auf den Charakter des Entwicklungslandes kann man aus der folgenden Statistik entnehmen (siehe Grafik 1; alle Abbildungen im englischen Original). Zwischen 1972 und 19771 betrug das durchschnittliche jährliche Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) weniger als 5 Prozent, das durch-schnittliche jährliche Wachstum der Bruttoeinnahmen 7 Prozent, das durch-schnittliche jährliche Wachstum der laufenden Ausgaben 4,5 Prozent, die Entwicklungskosten stiegen jährlich um 21 Prozent und die Militärausgaben sanken durchschnittlich um 1,1 Prozent.

grafik 1: Vergleich ökonomischer grunddaten (1973-77 und 1978-88)

1 Die Angaben beziehen sich in diesem Beitrag immer auf das fiskalische Jahr, d.h. von Juli bis Juni, jeweils 1972 bis 1977.

Page 95: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

93

kai

ser

Ben

gali

Paki

stan

: Vom

Ent

wic

klun

gsst

aat

zum

Sic

herh

eits

staa

t

Im Schnitt gab es einen Einnahmenüberschuss von 2,5 Prozent, der in die Finan-zierung von Entwicklungskosten gesteckt wurde. Das Wachstum der Entwick-lungsausgaben war vier- bis fünfmal so hoch wie das des BIP, und die Militär-ausgaben wiesen ein negatives Wachstum auf. Fiskalische Besonnenheit und Klugheit war eindeutig die Leitlinie, und die erwirtschafteten Überschüsse wurden in die Entwicklung der Infrastruktur und in die Stärkung der Produktivi-tätskapazitäten des Landes reinvestiert.

Die Vorteile der Investitionen in die Infrastruktur waren für die Wirtschaft signifikant. Der Zugang zu Wasser für die landwirtschaftliche Produktion stieg von 64 MAF im Jahr 1966 um 42 Prozent auf 91 MAF im Jahr 1980 an – dem Zeitraum, in dem der Mangla-Damm und der Tarbela-Damm in Betrieb genommen wurden. Die größere und zeitgerechtere Verfügbarkeit von Wasser führte zu deutlich höheren Ernteerträgen. Die Erträge bei Weizen stiegen zum Beispiel um 82 Prozent zwischen 1965 und 1980. Insgesamt verzeichnet der Landwirtschaftliche Produktionsindex ein Rekordwachstum um 58 Punkte im Jahr 1970 gegenüber 1965 (nach Mangla) und weitere 41 Punkte im Jahr 1980 gegenüber 1975 (nach Tarbela) (siehe Grafik 2).

grafik 2: Zuwächse in der landwirtschaftlichen Produktion (1980-81 = 100)

In den 1960er und 1970er Jahren wurden einige große Industrieprojekte initiiert, von denen die meisten nach 1977 in Betrieb genommen wurden. Die Stahlwerke Pakistan (Pakistan Steel Mill) wurden zum Beispiel 1968 konzipiert, der Bau begann 1974, Teile der Produktion wurden 1980 aufgenommen, und das Werk als Ganzes wurde 1983 in Betrieb genommen. Bemerkenswerterweise verzeichnet der Quantity Index of Manufacturing von 1980 bis 1985 einen Rekordzuwachs um 54 Punkte und 1985 bis 1990 um weitere 59 Punkte (siehe Grafik 3).

Page 96: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

94

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

grafik 3: Zuwächse in der industrieproduktion (1980-81 = 100)

Einen weiteren Hinweis auf die Investitionen in die Infrastruktur während der Entwicklungsphase des Landes geben die Entwicklungen bei den Kapazitäten in der Elektrizitätserzeugung. In der Zeit von 1960 bis 1977 wurden Hydel-, Thermal- und Nuklearenergieprojekte in Betrieb genommen und führten zu Kapazitätszuwächsen bei der Energieversorgung um 47 Prozent im Jahr 1962, um 62 Prozent im Jahr 1968 und um 32 Prozent im Jahr 1977. Insgesamt erreichte die Kapazität bei der Energieversorgung 1977 das Vierzehnfache des Jahres 1960 (siehe Grafik 4).

grafik 4: Zuwächse in den energieerzeugungskapazitäten

Page 97: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

95

kai

ser

Ben

gali

Paki

stan

: Vom

Ent

wic

klun

gsst

aat

zum

Sic

herh

eits

staa

t

2 die Phase des sicherheitsstaates: 1977 bis 2008

Die Entwicklungsphase endete im Jahr 1977, und in den nächsten 30 Jahren wurde Pakistan zu einem «Sicherheitsstaat», wobei Sicherheit hier als militäri-sches Abenteurertum nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Landes definiert ist. Auch diese Phase hat eine ganze Reihe Regierungen gesehen; es beginnt mit dem Militärregime von 1977 bis 1988 über zivile Regierungen von 1988 bis 1999 und einem erneuten Militärregime von 1999 bis 2008.

Hinweise auf die Verschiebung zum Sicherheitsstaat geben die folgenden Zahlen. Zwischen 1977 und 1988 wuchs das BIP im Schnitt um 6 Prozent, die Bruttoeinnahmen wuchsen um 9,5 Prozent, die laufenden Staatsausgaben wuchsen um 12 Prozent, die Ausgaben für Entwicklungskosten nahmen um weniger als 3 Prozent zu, und die Militärausgaben schnellten um 9 Prozent hoch (siehe wiederum Grafik 1).

Im Schnitt ergab das ein Einnahmendefizit von 2,5 Prozent. Das Wachstum bei den Entwicklungsausgaben sank auf weniger als die Hälfte des BIP-Wachs-tums, und der Anstieg bei den Militärausgaben betrug gegenüber dem BIP mehr als 50 Prozent. Verglichen mit der Zeit von 1972 bis 1977, war der durchschnitt-liche Zuwachs des BIP um 50 Prozent gestiegen, bei den Ausgaben für Entwick-lung um das Siebenfache gesunken, und das Wachstum der Militärausgaben lag um das Viereinhalbfache höher. Verschwendung war jetzt offensichtlich das Motto der Stunde, und die erwirtschafteten Überschüsse wurden in den Sicher-heitsapparat gesteckt.

2.1 Die 1980er Jahre

Nimmt man den Fall der jährlichen Ausgaben für Entwicklung um das Sieben-fache im Zeitraum 1977 bis 1988, verglichen mit der Zeit von 1972 bis 1977, dann ist es nicht verwunderlich, dass in der gesamten Dekade 1977 bis 1988 keine größeren Entwicklungsprojekte in Angriff genommen wurden. Dennoch verzeichnete diese Zeit hohe Wachstumsraten beim BIP. Dieses Rätsel verlangt nach einer Erklärung.

Es verhält sich so, dass Planer und politische Entscheidungsträger in der Dekade 1977 bis 1988 das Wachstum bei der Vergangenheit und der Zukunft ausborgten. Es gab vor allem drei große Quellen für das hohe Wachstum in dieser Zeit: Rückflüsse von in den 1970er Jahren getätigten Investitionen, Geldsen-dungen aus dem Nahen Osten und eine hohe Kreditaufnahme.

2.1.1 Rückflüsse aus früheren InvestitionenEs wurde schon von umfassenden und langfristigen kapitalintensiven Projekten aus den 1970er Jahren gesprochen, die in den 1980er Jahren Gewinn abwarfen. Die besten Beispiele sind die großen Fabrik- und Elektrizitätskomplexe und die Pakistanischen Stahlwerke, die – wie in Grafik 3 gezeigt – eine riesige Produktion

Page 98: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

96

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

ankurbelten, die dem BIP nach 1980 zugute kamen. Insgesamt erhöhte sich der industrielle Produktionsindex in der Zeit von 1977 bis 1988 um 111 Punkte.

2.1.2 Geldsendungen aus dem Nahen OstenDie Volkswirtschaften des Nahen Ostens, insbesondere Saudi-Arabiens, versetzten die Welt 1973 in einen Ölpreisschock: Die Ölpreise stiegen von 3 US-Dollar pro Barrel 1970 auf 12 US-Dollar 1974. Die meisten ölimportierenden Länder der Welt litten im Hinblick auf ihre Zahlungsbilanz und die Inflation unter den hohen Ölpreisen, darunter auch Pakistan. Diese Entwicklung füllte jedoch die Staatssäckel der ölexportierenden Länder und versetzte sie in die Lage, umfangreiche Bau- und Entwicklungsprojekte zu starten. Da die Bevölke-rung dieser Länder klein war, waren sie gezwungen, für ihre Bauprojekte und neu geschaffenen kommerziellen wie industriellen Anlagen in großem Umfang Arbeitskräfte zu importieren. Ein erheblicher Teil dieser Arbeitskräfte, vor allem ungelernte Arbeiter, kam aus Pakistan.

Zwischen dem Anstieg der Ölpreise und dem Beginn der Entwicklungspro-jekte in den Ländern des Nahen Ostens gab es jedoch eine zeitliche Verschie-bung. Deshalb setzten der Export von Arbeit in den Nahen Osten und der entspre-chende Geldfluss etwa um 1978, also 5 Jahre später, ein. Das wird durch die Tatsache belegt, dass sich die Zahlungen von 578 Millionen US-Dollar auf 1,156 Milliarden 1978 erhöhten. Insgesamt betrug der jährliche Wert der Zahlungen zwischen 1973 und 1977 sowie zwischen 1977 und 1978 281 Millionen bezie-hungsweise 2,145 Milliarden (siehe die Grafiken 5/5a). Die durch die Zahlungen angestoßenen wirtschaftlichen Aktivitäten, besonders auf dem Bausektor, trugen dazu bei, die Wachstumsraten des BIP in dieser Zeit in die Höhe zu treiben.

grafik 5: geldsendungen (1973-99)

Page 99: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

97

kai

ser

Ben

gali

Paki

stan

: Vom

Ent

wic

klun

gsst

aat

zum

Sic

herh

eits

staa

t

grafik 5a: durchschnittlicher jährlicher Wert der geldsendungen

2.2 Die 1990er Jahre

Die 1990er Jahre waren sowohl in wirtschaftlicher wie in politischer Hinsicht eine turbulente Zeit. Es war eine Zeit langsamer Abkehr von einer unbarmher-zigen Militärdiktatur und der Auswirkungen des Krieges in Afghanistan. In dieser Zeit folgten vier Regierungen aufeinander, und es waren Versuche zu erkennen, eine Entwicklungspolitik wiederaufzunehmen.

Die 1990er Jahre sind als das verlorene Jahrzehnt abgetan worden. Diese Charakterisierung ist nicht nur falsch, sondern auch unfair. Zugegebenermaßen war das wirtschaftliche Wachstum gering, gemessen an den geschichtlichen Standards Pakistans, und die Armut nahm zu. Das waren beides alarmierende Entwicklungen, die jedoch nicht ganz und gar in der Kontrolle und Verantwor-tung der damaligen Regierungen lagen.

Das Jahrzehnt hatte auch bahnbrechende Errungenschaften vorzuweisen. Es waren die 1990er Jahre, in denen es an vielen Fronten historische Wendungen gab, die für die zukünftige Entwicklung des Landes von Bedeutung sind. Es lassen sich mehr als ein halbes Dutzend Pluspunkte anführen.

Erstens gab es in Pakistan einen signifikanten demographischen Wandel, da das Bevölkerungswachstum deutlich unter 3 Prozent sank. Zweitens gab es einen großen Fortschritt auf der sozialen Ebene, weil die Säuglingssterblichkeit von 116 pro Tausend Neugeborenen 1990 auf 88 pro Tausend 1999 fiel. Drittens ist ein Plus bei der Weizenproduktion zu verzeichnen. Viertens war auf dem Sektor der öffentlichen Finanzen bemerkenswert, dass das bisherige Haushaltsdefizit in einen Überschuss verwandelt werden konnte. Fünftens wurden die Verteidi-gungsausgaben real gesenkt. Sechstens gab es große Fortschritte auf dem Gebiet der Elektrizitätserzeugung. Und siebtens wurde auf dem Feld der Telekommu-

Page 100: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

98

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

nikation ein großer Durchbruch erzielt, der Pakistan in diesem Sektor unter die fortgeschrittenen Länder einreihte.

Dennoch trüben mangelnde wirtschaftliche Erfolge das Bild des Jahrzehnts. Die Defizite des Fiskus und wachsende Schulden engten die Spielräume der Regierungen in diesem Zeitraum ein, das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts stagnierte, und die Armut nahm zu. Gerechterweise muss man den 1990er Jahren aber zugute halten, dass die Wurzeln dieser Probleme in der Wirtschaftspolitik der 1980er Jahre zu suchen sind. Die aus diesem Jahrzehnt übernommenen Schulden, die der Finanzierung der staatlichen Verschwendung gedient hatten, kamen in den 1990er Jahren erst wirklich zum Tragen und lagen schließlich als schwere Bürde auf den Schultern der Wirtschaft.

Die Zahlen zeigen, dass die durchschnittlichen Ausgaben für Schuldentilgung in der Zeit von 1978 bis 1988 28 Prozent der Staatseinnahmen beanspruchten, sich 1988 bis 1999 aber auf 56 Prozent verdoppelten (siehe Grafik 6). Ähnlich machte der Schuldendienst in der Zeit von 1977 bis 1988 im Durchschnitt 27 Prozent der Staatsausgaben aus, wuchs aber in den Jahren 1988 bis 1999 auf 45 Prozent an (siehe Grafik 7). Das Anwachsen der Schuldendienstlast kann auch im Zusammenhang der Verdoppelung des Verhältnisses Schulden/BIP von 24 Prozent 1977 auf 48 Prozent 1988 gesehen werden und belegt, dass die Schulden-akkumulation in den 1980ern rasend schnell vor sich ging.

grafik 6: durchschnittliche schuldentilgung in Prozent der steuereinnahmen

Dass die Kosten der Schuldentilgung bis 1999 auf bis zu 83 Prozent der Einnahmen und 55 Prozent der laufenden Ausgaben anstiegen, kann mit Sicher-heit den in den 1980er Jahren angehäuften Schulden angerechnet werden. Die Verdoppelung der Quote des Schuldendienstes gegenüber der Einnahmenquote von durchschnittlich 28 Prozent in den Jahren 1977 bis 1988 auf 56 Prozent in den Jahren 1988 bis 1999 brachte natürlich mit sich, dass der staatliche Spielraum für Investitionen in die Entwicklung und in den sozialen Sektor stark eingeengt war. Tatsache war, dass die primäre wirtschaftliche Tätigkeit der Regierung auf den

Page 101: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

99

kai

ser

Ben

gali

Paki

stan

: Vom

Ent

wic

klun

gsst

aat

zum

Sic

herh

eits

staa

t

Schuldendienst gegenüber den Gläubigern reduziert war und die Bedürfnisse zur Entwicklung des Landes nicht mehr befriedigt werden konnten.

grafik 7: durchschnittliche schuldentilgung in Prozent der laufenden ausgaben

Das Resultat war der Absturz der Entwicklungsausgaben (in Prozent vom BIP) von durchschnittlich 8,4 Prozent in den Jahren 1977 bis 1988 auf 5 Prozent in den Jahren 1988 bis 1999 – eine Verminderung der Staatsausgaben für Entwicklung um beinahe 40 Prozent (siehe Grafik 8). Die restriktive Ausgabenpolitik in den 1990er Jahren – erzwungen durch den IWF, um das Haushaltsdefizit gering zu halten – brachte das wirtschaftliche Wachstum fast zum Stillstand, mit einem BIP-Wachstum von nur 1,7 Prozent 1997. Wenn man bedenkt, dass das Bevöl-kerungswachstum in dieser Zeit 2,6 Prozent betrug, bedeutet das fürs Pro-Kopf-Einkommen einen Rückgang von fast einem Prozent.

grafik 8: durchschnittliche entwicklungsausgaben in Prozent des BiP

Page 102: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

100

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Die Folgen waren an Arbeitslosigkeit und Armut abzulesen. Die offizielle Arbeits-losenquote stieg von durchschnittlich 1,8 Prozent in den 1980er Jahren auf 5,7 Prozent in den 1990er Jahren. Der Prozentsatz der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, der von 1969/70 bis 1987/88 rapide von 46,5 Prozent auf 17,3 Prozent gefallen war, stieg 1996/97 wieder auf 31 Prozent an (siehe Grafik 9).

grafik 9: Zahl der armen in Prozent der Bevölkerung

Die in den 1990er Jahren gewählten Regierungen bemühten sich, trotz bindender fiskalischer und politischer Restriktionen wieder eine Entwicklungspolitik aufzu-nehmen – mit zwiespältigem Erfolg. Zwei bedeutende Entwicklungsinitiativen verdienen Beachtung. Eine davon war das Programm für den Bau einer ganzen Reihe von thermischen Kraftwerken durch die Privatwirtschaft – eine Initiative, die die 1990er Jahre und die Zeit bis Mitte der 2000er Jahre vor der Energie-knappheit bewahrte, die heute endemisch ist. Während der langen Dürreperiode von 1997 bis 2003 schlossen die Wärmekraftwerke die Lücke in der Energieer-zeugung durch Wasserkraft. Die Spitzen in der Energieerzeugung in den Jahren 1991, 1993, 1997 und 2000 waren der Inbetriebnahme von Wärmekraftwerken geschuldet, die nach 1988 konzipiert wurden. Die Spitze von 2004 hatte mit der Inbetriebnahme des Wasserkraftwerks Ghazi-Barotha zu tun, dessen Bau Mitte der 1990er begonnen hatte (siehe noch einmal Grafik 4.) Das andere Projekt war die Autobahn Lahore-Islamabad, deren ökonomischer Sinn bis heute ein strit-tiger Punkt ist.

2.3 Das Jahrzehnt 2000 bis 2009

Die Folgen mangelnder Investitionen seit 1977 – womit Instandsetzungsinves-titionen ebenso wie neue gemeint sind – kamen nach 1997 immer mehr zum Vorschein. Das war die Zeit, als sich in allen Bereichen Ermüdungssymptome

Page 103: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

101

kai

ser

Ben

gali

Paki

stan

: Vom

Ent

wic

klun

gsst

aat

zum

Sic

herh

eits

staa

t

zeigten und die Regierung, die Ende 1999 antrat, Taschenspielertricks und die Manipulation von Zahlen bemühen musste, um die Fassade des Wachstums aufrechtzuerhalten.

Der Zeitraum 2000 bis 2007 sollte für die Bewertung noch einmal zweige-teilt werden: 2000 bis 2002 und 2003 bis 2007. Die erste Phase war durch fortge-setzten Abschwung der Wirtschaft bei gleichzeitig stetigem Anwachsen des Staatsapparates gekennzeichnet. Die zweite Phase erlebte Wachstum, das durch Kreditfinanzierung und Konsumorientierung angekurbelt wurde – und dazu eine himmelschreiende Manipulation der Daten. Es wurde manifest, dass der Staat keine Entwicklungspolitik auf seiner Agenda hatte.

Die Jahre 2000 bis 2002: Die fiskalische und die Zahlungsbilanzkrise, die nach 1988 und zum Teil auch 1997 überkochte, dauerte bis 2002 an. Die Steuerein-nahmen waren nicht so hoch wie erwartet, die laufenden Ausgaben überstiegen die Vorgaben des Haushaltsplans, und die Ausgaben für die Entwicklung des Landes mussten wegen sinkender Ressourcen gekürzt werden. 1997 bis 1999 und 2000 bis 2002 blieben die Steuereinnahmen im Durchschnitt jeweils um 6 Prozent unter der Zielmarke. 1997 bis 1999 lagen die laufenden Ausgaben im Plan, überschritten aber die Vorgaben 2000 bis 2002 um 7 Prozent. In den Jahren 1997 bis 1999 blieben die Ausgaben für die Entwicklung 5 Prozent und von 2000 bis 2002 15 Prozent unter den Haushaltsvorgaben (siehe Tabelle 1). Die Ära fiskalischer Verschwendung und mangelnder Priorität für die Entwicklung war zurückgekehrt und erinnerte an die 1980er Jahre.

tabelle 1: Vergleich zwischen haushaltsvorgaben und tatsächlichen einnahmen und ausgaben

tatsächliche Zahlen als Prozent von haushaltsvorgaben

1997-99 2000-02

Bruttoeinnahmen -5,9 -6,1

Laufende Ausgaben -0,4 6,6

Ausgaben für Entwicklung -4,7 -15,0

Verteidigungsausgaben 0,8 6,4

Quelle: Government of Pakistan, Federal Budgets and State Bank of Pakistan Annual Report, verschiedene Ausgaben von 1997-2004

Die fiskalische Situation verschlechterte sich unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung weiterhin. Der Schuldendienstanteil stieg von 2000 bis 2009 auf 60 Prozent der Staatseinnahmen, und die durchschnittlichen Ausgaben für Entwick-lung fielen weiter auf 3,4 Prozent des BIP. Der Anteil des Schuldendienstes an den laufenden Ausgaben sank jedoch um 2 Prozentpunkte, was auf die großzü-gigen Umschuldungsmaßnahmen zurückzuführen ist, in deren Genuss Pakistan nach den Anschlägen vom September 2001 in den USA kam (siehe erneut die Grafiken 6, 7 und 8.)

Die Vorherrschaft von Stabilisierungszielen war das wichtigste wirtschaftliche Merkmal in der Phase 2000 bis 2002. Die durchschnittliche Rate des Haushalts-

Page 104: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

102

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

defizits im Verhältnis zum BIP sank von 7 Prozent in den Jahren 1991 bis 1999 auf 4,7 Prozent während der Jahre 2000 bis 2002, die durchschnittliche Inflationsrate sank von 10,4 Prozent auf 3,8 Prozent, und die Handelsbilanzquote verbesserte sich im Verhältnis zum BIP von –4,8 Prozent auf einen leichten Überschuss von 0,3 Prozent. Der Devisenkurs war mit einer Abwertung um 8,9 Prozent 2000 bis 2002, verglichen mit 10,6 Prozent in den Jahren 1991 bis 1999, etwas stabiler (siehe Tabelle 2).

Im Vergleich dazu waren die Wachstumsindikatoren auf der ganzen Linie unbefriedigend. Zwischen den Zeiträumen 1991 bis 1999 und 2000 bis 2002 fiel die Durchschnittsrate des BIP-Wachstums von 4,5 auf 2,9 Prozent, die Anlagein-vestitionen sanken im Verhältnis zum BIP von 16,9 Prozent auf 15,8 Prozent, die Exporte von 13,2 auf 12,1 Prozent und die Importe erheblich von 17,8 Prozent auf 13,6 Prozent. Bedenkt man, dass Pakistans Importe fast ausschließlich in die Kategorie der «lebensnotwendigen» Güter fielen, das heißt Treibstoff, Industrie-maschinen und Rohstoffe, war dieser Rückgang ein Indikator der durch die Stabi-lisierungspolitik erzwungenen Einschränkungen. Auch die menschlichen Kosten waren hoch, indem die offizielle Arbeitslosenquote von 5,6 auf 6,6 Prozent und die Armutsindikatoren von durchschnittlich 4,1 Prozent in den Jahren 1991 bis 1999 auf 6,2 Prozent in den Jahren 2000 bis 2002 zunahmen.

tabelle 2: stabilitäts- und Wachstumsindikatoren (durchschnitt)

stabilitätsvariablen 1991-99 2000-02 2003-07 2007-09

Haushaltsdefizit im Verhältnis zum BIP

7 4,7 3,6 5,4

Inflationsrate 10,4 3,8 6,5 14

Handelsbilanz -4,8 0,3 -1,2 -6,2

Nomineller Wechselkurs 10,6 8,9 0,9 13,5

Wachstumsvariablen

BIP-Wachstum 4,5 2,9 6,8 4,3

Anlageinvestitionen im Verhältnis zum BIP

16,9 15,8 17,8 19,8

Exporte/BIP 13,2 12,1 12,8 11,2

Importe/BIP 17,8 13,5 16,5 18,7

Arbeitslosenquote 5,6 6,6 7,5 5,5

Wachstumsrate der Armut 4,1 6,2 Keine Angaben Keine Angaben

Quelle: Government of Pakistan, Pakistan Economic Survey, verschiedene Ausgaben von 1991 bis 2009

Die Zahlen geben einen Einblick, wie die Stabilisierungsziele erreicht wurden: Das Haushaltsdefizit wurde durch Kürzung der Entwicklungsausgaben reduziert, wobei in diesem Zeitraum die laufenden Ausgaben stiegen. Die einschneidendste

Page 105: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

103

kai

ser

Ben

gali

Paki

stan

: Vom

Ent

wic

klun

gsst

aat

zum

Sic

herh

eits

staa

t

Kürzung der Entwicklungsausgaben erfolgte mit 33 Prozent im Jahr 2001 und war bezeichnend für die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik, die sich allein am Errei-chen der Stabilisierungsziele orientierte, selbst auf Kosten des Wachstums und der Beschäftigung. Die einschneidenden Kürzungen bei den öffentlichen Inves-titionen führten zu einer Rezession und fuhren die Einfuhrbedürfnisse zurück. Deshalb ist die Wende bei der Handelsbilanz eher auf Einfuhrbeschränkungen als auf Wachstum bei den Exporten zurückzuführen. Das daraus resultierende Absinken des BIP-Wachstums und der Anstieg bei Arbeitslosigkeit und Armut ließ die gesamtwirtschaftliche Nachfrage sinken, was zu einem Rückgang der Inflation führte. Es war nun offenkundig, dass auf der Agenda des Sicherheits-staates keinerlei Entwicklungsziele standen.

Die Jahre 2003-2009: Das Jahr 2003 markierte eine Verschiebung von Stabili-sierung zu Wachstum. Während die Erfolge der Stabilitätspolitik in den internati-onalen Finanzzentren in Washington, New York, London und Manila viel Beifall fanden, vergrößerten sie die Legitimationsprobleme eines nicht verfassungsge-mäßen Regimes, das seine Legalität ohnehin schon ernsthaft in Frage gestellt sah. Der nun folgende Wachstumsprozess beruhte jedoch auf einer Kreditblase und auf statistischen Betrügereien und verfehlte die Entwicklungsziele einer steigenden Produktivität und Produktionsmenge, steigender Beschäftigung und sinkender Armut. Die Scheinblüte dauerte nur bis 2007.

Die Stabilitätsindikatoren entwickelten sich unterschiedlich. Während das Haushaltsdefizit im Verhältnis zum BIP von durchschnittlich 4,7 Prozent 2000 bis 2002 weiter auf 3,6 Prozent in den Jahren 2003 bis 2007 sank, wurde der winzige Handelsbilanzüberschuss der Jahre 2000 bis 2002 in den Jahren 2003 bis 2007 zu einem Defizit von 1,2 Prozent. Auch die Inflation ging von durchschnittlich 3,8 Prozent 2000 bis 2002 in den Jahren 2003 bis 2007 wieder auf 6,5 Prozent nach oben. Der Devisenkurs blieb jedoch stabil (siehe wiederum Tabelle 1).

Die Wachstumsindikatoren zeigten nach oben. Die durchschnittliche Wachstumsrate des BIP stieg von 2,9 Prozent in den Jahren 2000 bis 2002 auf 6,8 Prozent 2003 bis 2007, wobei sie im Jahr 2005 9 Prozent erreichte. Die Anlagein-vestitionen schnellten von 7,4 auf 17,8 Prozent hoch, die Exporte verbesserten sich maßvoll von durchschnittlich 12,1 auf 12,8 Prozent, und die Importe stiegen von durchschnittlich 13,5 Prozent auf 16,5 Prozent.

Ironischerweise stieg jedoch die Arbeitslosigkeit von 6,6 Prozent in den Jahren 2000 bis 2002 auf durchschnittlich 7,5 Prozent in den Jahren 2003 bis 2007. Die Zahlen zur Armut sind heftig umstritten, nachdem die offizielle Behauptung einer Reduktion der Armut um ein Drittel in der kurzen Zeit von 2 oder 3 Jahren von unabhängigen Analysten als mathematisch unmöglich erachtet wurden. Dem Vernehmen nach wurde auch der Chefökonom der Regierung seiner Position enthoben, weil er den Zahlen zum Rückgang der Armut widersprach.2

Es ist deshalb interessant, hinter die allgemeinen Zahlen zu schauen und herauszufinden, wie diese von offizieller Seite als «herausragend» klassifizierten

2 The News vom 18. Juni 2006.

Page 106: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

104

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Wachstumszahlen erreicht wurden. Im Wesentlichen wurde der Wachstums-prozess durch kreditfinanzierten Konsum angetrieben. Die Katalysatorrolle von Bankkrediten und der Umfang der Kreditausweitung lassen sich an der Tatsache ablesen, dass das Wachstum bei der privaten Kreditaufnahme in den Jahren 1991-2002 durchschnittlich 76,4 Milliarden Rupien betrug und von 2003 bis 2008 auf 262 Milliarden Rupien hochschoss. Im Jahr 2002 wuchsen die Privatkredite um 53 Milliarden, 2003 verdreifachte sich die Zunahme auf 155 Milliarden und erreichte mit 352,7 Milliarden im Jahr 2005 ihre Spitze (siehe Grafik 10).

grafik 10: anstieg der nettokreditaufnahme im Privatsektor (in Preisen von 2001)

Die liberale Handhabung von Bankkrediten heizte die Nachfrage nach Konsum-gütern an, insbesondere nach Autos und Erzeugnissen der Elektronikbranche. Der Produktionsindex insgesamt und speziell der Schlüsselindustrien des Landes, d.h. Textilien (Kleidung) und Zement, wuchs von 100 im Jahr 2000 auf jeweils 283, 232 und 288 im Jahr 2008. Der Index für Autos und Fernsehgeräte schwoll um das Fünf- bis Siebenfache auf jeweils 498 im Jahr 2007 und 771 im Jahr 2006 an (siehe Grafik 11).

Der durchschnittliche 50-Punkte-Anstieg des Industrieproduktionsin-dexes innerhalb zweier Jahre zwischen 2003 und 2004 ist daher nicht echt. Das Wachstum in der Industrieproduktion ist das gegeneinander gewichtete durchschnittliche Wachstum in bestimmten Industrien, und das Wachstum des BIP ist das gegeneinander gewichtete durchschnittliche Wachstum in den einzelnen Bereichen. Ohne Kredite hätten Autoindustrie und der Elektronik-sektor kein derart hohes Wachstum erreicht, und das Produktionswachstum sowie das Wachstum des BIP hätten nicht das «herausragende» Erscheinungs-bild abgegeben, das ihm attestiert wurde.

Page 107: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

105

kai

ser

Ben

gali

Paki

stan

: Vom

Ent

wic

klun

gsst

aat

zum

Sic

herh

eits

staa

t

grafik 11: Produktionszuwächse ausgewählter industriezweige

Ab 2007 wurde deutlich, dass ein durch kreditfinanzierten Konsum angetrie-benes Wachstum nicht nachhaltig ist – was sich im Jahr 2008 deutlich zeigte und seine volle Wucht im Jahr 2009 entfaltete. Der Produktionsindex für Autos fiel von der Spitze 498 im Jahr 2007 auf 239 im Jahr 2009 und für Fernseher vom Spitzenwert 771 im Jahr 2006 auf 353 im Jahr 2009. Der Produktions-sektor insgesamt schrumpfte 2009 um 3 Prozent, wobei die Großindustrie um 8 Prozent schrumpfte. Teilweise wurde der Einbruch bei der Produktion durch die Verschärfung der Kreditvergabebedingungen verursacht, durch die auch der Bankensektor selbst um 1,2 Prozent schrumpfte. Insgesamt wuchs das BIP nur um 2 Prozent.

2.3.1 Manipulation der DatenSchwerwiegender als die Taschenspielertricks der Politik war die Manipulation von Daten, die von falscher Präsentation der wirtschaftlichen Indikatoren bis zur unverblümten Fälschung von Zahlen reichte.

2.3.1.1 Falsche Darstellung der Pro-Kopf-EinkommenDie Wirtschaftsfachleute sprachen 2002 von «herausragendem» Wachstum und behaupteten, dass das Pro-Kopf-Einkommen (hergeleitet vom Bruttona-tionaleinkommen und den Marktpreisen) in diesem Jahr auf reale 6,6 Prozent gestiegen sei. Analysiert man aber, wie dieses Pro-Kopf-Einkommen zustande kam, erheben sich ernsthafte Zweifel.

Das Pro-Kopf-Einkommen wird nach dem Bruttonationaleinkommen (BNE) errechnet, das als Bruttoinlandsprodukt plus/minus Nettoeinkommen aus dem Ausland definiert wird (Net Factor Income from Abroad, NFIA). Das Haupt-merkmal beim NFIA in diesem Zeitraum waren Zahlungsrückflüsse. Bis zum Jahr 2001 wurden die Zahlungen im Großen und Ganzen auf zwei Wegen vorge-

Page 108: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

106

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

nommen: auf dem offiziellen Bankweg und auf einem informellen Weg, der als «hundi» bekannt ist. Letzterer war als Geldtransfer attraktiver, weil es bessere Kurse als beim offiziellen Bankweg gab. Die pakistanische Staatsbank schluckte jedoch die durch «hundi» erhaltenen Gelder durch Dollarkäufe im Freiverkehr. Nach 2001 war der Unterschied zwischen den offiziellen Kursen und denen im Freiverkehr praktisch gleich null. Also wechselten die Arbeiter im Ausland bei ihren Zahlungen nach Pakistan von «hundi» zum offiziellen Bankweg.

Das wird aus der Tatsache ersichtlich, dass die offiziellen Überweisungen von Arbeitern aus dem Ausland sich von 1,1 Milliarden US-Dollar im Jahr 2001 auf 2,4 Milliarden US-Dollar im Jahr 2002 verdoppelten und dann noch einmal auf 4,2 Milliarden US-Dollar im Jahr 2003 stiegen. Ein Teil dieses Anstiegs war jedoch nur eine Verschiebung von den früher erwähnten Staatsbankkäufen im Freiver-kehr. Das wird auch aus der Tatsache ersichtlich, dass die Käufe der Staatsbank vom Spitzenwert im Jahr 2001, nämlich 2,2 Milliarden US-Dollar, auf 1,4 Milli-arden US-Dollar 2002 und auf null im Jahr 2003 fielen (siehe Tabelle 3).

tabelle 3: Zusammensetzung der transfers

2001 2001 Wachs-tum %

2002 Wachs-tum %

2003 Wachs-tum %

Überweisungen aus dem ausland

1,0 1,1 10,0 2,4 118,2 4,2 75,0

käufe der staatsbank

1,6 2,2 37,5 1,4 -36,4 0 -

total (1 + 2) 2,6 3,3 26,9 3,8 15,2 4,2 10,5

Quelle: State Bank of Pakistan Annual and Quarterly Reports, verschiedene Ausgaben von 2000 bis 2004

Also beruhte die Berechnung des Bruttonationaleinkommens und des Pro-Kopf-Einkommens auf dem Nominalwert der Zahlungen aus dem Ausland, was zu einer Überbewertung der Wachstumsrate des BNE und des Pro-Kopf-Einkom-mens in den Jahren nach 2001 führte. Es wären Korrekturen hinsichtlich des Pro-Kopf-Einkommens angebracht, wobei man die Käufe der Staatsbank als Teil der NFIA vor dem Jahr 2001 behandeln müsste.

Zum Beispiel stiegen die Überweisungen aus dem Ausland von 2001 auf 2002 um mehr als 100 Prozent von einer Milliarde auf 2,4 Milliarden US-Dollar an, während die Käufe der Staatsbank in diesen beiden Jahren um 36 Prozent von 2,2 Milliarden auf 1,4 Milliarden US-Dollar zurückgingen. Bezieht man die Käufe der Staatsbank in beiden Jahren mit ein, dann liegt die kombinierte Wachstums-rate bei 15 Prozent. Und davon ausgehend wäre die BNE-Wachstumsrate statt der offiziell behaupteten 8,9 Prozent auf 5,9 Prozent reduziert und das Pro-Kopf-Einkommen von 6,6 Prozent auf 3,7 Prozent. Dasselbe gilt für das Jahr 2003.

Page 109: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

107

kai

ser

Ben

gali

Paki

stan

: Vom

Ent

wic

klun

gsst

aat

zum

Sic

herh

eits

staa

t

2.3.1.2 Im Haushalt: Fälschung eines SchlüsselindikatorsDer Haushalt für das Jahr 2004 bezifferte das fiskalische Defizit für 2003 mit 4,5 Prozent. Das war jedoch zugunsten des folgenden Haushalts zu niedrig angege-ben.3

Im Haushalt ist von einer Einnahme von 57,7 Milliarden Rupien die Rede, und zwar unter der Überschrift «Recovery of Investment from KESC» – ein Energieversorgungszweig, der privatisiert worden war. Auf der Ausgabenseite taucht 2003 ein Eintrag über 57,3 Milliarden auf, unter der Überschrift «Unallo-cables». Das ist nicht erklärbar. Während eine Summe im laufenden Haushalt, die als «unallocable» bezeichnet wird, verständlich ist, gilt dies nicht für eine Summe im bereits abgeschlossenen Haushaltsjahr, dessen Ausgaben bereits getätigt sind. Eine Ausgabe, die bereits getätigt wurde und die doch als «nicht zuzuordnen» rubriziert wird, verlangt nach einer näheren Prüfung.

Die Untersuchungen ergaben, dass sowohl die Einnahmen- wie die Ausga-benzahlen reine Buchungseinträge waren – und sich gegenseitig aufhoben. Weder hatte die KESC die Summe von 57,7 Milliarden Rupien an die Regierung zurücküberwiesen, noch hatte die Regierung für irgendeinen Zweck 57,3 Milli-arden Rupien ausgegeben. Auf den Haushalt hatte das deshalb keinerlei Auswir-kungen.

Dennoch hatten diese Einträge ihren Zweck. Im Wesentlichen entband der Eintrag auf der Einnahmenseite ebenso wie der auf der Ausgabenseite die KESC von ihren Verbindlichkeiten gegenüber der Regierung in Höhe von 57,7 Milli-arden Rupien, ohne dass man eine Kreditabschreibung verbuchen musste!

Korrekt wäre lediglich ein Eintrag auf der Ausgabenseite gewesen. Dann hätte sich das fiskalische Defizit von den behaupteten 4,5 Prozent auf 5,6 Prozent erhöht, und dies war das tatsächliche Haushaltsdefizit des Jahres 2003.

2.3.1.3 Die Verfälschung von DatenDie Haushaltsdokumente veröffentlichen Einzelheiten über Steuereinnahmen, darunter Zolleinnahmen, unter 13 verschiedenen Importkategorien. Eine Analyse der Daten und Zahlen im Zeitraum der Jahre 2002 bis 2006 zeigt unerklärliche Ergebnisse. Die Analyse ergibt, dass bei 10 von 13 Importkategorien die Wachs-tumsrate fast in jedem Jahr gleich blieb (siehe Tabelle 4). Die Wachstumsrate aus den Zolleinnahmen für 10 von 13 Kategorien ist einheitlich 3,1 Prozent im Jahr 2003, 9,7 Prozent im Jahr 2004, 27,0 Prozent im Jahr 2005 und 17,3 Prozent im Jahr 2006. Es liegt auf der Hand, dass Steuereinnahmen aus verschiedenen Einfuhrkategorien nicht übers Jahr exakt um denselben Prozentsatz anwachsen können. Ganz offensichtlich sind diese Zahlen äußerst fragwürdig.

3 Social Policy Development Centre (2003), State of the Economy, «Behind the Aggregates», S.15-16.

Page 110: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

108

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

tabelle 4: Wachstum der Zollabgaben nach Warengruppen

angaben in millionen rupien / Wachstum in %

Warengruppe 2002 2003 Wachs-tum

2004 Wachs-tum

2005 Wachs-tum

2006 Wachs-tum

Chemie/chem.Produkte

7476 7711 3,1 8459 9,7 1073 27,0 1259 17,3

Farben, Lacke 2105 2171 3,1 2382 9,7 3024 27,0 3548 17,3

Eisen, Stahl 5330 5496 3,1 6030 9,7 7655 26,9 8980 17,3

Maschinen-industrie

7309 7540 3,2 9081 20,4 10500 15,6 1231,8 17,3

Metalle (ohne Gold)

1014 1046 3,2 1147 9,7 1456 26,9 - -

Mineralien, Heizöle

883 4259 382,3 4671 9,7 5930 27,0 6957 17,3

Gummi/Gummi-produkte

1563 1612 3,1 1769 9,7 2246 27,0 2635 17,3

Kunstharze etc. 5632 5808 3,1 6372 9,7 8089 26,6 9490 17,3

Fahrzeuge 5556 6730 21,1 7787 15,7 7981 2,5 9363 17,3

Zellstoffe/Papier 2273 2344 3,1 2572 9,7 3265 26,9 3830 17,3

Garne und Gewebe

2870 2960 3,1 3247 9,7 4122 26,9 - -

Medizinische/ fotografische Ausrüstung

943 973 3,2 1068 9,8 1356 27,0 - -

Andere Posten 36459 39950 9,6 50015 25,2 67537 35,0 - -

3 die aktuelle wirtschaftliche lage

Die Folgen des Verfalls des Entwicklungsstaates nach 1997 wurden in den letzten zehn Jahren deutlich. Das drei Jahrzehnte andauernde Ausbleiben angemessener Investitionen in die Infrastruktur, die Erneuerungsinvestitionen eingeschlossen, begann sich im Verfall infrastruktureller Einrichtungen zu zeigen. Im November 2005 gab es den Zusammenbruch eines Ankerplatzes im Hafen von Karatschi. Zwei weitere Ankerplätze folgten. Im Juni 2006 stürzte nahe dem Zentrum von Haiderabad eine Eisenbahnbrücke ein. Wenn man bedenkt, dass Karatschi der einzige wichtige Hafen des Landes ist und es nur eine einzige Eisenbahnverbin-dung gibt, die Karatschi mit dem Rest des Landes verbindet, bedeuteten diese Schäden einen ernsthaften Rückschlag für das Funktionieren der Wirtschaft.

Während die wirtschaftliche Basis stagnierte, blähten sich der Staatsapparat und damit eben auch der Sicherheitsapparat auf. Bis 1971 war Ostpakistan eine Provinz des Landes, die sich jedoch abspaltete und zum unabhängigen Staat Bangladesch wurde. Also ist Pakistan seit 1971 kleiner als vorher. Es gibt heute

Page 111: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

109

kai

ser

Ben

gali

Paki

stan

: Vom

Ent

wic

klun

gsst

aat

zum

Sic

herh

eits

staa

t

jedoch mehr Generäle als zu der Zeit, als das Land eine größere Fläche hatte und die Grenzen länger waren. Vor 1971 gab es 60 Offiziere im Generalsrang, darunter zwei Generäle und 11 Generalleutnants. Derzeit gibt es 125 Offiziere im Generals-rang, darunter drei Viersterne-Generäle, 30 Dreisterne-Generalleutnants und 92 Zweisterne-Generalmajore. 1970 gab es ein Organ, das für die Sicherheit der Küste verantwortlich war, die Coast Guards. Heute gibt es zwei: die Coast Guards und die Maritime Security Agency. Und dergleichen mehr.

Auf der zivilen Ebene sieht es nicht besser aus. Im Jahr 1977 gab es Bildungs-ministerien auf bundesstaatlicher Ebene und dann die in den einzelnen Provinzen: insgesamt 5. Heute gibt es 11 Einheiten: föderale und Provinzministe-rien, nationale und provinziale Bildungsstiftungen und eine nationale Kommis-sion für menschliche Entwicklung – zusätzlich zu mehr als einem Dutzend selbständiger Organisationen, die sich mit Bildung befassen. Dennoch ist das Bildungsniveau immer beklagenswerter geworden!

Auch staatliche Organisationen sind aufgebläht worden. Ursprünglich hatte die pakistanische Post einen Generaldirektor der Besoldungsstufe 21, dem 4 Stellvertreter der Besoldungsstufe 20 zur Seite standen. Heute ist der Posten des Generaldirektors auf die Besoldungsstufe 22 aufgewertet worden, und es sind drei neue zusätzliche Generaldirektorstellen mit der Besoldungsstufe 21 geschaffen worden. Die Stellen des Generalpostmeisters in Karatschi und Lahore sind ebenfalls von Besoldungsstufe 20 auf 21 aufgewertet worden. Diese Vergrö-ßerung hat trotz des Verlusts von Ostpakistan und der Verlagerung eines erhebli-chen Teils des Postgeschäfts auf private Kurierdienste stattgefunden.

Das oben genannte Phänomen wird aus einer Analyse der offiziellen Finanz-daten ersichtlich. Von 1973 bis 1999 waren die Ausgaben für Entwicklungskosten im Anteil am BIP immer höher (trotz Rückgängen, besonders von 1988 bis 1999) als die für den Verwaltungsapparat. Die Quote der Ausgaben für Entwicklungs-kosten zu denen für den öffentlichen Dienst im Anteil am BIP betrug zwischen 1973 und 1977 2,5:1,0 und sank zwischen 1978 und 1988 ständig auf 2,0:1,0 ab und zwischen 1989 und 1999 auf 1,4:1,0. Zwischen 2000 und 2009 fiel diese Quote zum ersten Mal auf unter 1, nämlich auf 0,8. Mit anderen Worten, der Anteil der Ausgaben für den öffentlichen Dienst am BIP überstieg zuletzt den der Ausgaben für Entwicklungskosten – um einen Prozentpunkt oder 29 Prozent (siehe Grafik 12).

Diese Umkehrung ist bezeichnend für die Tatsache, dass der Staatsapparat schneller gewachsen ist als die wirtschaftliche Infrastruktur und dass der Staats-apparat heute den Großteil der Einnahmen verschlingt, die das Steuersystem aus der Wirtschaft zieht. Von 1973 bis 1986 lagen die öffentlichen Einnahmen durch-schnittlich um 14 Prozent über den Ausgaben für den Schuldendienst, die Verteidi-gung und die Verwaltung. Mit anderen Worten, von jeder Rupie Steuereinnahmen wurden 86 Paisas für die drei heutigen Ausgabenspitzen verbraucht und 14 Paisas für Entwicklungskosten ausgegeben. Nach 1986 (1986 bis 2009) überstiegen die Ausgaben für Schuldendienst, Verteidigung und Verwaltung die Steuereinnahmen im Durchschnitt um 4 Prozent. Mit anderen Worten, auf jede Rupie Steuerein-

Page 112: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

110

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

nahmen wurden 104 Prozent für die heutigen Ausgabenspitzen verwendet, und es blieb nicht eine einzige Rupie für die Entwicklung der wirtschaftlichen Infra-struktur und für «human development» übrig. Ein fiskalischer Tiefpunkt war das Jahr 2000, in dem die Ausgaben für Schuldendienst, Verteidigung und Verwaltung die Steuereinnahmen um 23 Prozent überschritten.

grafik 12: durchschnittliche entwicklungs- und Verwaltungsausgaben in Prozent des BiP

Die erbärmliche Gleichgültigkeit gegenüber Wachstum und Entwicklung lässt sich auch daran ablesen, dass von 1997 bis 2007 nichts in die Erzeugung auch nur eines einzigen zusätzlichen Megawatts an Elektrizität investiert wurde. Das ist aus der Tatsache ersichtlich, dass die Kapazität der Elektrizitätserzeugung von 17.399 MW im Jahr 1997 auf 19.250 MW im Jahr 2004 stieg, was allein dem Beginn des Wasserkraftwerkprojekts Ghazi-Barotha im Jahr 1996 zu verdanken war. Danach wurden keine neuen Investitionen mehr getätigt, und die Kapazität für die Energieerzeugung ist bis 2009 mehr oder weniger konstant bei 19.440 MW geblieben. Mit anderen Worten, zwischen 2004 und 2009 hat es bei der Energie-erzeugungskapazität quasi ein Nullwachstum gegeben (siehe noch einmal Grafik 4). Die Nachfrage ist jedoch ständig gestiegen, und das Ergebnis sind massive Stromausfälle im ganzen Land mit schwerwiegenden Folgen für Produktion und Beschäftigung.

3.1 Auswirkungen auf die Wirtschaft

Die Auswirkungen auf die Wirtschaft waren überaus nachteilig. Der Mangel an Investitionen in die Erhaltung und den Ausbau der physischen und sozialen Infrastruktur hat die Produktionskapazität und die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft und des industriellen Sektors beeinträchtigt und die Wachstums-kapazität der Wirtschaft gefesselt.

Page 113: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

111

kai

ser

Ben

gali

Paki

stan

: Vom

Ent

wic

klun

gsst

aat

zum

Sic

herh

eits

staa

t

Das wird aus den veränderten Verhältnissen im industriellen Sektor heute sichtbar. Ein Vergleich des Preisindexes für das Bruttoinlandsprodukt (BIP-De-flator) als Indikator für den Output-Preis mit den Herstellungspreisen (Input-Preise) belegt das: Ab 1985 begann die Zunahme der Energiekosten die Output-Preise zu überholen; ab 1987 wuchsen die Kosten für Anlagen und Transport schneller als die Output-Preise, und ab 1996 begannen die Löhne, die Output-Preise zu überholen.

Ab 2001 begannen die Input-Preise – mit Ausnahme der Löhne – im Verhältnis zu den Output-Preisen zu eskalieren. Während der Index für den BIP-Deflator von 1266 im Jahr 2001 auf 2370 im Jahr 2008 stieg, ging der Index für Energieko-sten um 264 Prozent von 3399 im Jahr 2001 auf 12359 hoch, und der Index für Anlagen und Transport kletterte um 128 Prozent von 1957 auf 4470. Dagegen sank der Lohnindex um 60 Prozent von 1425 auf 890, was ein signifikantes Nachlassen der Kaufkraft der Industriearbeiterschaft anzeigt (siehe Grafik 13).

grafik 13: input-Preise der Produktion und BiP-deflator (index 1972-73 = 100)

Die Wettbewerbsschwäche des industriellen Sektors hat umgekehrt natürlich auch Pakistans Exportkapazität beeinträchtigt. Es überrascht nicht, dass der gesamte Export sich noch mehr auf den Stand von vor 30 Jahren verengt hat und Pakistan weiterhin vor allem die 3 «Ches»4 exportiert: «chawal» (Reis), «chamra» (Leder) und «chadar» (Bettlaken). 1977 machten diese drei Warengruppen 57 Prozent des gesamten Exports aus. Dieser Anteil hat sich bis 2007 auf 74 Prozent erhöht, wobei Textilien allein 62 Prozent aller Exporte ausmachen (siehe Grafik 14).

4 «Che» ist der 4. Buchstabe im Urdu-Alphabet.

Page 114: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

112

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

grafik 14: anteile am export (1977 und 2007)

Die Einschränkungen der pakistanischen Exportkapazität wurden auch durch die alarmierende Differenz zwischen Export- und Importwachstum im Zeitraum 2000 bis 2009 offensichtlich. Während sich die Exporte in dieser Phase verdop-pelten, haben sich die Importe mehr als verdreifacht (siehe Grafik 15). Schon 2006 wurde deutlich, dass das wachsende Handelsbilanzdefizit zu einem ernst-haften Problem bei der Zahlungsbilanz werden würde. Im Jahr 2008 holte die Krise schließlich das Land ein.

Heute gleicht Pakistan einer Fabrik, die ihre gesamten Einnahmen darauf verwendet, ein luxuriöses Vorstandsbüro zu unterhalten und Armee- und Sicher-heitskräfte zu bezahlen, für Rohstoffe oder Ersatzteile aber kaum Geld hat. Eine solche Fabrik muss unweigerlich irgendwann schließen. An einer ähnlichen Schwelle steht Pakistan.

grafik 15: import- und exporttrends

Es liegt auf der Hand, dass die Prioritäten neu gesetzt werden müssen und der Entwicklungsstaat wiederbelebt werden muss. Seit 1977 herrscht das Prinzip, auf Kosten der Bedürfnisse der Menschen und der Wirtschaft die Priorität auf

Page 115: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

113

kai

ser

Ben

gali

Paki

stan

: Vom

Ent

wic

klun

gsst

aat

zum

Sic

herh

eits

staa

t

die Finanzierung unproduktiver Sektoren zu legen. Stattdessen sollte folgendes Prinzip befolgt werden: Die von den produktiven Bereichen der Wirtschaft erzeugten Werte sollten, erstens, in die Wirtschaft reinvestiert werden, um die Produktionskapazität zu erhalten und auszuweiten, und sie sollten, zweitens, zur Befriedigung der Grundbedürfnisse der Menschen verwendet werden. Der Staat muss in die wirtschaftliche Infrastruktur investieren, damit Landwirtschaft, Industrie und Handel funktionieren und neue Arbeitsplätze schaffen können. Erst danach dürfen die Bedürfnisse der unproduktiven Sektoren berücksichtigt werden.

3.2 Folgen für die soziale Gerechtigkeit

Die zweite Dimension, den Untergang des Entwicklungsstaates betreffend: Die Politik ist nicht länger dem öffentlichen Interesse verpflichtet. Drei Bereiche können als Beleg angeführt werden: die Verteilungsfolgen der Wachstumspolitik, der Geldpolitik und der Privatisierungspolitik.

3.2.1Die Verteilungsfolgen des BIP-Wachstums Das Bruttoinlandsprodukt ist die Summe der in den verschiedenen Sektoren und Subsektoren geschaffenen Werte. Die Wachstumsrate des BIP ist die (gewichtete) durchschnittliche Wachstumsrate jedes dieser Sektoren. Und die Wachstumsrate eines Sektors ist die (gewichtete) Wachstumsrate seiner Subsektoren.

Einige Sektoren sind arbeitsintensiv und haben hohe Schwankungen bei der Beschäftigung, z. B. die Landwirtschaft, der Bau, das Bildungswesen und das Gesundheitswesen. Andere sind kapitalintensiv und relativ konstant in der Beschäftigungsquote, z.B. Düngemittel- und Autoindustrie, das Bankwesen etc. Die kapitalintensiven Sektoren tragen wesentlich durch höhere Profite zum Natio-naleinkommen bei, die arbeitsintensiven wesentlich durch höhere Löhne. Höhere Profite oder höhere Löhne oder beides tragen zum Wachstum des BIP bei.

Nach 2003 entwickelte sich das Wachstum des BIP durch die Sektoren mit relativ konstanter Beschäftigung wie dem Bankenwesen und der Automobilin-dustrie und führten zu dem, was man als Wachstum ohne Schaffung von Arbeits-plätzen kennt. Verglichen mit dem durchschnittlichen BIP-Wachstum von 7 bis 9 Prozent, hielten das Bankwesen mit 20 bis 30 Prozent und der Automobilsektor mit 40 bis 45 Prozent den Rekord. Wenn man bedenkt, dass es sich um kapital-intensive Sektoren handelt, entstand das Wachstum eher durch den Anstieg der Gewinne als durch den der Löhne. Überflüssig zu sagen, dass dieser Prozess die Einkommensungleichheit verschärfte. Wenn man weiterhin bedenkt, dass das profitorientierte Modell wesentlich in Karatschi und im zentralen Punjab konzentriert ist, verschärfte dieser Prozess auch die regionale Ungleichheit.

Der Wachstumsprozess war außerdem nicht nachhaltig. Eher lässt sich sagen, dass die Wirtschaft nur auf einem Bein stand: dem Bankkredit. Das hohe Indus-triewachstum folgte weitgehend aus dem außerordentlich hohen Wachstum der Automobilindustrie, das seinerseits auf der großzügigen Kreditvergabe durch die

Page 116: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

114

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Banken beruhte. Diese Kredite sind Bestandteil der Konsumfinanzierung durch die Banken, die ihnen unerwartete Gewinne brachte, daher die hohe Wachs-tumsrate bei den Banken.

Man ging jedoch davon aus, dass bei erschwerter Kreditvergabe (zum Beispiel durch höhere Zinsen) die Bankkredite und damit die Gewinne der Banken zurückgehen würden, folglich auch der Beitrag der Banken zum BIP. Parallel dazu würde das Schrumpfen der Kredite einen Rückgang bei den Autokäufen verursachen, die Profite der Autoindustrie und damit deren Beitrag zum BIP würden sinken. Dieses Szenario wurde nach 2007 Wirklichkeit.

3.2.2 Die Verteilungsfolgen der GeldpolitikBis etwa 2002 verfügten die Banken über eine extrem hohe Liquidität, das heißt, es gab mehr Kunden, die Einlagen deponierten, als solche, die einen Kredit wollten. Das bedeutete für die Banken einen Verlust. Sie zahlten Zinsen an Einleger, verdienten aber nicht entsprechend an den Zinsen der Kreditnehmer. Etwa 2003 kam die Staatsbank von Pakistan den Banken zu Hilfe, indem sie die Möglichkeiten des Konsumenten-Kredits erweiterte. Banken konnten nun für Häuser, Autos, Kühlschränke, Klimaanlagen, Toaster und sogar für Urlaub Kredite vergeben. Falls es sich um keinen spezifischen Gegenstand handelte, konnten Banken auch ein persönliches Darlehen vergeben. Kreditkarten wurden freizügig verteilt.

Verteilungspolitisch wirkte sich das Ergebnis dieses Aspekts der Geldpolitik ungleichmäßig aus. Zum einen brachten die Banken ihre enorme Liquidität in den Markt ein, indem sie ihre Kreditlinien ausweiteten. Sie begannen, große Gewinne zu machen. Diese schnellten von 1,1 Milliarden Rupien im Jahr 2001 um mehr als das Hundertfache auf 123,6 Milliarden Rupien im Jahr 2006 in die Höhe – was ein durchschnittliches Wachstum von 157 Prozent per annum darstellt.5 Zweitens schuf das zwei Klassen von Menschen: jene, die kreditwürdig waren, und jene, die es nicht waren.

Die kreditwürdige Klasse bestand aus jenen Teilen der Bevölkerung, die die Forderungen der Bank entweder nach Vorlage einer Einkommenssteuererklä-rung (bei Selbständigen) oder eines Beschäftigungsnachweises (bei Angestellten) erfüllen konnten. In beiden Fällen wurde ein gewisses Mindesteinkommen für die Gewährung von Krediten als notwendig angesehen. Diese kreditwürdige Klasse konnte ihren Lebensstandard in verschiedener Weise verbessern.

Die nicht kreditwürdige Klasse bestand aus jenen, die weniger als etwa 10.000 Rupien im Monat verdienten oder nicht dauerhaft beschäftigt waren, z.B. vorübergehend Beschäftigte, Zeitarbeiter, Leiharbeiter, Teilzeitarbeiter, Heimar-beiter etc., und jenen, die gar keine Beschäftigung hatten. Diese Kategorie macht etwa 60 Prozent der Bevölkerung aus, in den unterentwickelten Gebieten des Sindh, in Belutschistan, der südlichen NWFP und dem südwestlichen Punjab sogar 80 bis 90 Prozent.

5 State Bank of Pakistan (2003 und 2006): Banking System Review.

Page 117: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

115

kai

ser

Ben

gali

Paki

stan

: Vom

Ent

wic

klun

gsst

aat

zum

Sic

herh

eits

staa

t

Die erste Folge war ein Anschwellen der kreditfinanzierten Nachfrage, die die BIP-Wachstumsrate nach oben trieb. Das geschah, weil das Wachstum der Nachfrage dazu führte, dass nicht genutzte Produktionskapazitäten der Wirtschaft schnell in Anspruch genommen wurden. Im Jahr 2005 schoss die Wachstumsrate der Großunternehmen auf 16 Prozent nach oben!

Nachdem die Kapazitäten jedoch ausgeschöpft waren, traten Lieferschwie-rigkeiten auf, da die kreditfinanzierte Nachfrage weiterhin anstieg. Bemer-kenswerterweise wurden die Kredite aber nicht in die Waren produzierenden Sektoren für Investitionen gelenkt, um die Lieferschwierigkeiten beenden und mit der Nachfrage Schritt halten zu können. Da die Nachfrage das Angebot überstieg, war die Folge eine Inflation, die von durchschnittlich 3 bis 4 Prozent in den Jahren 2001 bis 2003 auf 8 bis 11 Prozent nach 2003 anwuchs. Die Infla-tion bei Lebensmitteln war mit 11 bis 14 Prozent sogar noch höher. Lebensmittel machen etwa 70 Prozent der Haushaltsabgaben bei den Armen aus. Auf diese Weise traf die Verteuerung der Lebensmittel die Armen mehr als die Einkom-mensstärkeren.

Hierin liegt die Ironie. Die betriebene Geldpolitik begünstigte die oberen, kreditwürdigen Klassen, doch die Kosten dafür mussten diejenigen bezahlen, die selbst der von den Banken verteilten «Wohltaten» nicht würdig waren.

3.2.3 Die Verteilungsfolgen der PrivatisierungDie Regierung betrieb 1988 bis 1990 eine systematische Privatisierungspolitik. Sie gab eine Untersuchung in Auftrag und folgte ihren Empfehlungen, indem sie als Testballon 10 Prozent der Anteile der Pakistan International Airlines Corpo-ration (PIAC) über die Börse privat verkaufte.

Nach dem Regierungswechsel 1990 wurde der Privatisierungsprozess ohne Prinzipien oder politische Linie durchgezogen. Am Anfang stand die allgemeine Überzeugung, dass öffentliche Unternehmen nur Verluste brachten, für den Haushalt eine Belastung darstellten und für fiskalische Defizite verantwortlich seien. Der erste große Privatisierungsschub im Jahr 1992 begann aber mit Unter-nehmen, die Gewinn machten!

Nach 2000 wurde die Privatisierung mit neoliberalen Argumenten gerecht-fertigt: Es sei nicht das Geschäft des Staates, Geschäfte zu machen. Also mussten Unternehmen selbst dann privatisiert werden, wenn sie effizient und profitabel arbeiteten. Gewinnbringende Staatsunternehmen wurden verkauft, sogar an ausländische Staatsunternehmen! Ein herausragendes Beispiel ist der Verkauf der Pakistan Telecommunications Corporation Limited (PTCL) an Etiselat, ein Staats-unternehmen der Vereinigten Arabischen Emirate (VAR). De facto wandelte sich also das ideologische Prinzip in folgendes: «Es ist nicht das Geschäft des pakista-nischen Staates, Geschäfte zu machen, aber es kann durchaus das Geschäft eines ausländischen Staates sein, in Pakistan Geschäfte zu machen.»

Während das Grundprinzip eines privaten Unternehmens der Profit ist, ist das Grundprinzip einer Volkswirtschaft die Wertschöpfung, zusammengefasst als Bruttoinlandsprodukt (BIP). Die Wertschöpfung beinhaltet Profite, Miet- und

Page 118: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

116

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Zinseinnahmen, die Rückflüsse an Kapitaleigner sind, und Löhne, die Rückflüsse an Inhaber von Arbeitskraft sind. Das BIP kann steigen, wenn allein die Gewinne oder allein die Löhne steigen; der verteilungspolitische Effekt des BIP-Wachs-tums ist aber in beiden Fällen unterschiedlich. Der erstgenannte begünstigt die Klasse der Eigentümer, der zweite die Arbeiterklasse.

Angenommen die gesamte Wertschöpfung setze sich zusammen aus: Gewinne = 40 und Löhne = 60, die Wertschöpfung beträgt 100.

Wird Arbeit aus Effizienzgründen eingespart, ändert sich die Zusammensetzung der Wertschöpfung zu angenommen:

Gewinne = 70 und Löhne = 30, Wertschöpfung = 100.

Das genannte Unternehmen verbessert seine Quote beim Verhältnis von Mitar-beitern und Festnetzverbindungen und macht größere Profite. Wenn jedoch die Wertschöpfung gleich bleibt, ist der Beitrag des Unternehmens zur Volks-wirtschaft unverändert. Verteilungspolitisch hat die Arbeit zugunsten größerer Gewinne des Unternehmens den Nachteil.

Können Privatisierungen à la PTCL allein mit neoliberalen Argumenten gerechtfertigt werden? Oder muss man fordern, dass der Wertzuwachs nach der Privatisierung größer ist, um den Verlust an Gerechtigkeit auszugleichen? Die Entscheidung wird davon abhängen, ob Regierungen sich selbst gegenüber der Gesellschaft oder gegenüber den Unternehmen verantwortlich fühlen, und davon, wie das gegeneinander abgewogen wird. Der Augenschein führt zu dem Schluss, dass der Staat heute eher ein Agent von Firmeninteressen und nicht des Allgemeininteresses ist.

3.3 Die Folgen von Ungleichheit und Armut

Es ist in Pakistan eine Volkswirtschaft entstanden, die in sich schwach ist. Die Umstände haben außerdem zu großer Ungleichheit und Armut geführt. Über ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze und ein weiteres Drittel unter erheblichem wirtschaftlichem Druck. Der Ökonomie wohnt eine große Ungleichheit inne: Von jeder Rupie Zuwachs des Nationaleinkommens erhalten die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung 34 Paisas, die ärmsten 10 Prozent 3 Paisas (siehe Tabelle 5).

tabelle 5: anteil am nationaleinkommen nach einkommensgruppen

einkommensgruppe anteil (%)

Oberste 10% 33,8

Unterste 10% 2,9

Page 119: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

117

kai

ser

Ben

gali

Paki

stan

: Vom

Ent

wic

klun

gsst

aat

zum

Sic

herh

eits

staa

t

Diese Ungleichheit wird durch das Steuersystem weiter verstärkt. Die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung zahlen 12 Prozent ihres Einkommens an Steuern, die ärmsten 10 Prozent dagegen 16 Prozent (siehe Tabelle 6)!

tabelle 6: direkte und indirekte steuerlasten nach einkommensgruppen und Provinzen (%)

einkommensgruppe Pakistan Punjab sindh nWfP Belutschistan

Ärmste 10% 16,1 16,0 17,2 14,5 14,9

2 15,0 14,8 16,2 13,6

3 14,1 13,8 15,9 12,8

4 14,1 14,1 15,0 12,8

5 13,3 13,1 14,3 12,3

6 12,8 12,6 13,6 12,3

7 12,5 12,2 13,9 11,6

8 12,2 11,9 13,3 11,1

9 11,3 13,3 11,6 12,7

Reichste 10% 12,0 11,3 13,3 11,6 12,7

Haushalte ingesamt 13,4 13,1 14,5 12,3 13,2

Quelle: Schätzungen des SPDC (Social Policy and Development Center), beruhend auf HIES (Household Integrated Economic Survey) 2001-02, Supply and Used Tables of Pakistan 1989/90 und Steuerquoten nach www.cbr.gov.pk

Folglich gibt es Pakistan zweimal: ein Pakistan der «ashraafia» (der Elite) und ein Pakistan des «awam» (des Volkes). Die «ashraafia» lebt in den luxuriösen und vom Militär gesicherten Sicherheitszonen in palastähnlichen Häusern, schickt ihre Kinder auf teure englische Medium Schools, hat 2 bis 3 Autos im Haushalt und so weiter. Das «awam» lebt in Ein- oder Zweizimmerwohnungen oder in Slums, fährt mit dem Bus und schickt seine Kinder – wenn überhaupt – auf Urdu-Schulen von schlechter Qualität oder gar in religiöse «madrassahs».

Mehr als 30 Jahre lang hat der Staat die Bedürfnisse der Wirtschaft und des Volkes vernachlässigt. Eine ungerechte Gesellschaft und ein ungerechter Staat können nicht einmal die grundsätzlichen Bedürfnisse des Volkes erfüllen, und der Staat kann auch keine politische Legitimität für sich beanspruchen – er verfügt auch nicht darüber. Das ist die eigentliche Wurzel der vielfältigen wirtschaftli-chen, politischen und Sicherheitsprobleme, mit denen es Pakistan heute zu tun hat. Es ist dringend erforderlich, dass der Entwicklungsstaat wiederhergestellt wird, wenn die existenzielle Krise dieses Landes gemeistert werden soll.

literatur

Government of Pakistan (1973-2009): Economic Survey.Government of Pakistan (1973-2009): Federal Budgets.Government of Pakistan (2002): Household Income and Expenditure Survey 2001-02, Federal

Bureau of Statistics.

Page 120: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

118

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Government of Pakistan (2007): Pakistan Standard of Living Measurement Survey 2007, Federal Bureau of Statistics.

Government of Pakistan (1997-2008): Trade Statistics of Pakistan.Social Policy and Development Centre (2002): Social Development in Pakistan Growth, Inequa-

lity and Poverty, Annual Review 2001.Social Policiy and Development Centre (2001): Stabilization vs Growth.Social Policy and Development Centre (2003): State of the Economy: Behind the Aggregates.State Bank of Pakistan (1997-2009): Annual and Quarterly Reports.

Page 121: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

119

Perv

ez h

oodb

hoy

Paki

stan

s nu

klea

rer

Pfa

d: V

erga

ngen

heit

, Geg

enw

art

und

Zuk

unft

PerVeZ hoodBhoy

Pakistans nuklearer Pfad: Vergangenheit, gegenwart und Zukunft

ein Blick auf die indisch-pakistanische nukleargeschichte

Die Nukleargeschichte Südasiens beginnt im Jahr 1948. Auf Anraten des Atomphysikers Dr. Homi Jehangir Bhaba, der in Cambridge studiert hatte und sowohl sein Vertrauter wie auch sein wissenschaftlicher Berater war, ordnete Premierminister Jawaharlal Nehru die Gründung einer Atomic Energy Agency Commisiion of India (AEC) an. Während es die offizielle Aufgabe der AEC war, für die Entwicklung der Atomenergie zur Energieerzeugung, in der Medizin-technologie und zu anderen friedlichen Zwecken zu arbeiten, bemühte sich Bhaba darum, sein Mandat absichtlich unbestimmt zu halten, damit die AEC auch geheime Atomwaffenforschung betreiben konnte (Perkovic 2002). Dieser Spielraum führte schließlich zur Entwicklung indischer Atomwaffen. Der chine-sisch-indische Grenzkonflikt im Jahr 1962 erzeugte einen zusätzlichen nuklearen Elan, und bald strebte Indien bewusst nach der Bombe. Unter Verletzung der Bedingungen, unter denen Kanada einen Atomreaktor vom Typ CANDU gelie-fert hatte, gewann man aus abgebrannten Brennelementen heimlich Plutonium. Als Premierministerin Indira Gandhi 1974 in großen politischen Schwierigkeiten war, begann der Buddha plötzlich zu lächeln.1

Die Rechtfertigung für die indische Bombe lautete: Pakistan hat mit entspre-chenden Bemühungen schon 1972 begonnen. Das stimmt nicht, ist aber von der Wahrheit nicht weit entfernt. Ein Jahr früher war Pakistan von Indien entschei-dend geschlagen worden, als der militärischen Intervention der blutige Bürger-krieg in Ostpakistan folgte. Es entstand Bangladesch, womit die «Zwei-Nationen-Theorie» – die Basis der Gründung Pakistans – ruiniert war. Am 20. Januar 1972 berief der aufgebrachte Premier Bhutto eine Sitzung ranghoher Wissenschaftler und Ingenieure ein, auf der er sie aufforderte, die Bombe zu bauen, entließ den amtierenden Vorsitzenden der Pakistan Atomic Energy Commission, Dr. Ishrat

1 Indiens unterirdischer Atomtest 1974 hatte den Codenamen «Smiling Buddha». (Anm. der Red.)

Page 122: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

120

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Usmani, und ersetzte ihn durch Munir Ahmad Khan. Dennoch versichern einige meiner älteren Kollegen aus der Physik, die auf dieser Sitzung anwesend waren – darunter Dr. Riazuddin, der später als Cheftheoretiker der pakistanischen Bombe eine hohe pakistanische Auszeichnung erhielt –, dass sich im Grunde nichts wirklich bewegte, bevor der Schock von Indiens Nukleartest das inzwischen nur noch halb so große Pakistan erreichte.

Pakistan versuchte mit einem umfassenden «Manhattan-style»-Versuch eine Antwort auf die indische Bombe zu finden.2 Bhutto bekam Geld aus den arabischen Staaten wie etwa Libyen und Saudi-Arabien und erhielt wesentliche nukleare Unterstützung von China. Durch den indischen Erfolg alarmiert, gab China die Konstruktionspläne seiner eigenen ersten Atomwaffe, die 1964 in Lop Nor getestet worden war, bereitwillig an Pakistan weiter. Es lieferte auch U6-Gas, um die Zentrifugen zu testen, bevor heimlich eine UF6-Anlage aus Deutschland importiert wurde.3 Dieses Gas ist der Rohstoff, aus dem das Material der Bombe letztendlich gewonnen wird. 1986 oder möglicherweise auch schon ein Jahr früher hatte Pakistan ebenfalls die Bombe. Nur 17 Tage nach den indischen Tests am 28. Mai 1998 färbten sich die Chaghi-Berge in Belutschistan von annähernd fünf gleichzeitigen Atomexplosionen weiß.

Entgegen weit verbreiteter Annahmen, damals wie heute, haben Pakistans Führer ihre Bombe nach den indischen Tests nicht gerade mit großer Begeis-terung vorgeführt. Die Angst vor internationalen Sanktionen war echt. Doch kampflustige Äußerungen indischer Führer nach den Tests und starker innen-politischer Druck – darunter einige Brandreden von Benazir Bhutto, die damals in der Opposition war – führten bald dazu, dass der damalige Premierminister Nawaz Sharif und sein Kabinett sich zu einer eindeutigen Haltung durchrangen.

Pakistans widerstrebende Führer wurden auf der Stelle zu Helden. Sie sonnten sich in ihrem neuen Ruhm, als große Demonstrationen in Pakistan ebenso wie in einigen muslimischen Ländern stattfanden, organisierte ebenso wie spontane. Die Bombenbauer wurden zu Berühmtheiten, Schüler bekamen gratis Buttons mit Atompilzwolken ausgehändigt, und Dichterwettbewerbe priesen die große nationale Errungenschaft. Nachbildungen von Raketen und des Schauplatzes des atomaren Tests breiteten sich übers ganze Land aus. Die meisten wurden nach und nach wieder entfernt, aber viele von ihnen stehen noch immer auf den öffentlichen Plätzen und an den Straßenkreuzungen Pakis-tans. Sie sind Zeugnisse des Deliriums, in das das Land zu einer Zeit verfallen war, als Atomwaffen für den Mann auf der Straße nicht Symbole von Tod und Zerstörung, sondern von nationalem Ruhm und Fortschritt waren.

2 Shabid-ur Rahman’s «The Long Road To Canghi». Ein Insiderbericht über die Geschichte der pakistanischen Bombe, vermutlich mit Unterstützung der Pakistan Atomic Energy Commission als Teil ihrer Bemühungen verfasst, Dr. A. Q. Khans Behauptung zu wider-legen, er sei der Vater der Bombe.

3 Die deutsche Firma wird angeführt in «Case Involving Sale Of Fluoride Conversion Plant to Pakistan», Nuclear Fuel, 20. Juli 1981, Vol. 15, S. 3.

Page 123: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

121

Perv

ez h

oodb

hoy

Paki

stan

s nu

klea

rer

Pfa

d: V

erga

ngen

heit

, Geg

enw

art

und

Zuk

unft

Der Rausch überwältigte die Vernunft sowohl der militärischen wie der zivilen Führer des Landes. Bald galten Atomwaffen in Pakistan als eine Art Talisman, der alle Bedrohungen fernhalten konnte. Dass die pakistanischen Waffen eine Antwort auf die indischen sein sollten, wurde zur Nebensache. Vielmehr wurden sie zum Mittel, mit dem Indiens weit überlegene konventionelle Land-, Luft- und Seestreitkräfte neutralisiert werden sollten. Die Größe spielte keine Rolle mehr. Bhuttos Traum, den Verlust Ostpakistans zu rächen und Kaschmir zu befreien, lag nun im Bereich des Möglichen.

die atompolitik in der region: china, indien, Pakistan

Sehr wahrscheinlich hätte die pakistanische Entwicklung von Atomwaffen ohne chinesische Hilfe sehr viel mehr Zeit in Anspruch angenommen. Obwohl die heutige Unterstützung sich wesentlich auf den Energiesektor bezieht, war die Bereitstellung eines Plans für die Bombe ganz entscheidend. In der Folge wurde die Konstruktion weiter verbessert. Dieser Prozess dauert bis heute an.

Die Nuklearbeziehung Indiens zu China unterscheidet sich grundsätzlich von der Nuklearbeziehung zu Pakistan. Einerseits ist sie nicht so sehr durch Feindseligkeit bestimmt und frei von den Spannungen, die eine pakistanisch-indische Konfrontation zu einer immer schwelenden Möglichkeit machen. Im Juli 2009 schlossen China und Indien die dreizehnte Runde ihrer Grenzge-spräche ab und trafen dabei eine ganze Reihe von Vereinbarungen, wie etwa die Einrichtung eines heißen Drahts zwischen den Hauptstädten Chinas und Indiens, die Übereinkunft, im kommenden Jahr 60 Jahre diplomatische Bezie-hungen gemeinsam zu feiern, und dergleichen mehr. Ihr Handelsaustausch, der im Jahr 2009 kolossale 52 Milliarden Dollar erreicht hatte, soll sich 2010 auf 60 Milliarden Dollar erhöhen. Der indisch-pakistanische Handelsaustausch – zieht man den Schmuggel und den Handel über Drittländer ab – beläuft sich dagegen auf weniger als eine Milliarde Dollar jährlich.

Andererseits sind Indien und China ernsthafte Konkurrenten um globale Märkte und globales Prestige. Das hat den Nationalismus auf beiden Seiten angeheizt. Was die Gebietsansprüche in Arunachal Pradesh und Aksai Chin betrifft, sind die beiden Länder seit 1962 einer Lösung nicht nähergekommen. Als sich Pakistan deshalb ernsthaft entschloss, nach dem indischen Test von 1974 die Bombe zu bauen, lieferte China entscheidende Unterstützung, um ein Gegengewicht zu Indien zu schaffen. Auf diese Weise treiben regionale Strei-tigkeiten China und Indien auch jenseits des Streits um Kaschmir an den Rand eines möglichen Konflikts.

Ein kürzlich erschienener Artikel von Bharat Verma, dem Herausgeber der Indian Defense Review, kommt zu der dramatischen Prognose, dass China Indien noch vor 2012 angreifen wird und die indische Regierung deshalb nur noch drei Jahre hat, sich darauf vorzubereiten. Er behauptet, Peking gehe daran, «Indien die endgültige Lektion zu erteilen und damit die chinesische Vorherrschaft über Asien für dieses Jahrhundert zu sichern», und China steuere auf einen Kampf um

Page 124: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

122

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

den Endsieg zu, weil es «an der Überzeugung der Kommunisten festhalte, dass die chinesische Rasse Nazideutschland weit überlegen sei». Vermas Schlussfol-gerung: Indien muss sich bis an die Zähne bewaffnen (Verma 2009).

Das ist Panikmache mit finsterer Absicht: die Militarisierung Indiens. In der langen Geschichte der beiden Zivilisationen ist der Konflikt von 1959 bis 1962 der einzige Krieg zwischen China und Indien, von dem wir wissen. Selbst das war keineswegs ein Krieg, der aufs Ganze ging, und beschränkte sich auf die umstrit-tenen Gebiete. Während Verma die Gelüste des rechten Flügels des Establish-ments befriedigt, steht er mit seinem Ruf nach größeren Waffenkäufen und einer schlagkräftigen Kriegsflotte nicht allein.

Am 10. August 2009 hielt Admiral Suresh Meta, Marinechef und Vorsitzender des Generalstabs, eine große Rede über «Indiens nationale Sicherheitsauf-gaben», in der er feststellte, China sei Indiens größte Herausforderung (Mehta 2009). Er kam zum selben Resultat: Indien muss sich bewaffnen. Der kürzlich erfolgte Stapellauf von Indiens erstem selbstgebautem Atom-U-Boot, Arihant, ist ein Schritt in dieser Richtung. Der Nuklearvertrag zwischen den USA und Indien – für die weltweite Kontrolle der Atomwaffen ein großer Rückschlag – verschafft Indien einen gezielten Vorteil vor China. Davon abgesehen, dass er den Status Indiens als atomare Macht legitimiert und der indischen Nuklearindustrie einen Riesenauftrieb gibt, kann Indien von den USA technologisch hochwertige Vertei-digungsausrüstungen kaufen, während China diese Möglichkeit nicht hat.

Elf Jahre nach Indiens vorgeblichem Wasserstoffbombentest von 1998 hat ein hochrangiger indischer Amtsträger und technischer Experte, K. Santanam, die schon lange vermutete Tatsache bestätigt: Die Bombe hat nicht so gut funkti-oniert, wie man es erwartet hatte. Der Grund für diese dramatische Enthüllung dürften aber weder der unwiderstehliche Drang zur Wahrheit noch morali-sche Skrupel sein. Santanams «coming clean» spricht die Sprache und hat die Rückendeckung der größten Falken in der indischen Atomlobby. Dazu gehören P.K. Lyengar, A.N. Prasad, Bharat Karnad und Brahma Chellaney. Indem sie die früheren Tests als Fehlschläge banalisieren, hoffen sie, den Boden für weitere atomare Tests zu bereiten. Das würde es Indien ermöglichen, ein thermonu-kleares Waffenarsenal in vollem Umfang zu entwickeln. Bekanntlich ist die Wasserstoffbombe wesentlich komplexer als die relativ einfache, auf Kernspal-tung basierende Waffe, die Indien zuerst 1974 und Pakistan zuerst 1998 getestet hat. Um ihre volle Vernichtungskraft zu erreichen, brauchen hochentwickelte Bomben eine sehr feine Abstimmung – Frankreich brauchte 22 Tests, um zur Perfektion zu gelangen.

atomares säbelrasseln

Einerseits war China die raison d’être für die indischen Atomwaffen, aber die pakistanisch-indischen Feindseligkeiten brachten bei der Entwicklung dieser Waffen erst richtig eine neue Dynamik hervor. Ein furchtsames Pakistan produ-zierte seine eigenen Waffen, um ein Gegengewicht zu den indischen Atomwaffen

Page 125: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

123

Perv

ez h

oodb

hoy

Paki

stan

s nu

klea

rer

Pfa

d: V

erga

ngen

heit

, Geg

enw

art

und

Zuk

unft

zu schaffen. Aber schon vor den nuklearen Tests wurden die Zielsetzungen erweitert. Ein früherer Chef des Inter-Services Intelligence (ISI), später Pakistans Botschafter in Deutschland, formulierte es so: «Wenn wir sagen würden, dass unsere atomare Abschreckung vor allem dazu da ist, die anderen vom Einsatz von Atomwaffen abzuschrecken, dann würden wir es versäumen, hinreichend vor einem Angriff mit konventionellen Waffen zu warnen.» Deshalb müsse die andere Seite die Überzeugung gewinnen, dass wir «darauf vorbereitet und wild entschlossen sind, bei einer Bedrohung unserer nationalen Ziele, wie es zum Beispiel ein scharfes Vorgehen gegen die Freiheitsbewegung in Kaschmir wäre, unsere atomaren Mittel einzusetzen» (Durrani 1995).

Nach den erfolgreichen Atomtests 1998 begriffen die pakistanischen Generäle schnell, dass das Machtkalkül sich verändert hatte. Atomare Waffen konnten jetzt auch für mehr als nur für ein ermüdendes Patt mit Indien genutzt werden. Man zog die Lehren aus der Erfahrung des Verhältnisses zwischen NATO und Warschauer Pakt und sah die Möglichkeit, die Überlegenheit der konventionellen indischen Streitkräfte auszugleichen. Man hielt sich für unverwundbar und verfolgte eine atemberaubend abenteuerliche Strategie in Kaschmir. Nur wenige Monate, nachdem Pakistan seine atomare Qualifikation bewiesen hatte, schickte der oberste Stabschef der Armee, General Pervez Musharraf, Truppen ohne Uniform zusammen mit militanten islamistischen Kämpfern an die Kontroll-linie. Sie besetzten im Januar 1999 strategische Stellungen im Hochgebirge von Kaschmir und lösten damit einen Krieg aus. Dieser Konflikt war eine direkte Folge der Atombewaffnung Pakistans und wäre ohne sie ganz gewiss ausgeblieben. In diesem Krieg waren etwa 5.000 Tote auf beiden Seiten zu beklagen.

Als Indien zum Gegenangriff überging, stand Pakistan diplomatisch völlig isoliert da.4 Premierminister Nawaz Sharif flog am 4. Juli 1999 besorgt nach Washington, wo man ihm unverblümt bedeutete, er möge die pakistanischen Streitkräfte zurückziehen, oder er müsse damit rechnen, dass es einen umfas-senden Krieg mit Indien geben würde. Bruce Riedel, persönlicher Berater Präsi-dent Clintons, schreibt, dass er persönlich dabei war, als Clinton Nawaz Sharif darüber informierte, dass die pakistanische Armee ihre Atomraketenflotte mobilisiert hatte (Riedel 2002). Sollte das wahr sein, können die Vorbereitungen für die Aufstellung und den eventuellen Einsatz der Waffen nur durch General Pervez Musharraf angeordnet worden sein, entweder aus eigenem Entschluss oder in Abstimmung mit der Armeeführung. Durch diese Enthüllungen und die Gefahr einer Katastrophe zermürbt, stimmte Nawaz Sharif dem sofortigen Rückzug zu und widerrief alle früheren Behauptungen, Pakistan habe über die Angreifer keine Kontrolle. Das war der Anlass, der die Beziehungen zwischen ihm und Musharraf vergiftete und einige Monate danach zu seiner Amtsenthe-bung führte. Entgegen seiner Aussagen zehn Jahre danach hatte Nawaz Sharif

4 Editorial der Washington Post vom 28. Juni 1999; Editorial des Economist vom 1. Juli 1999; Editorial der New York Times vom 5. Juli 1999.

Page 126: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

124

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

jedoch vorgeschobene Armeestellungen bei Kargil besucht und vor Dschihad-begeisterten Soldaten flammende Reden gehalten (Hoodbhoy und Mian 2001).

Trotz der Niederlage im Kargil-Krieg bestand die politische und militärische Führung des Landes darauf, dass Pakistan in diesem Krieg gesiegt habe und seine Atomwaffen Indien vom Überschreiten der Kontrolllinie oder der inter-nationalen Grenze abgeschreckt hätte. Im Militär ist dieser Glaube immer noch weit verbreitet, da man andernfalls zugeben müsste, dass die eigenen «Kronju-welen» nicht besonders viel wert seien (dass die Atomwaffen den Konflikt angeheizt hatten, wird von den atomaren Falken bis heute geleugnet). Da die Lage derart angespannt war, dass ein großer Krieg hätte ausbrechen können, verfiel die westliche Diplomatie in hektische Betriebsamkeit. Als Pakistan den Rückzug seiner Truppen anordnete, entspannte sich der Konflikt schließlich. Auf der internationalen Bühne stand Pakistan als Aggressor da.

Es dauerte jedoch nicht lange, bis man wieder vor dem Abgrund stand. Am 13. Dezember 2001 versuchte ein Selbstmordkommando militanter Islamisten, das indische Parlament in Delhi zu stürmen und verursachte damit eine Krise, die etwa sieben Monate andauerte. Zwar stimmt es vermutlich, dass Musharrafs Regierung diesen Angriff nicht angeordnet oder vorher davon gewusst hatte, aber es kann wenig Zweifel daran bestehen, dass man den Dschihadisten im pakista-nisch kontrollierten Teil Kaschmirs freie Hand gegeben hatte. In Indien kochte erneut die Stimmung hoch. Premierminister Atal Bihari Vajpayee rief seine Truppen in Kaschmir dazu auf, sich auf Opfer und auf den «entscheidenden Sieg» vorzubereiten. Das löste Alarm aus. Es schien plausibel, dass Indien sich für einen «begrenzten Krieg» rüstete, um die Stützpunkte von Islamisten im von Pakistan verwalteten Kaschmir hinwegzufegen. Dass auf beiden Seiten atomare Waffen in erhöhte Bereitschaft gesetzt wurden, ist sehr gut möglich, auch wenn es öffentlich nie einen direkten Beweis dafür gab.

Während des Patts erhöhten sich die Spannungen. Vor dem Hintergrund des globalen politischen Klimas, das islamischer Militanz nach dem Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 entschieden feindselig gegen-über stand, griff die indische Regierungspartei BJP den Slogan des «Kriegs gegen den Terror» als eine Möglichkeit auf, um internationale Unterstützung für ihre militärische Kampagne gegen Pakistan zu gewinnen. Obwohl Musharraf mit der Attacke auf das indische Parlament wenig zu tun hatte, brach Indien den Kontakt zu Pakistan ab. Der indische Botschafter in Islamabad wurde nach Delhi zurück-gerufen, Straßen- und Bahnverbindungen wurden abgeschnitten und Flüge von pakistanischen Fluggesellschaften über indisches Territorium untersagt. Pakistan antwortete in gleicher Weise.

Es gab nun atomare Drohungen in alle Richtungen. Im Mai 2002, als Kampf-flieger lautstark über Islamabad kreisten, erklärte General Mirza Aslam Beg, der frühere pakistanische Armeechef, in einer öffentlichen Diskussion mit mir: «Wir sind in der Lage zu einem Erstschlag, auch zu einem zweiten und sogar zu einem dritten.» Die absolut vernichtende Wirkung eines Atomkriegs ließ ihn unbeein-druckt. «Sie können sterben, wenn sie die Straße überqueren», sagte er, «und Sie

Page 127: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

125

Perv

ez h

oodb

hoy

Paki

stan

s nu

klea

rer

Pfa

d: V

erga

ngen

heit

, Geg

enw

art

und

Zuk

unft

können in einem Atomkrieg sterben. Irgendwie sterben Sie so oder so.» Pakis-tans Botschafter bei den Vereinten Nationen in Genf, Munir Akram, sandte ein bedrohliches Signal, indem er mehrfach Pakistans Weigerung wiederholte, einen Erstschlag auszuschließen.

Die aggressive Einstellung Indiens war ebenfalls offenkundig. Verteidigungs-minister George Fernandes sagte der International Herald Tribune: «Indien kann einen Atomangriff überleben, Pakistan dagegen nicht» (Richardson 2002). Der Staatssekretär im indischen Verteidigungsministerium, Yogendra Narain, ging noch einen Schritt weiter. In einem Interview mit dem Outlook Magazine konsta-tierte er: «Die Antwort ist ein chirurgisch ausgeführter Schlag», und fügte für den Fall, dass dieser nicht erfolgreich sei, hinzu: «Wir müssen auf die totale gegen-seitige Vernichtung vorbereitet sein» (Narain 2002). Der indische Sicherheits-experte Brahma Chellaney behauptete: «Indien kann noch den letzten Winkel Pakistans erreichen und ist perfekt darauf vorbereitet, Pakistans nuklearen Bluff offenzulegen.»5 Glücklicherweise siegte der gesunde Menschenverstand, und internationale Vermittlungsbemühungen trugen dazu bei, die Spannungen nach einem nervösen monatelangen Patt zu lindern.

Dann kam das Massaker von Mumbai. Es wurde von der in Pakistan ansäs-sigen Lashkar-e-Taiba durchgeführt, begann am 26. November 2008 und dauerte drei Tage, wobei mehr als 200 Menschen getötet und mindestens 308 verletzt wurden. Die Inder sehen es als ihren 11. September an. Selbst schon am Anfang war es offenkundig, dass der pakistanische Staat, selbst von anderen Gruppen des Dschihad bedrängt, diese Angriffe nicht in Auftrag gegeben haben konnte. Doch die Stimmung in Indien kochte hoch, als Pakistan entschieden erklärte, dass keine pakistanischen Staatsangehörigen in die Aktionen verwickelt seien. In beiden Ländern gossen die Medien Öl ins Feuer, wobei indische Moderatoren im Fernsehen wiederholt nach einem Militärschlag gegen Pakistan riefen.

Hier von meiner Seite ein persönliches Beispiel: Der General im Ruhestand Hamid Nawaz, der damals als Innen- und Verteidigungsminister fungierte, griff mich in einer Fernsehsendung scharf an, als ich in Erwägung zog, dass eine der vielen in Pakistan ansässigen Dschihad-Gruppen in das Ganze verwickelt sein könnte. Und er schlug vor, Pakistans atomares Arsenal klarzumachen, und sagte, ein atomarer Erstschlag solle eine der bevorzugten pakistanischen Optionen sein.6 Auch andere Personen im pakistanischen Fernsehen waren schnell mit dem Vorschlag zur Hand, atomare Waffen einzusetzen. Das ist ein möglicher Hinweis darauf, dass Abschreckung ihre Wirkung verliert.

Natürlich hat es seit Hiroshima und Nagasaki keinen Einsatz von Atomwaffen mehr gegeben. Obwohl Pakistan und Indien gegenseitig fast bis zum Äußersten gegangen sind, sind sie doch jedes Mal vom Abgrund zurückgetreten. Ist das nicht der Beweis dafür, dass Abschreckung «funktioniert»? Auf den ersten Blick

5 «India Tests Nuclear-Capable Missile, Angers Pakistan», Agence France Presse, 25. Januar 2002.

6 Um das GEO-TV-Video und die öffentlichen Reaktionen zu sehen, gehen Sie auf http://pkpolitics.com/2008/12/04/capital-talk-4-December-2008/

Page 128: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

126

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

lautet die Antwort «ja». Jedoch mit einer wichtigen Einschränkung. Was einige Male funktioniert, kann beim nächsten Mal schiefgehen. Es gibt starke Anzei-chen dafür, dass die Angst vor dem Grauen immer mehr nachlässt und der Wert der Abschreckung so gemindert wird. Die Wirksamkeit atomarer Abschreckung beruht auf der Fähigkeit dieser Waffen, Angst und Schrecken zu erzeugen. Das setzt ein rationales Kalkül ebenso voraus wie handelnde Personen, die auf dem Gipfel der Spannung sich von kalter Logik und nicht von Emotionen leiten lassen. Die Ereignisse in Südasien haben alle diese Voraussetzungen in Frage gestellt. Länder, die sich die ganze Zeit nah am Abgrund bewegen, könnten irgendwann glauben, dass sie nicht hineinfallen können.

Ein Beispiel: Anfang 2002, als Truppen in Millionenstärke mobilisiert waren und die Führer sowohl in Indien wie in Pakistan mit dem Atomkrieg drohten, reagierte die Weltöffentlichkeit voller Furcht und sah einen erbitterten und möglicherweise selbstmörderischen Kampf heraufziehen. Ausländische Staats-angehörige verließen beide Länder fluchtartig. Aber selbst auf dem Höhepunkt der Krise konnten die meisten Inder oder Pakistanis ruhig schlafen. Auch wenn die Börsen nervös reagierten, gab es keinen Ansturm auf die Banken und keine Panikkäufe. Schulen und Universitäten, die normalerweise bei den ersten Anzei-chen von Unruhen schließen, arbeiteten normal weiter. Die Gleichgültigkeit gegenüber der Möglichkeit atomarer Vernichtung war einfach verblüffend.

Auf den zweiten Blick war das alles vielleicht gar nicht so erstaunlich. Indien und Pakistan sind immer noch weitgehend traditionelle, ländliche Gesell-schaften, auch wenn beide einen raschen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandlungsprozess durchlaufen. Die grundlegende Mentalität solcher Gesell-schaften (die sich vermutlich als letztes ändert) spiegelt die Realitäten ländli-cher Gesellschaften wider, die von Regenfällen und gutem Wetter abhängen – dieselben Faktoren, die den Regengott und andere Gottheiten geschaffen haben. Diese vorwissenschaftlichen Weltbilder fördern die Ergebenheit gegenüber stärkeren und übernatürlichen Kräften. Deshalb enden Gespräche und Diskus-sionen oft mit Bemerkungen in der Richtung, dass das Schicksal bestimmen soll – worauf man mit den Schultern zuckt und seiner Wege geht. Wenn erst einmal unsichtbare Mächte zur Verteidigung angerufen werden können, ist Risikobe-reitschaft eine natürliche Haltung.

Für einen solchen Gleichmut gibt es noch andere Gründe. Die meisten Menschen in Indien und Pakistan wissen viel zu wenig über die atomaren Gefahren. Eine im November 1999 nach der Wahl durchgeführte Umfrage in Indien ergab, dass knapp mehr als die Hälfte der Bevölkerung von den nukle-aren Tests im Mai 1999 überhaupt nichts wusste (Yadav, Heath und Saha 1999). Während der Krise im Frühjahr 2002 berichtete die BBC, dass ein Bewusstsein des nuklearen Risikos in der pakistanischen Öffentlichkeit «so gut wie nicht vorhanden» sei (Singh 2002). Für Indien befand sie, dass «sich viele das Grauen eines Atomkonflikts kaum vorstellen könnten» (Sen 2002).

Belege für die Richtigkeit dieser Urteile kann ich aus erster Hand liefern. Selbst gebildete Menschen scheinen nicht in der Lage zu sein, die einfachsten

Page 129: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

127

Perv

ez h

oodb

hoy

Paki

stan

s nu

klea

rer

Pfa

d: V

erga

ngen

heit

, Geg

enw

art

und

Zuk

unft

atomaren Realitäten zu begreifen. Einige Physikstudenten (und Angehörige des Lehrkörpers) in meiner Abteilung glauben, dass ein Atomkrieg das Ende der Welt bedeuten würde. Andere betrachten Atomwaffen nur als etwas größere Bomben. Viele sagen, das sei nicht ihre Sache, sondern die der Armee. Beinahe niemand weiß etwas von den Möglichkeiten einer atomaren Feuersbrunst, von verblei-bender Radioaktivität oder der Schädigung des Erbguts.

Mit jeder neuen pakistanisch-indischen Krise scheint die politische Vorsicht und Zurückhaltung zu sinken und die Bereitschaft zu einer Politik des äußersten Risikos zu steigen. Dabei ist das Fehlen einer informierten und organisierten öffentlichen Meinung, die die politische und militärische Führung in Schach halten und davon abbringen könnte, mit Atomwaffen herumzufuchteln, ein Schlüsselfaktor. Trotz der heutzutage dynamischen Medienlandschaft gibt es in keinem der beiden Länder eine kritische Diskussion um Atomwaffen und Atomkrieg. Das Entsetzen vor Atomwaffen war ausschlaggebend dafür, dass die Kontrahenten des Kalten Krieges Atomverträge wie SALT aushandelten und ihre aggressiven militärischen Drohgebärden zurücknahmen. Doch dieses Gefühl des Entsetzens ist im atomaren Verhältnis Pakistan – Indien nicht spürbar. Statt-dessen lassen sich oft eine saloppe Leugnung der Realität und eine beinahe blasierte Gleichgültigkeit gegenüber den Wirkungen von Atomwaffen feststellen. Zuletzt scheinen die wichtigsten politischen Führer und Experten in Indien wie in Pakistan ganz bewusst den Weg der Ignoranz in Atomfragen eingeschlagen zu haben.

Ein weiteres Beispiel: Zwei Monate vor den Atomtests im Mai 1998 traf eine Delegation der Pugwash-Bewegung in Delhi mit Premierminister Inderjit Kumar Gujral zusammen. Als Mitglied der Delegation gab ich meiner Besorgnis über die Möglichkeit einer nuklearen Katastrophe auf dem Subkontinent Ausdruck. Gujral versicherte mir wiederholt – zuerst öffentlich und später unter vier Augen –, dass Pakistan nicht in der Lage sei, Atomwaffen zu bauen. Der Premier stand damit nicht allein. Erfahrene indische Verteidigungsexperten wie P. R. Chari hatten vor dem Mai 1998 ebenfalls Artikel veröffentlicht, die diese Behauptung aufstellten, und dasselbe gilt für den ehemaligen Vorsitzenden der Indian Atomic Energy Agency, Dr. Raja Ramana.

Obwohl Pakistans Nukleartests diese falsche Einschätzung erschütterten, äußerten maßgebliche militärische und politische Führer Indiens weiterhin Zweifel an der Einsatzfähigkeit des pakistanischen Waffenarsenals. Kurz nach Pakistans Eindringen in Kargil begann Indien ernsthaft, grenzüberschreitende Angriffe auf militärische Stützpunkte auf der pakistanischen Seite der Kontroll-linie in Erwägung zu ziehen. Befürworter dieser Strategie zweifelten an Pakis-tans Bereitschaft und Fähigkeit, Atomwaffen einzusetzen. In den herrschenden Kreisen Indiens fand diese Einstellung weite Verbreitung und erhöhte so das Risiko einer Fehleinschätzung, die zu schwerwiegenden Fehlern und einem unbeabsichtigten Atomkrieg hätten führen können.

Viele indische Kommentatoren und Analytiker glaubten bereitwillig – und manche tun es vielleicht immer noch –, dass Pakistan, als Klientelstaat der

Page 130: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

128

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

USA, dazu gezwungen wurde, seine Atomwaffen unter die Kontrolle der USA zu stellen. Sie gingen von der Annahme aus, dass die USA im Fall einer zugespitzten Krise ihren Einsatz durch Pakistan entweder untersagen oder erforderlichenfalls diese Waffen vernichten würden. Auf einer Konferenz in Dubai im Januar 2002, an der ich teilnahm, sagten maßgebliche indische Experten, sie seien der pakis-tanischen atomaren Drohungen «überdrüssig» und glaubten nicht länger daran. K. Subrahmanyam, ein einflussreicher indischer Falke, der schon lange für die Atombewaffnung Indiens plädiert hatte, sagte, Indien könne «ruhig schlafen».

Ein atombewaffnetes Pakistan in solcher Weise herauszufordern, erfor-dert jedoch einen enormen Vertrauensvorschuss. Die Annahme, die Verei-nigten Staaten hätten den politischen Willen – und die Möglichkeit –, Pakistans Atomwaffen zu vernichten, ist schlichtweg falsch. Während der Kubakrise besaß die US-Luftwaffe Luftaufnahmen der sowjetischen Raketenstationierungsorte, und ihre Flugzeuge hätten nur Minuten gebraucht, doch selbst das hätte nicht garantiert, dass ein Überraschungsangriff hundertprozentig erfolgreich gewesen wäre. Im Ersten Golfkrieg hatten die Versuche der USA, die irakischen Scud-Raketen zu zerstören, nur begrenzten Erfolg. Und immer noch sind die USA extrem zurückhaltend, wenn es darum geht, Irans Atomanlagen anzugreifen – oder Israel die Erlaubnis zu geben, das zu tun. Kein Land hat jemals versucht, die Atomwaffen eines anderen zu beseitigen. Die Folgen einer verpfuschten Opera-tion dieser Art lassen sogar die Tollkühnsten schaudern.

der stille tod der minimalen abschreckung

In den frühen Zeiten der ersten nuklearen Schritte Indiens und Pakistans lautete das Mantra beiderseits: minimale Abschreckung oder «gerade genug». In den 1980er Jahren pflegte der verstorbene «nukleare Visionär» General K. Sunderji zu betonen, dass Indien nur eine Handvoll von Atomwaffen brauche, um die wichtigsten pakistanischen Städte «auszuradieren» – und dass es mehr nicht bauen solle. Bei meiner einzigen Begegnung mit ihm auf einer Carnegie-Kon-ferenz in Washington umarmte er mich herzlich, nachdem ich mich als pakis-tanischer Atomphysiker vorgestellt hatte. Er sagte, auch Pakistan solle einige Atomwaffen haben, weil das den Atomkrieg unmöglich machen würde. Ich hielt es für unnötig, ihm zu sagen, dass Pakistan schon damals auf dem Weg dorthin war oder dass seine – Sunderjis – Initiative, die Operation Brasstacks7, die beiden Länder 1987 beinahe zum Krieg geführt hätte.

Die Zeiten änderten sich jedoch. General Sunderjis Ideen starben noch vor ihm. Im August 1999 wurde die Indian Nuclear Draft Doctrine geschaffen. Darin ist von einem Minimum nirgends mehr die Rede. Im Anschluss an die Präambel, die besagte, Atomwaffen seien «die schlimmste Bedrohung der

7 Die Operation Brasstacks war ein sehr großes Manöver der indischen Armee nahe der pakistanischen Grenze, das vom November 1986 bis zum März 1987 dauerte. (Anm. der Red.)

Page 131: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

129

Perv

ez h

oodb

hoy

Paki

stan

s nu

klea

rer

Pfa

d: V

erga

ngen

heit

, Geg

enw

art

und

Zuk

unft

Menschheit», heißt es weiter, dass Indien «ausreichende, überlebensfähige und auf den Einsatz vorbereitete Atomstreitkräfte» und «die Bereitschaft, Atomstreit-kräfte und Atomwaffen einzusetzen» brauche. Die Rede war von einer Triade aus Flugkörpern, mobilen Landraketen und Stützpunkten auf See sowie davon, dass die Überlebensfähigkeit durch eine Kombination vielfacher redundanter Systeme, durch Mobilität, Streuung und Täuschung hergestellt werden sollte. Es wurde keine bestimmte Zahl von Waffen mehr benannt, keine Beschränkung bei den Trägern und keine Grenze dessen, was «flexible response» heißen könnte. Der taktische Atomkrieg, einstmals als Stufe der Eskalation und weit über die minimale Abschreckung hinausgehend betrachtet, soll Bestandteil der gegen-wärtigen indischen Militärdoktrin sein. Tatsächlich heißt es von dem großen indischen Manöver Poorna Vijay (Endgültiger Sieg) im Mai 2001, dem größten seit über einem Jahrzehnt, es habe sich darauf konzentriert, die Armee und die Luftwaffe für den Kampf in einem atomaren Konflikt zu schulen.8 Nimmt man alles zusammen, scheinen die militärischen Optionen Indiens und die Planungen Pakistans darauf hinauszulaufen, dass jeder größere pakistanisch-indische Konflikt unweigerlich zum Einsatz von Atomwaffen führt.

das rennen um die atomare Vorherrschaft

Früher pflegten die südasiatischen Befürworter der Atombewaffnung persön-lich beleidigt zu sein, wenn man das Wettrüsten erwähnte, weil sie das als Panikmache bezeichneten. Auf der Konferenz in Chicago 1992 betonte der indische Sicherheitsexperte K. Subrahmanyan ausdrücklich, dass «Wettrüsten ein von den Westmächten entwickeltes Konzept aus der Zeit des Kalten Krieges und dem Denken des Subkontinents vollkommen fremd» sei. Seine pakistani-schen Kollegen stimmten ihm bereitwillig zu. In jenen Tagen wurden atomare Denkmodelle wie die Mutually Assured Destruction (MAD) als kranke Ausge-burt westlicher Hirne angesehen; jene hätten Vernichtungskräfte entwickelt, mit denen man die Erde siebenmal vernichten konnte.

Aber die erwartete Kehrtwendung folgte bald. Nicht lange nach den Atomtests von 1998 entwickelte sich ein ausgewachsenes nukleares Wettrüsten. Selbst ein flüchtiger Blick auf Indiens nachfolgende Ausgaben für nukleare und konventio-nelle Rüstung zeigt das. Indien erhöhte seinen Verteidigungshaushalt im Februar 2008 für das Haushaltsjahr 2008-2009 um 10 Prozent auf 26,5 Milliarden Dollar, während sein Investitionsaufwand für Verteidigung von 11,4 Milliarden Dollar 2008 gegenüber dem vorhergehenden Jahr sogar um 12 Prozent stieg (Misquitta 2009). In der Zeit von 2009 bis 2014 plant Indien 50 bis 55 Milliarden Dollar für eine ganze Reihe von Anschaffungen ein – darunter mehr als 10 Milliarden Dollar für 126 Kampfflugzeuge. Indien hatte laut Untersuchungen des Internationalen Stockholmer Instituts für Friedensforschung 2008 die zehnthöchsten Militäraus-

8 «Bracing for a Nuclear Attack, India Plans Operation Desert Storm in May», Indian Express, 30. April 2001.

Page 132: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

130

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

gaben auf der ganzen Welt und ist bestrebt, einen noch höheren Platz zu belegen. Im Juli 2009 kündigte der indische Verteidigungsminister A. K. Antony an, dass Indien für 2009/2010 seinen Militärhaushalt auf atemberaubende 40 Milliarden Dollar erhöhen will, wodurch die Militärausgaben 3 Prozent des jährlichen Bruttoinlandprodukts (BIP) ausmachen würden.9 Die indische Wirtschaft und ausländische Rüstungsfirmen waren entzückt.

Um die Eskalation auf die Spitze zu treiben, begann Indien im Juli 2009 mit Tests seiner nuklearen 7000-Tonnen-Unterwasserflotte, die ballistische Raketen starten kann. Diese Unterwasserflotte ist die erste in einer Reihe von geplanten fünf und soll durch eine Flotte mit Jagd-U-Booten ergänzt werden. Bei einem geschätzten jährlichen Budget von 7,8 Milliarden Dollar im Jahr 2008 – knapp ein Viertel des indischen Budgets – kann Pakistan ganz offenkundig keine Waffen-gleichheit mit Indien herstellen. Dennoch findet jeder indische Schritt einen Gegenschritt auf der pakistanischen Seite. Wie erwartet wurden die Neuigkeiten über die indische atomare Unterwasserflotte in Pakistan nicht sehr freundlich aufgenommen. Was sollte man tun? Ein ehemaliger Diplomat, der die pakis-tanische Delegation bei den Gesprächen mit Indien über vertrauensbildende Maßnahmen (CBMs) im Hinblick auf atomare und konventionelle Waffen zwischen 2004 und 2007 geleitet hatte, gab diese Antwort: atomare Unterwas-serflotten entwickeln wie Indien; schon existierende konventionelle Unterwas-serflotten mit atomaren Marschflugkörpern bestücken; an Russland wegen Leasings einer atomaren Unterwasserflotte herantreten und durch Steigerung der Produktion von spaltbarem Material mehr Atomwaffen bauen (Hyder 2009).

die entwicklung bei den atomaren gefechtsköpfen

Der gegenwärtige Stand von Pakistans atomarem Arsenal ist ein Geheimnis. Verschiedene plausibel erscheinende Schätzungen gehen von 60 bis 100 Gefechtsköpfen im Bereich von 5 bis 20 Kilotonnen aus. Da Indien für den Umfang des eigenen atomaren Arsenals öffentlich keine Grenzen benannt hat, kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass auch Pakistan sich nicht auf ein numerisches Ziel festlegt. Der Nuklearvertrag zwischen den USA und Indien hat im Wesentlichen alle Möglichkeiten beseitigt, in absehbarer Zukunft die Liefe-rung spaltbaren Materials zu stoppen. Da Pakistan materiellen und technischen Einschränkungen unterworfen ist, darf man annehmen, dass es versuchen wird, ebenfalls so viele Gefechtsköpfe wie möglich herzustellen und sie in ihrer Wirkung so stark wie möglich zu machen.

Was also könnte den weiteren Ausbau des Atomwaffenarsenals verhindern?Die maximale Anzahl der auf Uran basierenden Gefechtsköpfe, die Pakistan

herstellen kann, hängt von der Menge hoch angereicherten Urans ab, das in den Zentrifugen der Aufbereitungsanlage Kahuta und vielleicht in nicht bekannten Anlagen an anderen Orten Pakistans gewonnen werden kann. Die ursprüngliche

9 htttp://www.india-defence.com/reports/3869

Page 133: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

131

Perv

ez h

oodb

hoy

Paki

stan

s nu

klea

rer

Pfa

d: V

erga

ngen

heit

, Geg

enw

art

und

Zuk

unft

Produktion hoch angereicherten Urans erfolgte durch Kopien der Aluminium-P-1-Zentrifuge, die A. Q. Khan Mitte der 1970er Jahre aus Europa mitbrachte und die eine Kapazität von weniger als 1 «separative work unit» (SWU) hatte. Das war die ursprüngliche Hauptsäule des Zentrifugenprogramms und wurde in den späten 1980er Jahren um das P-2-Modell ergänzt, das einen Ausstoß von 5 SWUs hatte. Im Normalfall wurden die Zentrifugen in Gruppen von etwa 164 Stück hintereinandergeschaltet.

Das Forschungslabor von Kahuta stellte entwickeltere Zentrifugen her, was entweder durch die einheimische Produktion stärkerer Stahle oder möglicher-weise auch durch geschmuggelten Maraging-Stahl ermöglicht wurde.10 Die P-3 war die erste der beiden späteren Zentrifugen. Es ist ein Vierröhrenmodell mit einem Ausstoß von knapp unter 12 SWU pro Jahr. Laut der hier zitierten Quelle könnte die noch entwickeltere P-4 einen Ausstoß von etwas über 20 SWU pro Jahr haben. Obwohl es Informationen über die in Betrieb befindlichen Zentri-fugen gibt, ist ihre genaue Zahl nicht bekannt, doch mit ziemlicher Sicherheit handelt es sich heute um mehrere Tausende. Man glaubt daher, dass die jährliche Produktionsquote von hoch angereichertem Uran derzeit das Mehrfache des Stands aus der Mitte der 1980er Jahre beträgt und weiter steigt.

Eine andere Begrenzung der Möglichkeiten liegt in der Menge natürli-chen Urans aus derzeit bekannten Lagerstätten, vornehmlich im Bezirk Dera Ghazi Khan. Pakistan hat der IAEA angegeben, dass es jährlich 40 Tonnen Uran fördert. Das gewonnene Uran wird aufgeteilt für die Energieproduktion durch die Karatschi Nuclear Power Plant (KANUPP) und für die Produktion spaltbaren Materials.

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verfügt Pakistan über eine Handvoll Plutoniumgefechtsköpfe, deren geringeres Gewicht sie für den Abschuss mit Raketen über eine größere Distanz geeigneter macht. Plutonium-reiche abgebrannte Brennelemente werden durch den einen nicht hochsicher-heitsbewachten 50 MW-Reaktor in Khushab produziert, der seit 1998 arbeitet. Er produziert geschätzte 10 kg Plutonium im Jahr, was ungefähr 2 Bomben entspricht. Jüngste Satellitenbilder zeigen, dass zwei ähnliche Anlagen derzeit im Bau sind, wobei mit dem Bau der neuesten 2007 begonnen wurde (Cochran 2006; Albright und Brannan 2006, 2007).11 Die Wiederaufbereitung der abgebrannten Brennelemente in den New Labs bei Islamabad (und inzwischen möglicherweise auch im Nuklearkomplex von Chashma) ist nötig, um das waffenfähige Pluto-nium auf chemischem Wege zu gewinnen.

Satellitenbilder aus dem Jahr 2009 deuten auf eine Erweiterung der Möglich-keiten hin, Plutonium zu gewinnen (Albright und Brannan 2009; Albright, Brannan und Kelley 2009), und zwar in den New Labs des Pakistan Institute of

10 Mark Hibbs, Nuclear Fuel, Volume 32, No. 3, 29. Januar 2007.11 Vom zweiten Kushab-Reaktor lagen im Juli 2006 Berichte vor, siehe z.B. Joby Warrick:

«Pakistan Expanding Nuclear Programme», Washington Post vom 24. Juli 2006, und: «U.S. Disputes Report on New Pakistan Reactor», New York Times vom 3. August 2006. Bilder des dritten Reaktors wurden im Juni 2007 veröffentlicht.

Page 134: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

132

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Science and Technology (PINSTECH) bei Islamabad. Schon früher hatten Vertei-digungsexperten in den USA darauf hingewiesen, dass eine Reihe kommerzieller Satellitenbilder von Februar 2002 bis September 2006 offenbar den Bau einer zweiten Plutoniumanlage ähnlich der ersten zeigten, woraus man schloss, dass Pakistan seine Plutoniumvorräte vergrößern wollte. Man versuchte auch, eine Schätzung der Zahl der Kernspaltungsanlagen in Südasien unter Hinzuziehung des offiziell zugänglichen Materials vorzunehmen (Mian, Nayyar, Rajaraman und Ramana 2006).12

Die tatsächliche Zahl von aus Kernspaltung gewonnenen Gefechtsköpfen jeden Typs wird außer vom verfügbaren Plutonium auch vom Vorhandensein geeigneter Anlagen für Metallbeschichtung, Sprengstoffe, Elektronik, mechani-sche Bestandteile usw. abhängen. Eine Atomwaffe hat normalerweise etwa 2.000 Teile und ist ein höchst komplexes Gerät. Die Metallbeschichtungsarbeiten und die Waffenproduktion werden zu einem großen Teil im Heavy Mecha-nical Complex in Taxila und in der Nachbarschaft sowie in der angrenzenden Militärstadt Wah geleistet. Es sind für die Herstellung viele Schritte erforderlich, wobei der erste unter anderem die Umwandlung des in Gasform vorhandenen spaltbaren Materials in reines Metall einschließt und danach die maschinelle Bearbeitung, um es in die genauen Maße für den Kern zu bringen. Keiner dieser Schritte ist einfach. Ist aber erst einmal ein Entwurf zur Standardreife gelangt, fällt es leicht, viele Kopien herzustellen. Bei der gegenwärtigen Produktionsrate von wenigen Kernen im Jahr dürfte die Gefechtskopfproduktion höchstwahr-scheinlich bei derselben Rate liegen, und einem weiteren Ausbau von Produkti-onsanlagen für Gefechtsköpfe dürfte nichts im Wege stehen.

Obwohl die Zahl der pakistanischen Gefechtsköpfe und Träger ein streng gehütetes Geheimnis ist, wurde ein früherer Spitzenbeamter der CIA im September 2009 im Bulletin of the Atomic Scientists so zitiert: «Sie haben ungefähr zehn Jahre gebraucht, um die Zahl ihrer Atomwaffen von etwa 50 auf 100 zu verdoppeln» (Norris und Kristensen 2009). Pakistan hat auf der Abrüs-tungskonferenz in Genf erfolgreich alle Versuche blockiert, die Menge des spalt-baren Materials zu begrenzen. Es argumentiert so, dass Indiens Atombewaffnung das nicht zulässt.

Der nächste logische Schritt ist die Herstellung stärkerer Atomwaffen. Verstärkte Atomwaffen, die dasselbe Spaltmaterial benutzen, sind relativ einfach herzustellen.13 Ein paar Zehntel Gramm Deuterium oder Tritium werden der Bombe zugefügt. Die zusätzlich freigesetzten Neutronen führen zu einer besseren Spaltung und können die Explosionskraft verdoppeln oder gar verdreifachen.

12 Siehe auch Zia Mian, A. H. Nayyar und R. Rajaraman: «Uranium Constraint on Pakistan’s Fissile Material Production», Science and Global Security, Taylor and Francis, USA (im Druck).

13 In der Tat hatte Pakistan behauptet, dass die 1998 getesteten Waffen dieser Art seien. Siehe das Interview von Dr. Samar Mubarakmand auf GEO TV am 3. Mai 2004, unter http://www.pakdef.info/forum/showtread.php?t=9214.

Page 135: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

133

Perv

ez h

oodb

hoy

Paki

stan

s nu

klea

rer

Pfa

d: V

erga

ngen

heit

, Geg

enw

art

und

Zuk

unft

Der Reaktor in Khushab ist auch eine Quelle der Tritiumproduktion. Vorher hatte die PAEC versucht, es durch Bestrahlung von Lithium zu gewinnen (Chaudri 2006). 1987 gelang es der PAEC, aus der Bundesrepublik Deutschland Teile einer Anlage für die Klärung von Tritium zu erhalten. Später versuchte Pakistan, sich aus der Bundesrepublik 30 Tonnen Aluminiumröhren zu besorgen, die man benutzt, «um Lithium für die Bestrahlung im Reaktor zu verkleiden» (Chaudri 2006). In einem Bericht an den Kongress aus dem Mai 1989 heißt es, Pakistan «habe von der Bundesrepublik Deutschland Tritium amerikanischen Ursprungs erhalten – ursprünglich für Wasserstoffbomben bestimmt – und außerdem Ausrüstungen zum Gewinn von Lithium. Es hat auch einen Hochleistungs-laser amerikanischen Ursprungs erhalten und zwar als Teil einer Lieferung von Ausrüstungen für die Herstellung von Kernbrennstoff.»14

Kombinierte Kernwaffen sind eine andere Möglichkeit (der Gedanke ist mehr als 60 Jahre alt). Indem man zwei Materialien kombinieren würde – eine kleinere Plutoniumkugel in einer Haut aus hoch angereichertem Uran –, könnte Pakistan mehr Bomben bauen, als wenn die Kerne entweder aus Plutonium oder aus Uran gemacht wären. Diese Verbindung erfordert jedoch eine qualitativ höhere Stufe der Wissenschaft. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass Pakistan an einer solchen Waffe arbeitet, obwohl es über die bisher gemachten Fortschritte kaum Informationen gibt. Es ist bekannt, dass eine Gruppe von Plasmaphysikern, die vor mehr als 20 Jahren innerhalb der Pakistan Atomic Energy Commission (PAEC) eingerichtet wurde, sich mit dem Thema kombinierter Waffen beschäf-tigt. Indien behauptet, bereits eine kombinierte Waffe entwickelt zu haben, und gab bekannt, unter den am 11. Mai 1998 getesteten Waffen sei eine von diesem Typus gewesen.

das raketenpotenzial

Die Entwicklung von Raketen ist heute Bestandteil einer boomenden, vornehm-lich exportorientierten pakistanischen Waffenindustrie, die eine große Bandbreite an Waffen, von Granaten bis Panzern, von Nachtsichtgeräten bis lasergesteuerten Waffen, von kleinen U-Booten bis zu Schulflugzeugen baut. Dutzende großer Industrieanlagen in Taxila und Wah sowie im Umkreis, mit Zulieferbetrieben in der Region Islamabad/Rawalpindi, produzieren Waffensys-teme im Wert von Hunderten von Millionen Dollar, wobei die Exporterlöse nach Berichten im Jahr 2008 schätzungsweise 300 Millionen Dollar betrugen.15 Vieles wird in Auslandslizenzen gebaut, manches aus CKD-Kits (Bausätzen), und der Großteil der Maschinerie für die Waffenfabriken wird aus dem Westen oder aus China importiert.

14 «Nuclear and missile proliferation» (US-Senat am 16. Mai 1989) unter http://www.fas.org/spp/starwars/congress/1989/890516-cr.htm

15 «Official claims big rise in arms exports», Dawn, 18. Juli 2008.

Page 136: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

134

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Das pakistanische Raketensystem kann in zwei verschiedene Klassen unter-teilt werden. Die Baureihe der Ghauri-Raketen, die auf der nordkoreanischen Nodong-Rakete basiert, wurde in den Khaluta Research Laboratories (KRL) entwickelt, während die auf den chinesischen M-9 und M-11-Raketen basie-rende Shaheen-Reihe im National Defence Complex (NDC) entwickelt wurde.

raketentyp reichweite (km)

treibstoff nutzlast (kg)

anzahl der tests

letzter test

Hatf-I 50 – 90 Festbrennstoff 450

Hatf-II (Abdali) 70 – 200 Festbrennstoff 450

Hatf-III (Ghaznavi) 100 – 290 Festbrennstoff 800

Hatf-IV (Shaheen-I) 200 – 650 Festbrennstoff 850

Hatf-V (Ghauri) 300 – 1300 flüssig 680

Hatf-VI (Shaheen-II) 700 – 2200 Festbrennstoff 1100 21. 4. 2008

Hatf-VII (Babur) 500 – 750 flüssig 500 2 26. 7. 2007

Die Hauptsäulen der pakistanischen Raketenstreitmacht sind in der oben stehenden Tabelle aufgelistet.16 Dazu gehören die Kurzstreckenraketen, die Hatf-III (Ghaznavi, Reichweite 290 km); Hatf-IV (Shaheen I, Reichweite 650 km); die Hatf-V mit größerer Reichweite (Ghauri, Reichweite 1300 km) und die noch in der Entwicklung befindliche Hatf-VI (Shaheen-II, Reichweite 2200 km).

Ein Bericht aus dem Jahr 2007 stellt fest, dass weniger als 50 vierachsige Transporter-Erector-Launcher (TEL)17 bekannt sind, die man braucht, um die mit Festbrennstoff betriebenen Ghaznavi (Hatf-III) in Einsatz zu bringen (Norris und Kristensen 2007). Die meisten sind offensichtlich im Sargodha Weapons Storage Complex gelagert, der an die PAF-Basis angrenzt. Dasselbe gilt für die grob geschätzt 50 vierachsigen TELs für die Shaheen-I-Rakete. Es existieren Satellitenbilder von etwa 15 sechsachsigen TELs, die für die Shaheen-II geeignet sind.

Pakistan entwickelt auch einen atomar einsetzbaren Marschflugkörper mit 500 km Reichweite unter dem Namen Babur. Eine von der pakistanischen Regie-rung betriebene Website18 stellt fest, dass ihre angestrebten Möglichkeiten mit denen der amerikanischen BGM-109 Tomahawk vergleichbar sind und dass auch eine Version mit einer Reichweite von 1000 km entwickelt werden soll. Die Babur wird als «Unterschallrakete, die das Terrain im niedrigen Bereich absuchen und abtasten sowie den Radar umgehen und mit punktgenauer Präzision zuschlagen kann», beschrieben. Statt durch GPS gesteuert zu werden – was wesentlich von der Unversehrtheit der Satellitensysteme im Konfliktfall abhängig ist –, soll sie

16 Mahmud Ali Durrani, «Pakistan’s Stretgic Thinking and the Role of Nuclear Weapons», Cooperative Monitoring Center, Occasional Paper 37, Sandia National Laboratory.

17 Ein TEL ist ein Vehikel, mit dem man Raketen transportieren, in Abschussposition und zum Abschuss bringen kann. (Anm. der Red.)

18 http://www.pakistanidefence.com/

Page 137: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

135

Perv

ez h

oodb

hoy

Paki

stan

s nu

klea

rer

Pfa

d: V

erga

ngen

heit

, Geg

enw

art

und

Zuk

unft

durch Trägheitsnavigation (und möglicherweise durch Lasergyroskope) gelenkt werden. Es gab am 21. März 2006 einen durch ein TEL gestarteten Testflug, bei dem Präsident General Pervez Musharraf im Publikum war. Nach Angaben eines Sprechers der Inter Services Public Relations (ISPR) «arbeitet Pakistan an einer Modifikation, durch die die Rakete von ihren F-16, Mirage und A-5-Rampen gestartet werden kann sowie von Marineplattformen wie dem U-Boot-Typ Agosta 90B und den Fregatten der Tariq-Klasse.» Ein Test der Babur am 26. Juli 2007 wurde als erfolgreich bezeichnet, wobei die Reichweite auf 700 km ausge-dehnt wurde.19

Pakistan war erstaunlich erfolgreich darin, in sehr kurzer Zeit eine ziemlich große und diversifizierte Menge an Mittelstreckenraketen aufzubauen. Wie ist das für ein sich entwickelndes Land mit einer schwachen industriellen und wissenschaftlichen Infrastruktur möglich? Raketen zu bauen, die lange Entfer-nungen überwinden können, ist technisch eine hochkomplexe Aufgabe; selbst heute noch wird «Raketenwissenschaft» als Synonym für die schwierigste und avancierteste Wissenschaft gebraucht.

Raketen zu bauen bedeutet, dass man sich ein breites Spektrum an Techno-logien aneignen muss. Einige der Schlüsseltechnologien liegen auf folgenden Gebieten: Chemie, um flüssigen und festen Treibstoff herstellen, testen und einsetzen

zu können. Mechanik, um den Motor der Rakete entwerfen, bauen und testen zu

können. Aerodynamik und Bautechnik für die Entwicklung solcher Strukturen wie

Rumpf, Flossen und die Wiedereintrittskörper der Rakete. Herstellung spezieller Materialien und Formgebung für den Einsatz bei

extrem hohen Temperaturen wie auch für Plastik und Polymere. Hitze-schilder für den Wiedereintritt in die Atmosphäre sind erforderlich, damit der Gefechtskopf nicht unbrauchbar wird.

Rechnerische Fähigkeiten und spezielle Software für die verschiedensten Anwendungen, darunter Ballistik, Navigation, Durchflussmengen, dynami-scher Nutzlastausgleich etc.

Elektronik für Steuerung und Kontrolle der Rakete, Telemetrie und Zielfüh-rung.

Das sind anspruchsvolle Anforderungen, die Probleme sind klar, und doch kann man die Lösungen dafür in speziellen Lehrbüchern und in Monografien finden, die in Universitäten in vielen Ländern benutzt werden, darunter auch die USA und China. Komponenten-Design ist keine große Sache mehr – die Verfügbarkeit ballistischer Raketentechnologie, kompletter Subsysteme, von Navigationsgyro-skopen, GPS und Hochleistungsrechnern haben es vielen Ländern auf der Welt

19 http://www.pakistanidefence.com/

Page 138: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

136

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

– darunter auch Pakistan und Indien – ermöglicht, mehrere Entwicklungsstufen zu überspringen.

Die Einzelheiten der Raketenentwicklung werden streng unter Verschluss gehalten, aber heftige Reibereien zwischen den beiden maßgeblichen pakista-nischen Organisationen, dem Kahuta Research Laboratory, geleitet von Dr. A. Q. Khan, und dem National Defence Complex, geleitet von Dr. Samar Mubarik-mand, haben oft dazu geführt, dass jede der beiden Organisationen Informati-onen an die Presse hat durchsickern lassen, um einen größeren Teil vom Ruhm abzubekommen. Eine in Urdu publizierte Zeitung gab 1999 einen wertvollen Überblick in einem untergeschobenen Artikel mit dem Titel «Wie Shaheen entwickelt wurde», in dem die Erfolge der NDC-Gruppe hervorgehoben und die des KRL heruntergespielt werden.20

Welche Schlüsse können wir aus diesem offenkundig erstaunlichen Fortschritt beim Raketenbau ziehen?

Die Raffinesse des Antriebssystems für die Babur, ein leichtgewichtiges Doppelstromtriebwerk, und auch die komplexen Kontrollsysteme, die Elekt-ronik, Sensoren, Aerodynamik etc. grenzen die Rakete ganz klar von irgendwel-chen vergleichbaren Erfolgen in der pakistanischen Industrie oder auf anderen Gebieten der Technologie ab. Dasselbe kann man von den ballistischen Raketen der Hatf-Serien sagen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Pakistan wesentliche Unterstützung aus China bekommen und dazu Bauteile aus Europa illegal eingeführt hat. Für die Ghauri-Serie ist die Unterstützung durch Nordkorea eine bestätigte Tatsache, und auch für die Babur könnte sie eine Rolle spielen.

Zwar bleibt Pakistan offiziell bei der Behauptung, dass seine Raketenflotte allein das Ergebnis einheimischer Entwicklung sei, doch diese Behauptung ist nicht zu halten – und wird auch nicht immer durchgehalten. Ein pakistanischer Autor, der offenkundig von der Pakistan Atomic Energy Commission beauf-tragt wurde, die Erfolge von A. Q. Khan und der rivalisierenden KRL schlecht zu machen, schrieb in einer pakistanischen Zeitschrift für Verteidigungsfragen: «Als die PAEC 1989 mit China ein Abkommen über die Lieferung der festbrenn-stoffbetriebenen M-11-Raketen schloss, gelang es A. Q. Khan bald danach, die durch flüssigen Treibstoff betriebene Ghauri von Nordkorea zu bekommen, und deshalb war er in der öffentlichen Vorstellung der Mann, der Pakistan die Träger-systeme für die Bombe brachte. Tatsache ist, dass die PAEC 1990, als die Funda-mente für die Einrichtung des NDC gelegt wurden, ebenfalls schon an der flüssig angetriebenen ballistischen Shaheen-Rakete arbeitete, bevor die Ghauris oder die Taepodongs und die Nodongs betriebsfähig wurden.»21

Bei seinen Bemühungen, seine Mutterorganisation PAEC in ein gutes Licht zu stellen, wischt der Autor die über viele Jahre erfolgten Dementis beiseite, Pakistan habe von China keine M-11-Raketen geliefert bekommen, wie auch

20 Rawalpindi Jang, April 1999, S. 10.21 In Chaudri 2006

Page 139: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

137

Perv

ez h

oodb

hoy

Paki

stan

s nu

klea

rer

Pfa

d: V

erga

ngen

heit

, Geg

enw

art

und

Zuk

unft

die Fiktion, die Ghauri seien das Resultat einheimischer Entwicklung und nicht nordkoreanischer Herkunft.

Dennoch wäre es falsch, den Schluss zu ziehen, Pakistans Raketen seien hundertprozentige Importe aus dem Ausland. Pakistan betreibt eine zweiglei-sige Raketenpolitik. Das erste Gleis war der Kauf kompletter Raketensysteme als Bausätze. Geliefert wurden sie als Handelsgut, überwiegend per Schiff, aber auch über den Khunjarab-Pass und aus China über die Seidenstraße. Auf dem zweiten Gleis bemühte man sich, die Systeme zu analysieren und sie dann Schritt für Schritt selbst zu planen und zu bauen («reverse engineering»). Hat man erst einmal die Grundschablone eines Systems – zum Beispiel das des Tomahawk –, geht es darum, die zugehörigen Subsysteme entweder zu bauen oder zu kaufen. Für Ingenieure und Hersteller in entwickelten wie Entwicklungsländern erlaubt es der modulare Charakter moderner Technologie, die einzelnen Einheiten gesondert zu beschaffen und sie dann zusammenzufügen, um hochkomplexe und effektive Systeme zu bauen. Man muss nur wissen, wie die Einheiten zusam-menpassen, nicht so sehr, auf Basis welcher Prinzipien sie funktionieren.

Vor 30 bis 40 Jahren zum Beispiel musste ein Elektronikingenieur, der an einem Raketensteuerungssystem arbeitete, jahrelang lernen, wie man extrem raffinierte Schaltkreise konstruierte, die Transistoren, Kondensatoren und andere Komponenten enthielten. Heute muss man nur die Anleitungen des Herstellers verstehen können, um einen winzigen Mikroprozessorchip zu programmieren, wie man ihn beinahe bei jedem Elektronikhändler bekommen kann. Die Modulartechnologie ist auch für die Raketenherstellung geeignet, den Motorbau und die aerodynamische Konstruktion eingeschlossen. Computer-gesteuerte NC-Maschinen haben es einfach gemacht. Auf diese Art und Weise haben Länder wie z. B. Nordkorea, die auf anderen technologischen Gebieten kaum etwas zustande bringen, ziemlich entwickelte Raketenprogramme auf die Beine stellen können.

Im Rahmen einer neuen Entwicklungsreihe hat Pakistan angekündigt, es werde in Zusammenarbeit mit Selex Galileo aus Italien bald damit beginnen, unbemannte Luftfahrzeuge zu bauen, auch als Drohnen bekannt.22 Der Vormarsch der Technologien, die aufgrund von Handelsinteressen weltweit verbreitet werden, scheint unaufhaltsam zu sein.

die leistungsfähigkeit der luftwaffe

Die Vergrößerung der von der Armee kontrollierten Raketenflotte wird durch die Steigerung der Leistungsfähigkeit in der Luft begleitet. Der Chef der Luftstreit-kräfte, Generaloberst Tanvir Mehmood Ahmed, gab im März 2009 bekannt, dass 9 Milliarden Dollar bereitgestellt würden, um den «nuklearen Status» der Luftwaffe auf den neuesten Stand zu bringen.23 Was das wirklich bedeutet, bleibt

22 «Complex at Kamra to manufacture drones», Dawn, 21. August 2009.23 The News am 18. März 2009.

Page 140: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

138

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

jedoch nebulös. Es scheint auch kein effizienter Weg zu sein, um die atomaren Angriffskräfte zu stärken. Überflüssig zu sagen, dass früher Jagdbomber Pakis-tans bevorzugtes Mittel waren, um Atomwaffen über Indien zu platzieren, dass ihnen aber gewisse unverrückbare Grenzen gesetzt sind. Zunächst einmal deckt ihre Reichweite große Teile Indiens nicht ab. Zudem müssten sie den Sperrgürtel eines sich ständig verfeinernden Luftabwehrsystems durchbrechen. Trotzdem haben sie natürlich den nicht zu unterschätzenden Vorteil, verlässlich, rückrufbar und wieder einsetzbar zu sein.

Pakistan hatte schon 1987 Atomwaffen, und die Pläne für den Einsatz durch Flugzeuge gingen denen für den Einsatz durch Raketen weit voraus. In einem Bericht heißt es: «In der Zeit von 1983 bis 1990 arbeitete die Wah-Gruppe [der PAEC] am Entwurf und der Entwicklung einer Atombombe, die klein genug war, um von einem kleineren Jagdflieger wie etwa der F-16 transportiert zu werden. Sie arbeitete mit der Pakistan Air Force (PAF) zusammen, um Einsatztechniken für die Bombe zu entwickeln und zu vervollkommnen, die Angriffstechniken wie den konventionellen Abwurf, den Tiefflugabwurf und den Zielabwurf beinhal-teten und dabei Kampfflieger einsetzen. Heute hat die PAF all diese Techniken des Waffeneinsatzes perfektioniert und benutzt dabei selbst entwickelte F-16 und Mirage-V-Kampfflugzeuge als Waffenträger» (Chaudri 2006).

Pakistan erhielt im Juli 2007 eine erste Kleinserie von 36 F-16 C/D block 50/52-Kampfflugzeugen, die modernste Version, die gegenwärtig von der US-Luftwaffe geflogen wird.24 Es enthält außerdem Unterstützung, um alle 34 vorhandenen pakistanischen F-16-Flotten auf denselben Standard zu bringen. F-16 sind vermutlich immer noch die Hauptsäule der Waffenentsendung bis zu einer Reichweite von etwa 1600 km, doch zwei Schwadrone von in China gebauten A-5-Jagdbombern sind ebenfalls geeignete Träger. Es gibt jedoch seitens der USA eine Einschränkung: Die bei diesem Geschäft verkauften F-16 dürfen keine Atomwaffen tragen. Im Fall, dass Pakistan das versuchen sollte, «haben wir einen außerordentlichen, von US-Personal getragenen Sicherheits-plan, wir haben Überwachungsmaßnahmen, und wir verfügen über die Hebel, um sie von diesem Schritt abzuhalten», sagt ein Regierungsbeamter der USA.25 Auf die modernisierten F-16 trifft diese Einschränkung jedoch vermutlich nicht zu.

Die technischen Möglichkeiten der pakistanischen Luftwaffe sind im Wesent-lichen auf die Wartung beschränkt. Die größten Einheiten sind die Mirage und die Fabriken für den Umbau der F-16, eine Anlage für die Wartung der Luftfahrtelek-tronik und des Radars in Kamra und eine Fabrik für den Bau kleiner Schulflug-zeuge. Es gibt einen Komplex für Luftwaffen bei Wah, der verschiedene Waffen produziert, die durch Flugzeuge entsendet werden. Die JF-17 Thunder, von der schließlich 150 Stück eingeführt und die die Hauptsäule der Luftwaffe werden

24 «US starts delivering f-16 aircraft», Dawn, 11. Juli 2007.25 «Proposed sale of F-16 Aircraft and Weapons System to Pakistan, Anhörung vor dem

Komitee für internationale Beziehungen», Repräsentantenhaus am 20. Juli 2006, Serial no. 109-220.

Page 141: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

139

Perv

ez h

oodb

hoy

Paki

stan

s nu

klea

rer

Pfa

d: V

erga

ngen

heit

, Geg

enw

art

und

Zuk

unft

sollen, gilt formell zwar als gemeinsames chinesisch-pakistanisches Projekt, aber es heißt, dass Pakistans technischer Beitrag zu ihrer Konstruktion gering ist.

Ein kürzlich erfolgtes Statement des Chefs der PAF legte offen, dass man aus Schweden und China ein Airborne Warning and Control System (AWACS) erhalten und mit den USA eine Vereinbarung über den Bezug von elektronischen Kriegsführungssystemen, lasergelenkten Bomben und einem Langstreckenrake-tensystem getroffen hat. Er sagte, das System des Auftankens in der Luft werde modifiziert. Die PAF verfüge über knapp 550 Luftfahrzeuge, Hubschrauber und Transportmaschinen mit eingerechnet. Die Zahl der Kampfflugzeuge liege bei 350, fügte er hinzu. Derzeit gebe es 46 F-16-Maschinen in der PAF, darunter 14 F-16-Maschinen, die man von den USA «beinahe kostenlos» erhalten habe.26

das Qualifikationsdefizit

Man würde es sich zu leicht machen, Pakistans Erfolg beim Bomben- und Raketenbau allein der Bereitstellung von ausreichend Geld und Ressourcen zuzuschreiben. Schließlich waren wesentlich reichere Länder des Mittleren Ostens – insbesondere der Irak und der Iran – weniger erfolgreich. Den Unter-schied machen ein paar hundert Wissenschaftler und Ingenieure, die unter Leitung effektiver und intelligenter Chefs arbeiten, sowie ein internationales Einkaufsnetzwerk und eine große Entschlossenheit. Ein großer Teil der Arbeit war «reverse engineering», und es gibt keine offiziell bekanntgegebenen eigen-ständigen Anwendungen, Bauteile oder Verfahren. Dennoch haben die pakista-nischen Wissenschaftler auf diesem Gebiet die Entwicklungen aus der Fachlite-ratur und der Industrie hinreichend verstanden. Fast alle sind in den USA, Kanada und Großbritannien im Rahmen eines Programms ausgebildet worden, das die Pakistan Atomic Energy Commission in den frühen 1960er Jahren gestartet hat; nur wenige waren Spitzenwissenschaftler oder haben an den besten Universi-täten studiert. Heute sind viele im Ruhestand oder stehen kurz davor.

Die große Nachfrage seitens der auf dem Gebiet der Verteidigung maßgeb-lichen Forschungs- und Entwicklungsorganisationen PAEC, NDC und KRL hat zu einem Qualifikationsdefizit geführt, das vielleicht das größte Hemmnis für die weitere Entwicklung der pakistanischen Atom- und Raketenprogramme ist. Pakistans öffentliche Universitäten sind in einem erbärmlichen Zustand, und ihre Doktoranden sind kaum dafür ausgebildet, die heutigen Probleme im Ingenieurswesen und in der Technik zu verstehen. Mitarbeiter werden vor allem aus den folgenden Quellen rekrutiert: Aus ingenieurswissenschaftlichen Instituten, die von den Verteidigungsorga-

nisationen selbst betrieben werden. Dazu zählen z. B. das Pakistan Institute of Engineering and Applied Sciences (PIEAS) und das Centre for Nuclear Studies. Diese Institute bieten Doktorandenstudiengänge unter anderem in Kerntechnik, chemischer Verfahrenstechnik und Werkstofftechnik, Verfah-

26 The News am 18. März 2009.

Page 142: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

140

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

renstechnik, Systemtechnik, Elektrotechnik, Maschinentechnik, angewandter Mathematik und Informationstechnologie an. Sie sind auf dem Gelände des Pakistan Institute of Nuclear Science and Technology (PINSTECH) bei Islamabad angesiedelt. Auch die NDC ist dabei, verschiedene Institute und Zentren auf dem Campus der Quaid-e-Azam-Universität aufzubauen.

Von ein paar Ingenieursschulen etwas besserer Qualität, wie die von der Armee unterhaltene National University of Science and Technology (NUST), das Ghulam Ishaq Insitute of Technology (GIKI) und die University of Engineering Technology (UET).

Durch die Ausbildung pakistanischer Raketen- und Waffenbauer an chine-sischen Universitäten und Instituten, wo sie kurze Intensivlehrgänge über Raketendynamik, Navigationstechniken, Telemetrie etc. durchlaufen. Diese Kurse stehen allein Mitarbeitern von Regierungsorganisationen offen.

Da ihr Budget in den letzten 5 Jahren um das Zwölffache angewachsen ist, hat die Higher Education Commission der pakistanischen Regierung viele Auslandsstipendien vergeben, mit denen Pakistanis in Europa, Australien und den Vereinigten Staaten studieren können. Unter den Empfängern dieser Stipendien sind die Mitarbeiter oder ehemaligen Mitarbeiter einer ganzen Reihe von Organisationen der Landesverteidigung.

Ab und zu werden Wissenschaftler und Ingenieure aus entwickelten Ländern gegen Honorar damit beauftragt, schwierige technische Probleme zu lösen. Hier ist die weltweit verbreitete Problematik des Outsourcing von techni-schen Problemen betroffen.

Pakistans atomare diplomatie

Obwohl Pakistan ein Klientelstaat der USA und in vieler Hinsicht von ihnen abhängig ist, hat das Land entschieden alle Versuche der USA, ihm die Atomwaffen wegzunehmen, zurückgewiesen. Derzeit steht es unter starker Kritik, weil es auf der Abrüstungskonferenz in Genf Gespräche zwischen 64 Ländern über die Begrenzung spaltbaren Materials blockiert hat.27 Die aktuelle Haltung spiegelt den pakistanischen Unmut über den Nuklearvertrag zwischen den USA und Indien und die daraus folgenden gestiegenen Möglichkeiten Indiens wider, spaltbares Material zu erzeugen. Sie geht auch – vielleicht zutreffend – von der Annahme aus, dass durch die Lage in Afghanistan Pakistan zu wichtig für die USA geworden ist, um eine harte Position beziehen zu können. Dennoch ist sowohl die indische wie die pakistanische Diplomatie Ausdruck des Wunsches in zivilen wie militärischen Kreisen des Establishments, die Kritik zu beschwich-tigen, insbesondere jene, die nach extremen Spannungen zwischen den Ländern folgte. Besonders wichtig war es für beide, das Bild von Staaten abzugeben, die sich ihrer Lage voll bewusst sind und alles unter Kontrolle haben.

27 «Pakistan under pressure at Geneva N-talks», Dawn am 21. August 2009.

Page 143: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Auf einem Militärflughafen in Islamabad, Oktober 2008

Page 144: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

142

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

In der Tat bemühen sich sowohl die indischen wie die pakistanischen militä-rischen und zivilen Eliten um nukleare Respektabilität. Sie wollen zeigen, dass Atomwaffen bei ihnen in verantwortungsvollen Händen sind, dass sie wie alle anderen auch mit Atomwaffen umgehen können, dass sie die Weitergabe strikt ablehnen und Opfer und nicht Unterstützer des Terrorismus sind. Beamte und Experten beider Länder treffen sich zu Arbeitstagungen und Seminaren zur Waffenkontrolle, gehen höflich, wenn nicht sogar herzlich miteinander um und scheinen rational Handelnde zu sein. Vertrauensbildende Maßnahmen (CBMs), Maßnahmen zur Senkung des nuklearen Risikos usw. gehören zu ihrem Standardvokabular. Das unterschwellige Misstrauen und die Feindseligkeit werden dabei erfolgreich unter der Decke gehalten.

Die Vordenker des indischen Establishments haben den Wert des Images als «verantwortlich Handelnde» wesentlich früher begriffen als ihre Pendants auf der pakistanischen Seite. Das hat sehr viel zum Zustandekommen des amerikanisch-indischen Nuklearvertrags von 2007 beigetragen. Tatsächlich hatte der indische Strategieexperte C. Raja Mohan schon Jahre zuvor festgestellt: «Neu-Delhi und Islamabad müssen wissen, dass für die Bereitschaft der übrigen Welt, sie als offizielle Mitglieder der Atommächte zu akzeptieren, sehr viel von Indiens und Pakistans Fähigkeit abhängt, ihre atomaren Beziehungen untereinander zu regeln... Wenn Indien und Pakistan ernst genommen werden möchten, müssen ihre Atomgespräche miteinander zu Ergebnissen führen» (Mohan 2004).

Als Musharrafs Vorgänger als Stabschef der Armee, General Jehangir Karamat, Botschafter Pakistans in den Vereinigten Staaten war, bemühte er sich ebenfalls sehr zu zeigen, dass Pakistan und Indien nicht scharf auf einen Atomkrieg sind: «Für diejenigen, die Südasien von außen betrachten, gilt es als eine überaus gefährliche Region, in der ein atomarer Schlagabtausch zur Realität werden könnte. Man glaubt, dass die indisch-pakistanischen Konfrontationen der Jahre 1987, 1990 und 2002 ebenso wie der Kargil-Konflikt 1999 alle einen irgendwie atomaren Hintergrund hatten. Die Mehrheit der Südasiaten sieht das anders» (Karamat 2005).

Immerhin räumte General Karamat ein, dass – während der Kargil-Krise wie auch in der Krise, die dem Anschlag militanter Islamisten aufs indische Parla-ment im Dezember 2001 folgte – «offizielle Erklärungen und Signale durch Raketentests Folgen hätten haben können, die nicht beabsichtigt gewesen waren» (Karamat 2005).

Der Erfolg der Diplomatie spricht für sich. Da die USA ihren geopolitischen Interessen Priorität einräumten, änderten sie ihre Haltung gegenüber Indien grundlegend: Die 1998 verhängten Sanktionen wurden nach und nach fallen-gelassen, Kritik war kaum noch zu hören, es folgte eine grummelnde Anerken-nung des nuklearen Status, und schließlich schlossen die USA – ein erhebli-cher Rückschlag für den Atomwaffensperrvertrag – einen besonderen Vertrag, der sie zum Lieferanten von atomarer Ausrüstung und atomarem Material für Indien macht. Zwar wurde Pakistan nicht so gut behandelt und nicht mit einem ähnlichen Vertrag belohnt, de facto aber als Atommacht akzeptiert, wobei die

Page 145: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

143

Perv

ez h

oodb

hoy

Paki

stan

s nu

klea

rer

Pfa

d: V

erga

ngen

heit

, Geg

enw

art

und

Zuk

unft

Besorgnis um die Sicherheit seines atomaren Arsenals nur noch das Niveau eines nörglerischen Argwohns auf niedriger Stufe hat.

die sicherheit: Pakistans atomares arsenal

Im Jahre 2004 hat die Regierung Musharraf, fest entschlossen, ihr atomares Potential zu erhalten und zu vergrößern, zugleich aber durch die Reaktionen auf das weltweite nukleare Unternehmertum A. Q. Khans beunruhigt, einen scharfen Kurswechsel gegenüber der bisherigen Politik strikter Geheimhaltung in atomaren Angelegenheiten vorgenommen. Sie hoffte, damit die Welt davon zu überzeugen, dass Pakistans Atomwaffen in sicherer Hand sind. Eine ganze Reihe hochrangiger Besucher nahm den direkten Kontakt zu Washingtons Think Tanks und zu militärischen Kollegen in den Vereinigten Staaten auf. Ein paar Jahre zuvor wäre das noch undenkbar gewesen. Besuche von Führungskräften der Strategic Plan Division (SPD), die mit der Lagerung, Erhaltung und Sicherheit der pakistanischen Atomwaffen betraut ist, wurden zur Routine und dauern bis heute an.

Von besonderer Bedeutung ist die Tatsache, dass der Oberste Leiter der SPD, Generalleutnant Kahild Kidwai, die USA besuchte. Er wurde zum Beispiel zu einem Gastvortrag vor dem Lehrkörper, den Studenten und Gästen an der Naval Postgraduate School in Monterey eingeladen, in dem er sich darum bemühte, das Bild zu korrigieren, pakistanische Waffen könnten in die Hände religiöser Extre-misten geraten, stünden ständig in extremer Alarmbereitschaft oder könnten unverantwortlich eingesetzt werden.28 Andere Offiziere des pakistanischen Militärs, die mit dem Nuklearprogramm des Landes befasst sind, werden aus US-amerikanischen Geldquellen bezahlt, um Berichte und Abhandlungen für Think Tanks und Forschungsinstitute in den USA zu schreiben. Wieder andere sind dabei, Bücher zu schreiben, die die «wahre Geschichte des pakistanischen Nuklearprogramms» erzählen sollen.29

Die Bewachung und Sicherung der pakistanischen «Kronjuwelen» ist erst eine Sorge jüngeren Datums und geht auf die Angriffe vom 11. September 2001 zurück. Obwohl die pakistanische Militärregierung darauf bestand, dass keine ihrer Atomwaffen je in falsche Hände geraten könne, wollte sie das mögliche Risiko doch nicht eingehen. Eine ganze Reihe Waffen wurden nachweislich an verschiedene sicherere und abgeschirmte Orte im Land gebracht (Moore und Khan 2001). Diese Nervosität hatte ihre Gründe – zwei streng islamistische Generäle der pakistanischen Armee (Generalleutnant Mehmood Ahmed, Chef

28 «Pakistan’s Evolution as a Nuclear Weapons State», Lt. Gen. Khalid Kidwai, Vortrag vor der Naval Postgraduate School der USA, Monterey, 1. November 2006.

29 Die Daily Times, Lahore, berichtet am 29. Juli 2007, die SPD habe ihre Unterstützung für zwei Forscher aus einem amerikanischen Think Tank in Kalifornien bestätigt, Dr. Peter R. Lavoy und den ehemaligen pakistanischen Armeegeneral Feroz Khan, damit diese einen umfassenden Bericht über das Nuklearprogramm des Landes schreiben. Bis zum Jahr 2009 ist das Buch noch nicht erschienen.

Page 146: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

144

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

des pakistanischen Geheimdienstes ISI, und General Muzaffar Hussain Usmani, Stellvertretender Chef des Generalstabs), enge Vertraute von General Musharraf, waren gerade abgesetzt worden. Musharraf fürchtete aus gutem Grund nach diesem Verrat an engen Vertrauten die Rache des pakistanischen Geheim-dienstes.

International ist die Sorge weit verbreitet, dass die Instabilität in Pakistan seine Atomwaffen zur leichten Beute für Diebe machen könnte. Wie zu erwarten, hat Pakistan das entschieden zurückgewiesen: das Außenministerium betont, das «unser [atomarer] Bestand hundertprozentig sicher ist und vielfach bewacht wird». Die beschwichtigenden Worte haben jedoch die allgemeine Besorgnis nicht beseitigen können. Denn Pakistan befindet sich heute im Würgegriff eines ausgewachsenen Aufstands islamistischer Gruppen. Einige davon sind der Ansicht, dass Pakistans Atomwaffen eigentlich der Ummah und nicht ausschließ-lich Pakistan gehören.30 Das hat international das Gefühl verstärkt, dass Pakis-tans Nuklearwaffen, sein Kernmaterial und andere nukleare Komponenten nicht sicher sind. Die möglichen Gefahren für Pakistans Atomwaffen sind vierfach: Aus Indien und den USA, einzeln oder zusammen. Eine entfernte, aber nicht

auszuschließende Gefahr kommt auch aus Israel.31

Von außen: Angriffe militanter Islamisten auf ein nukleares Lager oder eine nukleare Anlage mit dem Ziel, eine Atomwaffe zu erbeuten.

Im Innern: Islamistische Elemente in der Armee, die für die Bewachung oder den Betrieb von Nuklearanlagen zuständig sind.

Durch Zusammenarbeit von Gegnern im Innern wie von außen.

Nur eine sehr schwere Krise würden Indien oder die USA gemeinsam oder jeden für sich dazu bringen, einen atomar bewaffneten Staat mit all den damit offen-sichtlich verbundenen Gefahren und Risiken anzugreifen. Selbst der Einsatz massiver Kräfte würde wahrscheinlich nicht alle gut verborgenen und gut bewachten pakistanischen Atomwaffen treffen können. Außerdem wäre das ein unvollständiges Unternehmen, solange nicht die großen Atomwaffenpro-duktionsstätten, Reaktoren und Urananreicherungsanlagen vollständig zerstört wären. Das würde beinahe einen totalen Krieg bedeuten.

Andererseits könnten Extremisten versuchen, eine Atomwaffe für einen Schlag gegen eine US-amerikanische oder europäische Stadt zu erbeuten. Da es

30 Hoodbhoy, P., und Mian, Z.: Pakistan and India Under the Nuclear Shadow, 2001, Video-produktion für die Eqbal Ahmad Foundation, die mehrere Interviews mit militanten Führern enthält, welche die Bombe für den Islam reklamieren.

31 In Pakistan gibt es Sorgen wegen der wachsenden strategischen Allianz zwischen Israel und Indien, unterstrichen durch die Lieferung von vier Luftwarnsystemen des Typs Phalcon. Diese können die pakistanische Luftmacht in der gesamten Region aufspüren. Indien hat schon zwei israelische Green-Pine-Radars erworben, die Raketen auf eine Distanz von 400 km ausmachen können. Diese werden normalerweise in Verbindung mit dem Antirake-tensystem Arrow II gebraucht. Diese Frühwarnsysteme könnten von Israel effektiv dazu eingesetzt werden, unter direkter Unterstützung Indiens oder mit Indien als Basis einen Präemptivschlag gegen Pakistans Nuklearanlagen zu starten.

Page 147: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

145

Perv

ez h

oodb

hoy

Paki

stan

s nu

klea

rer

Pfa

d: V

erga

ngen

heit

, Geg

enw

art

und

Zuk

unft

aber wesentlich leichter zu bewerkstelligen wäre, könnten sie eher die Vernich-tung einer indischen oder pakistanischen Stadt versuchen, in der Hoffnung, einen totalen Krieg zwischen Pakistan und Indien zu provozieren. Das würde sich mit der Selbstmordstrategie von Al-Qaida an anderen Orten der Welt decken. Im extremistischen Denken ist es sehr von Vorteil, Ungläubige zu töten. Würden aber sunnitische Moslems getötet, hieße das nur, dass sie etwas früher ins Paradies kämen.

Sich gegen äußere wie innere Feinde zu verteidigen stellt ein schwieriges Sicherheitsdilemma dar: Pakistan würde gern den Standort und die Details seiner Atomwaffen geheim halten, um seine Chancen im Fall eines Erstschlags durch Indien, die USA oder Israel zu erhöhen. Andererseits sind Armeeangehö-rige aber schon per definitionem informiert. In geheimer Absprache mit einer ausländischen islamistischen Gruppe könnten sie vielleicht eine Aktion planen, von der die Nuclear Command Authority (NCA), die SPD oder der Stabschef der Armee nichts wissen. Wie könnte ein solcher Versuch vereitelt werden?

Wie auch immer die technischen Lösungen aussehen mögen, es ist nur eine teilweise Sicherheit erreichbar. Man nimmt allgemein an, dass Pakistan das spaltbare Material und die Vorrichtungen für die Bombe getrennt und in streng bewachten Gewölben lagert. Schon im Dezember 1999 hat das Land hochran-gige US-Offizielle, die Islamabad besuchten, um Permissive Action Links (PALs)32 ersucht, die direkt in den Zündmechanismus und die Elektronik einer Atomwaffe integriert werden, und ebenfalls um Environment Sensitive Devices (ESDs), um den Schutz vor unautorisierter Nutzung oder nuklearen Detonationen wegen eines Unfalls zu erhöhen. Zu jener Zeit haben die USA aus offensichtlichen Gründen abgelehnt: Solche Vorrichtungen erlauben es, die Waffen auf einem höheren Niveau der Einsatzfähigkeit bei gleichbleibender Sicherheitsstufe zu halten, was die Bedrohung Indiens erhöht hätte. Doch im Gefolge neu gestalteter Beziehungen zwischen Pakistan und den USA nach dem 11. September ist es durchaus möglich, dass die USA Pakistans Ersuchen nachgegeben haben, ohne auf der Enthüllung des genauen Standorts und der Details seiner Atomwaffen zu bestehen.

Nach einem Bericht von ISIS hat US-Außenminister Colin Powell Pakistan nach dem 11. September Unterstützung bei der Atomverteidigung zugesagt.33 Pakistan schätzte die angebotene Technologie als recht begrenzt ein, akzep-tierte sie aber dennoch unter der Bedingung, dass ihre letztendliche Verwen-dung geheim bliebe. Andere Aspekte der Unterstützung waren Schulungskurse in US-Labors für pakistanische Mitarbeiter im Atomwaffenbereich, die in Fragen atomarer Sicherheit unterwiesen wurden.

David Albright, ein US-amerikanischer nuklearer Sicherheitsexperte, nannte folgende Formen zusätzlicher Unterstützung für Pakistan in den Nachwehen des

32 Eine US-amerikanische Sicherheitsvorkehrung für Atomwaffen, die deren ungewollte Detonation bei Unfällen oder Missbrauch verhindern soll. (Anm. der Red.)

33 Nuclear Black Markets, Pakistan, A. Q. Khan and the rise of proliferation networks. A net assessment. The International Institute for Strategic Studies, London, 2. Mai 2007.

Page 148: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

146

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

11. September: «Übungen zum allgemeinen Materialschutz und zur rechneri-schen Materialkontrolle, theoretische Übungen, militärische Handbücher (außer Verschlusssachen) zur Waffensicherheit, verfeinerte Gewölbe und Zugänge, Ausrüstungen für die Zugangskontrollen, besseres Überwachungsgerät, bessere Ausrüstungen für die Materialkontrolle, Programme zur Prüfung der persön-lichen Zuverlässigkeit und Programme zur Verhinderung des Durchsickerns sensibler Informationen. Zusätzlich könnte sich die Hilfe auch auf Methoden konzentrieren, mit denen Atomwaffen gegen unautorisierten Gebrauch durch Vorrichtungen geschützt werden, die nicht bereits in den Waffen enthalten sind, oder durch besondere operationelle oder administrative Restriktionen. Ausge-schlossen von der Hilfe sind Informationen zur Konstruktion von Atomwaffen mit dem Ziel, diese oder PALs, codierte Kontrollvorrichtungen und ESDs siche-rerer oder verlässlicher zu machen» (Albright 2001).

Während zum einen zweifellos technische Maßnahmen getroffen werden müssen, um das Risiko nuklearer Sabotage und nuklearer Unfälle zu reduzieren, gibt es ein grundsätzliches Spannungsverhältnis, das nicht aufgelöst werden kann: Eine absolut sichere Atombombe ist zugleich eine Waffe, die nicht einge-setzt werden kann. Also ist sie per definitionem nutzlos. In Krisen- oder Kriegs-zeiten, wenn die Opfer groß sind und die Leidenschaften hochkochen, wird der Druck sehr stark sein, die vorhandenen Sicherheitsmechanismen zu reduzieren.

Pakistans nuklearer Weg: eine Prognose

Mit Blick auf die kommenden 5 bis 10 Jahre kann man vernünftige Vorhersagen darüber treffen, auf welchem Stand Pakistans Atomwaffenarsenal vermutlich sein und welche Richtung seine Atompolitik einschlagen wird. Sollte es keine Vereinbarung über einen weltweiten Verbreitungsstopp für spaltbares Material geben und dieser auch durchgesetzt werden, wird die pakistanische Produktion von spaltbarem Material und von Bomben sowie von ballistischen Mittelstre-ckenraketen auf dem höchstmöglichen Niveau fortgesetzt werden. Sobald die Reaktoren in Khusbab ans Netz gehen, wird sich der Wechsel zu kleineren Pluto-niumwaffen oder kombinierten Gefechtsköpfen beschleunigen.

Die wachsende Zahl von Gefechtsköpfen erfordert eine steigende Zahl von Trägern. Trotz der bedeutsamen Einführung von JF-17-Maschinen, zu denen noch die neu gekauften F-16 kommen, werden Raketen die Flugzeuge als Träger von Atomwaffen immer mehr ablösen. Es werden weiterhin von Zeit zu Zeit Flugtests und Rahmenübungen stattfinden. Obwohl Pakistan alle Versuche unternehmen wird, sich den indischen Bemühungen zur Nutzung des Weltalls für Erkennungs- und Frühwarnsysteme anzupassen, wird ihm das nicht gelingen. Falls Indien beim Erwerb und bei der Installation eines Systems gegen ballisti-sche Raketen (MIRving) Erfolg haben oder U-Boot-gestütze ballistische Raketen (SLBM = submarine launched ballistic missile) stationieren sollte, wird Pakistan die Schwelle für den eigenen Atomschlag herabsetzen, seine mobilen Raketen-werfer breiter streuen, Scheinanlagen verwenden und selbst zu SLBMs greifen.

Page 149: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

147

Perv

ez h

oodb

hoy

Paki

stan

s nu

klea

rer

Pfa

d: V

erga

ngen

heit

, Geg

enw

art

und

Zuk

unft

In der Vergangenheit hat Pakistan seine Nuklearpolitik an der Indiens festgemacht. Man hat geglaubt, die eigene Atombewaffnung mit der Indiens rechtfertigen zu können. Aber die «de-hyphenation»34 Pakistans von Indien – ein Ausdruck, der besonders nach dem Besuch Präsident George W. Bushs in Indien und Pakistan im Jahr 2006 Verbreitung fand – hat das Land jetzt dazu gezwungen, eine Atompolitik zu betreiben, die mehr ist als nur ein Spiegelbild der indischen. Heute gibt es neue Herausforderungen aufgrund der Initiative der Regierung Obama, die Zahl der amerikanischen und der russischen Atomwaffen zu reduzieren. Die Ratifizierung des CTBT durch die USA, vom Senat in den Jahren der Bush-Regierung abgewiesen, wird auch Indien und Pakistan unter Druck setzen, ihn zu unterzeichnen. Wird sich Pakistan anschließen? Die Antwort lautet: wahrscheinlich ja. Pakistan würde seine Tests nicht fortsetzen, es sei denn, Indien würde es tun. Fest steht auch, dass die USA die Gespräche über einen «verifizierbaren» Sperrvertrag für spaltbares Material (Fissile Material Cutoff Treaty = FMCT) fortsetzen wollen (die Regierung Bush hatte sich gegen die Verifizierung gewehrt). Pakistan wird schon als Hemmnis angesehen. Wäre Pakistan bereit zu verhandeln? Den FMCT zu unterzeichnen? Wie steht es mit Inspektionen vor Ort? Ohne einen weithin akzeptierten Schritt in Richtung auf weltweite atomare Abrüstung sieht die Zukunft nicht sehr vielversprechend aus.

Plädoyer für die nukleare abrüstung

Vor elf Jahren tanzten Millionen von Pakistanis auf den Straßen, nachdem mehrere Atomwaffen erfolgreich getestet worden waren. Man hatte ihnen einge-trichtert, dass der Bau von eigenen Atomwaffen das Größte sei, was ein Land erreichen könne. Doch der kürzlich erfolgte Atomtest Nordkoreas liefert wieder den handfesten Beweis dafür, dass das falsch ist.

Nordkorea ist ein Land, das niemand bewundert. Es ist für wissenschaft-liche Errungenschaften nicht bekannt, hat zu wenig Elektrizität und Kraftstoff, Nahrungs- und Arzneimittel sind knapp, überall herrscht Korruption, und seine Menschen leben unter erniedrigenden Umständen unter der Herrschaft einer bösartigen dynastischen Diktatur. Nordkorea hat während einer Hungersnot vor einigen Jahren fast 800.000 Menschen verloren. Die Zahl seiner Gefäng-nisinsassen beträgt enorme 200.000, und diese sind systematisch Folter und Missbrauch ausgesetzt. Warum steckt ein elend hungerndes Land seinen letzten Cent in die Bombe? Um eine Raketenflotte zu entwickeln und zu testen, deren Reichweite sich dann und wann vergrößert? Die Antwort ist eindeutig: Nordko-reas Atomwaffen und Raketen sind weniger Mittel der Verteidigung als Instru-mente der Erpressung. Indem man damit drohend umherfuchtelt, sie dann und wann ausprobiert, werden diese Bomben dazu benutzt, den Strom der internati-onalen Hilfe nicht abreißen zu lassen.

34 Eigentlich: «den Bindestrich weglassen» (hyphen = der Bindestrich). (Anm. der Red.)

Page 150: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

148

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Mit Sicherheit haben die Menschen in Nordkorea aus der Nuklearisierung ihres Landes keinerlei Gewinn gezogen. Doch können sie ihre Unterdrücker nicht abschütteln. Doch die Pakistanis, die wesentlich freier sind, müssen sich die Frage stellen: Was haben wir durch die Bombe gewonnen? Auf der anderen Seite der Grenze stellen meine Freunde in Indien, die gegen ihre eigene Bombe opponiert haben, dieselbe Frage. Manche Pakistanis hatten wohl geglaubt, dass die Atomwaffen ihrem Land international Ehrfurcht und Respekt verschaffen würden. Man hatte ihnen erzählt, Pakistan werde die Führungsrolle in der islami-schen Welt übernehmen. Tatsächlich stieg der Kurs Pakistans nach den Tests von 1998 in einigen muslimischen Ländern steil nach oben, bevor er abstürzte. Heute aber, wo ein großer Teil des Territoriums an Aufständische verloren ist, muss man Pakistan gegen die Behauptung in Schutz nehmen, es sei ein geschei-terter Staat («failed state»). Doch was die Herrschaftsausübung, die Wirtschaft, das Bildungswesen oder irgendwelche anderen sprechenden Indikatoren für die Lebensqualität angeht, wird Pakistan von niemandem beneidet.

Entgegen den Behauptungen im Jahr 1998 hat die Bombe Pakistan nicht in ein technologisch und wissenschaftlich fortschrittliches Land verwandelt. Wieder sprechen die Fakten für sich. Sieht man von geringfügigen Exporten von Computersoftware und leichten Waffen ab, spielen Wissenschaft und Techno-logie für den Produktionsprozess keine Rolle. Pakistans derzeitige Hauptexporte sind Textilien, Baumwolle, Leder, Fußbälle, Fisch und Obst. Der wertschöp-fende Bestandteil der pakistanischen Produktion überschreitet etwas den von Bangladesch oder dem Sudan, liegt aber weit unter dem von Indien, der Türkei und Indonesien. Auch ist der qualitative Standard, der an den pakistanischen Bildungsinstitutionen vermittelt wird, in keiner Weise ausreichend und befriedi-gend. Doch das ist kaum überraschend, wenn man bedenkt, dass der Bau einer Bombe heutzutage nur geringe technische Kenntnisse und kaum wissenschaft-liche erfordert.

Was wurde aus der Hoffnung, der Stolz auf die Bombe werde die verschie-denen Völker Pakistans zusammenschweißen? Während viele im Punjab noch immer die Bombe wollen, wollen die zornigen Sindhis Wasser und Arbeit – und tadeln Punjab dafür, ihnen beides wegzunehmen. Paschtunische Flüchtlinge aus Swat und Buner, unglückselige Opfer des Kriegs zwischen den Taliban und der pakistanischen Armee, wurden tragischerweise von anderen ethnischen Gruppen daran gehindert, ins Sindh zu ziehen. Diese Zurückweisung ist ein schwerer Schlag gegen das Konzept einer einzigen und in der Not auch vereinten Nation. Was die Belutschen angeht, nehmen sie es sehr übel, dass die beiden Schauplätze der nuklearen Tests – heute radioaktiv verseucht und abgesperrt – sich auf ihrem Boden befinden. Voller Zorn darüber, von Islamabad aus regiert zu werden, haben viele zu den Waffen gegriffen und verlangen, dass die Punjab-Armee abzieht. Viele Schulen in Belutschistan weigern sich, die pakistanische Flagge zu hissen, die Nationalhymne wird nicht gesungen, und an Pakistans Unabhängigkeitstag wird schwarz geflaggt. In der Universität von Belutschi-stan wimmelt es von Ikonen des Separatismus: Plakate von Akbar Bugti, Balaach

Page 151: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

149

Perv

ez h

oodb

hoy

Paki

stan

s nu

klea

rer

Pfa

d: V

erga

ngen

heit

, Geg

enw

art

und

Zuk

unft

Marri, Brahamdagh Bugti und «General Sheroff» hängen überall. Die Bombe war kein Bindemittel.

Hat die Bombe Pakistan dabei geholfen, Kaschmir von der indischen Herrschaft zu befreien? Das traurige Faktum ist, dass Indien – entgegen dem Willen der Kaschmiris – Kaschmir heute fester im Griff hat als ehedem. Wie der verstorbene Eqbal Ahmed oft bemerkte, hat schlechte Politik dazu beigetragen, «den möglichen Sieg in eine Niederlage zu verwandeln». Pakistans Strategie der Konfrontation mit Indien – geheime Dschihad-Aktionen islamistischer Kämpfer unter dem Schutz pakistanischer Atomwaffen – erwies sich auf der internatio-nalen Bühne als Bumerang. Was noch wichtiger ist: Sie brachte jene hydraköp-fige Militanz hervor, der sich Pakistan nun gegenübersieht. Einige Gruppen der Mudjaheddin, die sich von pakistanischen Militärs und Politikern betrogen fühlten, haben aus Rache schließlich die Waffen gegen ihre Förderer und Ausbilder gerichtet. Die Bombe hat dazu beigetragen, dass Pakistan Kaschmir verloren hat.

Man mag vielleicht fragen, ob nicht die Bombe Indien daran gehindert hat, Pakistan zu schlucken. Zunächst einmal hat ein aufstrebendes Indien kein Inter-esse daran, zusätzlich 170 Millionen muslimische neue Bürger zu bekommen. Zweitens wäre die territoriale Eroberung unmöglich, selbst wenn Indien sie wünschte. Konventionelle pakistanische Verteidigungswaffen sind ausrei-chender Schutz für das Land. Wenn die amerikanische Riesenschlange nicht den Irak schlucken und verdauen kann, gibt es auch für eine Mittelmacht wie Indien keine Chance, Pakistan zu besetzen, ein Land, das vier Mal so groß wie der Irak ist.

Natürlich stimmt es, dass Pakistans Atomwaffen Indien seit den Tests von 1998 wenigstens dreimal davon abgehalten haben, Strafaktionen vorzunehmen. Pakistans stillschweigende Verwicklung in die Ereignisse in Kargil 1999, der Anschlag auf das indische Parlament am 13. Dezember desselben Jahres (ursprünglich von Jaish-e-Mohammed für sich reklamiert) und der Anschlag in Mumbai durch Lashkar-i-Taiba im November 2008 haben eine Stimmungs-lage in Indien geschaffen, militante Gruppen in Pakistan aufzustöbern. Sollte Pakistan also die Bombe benutzen, um militante Gruppen zu schützen? Solche außenpolitischen Mittel sind gefährlich und selbstmörderisch.

Es war die Unwahrheit, dass die Bombe Pakistan, sein Volk oder die Armee schützen könnte. Eher hat sie dazu beigetragen, das Land in seine heutige besorgniserregende Lage zu bringen und keinen Ausweg zu finden. Die Gefahr für Pakistan kommt aus dem Innern. Die Bombe kann Pakistan nicht helfen, Waziristan zurückzubekommen. Um Selbstmordanschläge auf Soldaten und Bürger zu verhindern, ist es völlig nutzlos, noch mehr atomare Gefechtsköpfe zu bauen, noch mehr Raketentestflüge durchzuführen oder noch mehr ameri-kanische F-16 oder französische U-Boote zu kaufen. Pakistans Sicherheitspro-bleme können nicht durch bessere Waffen gelöst werden. Der Weg aus den Schwierigkeiten liegt stattdessen im Aufbau einer nachhaltigen und aktiven Demokratie, einer Friedenswirtschaft statt einer Kriegswirtschaft, einer Födera-

Page 152: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

150

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

tion, in der regionale Probleme wirklich gelöst werden können, in der Abschaf-fung der feudalen Ordnung und der Schaffung einer toleranten Gesellschaft, in der Rechtsstaatlichkeit herrscht.

Für Pakistan ist es an der Zeit, Teil der gegenwärtigen weltweiten Bewegung gegen Atomwaffen zu werden, statt ihr Gegner. Indien, das die Atombewaff-nung einem eher widerwilligen Pakistan aufgedrängt hat, ist moralisch dazu verpflichtet, dabei die Führungsrolle zu übernehmen. Beide müssen sich bereit-erklären, nicht noch mehr spaltbares Material zu produzieren, um noch mehr Bomben zu bauen. Beide müssen ihre irrsinnigen Pläne aufgeben, ihr Atomwaf-fenarsenal zu vergrößern. Während Europa und die Vereinigten Staaten Pakistan bei seinen inneren Problemen helfen müssen, müssen sie zugleich die Bereit-willigkeit ihrer Rüstungsindustrien zügeln, diesen beiden Ländern militärische Ausrüstung zu liefern. Indiens militärische Expansion verdient eine härtere Verurteilung als die Pakistans. Diese unnötige Militarisierung schafft selbstver-ständlich Spannungen und zieht wichtige Ressourcen von den tatsächlichen Bedürfnissen des indischen Volkes ab. Andererseits besteht für Pakistan kein Anlass, eine indische Invasion zu fürchten. Es muss sich stattdessen auf die Vernichtung der islamistischen Terrorgruppen konzentrieren – einige davon selbst großgezogen –, die Ziele in Indien wie in Pakistan angreifen. Vor elf Jahren haben einige Pakistanis und Inder darauf hingewiesen, dass die Bombe weder Sicherheit noch Frieden bringen werde. Sie wurden von ihren Mitbürgern als Landesverräter verdammt. Doch jedes Jahr, das seitdem verstreicht, zeigt uns, wie recht wir hatten.

literatur

Albright, David (2001): Securing Pakistan’s Nuclear Weapons Complex, Strategies for Regional Security (South Asia Working Group), Airline Conference Center, Warrenton, Virginia, 25. bis 27. Oktober 2001.

Albright, David, und Brannan, Paul (2006): Update on the Construction of the New Large Khusbab Reactor, ISIS Report, 4. Oktober.

Albright, David, und Brannan, Paul (2007): Pakistan Appears to be Building a Third Plutonium Production Reactor at Khusbab Nuclear Site, ISIS Report, 21. Juni.

Albright, David, und Brannan, Paul (2009): Pakistan Expanding Plutonium Separation Facility Near Rawalpindi, ISIS Report, 19. Mai.

Albright, David, Brannan, Paul, und Kelley, Robert (2009): Pakistan Expanding Dera Ghazi Khan Nuclear Site: Time for U.S. to Call for Limits, ISIS Report, 19. Mai.

Chaudri, M.A. (2006): «Pakistan’s Nuclear History: Separating Myth from Reality», Defence Journal, Karatschi.

Cochran, Thomas (2006): «What ist the Size of Khusbab II?» NRDC, 8. September. Durrani, Asad (Lt.Gen.) (1995): Pakistan’s Security and the Nuclear Option, Institute of Policy

Studies, Islamabad, S. 92.Hoodbhoy, Pervez, und Mian, Zia (2001): Crossing The Lines – Kaschmir, Pakistan, video

footage of Nawaz Sharif, http://www.youtube.com/watch?v=3LLnuglrW34 Hyder, Tariq Osman (2009): «Strategic Stability in South Asia», The News, 1. August 2009. Karamat, Jehangir (pens. Gen.) (2005): Nuclear Risk Reduction Centres in South Asia, SASSU

Research Report.

Page 153: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

151

Perv

ez h

oodb

hoy

Paki

stan

s nu

klea

rer

Pfa

d: V

erga

ngen

heit

, Geg

enw

art

und

Zuk

unft

Mehta, Suresh (Admiral) (2009): India’s National Security Challenges, http://mail.google.com/mail/?ui=2&ik=15d5aafff5&view=att&th=1231de4ef5a4d706&attid=0.1&disp=vah&zw

Mian, Zia Nayyar et al. (2006): Fissile Materials in South Asia: The Implications of the U.S.-India Nuclear Deal, Research Report No. 1, International Panel on Fissile Materials, Princeton University.

Misquitta, Sonya (2009): «Defence Contractors Target Big Jumo In India’s Military Spending», Wall Street Journal, 17. Juli, S. B1.

Mohan, Raja C. (2004): «Beyond Nuclear Stability: Towards Military Peace and Tranquliity on the Indo-Pak Border», The Indian Express, 14. Dezember.

Moore, Molly, und Khan, Kamran (2001): «Pakistan Moves Nuclear Weapons», Washington Post, 11. November.

Narain, Yogendra (2002): «A Surgical Strike Is The Answer: Interview with Defence Secretary», Outlook India, 10. Juni.

Norris, Robert K., und Kristensen, Hans M. (2007): «Pakistan’s Nuclear Forces», Natural Resources Defense Council, Vol. 63, No. 3, S. 71-74.

Norris, Robert K., und Kristensen, Hans M. (2009): «Nuclear Notebook: Pakistani Nuclear Forces», Bulletin of the Atomic Scientists, September/Oktober.

Perkovich, George (2002): India’s Nuclear Bomb, University of California Press.Richardson, Michael (2002): «India and Pakistan are not ‹imprudent› on Nuclear Option», The

International Herald Tribune, 3. Juni.Riedel, Bruce (2002): American Diplomacy and the 1999 Kargil Summit at Blair Hosue, Centre

for the Advance Study of India Policy Paper, University of Pennsylvania, http://www.sas.upenn.edu/casi/reports/Riedel/Paper051302.htm

Sen, Ayanijit (2002): «Indians Vague on Nuclear Terrors», BBC, 3. Juni.Singh, Jyotsna (2002): «South Asia’s Beleagrued Doves», BBC, 4. Juni.Yadav, Yogendra, Heath, Oliver, und Saha, Anindya (1999): «Issues and the Verdict», Frontline,

13.-26. November.Verma, Bharat (2009): «Unmasking China», Indian Defense Review, Vol. 24, 3, Juli-September.

Page 154: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

152

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

aZmat aBBas und saima Jasam

ein hoffnungsschimmer: die anwaltsbewegung in Pakistan

1 Zur Bedeutung sozialer Bewegungen

Eine politische Bewegung ist, im Gegensatz zu einer politischen Partei, nicht darauf ausgerichtet, Mitglieder der Bewegung für Regierungsämter auszuwählen. Vielmehr zielt sie darauf ab, die Öffentlichkeit und/oder Vertreter der Regierung dazu zu bewegen, hinsichtlich der zentralen Fragen und Anliegen der Bewegung aktiv zu werden.1 Soziale Bewegungen lassen sich als ein Typus des Gruppen-handelns definieren. Große informelle Zusammenschlüsse von Individuen und/oder Organisationen, die sich um spezifische politische oder soziale Ziele herum bilden. In anderen Worten, sie leisten Widerstand gegen eine soziale Verän-derung oder machen sie wieder rückgängig.2 Diese Definition einer sozialen Bewegung ist am besten als Grundlage für eine Analyse der Anwaltsbewegung in Pakistan geeignet. Die Anwaltsbewegung ist die jüngste soziale Bewegung von historischer Bedeutung in Pakistan.

Verschiedene Bewegungen in anderen Teilen der Welt

Was sich in Pakistan zwischen dem 9. März 2007 und dem 16. März 2009 ereig-nete, ist in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen.3 Das Land wurde schon in den frühen Jahren der Unabhängigkeit heimgesucht von Extremismus und Gewalt im Namen der Religion.4 Seit den 1980er Jahren erlebte es dann aber eine Zunahme der Gewalttätigkeit in immer besser organisierten Formen und wurde rasch zu einem Anziehungspunkt für internationale terroristische Organi-sationen. Zugleich kam die Anwaltsbewegung auf, die sich zur Aufgabe machte,

1 http://en.wikipedia.org/wiki/social2 http://en.wikipedia.org/wiki/social3 Am 9. März 2007 forderte Präsident Pervez Musharraf den Obersten Richter Iftikhar

Chaudhry zum Rücktritt auf, was Chaudhry ablehnte. Am 16. März 2009 wurde Chaudhry wieder eingesetzt, nachdem er zusammen mit allen anderen oberen Richtern aus dem Amt entlassen worden war.

4 Die religiöse Gewalt begann kurz nach 1947 mit dem Ahrar, einer Anti-Ahmaddiya-Be-wegung, gefolgt von Unruhen wegen der Sprachenpolitik in Ostpakistan und Unruhen in Belutschistan in den 1950er Jahren.

Page 155: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Eine Polizistin vor dem pakistanischen Parlament in Islamabad, Oktober 2007

Page 156: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

154

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

die Verfehlungen des Militärdiktators General Pervez Musharraf zu korrigieren, ohne dabei auf gewaltsame Mittel zurückzugreifen. In Anspielung auf die schwarze Berufskleidung der Anwälte auch als Pakistans «Schwarze Revolution» bezeichnet, wird sie von vielen als ein zweiter Neubeginn nach der Unabhängig-keit im Jahre 1947 begriffen.

Gewaltlose Bewegungen sind nichts Neues. Sie sind weltweit ein effek-tives Mittel, um gegen Missbräuche durch Autoritäten vorzugehen und einen unbewaffneten Kampf gegen Diskriminierung, für die Sicherung von Recht und Freiheit und sogar zum Sturz kolonialer Regime zu führen. Die gewaltfreie Bewegung Khudai Khidmatgar, auch als «Red Shirts» bekannt, war während der 1930er und 1940er Jahre im ungeteilten Indien eine bedeutende Bewegung. Sie hatte nur ein Ziel: alle Fehden mit ausschließlich gewaltlosen Mitteln zu beenden. Abdul Ghaffar Khan, der Führer der Khudai Khidmatgar, drückte dies einmal folgendermaßen aus: «Ich möchte klarstellen, dass die Gewaltlosigkeit, an die ich glaube und die ich meinen Brüdern bei der Khudai Khidmatgar predige, eine sehr umfassende Bedeutung hat. Sie berührt alles in unserem Leben, und nur sie ist von bleibendem Wert. Ohne dass wir diese Lektion der Gewaltlosigkeit vollständig verinnerlichen, werden wir uns niemals von den tödlichen Fehden befreien können, die schon immer der Fluch der Menschen des Grenzgebietes gewesen sind. Seit wir uns, seit die Khudai Khidmatgar sich der Gewaltlosig-keit verschrieben haben, konnten wir die meisten dieser Fehden beenden. Die Gewaltlosigkeit hat sich auf wunderbare Weise mit dem Mut der Paschtunen verbunden. Da sie zuvor weit mehr als andere der Gewalt zuneigten, profitierten sie nun um so mehr von der Gewaltlosigkeit. Wir werden uns niemals anders verteidigen als auf gewaltlose Weise. Wir Khudai Khidmatgar müssen daher das sein, was unsere Namen besagen: reine Diener Gottes und der Menschheit, indem wir unser eigenes Leben hingeben und niemals ein Leben nehmen.»5

Wir haben den Erfolg der gewaltlosen und unbewaffneten Kämpfe der «Orangenen Revolution» im Jahr 2004 in der Ukraine erlebt. Durch massive Proteste, zivilen Ungehorsam, Generalstreiks und Sit-ins wurde ein zweiter Durchgang bei den Wahlen erwirkt, die diesmal frei und fair waren und zum Sieg von Juschtschenko führten. Auch in anderen Teilen der Welt gab es im Verlauf des letzten Jahrzehnts mehrfach friedliche Bewegungen, die mit einer besonderen Farbe oder einem Symbol assoziiert wurden. In Sibirien kam es zur «Bulldozer-Revolution», in Kirgisistan im Jahr 2005 zur «Tulpenrevolution», in Georgien im Jahr 2003 zur «Rosenrevolution»; auch die «Samtene Revolution» in der Tschechoslowakei, die «Zedernrevolution» im Libanon, die den Rückzug der syrischen Truppen forderte, oder die «Blaue Revolution» in Kuweit für das Frauenwahlrecht sind alle friedlich und erfolgreich verlaufen.6

Diese Bewegungen erwiesen sich als erfolgreich, weil sie in der Lage waren, die Unterstützung einer schweigenden Mehrheit zu gewinnen, die zunächst

5 http:www.baachantrust.org/abdulghaffarkhan6 http://teeth.com.pk/blog/2008/09/14/

Page 157: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

155

azm

at a

bbas

und

sai

ma

Jasa

m E

in H

offn

ungs

schi

mm

er:

die

Anw

alts

bew

egun

g in

Pak

ista

n

unentschieden war. Sobald die Fakten bekannt und die Informationen verbreitet waren, wuchsen die Bewegungen an und wurden stark genug, um sich durch-zusetzen. Diese Taktik des Informationsaustauschs und des Werbens um die Unentschiedenen spielte bereits bei der Amerikanischen Revolution der 1770er Jahre eine entscheidende Rolle. Die Menschen boykottierten britische Waren und organisierten Korrespondenz-Komitees, veröffentlichten Pamphlete und Zeitungen. Ähnlich war es bei der Ägyptischen Revolution und der irischen Non-Cooperation-Bewegung der 1990er Jahre, der Non-Cooperation-Bewegung von Gandhi in den 1920er Jahren, der Pakistan-Bewegung, die dem verfassungs-treuen Weg von Muhammad Ali Jinnah folgte, der Bürgerrechtsbewegung der Afro-Amerikaner in den 1950er und 1960er Jahren, beim Protest gegen den Vietnamkrieg und, nicht zu vergessen, dem südafrikanischen Kampf gegen die Apartheid, der ein Unrechtsregime stürzte.7

Überlegungen zu einigen sozialen Bewegungen in Pakistan

In Pakistan hat es seit der Staatsgründung im Jahr 1947 verschiedene Bewegungen gegeben, die mit unterschiedlichen gedanklichen Bezugssystemen, u. a. sozialis-tischen, kommunistischen und islamischen Ideologien, verbunden waren. Im Folgenden werden nur einige wenige soziale Bewegungen analysiert, in denen sich bestimmte Teile der Gesellschaft engagierten. Hier auch die Bewegungen, die vom rechten oder linken politischen Flügel oder von progressiven oder konserva-tiven Gruppen unterstützt wurden, zu berücksichtigen, würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Zu erwähnen wäre noch, dass während der 1960er und 1970er Jahre in Europa und den USA Bewegungen entstanden, die von der pakis-tanischen Zivilgesellschaft nachgeahmt wurden, wie etwa die Ökologiebewegung, die Anti-Atom-Bewegung, die Frauenrechts- und Friedensbewegung.8

Frauenbewegungen haben in Pakistan eine lange Geschichte, die vor das Jahr 1947 zurückreicht. Nach der Teilung des indischen Subkontinents ging der Kampf in neuer Form weiter. Verschiedene Frauen- und Menschenrechts-gruppen entstanden, die sich bis heute für die bürgerlichen, sozialen und politi-schen Rechte von Frauen engagieren, darunter auch das Frauen-Aktions-Forum. Es war im Widerstand gegen die Diktatur von Zia ul-Haq gegründet worden und führt seinen Kampf bis heute fort. Die «Bauernbewegung» ist ein anderes Beispiel dafür, wie Frauen, Landlose und Haris (Pächter) auch heute noch für ihre Rechte kämpfen. Ebenso sind grenzüberschreitende Friedensinitiativen in der Form von Pakistan-Indien-Foren populär, an denen sich verschiedene gesellschaft-liche Gruppen beteiligen, um in allen friedensrelevanten Fragen Fortschritte zu erzielen. Ermutigend ist auch die Wiederbelebung von Gewerkschaften und Studentenvereinigungen in Pakistan, die ausführlich dokumentiert worden ist (Butt 2009). Deren Kämpfe verfolgen jedoch sehr spezifische Ziele, die nur für

7 http://teeth.com.pk/blog/2008/09/14/8 http://www.answers.com/topic/new-social-movements

Page 158: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

156

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

kleine Teile der Gesellschaft von Nutzen sind, was jedoch die Bedeutung und Notwendigkeit solcher Bewegungen nicht in Frage stellt.

Der wesentliche Unterschied zwischen der Anwaltsbewegung und anderen sozialen Bewegungen in Pakistan liegt darin, dass sich unter dem Banner der Anwaltsbewegung zum ersten Mal Menschen zusammenschlossen, die in den verschiedensten Bereichen am Schutz von Rechten arbeiteten. Es war eine Bewegung, die allen gehörte: Frauen und Männern, Jungen und Alten, Reichen und Armen. Religion, Kaste, Glaubensbekenntnis, soziale oder politische Zugehörigkeit spielten keine Rolle. Alle standen Seite an Seite und verlangten die Wiedereinsetzung der Richter, die ihres Amtes enthoben worden waren. Die Kraft, die sie zusammenhielt, war die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit und einer freien Justiz.

Als General Musharraf zunächst im März 2007, dann im November 2007 gegen die Richterschaft in Pakistan vorging, muss er das Für und Wider abgewogen haben. Sicher hatte er die Geschichte des Justizwesens gelesen, das nie Widerstand geleistet hatte, auch dann nicht, wenn die Mächtigen gegen die Verfassung verstießen. Vielleicht ermutigte ihn das, den Obersten Richter des Landes zu entlassen. Nicht begriffen hatte er allerdings, dass sich, im Gegensatz zur willfährigen Justiz, die Menschen unter dem Militärdiktator zunehmend unwohl fühlten.

Beobachter ordnen Pakistan den Ländern mit fragilen Demokratien zu, wo es zwar Parlamente gibt, in denen aber die Manipulation von Wahlen und Staats-streiche von Seiten des Militärs nichts Ungewöhnliches sind. Mit der Anwaltsbe-wegung sah sich ein Militärherrscher zum ersten Mal mit der Macht des Volkes in Form einer gewaltlosen Bewegung konfrontiert. Es wäre sicher nicht falsch, zu behaupten, dass deren Führer den Militärherrscher und seine Helfer überlis-teten, indem sie erprobte Strategien einsetzten. Ihre Präsenz in den Nachrichten-kanälen, ihre Ansprachen vor öffentlichen Versammlungen, Flugblätter, Petiti-onen, Zeitungsartikel, Presseerklärungen, Menschenketten, Sit-ins, Gerichtsboy-kotte, die «Schwarzen Tage»9, die Witze über die Herrschenden, die Unterstützer- oder Protestbriefe, Fahnen, Gedichte oder Netzwerke mit politischen Parteien und Organisationen der Zivilgesellschaft – alles Taktiken, die geeignet sind, eine gewaltlose Bewegung erfolgreich zu machen. Die Anwälte stellten zudem sicher, dass die ganze Welt die Entwicklungen in Pakistan verfolgen konnten. Und sie machten sich das Internet zunutze, um für anhaltenden internationalen Druck auf General Musharraf zu sorgen.

Manche sehen in dieser Bewegung einen Weg zur Stabilität, andere einen Schritt in die richtige Richtung, wieder andere sprechen von einem Beispiel für die Macht des Volkes; für einige markiert sie den Beginn einer neuen und unabhängigen Justiz, während viele andere sie als die Wiedergeburt Pakistans ansehen – jeder scheint den Erfolg der Anwaltsbewegung auf seine Weise zu

9 Tage symbolischen Protests anlässlich besonders weitreichender Übergriffe der Regierung. (Anm. der Red.)

Page 159: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

157

azm

at a

bbas

und

sai

ma

Jasa

m E

in H

offn

ungs

schi

mm

er:

die

Anw

alts

bew

egun

g in

Pak

ista

n

definieren. Doch in jedem Fall bleibt es ein Faktum, dass sich zum ersten Mal in der kurzen Geschichte Pakistans eine große Zahl pakistanischer Bürger und Bürgerinnen unter der Parole «Genug ist genug» gegen Regierung und Militär gestellt haben.

2 die pakistanische Justiz – ein Überblick

Vom Tag der Unabhängigkeit an, im August 1947, versuchte die Justiz, ihre verfas-sungsrechtlichen Ideen und ihre Rechtssprache an die Erfordernisse der aktuellen Politik anzupassen. Mit Urteilen zu verschiedensten Fragen, insbesondere aber zur Gültigkeit von Gesetzen im Zusammenhang mit dem Kriegsrecht und zu verfas-sungswidrigen Maßnahmen machte sich Pakistan in der ganzen Welt lächerlich. Die häufige Verhängung des Kriegsrechts und die Abschaffung und Aufhebung von Verfassungen waren Akte des Verrats unter dem Deckmantel des Rechts10, die jedoch häufig durch die höchsten Gerichte für rechtsgültig erklärt wurden.

Am 21. März 1955 legalisierte Muhammad Munir, der Oberste Richter des Bundesgerichtshofs (des heutigen Obersten Gerichtshofes von Pakistan), die Auflösung der ersten Nationalversammlung. Im Fall Maulvi Tamizuddin Khan gegen die Republik Pakistan11 erklärte Richter Munir, diese Versammlung sei keine souveräne Körperschaft gewesen. Er führte in seinem Urteil aus, dass sich die Nationalversammlung in einer «Traumwelt bewegt habe, falls sie jemals von der Vorstellung ausgegangen sei, dass sich in ihr die Souveränität des Staates verkörpere». Historiker meinen, dass Munir, indem er die Souveränität der Nationalversammlung bestritt, Pakistans Verfassungsgrundlage zerrüttet und ihr noch weiteren Schaden dadurch zugefügt habe, dass er nicht angab, wo die Souveränität stattdessen ihren Sitz habe.

Im Jahr 1955 ersuchte Generalgouverneur Ghulam Muhammad den Bundes-gerichtshof um eine Rechtsempfehlung in Form eines Sondergutachtens zu seinen Amtsbefugnissen. Richter Muhammad Munir stützte sich auf Bractons Maxime, der zufolge «was sonst nicht gesetzmäßig ist, durch die Notwendigkeit gesetzmäßig gemacht wird», und auf die von Jennings angeführte Maxime des römischen Rechts, wonach «das Wohl des Volkes das oberste Gesetz» ist. Auf dieser Grundlage erklärte er, dass «ein Akt unter der Bedingung der Unvermeid-lichkeit, Außerordentlichkeit und drohenden Gefahr, auch wenn er sonst illegal wäre, zu einem rechtmäßigen Akt wird, wenn er in gutem Glauben und unter dem Druck der Notwendigkeit durchgeführt wird, wobei sich die Notwendigkeit auf die Intention beziehen muss, die Verfassung, den Staat oder die Gesellschaft zu schützen und vor der Auflösung zu bewahren. Ein solcher Akt bestätigt, ... dass Notwendigkeit kein Gesetz kennt ... Notwendigkeit macht gesetzmäßig, was sonst nicht gesetzmäßig ist».12

10 Pakistans Verfassungen datieren aus den Jahren 1956, 1962 und 1973 .11 Maulvi Tamizuddin Khan vs. Federation of Pakistan PLD 1955, Sindh, S. 96.12 Mit Bz. auf: PLD 1955 FC 240

Page 160: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

158

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Im Oktober 1958 bezeichnete der Oberste Richter Muhammad Munir die Auflösung der zweiten Nationalversammlung und die Aufhebung der Verfassung von 1956 durch Präsident Iskander Mirza als eine «legalisierte Gesetzeswidrig-keit», womit er sagen wollte, dass eine siegreiche Revolution und ein erfolgrei-cher Coup d’Etat13 zu den als legal anerkannten Methoden gehören, um eine verfassungsmäßige Regierung auszuwechseln. Richter Munirs Anmerkung im Fall Dosso gegen die Republik Pakistan14, ein erfolgreicher Staatsstreich sei eine rechtmäßige Methode, eine Verfassung zu ändern, lieferte dem Oberbefehlshaber der pakistanischen Armee, General Ayub Khan, die Grundlage für die Absetzung der Regierung von Iskander Mirza. Pikanterweise erfolgte der Militärputsch durch General Ayub Khan am 27. Oktober 1958, genau einen Tag nachdem die Entschei-dung des Gerichts bekanntgegeben worden war. Nach dem Ausscheiden aus seinem Amt sollte Munir zunächst eine Regierungsaufgabe in Tokio und danach einen Ministerposten in General Ayub Khans Regierung übernehmen.

Bemerkenswert ist, dass die Militärherrscher nicht einmal die Regeln einge-halten haben, die in den von ihnen selbst gestalteten Verfassungen niedergelegt waren. So verstieß zum Beispiel General Ayub Khan gegen seine eigene Verfas-sung, indem er die Macht an den Oberbefehlshaber der Armee, General Yahya Khan, übergab statt an den Präsidenten der Nationalversammlung, wie es in der Verfassung von 1962 vorgesehen war. General Yahya Khan führte eine Interims-verfassung ein, die Vorschriften zur Durchführung allgemeiner Wahlen und zur Gestaltung der künftigen Verfassung enthielt. Seine Herrschaft endete jedoch am 20. Dezember 1971 mit dem Fall von Dhaka.

Im September 1977 nahm der Oberste Richter von Pakistan, Muhammad Yaqub Ali Khan, eine Petition an, die Begum Nusrat Bhutto eingereicht hatte, um die Inhaftierung des verfassungsgemäß gewählten Premierministers Zulfikar Ali Bhutto anzufechten. Die Regierung Bhuttos war am 5. Juli 1977 vom damaligen Generalstabschef der Armee, Zia ul-Haq, gestürzt worden, der nach wenigen

13 Französisch für Staatsstreich. Ein plötzlicher, oft gewaltsamer Sturz einer bestehenden Regierung durch eine Gruppe von Verschwörern (die sich in Führungspositionen befinden oder befanden) – Britannica Concise Encyclopedia. Auch definiert als plötzliche, verfas-sungswidrige Absetzung einer rechtmäßigen Regierung in der Regel durch eine kleine Gruppe des existierenden staatlichen Establishments, typischerweise des Militärs, um die abgesetzte Regierung durch eine andere, sei es eine zivile oder militärische, zu ersetzen – Wikipedia.

14 «Manchmal geschieht es allerdings, dass die Verfassung und die staatliche Rechtsord-nung durch eine abrupte politische Veränderung, die von der Verfassung nicht in Betracht gezogen wurde, außer Kraft gesetzt werden. Jede solche Veränderung wird als Revolu-tion bezeichnet, und ihre rechtliche Folge ist nicht nur die Zerstörung der bestehenden Verfassung, sondern auch die Gültigkeit der staatlichen Rechtsordnung ... Somit ist der wesentliche Maßstab, anhand dessen bestimmt werden kann, ob die Verfassung tatsäch-lich annulliert wurde, die Wirksamkeit der Veränderung ... Somit sind eine siegreiche Revolution und ein erfolgreicher Coup d’Etat intern anerkannte legale Methoden, um eine Verfassung zu ändern. ... Wenn meine bisherigen Aussagen richtig sind, ist eine Revolution dann erfolgreich, wenn sie sich als wirksam erwiesen hat, indem sie zu einem grundle-genden Faktor der Rechtsschöpfung geworden ist.» (Mit Bz. auf: PLD 1958 SC 533)

Page 161: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

159

azm

at a

bbas

und

sai

ma

Jasa

m E

in H

offn

ungs

schi

mm

er:

die

Anw

alts

bew

egun

g in

Pak

ista

n

Tagen das Kriegsrecht ausrief. Zia ul-Haq zwang den Obersten Richter zum Rücktritt und ersetzte ihn durch Sheikh Anwar ul-Haq, den von ihm selbst ausge-wählten Chef seines Verwaltungsstabes.

In den Medien wurde berichtet, dass der neue Oberste Richter samt den anderen Richtern des Obersten Gerichtshofs bei der Leistung des Amtseides eine durch die Verfassung von 1973 vorgegebene Passage ausließ, wonach die Richter des Obersten Gerichtshofs schwören, «die Verfassung zu erhalten, zu schützen und zu verteidigen». Durch dieses wohl durchdachte Verhalten verloren die Richter ihre Funktion als Verfassungsrichter und waren von dem Eid entbunden, den sie früher geleistet hatten.15

Am 10. November 1977 erklärte ein neunköpfiges Richtergremium des Obersten Gerichtshofs von Pakistan unter dem Vorsitz des Obersten Richters Sheikh Anwar ul-Haq die Verhängung des Kriegsrechts unter der «Doktrin der Notwendigkeit» einstimmig für rechtmäßig. Dieses Urteil16 deckte das verfas-sungswidrige Vorgehen von General Zia ul-Haq und übertrug ihm sogar die Autorität, Veränderungen17 an der Verfassung vorzunehmen.

15 «Judical Murder of a Prime Minister», Tariq Aqil, 7. Dezember 2004, www.Chowk.com16 Auszüge aus dem Urteil: «... nach massiven Wahlfälschungen erfolgte ein völliger Zusam-

menbruch von Recht und Ordnung, und das Land stand am Rand einer Katastrophe, so dass die Verhängung des Kriegsrechts unvermeidlich wurde. ... Das Gericht möchte klarstellen, dass es ihm nicht nur deshalb zulässig erschien, die von der Verfassung nicht gedeckten Maßnahmen des Chief Martial Law Administrators [Oberster Verwalter des Kriegsrechts, CMLA] für rechtmäßig zu erklären, weil er sie veranlasste, um das Land in einer Zeit der schweren Krise zu schützen, sondern auch, weil er das feierliche Gelöbnis abgelegt hat, dass die Phase der Aussetzung der Verfassung so kurz wie möglich sein soll. … Es wird deutlich werden, dass die erklärten Ziele der Verhängung des Kriegsrechts darin bestehen, geeignete Bedingungen für freie und faire Wahlen gemäß der Verfassung von 1973 zu schaffen. Diese Verfassung ist nicht aufgehoben worden, sondern es wurden nur bestimmte Teile davon zeitweilig außer Kraft gesetzt. ... Da der Prozess, die Inhaber öffentlicher Ämter zur Verantwortung zu ziehen, erst abgeschlossen werden muss, wird die Durchführung von Wahlen gegenwärtig ausgesetzt. Doch es bleibt die erklärte Absicht des Obersten Verwalter des Kriegsrechts, nur vorübergehend einzugreifen, und zwar mit dem Ziel, freie und faire Wahlen zu ermöglichen, damit das Land zu demokratischen Verhältnissen zurückkehren kann. ... Angesichts dieser eindeutigen Erklärungen wäre es in höchstem Maße ungerechtfertigt und unfair, dem Obersten Verwalter des Kriegsrechts irgendeine andere Intention zu unterstellen und anzudeuten, er habe die Macht nicht zu dem von ihm genannten Zweck ergriffen oder beabsichtige nicht, demokratische Bedin-gungen gemäß der Verfassung von 1973 wiederherzustellen.» Quelle: PLD 1977 SC, S. 673-674.

17 Es mag eine Erwähnung wert sein, dass der Oberste Richter Anwar ul-Haq sein Urteil zur vorherigen Billigung an den Obersten Verwalter des Kriegsrechts, Zia ul-Haq, gesandt hatte. Als Zia ul-Haq den Entwurf sah, wurde er ärgerlich und schickte ihn mit der Frage zurück, «warum ihm der Oberste Richter nicht die Autorität übertragen habe, Änderungen an der Verfassung vorzunehmen?» Der Oberste Richter nahm noch am selben Abend die verlangten Veränderungen vor und schickte den Entwurf erneut zur Billigung an General Zia. Das Urteil wurde am nächsten Tag verlesen, und auf seiner Grundlage dann Z. A. Bhutto erhängt. (Kolummne von Dr. Safdar Mahmood: Daily Jang, London, vom 5. Juli 2007)

Page 162: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

160

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Gab es einen Kampf der Richter um Unabhängigkeit?

Die Richter der Obersten Gerichte bestanden auf ihrer Unabhängigkeit nur, solange sie den Spielraum dafür hatten und kein Militärdiktator in Sicht war. So erklärte das Gericht zum Beispiel im Fall Asma Jilani gegen die Regierung von Punjab18 die Verhängung des Kriegsrechts durch General Yahya Khan für unrechtmäßig. Das Gericht urteilte, dass das Vorgehen von General Yahya Khan nicht durch die Doktrin revolutionärer Legalität gedeckt sei.19

Der Richter Yaqub Ali Khan kam sogar zu dem Schluss, dass die Urteile in den Fällen Tamizuddin Khan20 von 1955 und Dosso21 von 1958 «ein ursprünglich wohlgeordnetes Land der Lächerlichkeit preisgaben und es erst in eine Autokratie und schließlich in eine Militärdiktatur verwandelten».22 Er kritisierte die Aufhe-bung der Verfassung von 1956 und kam zu der Auffassung, dass Iskander Mirza und Ayub Khan Verrat begangen und die Grundlage der politischen Repräsenta-tion zwischen Ost- und Westpakistan zerstört hätten. Leider fiel diese Entschei-dung23 zu einer Zeit, in der einer der Militärherrscher bereits tot war, während der andere sein Amt aufgegeben hatte.

Etwas Vergleichbares geschah im Fall Republik Pakistan gegen Haji Saifullah24, als der Oberste Gerichtshof die Auflösung der Nationalversammlung durch General Zia ul-Haq für unrechtmäßig erklärte, jedoch erst, nachdem der Diktator schon über ein Jahr lang tot war.25 Es wurde berichtet, dass Ijaz ul-Haq, der Sohn von General Zia ul-Haq, der unter General Musharraf ein Ministeramt innehatte, über die Entscheidung des Gerichts verärgert gewesen sei und öffent-lich damit geprahlt habe26, wenn sein Vater noch am Leben wäre, hätte es ein solches Urteil nicht gegeben.

Die Geschichte sollte sich noch einmal wiederholen, als der Generalstabs-chef der Armee, General Pervez Musharraf, am 12. Oktober 1999 die Regierung von Premierminister Mian Mohammed Nawaz Sharif stürzte. Unmittelbar nach dem Staatsstreich wurde die Justiz von Richtern gesäubert, die möglicherweise

18 Asma Jilani Vs Government of the Punjab, PLD 1972 SC, S. 13919 «Bei allergrößtem Respekt würde ich dennoch der Kritik zustimmen, dass der gelehrte

Oberste Richter (Mohammad Munir) die Doktrin von Hans Kelsen nicht nur falsch angewandt hat, sondern auch dem Irrtum erlag, es handle sich um eine allgemein anerkannte Doktrin der modernen Rechtslehre. Selbst die Schüler Kelsens scheuten davor zurück, so weit zu gehen wie Kelsen selbst. ... Ich kann nur zu dem Schluss kommen, dass Mohammad Munir sowohl bei der Interpretation von Kelsens Theorie im Irrtum war wie auch bei deren Anwendung auf die Tatsachen und Umstände des Falles, den er vorliegen hatte. ... Das von ihm formulierte Prinzip ist nicht haltbar.» (Quelle: PLD 1972 SC, S. 139)

20 Federation of Pakistan Vs Maulvi Tamizuddin Khan, PLD1955 FC, S. 43521 State vs Dosso, PLD 1958 SC, S. 53322 Judicial History of Pakistan; South East Asia Monitors; www.seamonitors.org23 Asma Jilani Vs Government of the Punjab, PLD 1972 SC, S. 13924 Federation of Pakistan Vs Haji Saifullah Khan, PLD 1989 SC, S. 16625 General Zia ul-Haq kam bei einem Flugzeugabsturz nahe Bahawalpur im August 1988 ums

Leben.26 Pakistan Judiciary Hit by Cancer; South Asia Tribune; 7.-13. September 2003, Nummer 58.

Page 163: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

161

azm

at a

bbas

und

sai

ma

Jasa

m E

in H

offn

ungs

schi

mm

er:

die

Anw

alts

bew

egun

g in

Pak

ista

n

gegen die verfassungswidrige Machtübernahme durch das Militär Widerstand geleistet hätten. Zum Abschluss der Säuberung wurde von den verbleibenden Richtern ein Eid auf die Provisorische Verfassungsordnung Musharrafs gefordert – ein Eid, der von den Richtern verlangte, alle ihre vorherigen Eide zu brechen, die sie auf die Verfassung von 1973 geschworen hatten.

Auf Grundlage der Befugnisse, die er sich als Staatschef gemäß der Notstands-erklärung vom 12. Oktober 1999 und der Provisorischen Verfassungsordnung von 1999 angemaßt hatte, ordnete General Pervez Musharraf im Januar 2000 einen Amtseid (für Richter) an, um Richter der höheren Gerichte auszuson-dern.27 Der wiedereingesetzte Oberste Gerichtshof änderte schleunigst seinen Kurs. Das Urteil im Fall von Zafar Ali Shah28 erkannte den Sturz der Regierung durch General Musharraf an. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der damalige Oberste Richter Pakistans, Irshad Hasan Khan, sein berüchtigtes Urteil stolz auf internationalen juristischen Konferenzen präsentierte und Kopien davon in Umlauf brachte, um seine Genialität als Rechtsgelehrter zu demonstrieren (Malik 2008).

Nach dem Urteil im Fall Zafar Ali Shah verkündeten die höheren Gerichte eine ganze Reihe von Entscheidungen, die die Volksabstimmung, durch die Pervez Musharraf zum Präsidenten Pakistans geworden war, für rechtsgültig erklärten. Mochte er auch weiterhin seine militärische Uniform tragen und auf den 17. Zusatzartikel zur Verfassung [der ihm unbeschränkte Macht einräumte] pochen, so ist doch bemerkenswert, wie offen die Richter und der Diktator ihre wechselseitigen Interessen im Auge behielten. So gestand zum Beispiel im Urteil zum Fall Zafar Ali Shah das Oberste Gericht General Musharraf drei Jahre Zeit für die Durchführung von Wahlen und die Wiederherstellung der Verfassung zu, während im Gegenzug General Musharraf die Amtszeit der Richter um drei Jahre verlängerte.

Musharraf erreichte zwar, dass seine verfassungswidrigen Vorgehensweisen rechtlich gedeckt wurden, doch geschah dies nicht ohne Widerstand, da fünf Richter des Obersten Gerichtshofes, darunter der damalige Oberste Richter Saeeduz Zaman Siddiqui, sich weigerten, einen neuen Amtseid zu leisten. Es entbehrt nicht der Ironie, dass die ultimative Herausforderung, mit der sich Musharraf konfrontiert sah und die schließlich zu seinem Rücktritt führte, von keinem anderen als dem Obersten Richter Iftikhar Mohammed Chaudhry kam. Dieser war als Richter am Obersten Gerichtshof zwischen 2000 und 2005 an den vier entscheidenden Richterkollegien beteiligt gewesen, die den Militärputsch von General Musharraf und sein Referendum, seine provisorische Verfassungsord-nung sowie den 17. Verfassungszusatz, der ihm erweiterte Befugnisse als Präsi-dent gewährte und ihm erlaubte, weiterhin Armeechef zu bleiben, für rechtmäßig erklärten. Richter Chaudhry stimmte in jedem dieser Kollegien mit der Mehrheit.

27 Fünf Richter des Obersten Gerichtshofs – der Oberste Richter Saeeduz Zaman Siddiqui und die Richter Nasir Aslam Zahid, Khalilur Rehman Khan, Mamoon Kazi und Wajihuddin Ahmed – entschlossen sich, den angeordneten Eid zu verweigern.

28 Zafar Ali Shah Vs. Federation of Pakistan, PLD 2000 SC, S. 869

Page 164: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

162

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Der Aufstieg von Iftikhar Mohammed Chaudhry zum Obersten Richter von Pakistan hatte an sich nichts Ungewöhnliches. Er wurde 1948 als Kind einer Arbei-terfamilie in der südpakistanischen Stadt Quetta geboren, machte seinen Abschluss an einer lokalen Universität und begann 1974 als Rechtsanwalt zu praktizieren. Im Jahr 1985 wurde er als Rechtsanwalt am Obersten Gerichtshof zugelassen, 1989 wurde er zum Generalanwalt von Belutschistan ernannt. Chaudhry diente seit dem Jahr 1990 als Richter am Obersten Gerichtshof von Belutschistan und wurde dort im April 1999 in den Rang des Obersten Richters befördert. Im Februar 2000 wurde er Richter am Obersten Gerichtshof in Pakistan, und am 30. Juni 2005 wurde er von Präsident Pervez Musharraf höchstpersönlich zum Obersten Richter Pakis-tans ernannt. Während der fünf Jahre als Richter am Obersten Gerichtshof blieb Chaudhry einer der Vertreter jener Richterschaft, die dem Militärputsch und vielen anderen Handlungen des Militärherrschers den Stempel der Legalität verlieh.

Angesichts dieser Vorgeschichte war es überraschend, dass sich der Oberste Richter Iftikhar Mohammed Chaudhry weigerte, auf die Forderung des Militär-herrschers hin zurückzutreten, und sich entschloss, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurückzuweisen. Es war dies das erste Mal, dass ein Militärherrscher, der die Unterstützung der internationalen Mächte genoss, durch einen Obersten Richter herausgefordert worden war. Das «Nein» gegenüber General Musharraf aber hob den Obersten Richter Chaudhry aus den Reihen der gewöhnlichen Menschen heraus und machte ihn zum Helden.

3 Vom konflikt zum kampf

Streitpunkte

Es ist wichtig, kurz zu erklären, warum der Oberste Richter General Musharrafs Missfallen erregte und sich im militärischen Establishment eine Atmosphäre des Misstrauens gegen die Justiz entwickelte.

Als Iftikhar Mohammed Chaudhry sein Amt als Oberster Richter Pakis-tans antrat, war er der Jüngste, der jemals diese prestigeträchtige Stellung inne hatte. Der Oberste Richter entwickelte ein starkes Interesse an Themen von öffentlichem Belang und begann, Verfahren von öffentlichem Interesse an sich zu ziehen, vorwiegend auf Berichte in den Medien hin. Er richtete zudem am Obersten Gerichtshof eine unabhängige Menschenrechtskammer ein, um Fälle dieser Art zu verhandeln. Die anderen Richter folgten seinem Beispiel, und bald verhandelten die Richter Fälle, in denen der Kläger noch gar nicht um die Hilfe des Gerichtshofes ersucht hatte. Besonders stolz war Chaudhry angeblich darauf, den Rückstand an anhängigen Verfahren von 26 000 bei seinem Amtsantritt auf schließlich nur noch 10 000 Verfahren reduziert zu haben.

Muneer A. Malik, Anwalt am Obersten Gericht, schreibt in seinem Buch: «Ich muss zugeben, dass ich das Gefühl hatte, er sei geradezu besessen von dem Ziel, den Verfahrensrückstand abzubauen, und es werde sehr schwierig werden, diese Besessenheit mit dem Anspruch der Anwaltskammer zu vereinbaren, dass die

Page 165: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

163

azm

at a

bbas

und

sai

ma

Jasa

m E

in H

offn

ungs

schi

mm

er:

die

Anw

alts

bew

egun

g in

Pak

ista

n

Anwälte ausreichend Zeit und Gelegenheit haben müssten, um ihren Fall vor dem Gericht der letzten Instanz zu präsentieren.» (Malik 2008)

In der Mehrzahl der Verfahren, die der Oberste Richter an sich gezogen hatte, stellten sich die Regierung und ihre Funktionsträger als die Schuldigen heraus. So hob Chaudhry zum Beispiel die Privatisierung der pakistanischen Stahlwerke wieder auf, die er als schädlich für die Interessen Pakistans bezeichnete. Medien-berichten zufolge war dieses Geschäft vom damaligen Premierminister Shaukat Aziz zu einem Preis abgeschlossen worden, der niedriger lag als der Wert des Grundstücks, auf dem die Anlagen standen. Der Oberste Richter ordnete auch die Einstellung der Erschließungsarbeiten im Tourismusgebiet «New Murree» an, die man ohne die vorgeschriebene Überprüfung der Umweltfolgen begonnen hatte. Nichtregierungsorganisationen, Umweltschützer und die Medien hatten das Projekt in Frage gestellt, weil die Umweltkosten extrem hoch sein würden und Pakistan seine letzten Bestände an Pinienwäldern verlieren würde, die für die Wiederauffüllung der Grundwasserspeicher wichtig waren. Die Entscheidung des Obersten Richters führte zur Beendigung des Projekts.

Während der Oberste Gerichtshof weiterhin seine Unabhängigkeit zur Geltung brachte, entstand ein Konflikt aufgrund der Wahlen zur Anwaltskammer des Obersten Gerichtshofs (Supreme Court Bar Association, SCBA). Der regie-rungstreue Kandidat, Malik Muhammad Qayyum, der einige Jahre zuvor wegen Fehlverhaltens zum Rücktritt von seinem Amt als Richter des Hohen Gerichts-hofs von Lahore gezwungen worden war, beanspruchte den Sieg, während das Ergebnis in Wirklichkeit zugunsten des Anwalts Muneer A. Malik ausgefallen war. Daraufhin wurde eine Petition beim Obersten Richter eingereicht, und das Gericht entschied trotz des Drucks der Regierungsanhänger unter den Anwälten, die sich für Malik Qayyum einsetzten, zugunsten von Muneer A. Malik. Dies erwies sich als die wichtigste aller getroffenen Entscheidungen, denn Muneer A. Malik war Präsident der SCBA, als General Musharraf den Obersten Richter Chaudhry seines Amtes enthob. Gegen alle Vorbehalte gelang es ihm, die Anwaltskammer zur Unterstützung des Obersten Richters zu bewegen.

Chaudhry stammte aus Belutschistan, wo das Militär eine Operation gegen nationalistische Organisationen eingeleitet hatte, wo Hunderte von Menschen ohne rechtliche Begründung inhaftiert und diese Inhaftierungen zu einem großen Teil nicht einmal aktenkundig waren. In ähnlicher Weise hatten im Zuge des sogenannten «Krieges gegen den Terror» die Exekutivorgane überall im Land Verdächtige aufgegriffen, ohne zuzugeben, dass diese dann in Gewahrsam gehalten wurden. Doch von nun an nahm der Oberste Richter Notiz von den illegalen Inhaftierungen, und man sprach vom «Fall der verschwundenen Personen». Um sicherzustellen, dass die Verwaltungs- und Sicherheitsorgane sich in solchen Fällen an das Gesetz hielten, war es oft notwendig, die Amtsträger vor Gericht streng zu behandeln, was dazu führte, dass der Oberste Richter Chaudhry in den Kreisen der Staatsbediensteten zunehmend unbeliebt wurde, während er gleichzeitig zu einem Liebling der Menschenrechtsgruppen wurde, die sich weiterhin an den Gerichtshof wandten, wann immer der Staat sich ihnen gegen-

Page 166: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

164

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

über unrechtmäßig verhielt. Die Handlungen des Obersten Richters waren eine klare Botschaft an die Regierung, dass die Justiz dabei war, sich ihre Unabhän-gigkeit zu erkämpfen, selbst wenn das bedeutete, Maßnahmen zu ergreifen, die gegen die Interessen der Herrschenden gerichtet waren.

Dennoch blieb das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Aufrichtigkeit des Gerichts eher gering. Der hochrangige Anwalt Muneer A. Malik schreibt in seinem Buch, «dass unter den Anwälten ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Obersten Richter Iftikhar Mohammed Chaudhry herrschte, denn trotz seines Aktivismus in Rechtsfragen war sein Aufstieg im Umfeld von Musharraf erfolgt. Er hatte seinen Eid auf Musharrafs erste provisorische Verfassung geschworen, und einige der Urteile des Obersten Gerichtshofes (Pakistan Lawyers Forum PLD 2002 Supreme Court (SC) 853 und Qazi Hussain Ahmad case PLD 2005 SC 719, die sich auf General Musharrafs Referendum bezogen) waren wenig ermuti-gend für die Anwaltskammer ausgefallen. Es gab zu dieser Zeit die weitverbrei-tete Meinung, der anhaltende Aktivismus des Obersten Gerichtshofes sei eine bewusste Strategie, um dessen moralisches Ansehen in der Öffentlichkeit zu heben und seine Glaubwürdigkeit zu steigern, damit der Gerichtshof später General Musharrafs Versuch, sich von der bestehenden Nationalversammlung zum Präsidenten in Uniform wählen zu lassen, unterstützen konnte, ohne allzu-viel öffentliche Kritik auf sich zu ziehen» (Malik 2008).

Doch die Lage änderte sich, und die Anwaltsvereinigungen beschlossen, den Obersten Richter zu unterstützen, als er – anders als seine drei Amtsvor-gänger – standhaft blieb und sich ungeachtet aller Schwierigkeiten den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen stellte29 , statt den einfachen Ausweg zu akzep-tieren und zurückzutreten, wie es General Musharraf am 9. März 2007 gefordert hatte.

Der Konflikt beginnt

Am 27. Februar 2007 veröffentlichte der Anwalt am Obersten Gericht Naeem Bokhari, der durch seine Auftritte im Fernsehen berühmt war, im Internet einen «offenen Brief», in dem er schwere Anschuldigungen gegen den Obersten Richter Pakistans erhob. Die enge Beziehung zwischen Bokhari und Präsident Musharraf war allseits bekannt. In seinem Brief beschuldigte er den Obersten Richter, dieser habe auf protokollarischen Ehren bestanden, die ihm nicht zustünden; er habe sein Amt und seinen Einfluss genutzt, um die Karriere seines Sohnes zu befördern; er habe Urteile unterzeichnet, die nicht in Übereinstimmung mit

29 In der Constitutional Original Petition (COP) 21 von 2007, «Chief Justice of Pakistan vs. The President of Pakistan and others», gab der Oberste Richter unter Eid eine schriftliche Erklärung ab, der zufolge Pervez Musharraf auf seinem Rücktritt bestanden, er diesem jedoch entschieden entgegnet habe: «Ich werde nicht zurücktreten und werde mich jeder Befragung stellen, denn ich bin unschuldig. Ich habe keinen Verhaltenskodex, kein Gesetz, keine Regel oder Vorschrift verletzt und betrachte mich als Hüter des Gesetzes. Ich glaube mit aller Kraft an Gott, der mir helfen wird.»

Page 167: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

165

azm

at a

bbas

und

sai

ma

Jasa

m E

in H

offn

ungs

schi

mm

er:

die

Anw

alts

bew

egun

g in

Pak

ista

n

den in offener Verhandlung angeordneten Beschlüssen des Gerichts standen; und er habe manche Verteidiger anderen vorgezogen. Bokhari beschuldigte den Obersten Richter auch, hochrangige Staatsbeamte und Polizeioffiziere gedemü-tigt zu haben.30

In Bezug auf Naeem Bokharis «offenen Brief» an den Obersten Richter schreibt Muneer A. Malik: «Später wurde deutlich, dass der Brief von denjenigen angeregt und inspiriert war, die meinten, dass der Oberste Richter größenwahn-sinnig geworden sei und dass von ihm keine ‹positiven Resultate› in einer Reihe weitreichender verfassungsrechtlicher Fragen zu erwarten seien, die im Jahr 2007 vor dem Höchsten Gericht zur Verhandlung kommen sollten. Dies galt insbeson-dere für die Verfahren zu Pervez Musharrafs gleichzeitiger Ausübung von zwei Ämtern (das Amt des Präsidenten und das des Generalstabschefs), zur Festlegung von Preisen durch pharmazeutische Unternehmen sowie durch Unternehmen im Öl- und Gas-Sektor, zur doppelten Staatsangehörigkeit von Inhabern staatli-cher Funktionen und zur Frage der Gleichwertigkeit der Abschlüsse an religiösen Schulen (Madrassen). Der Brief war ein Stimmungstest und bereitete die Befra-gung des Obersten Richters vor, die noch folgen sollte. Das Establishment, das sich selbst als sakrosankt und über jeder Rechenschaftspflicht stehend ansah, war der Auffassung, dass sich der Oberste Richter eines Übergriffs auf seine Exekutivgewalt schuldig mache» (Malik 2008).

30 Auszüge aus dem Brief: «Ihr Bestehen auf gewisse protokollarische Ehren stört mich nicht (trotz meiner Überzeugung, dass der Oberste Richter in aller Augen nur an Format gewinnen würde, wenn er zu Fuß von seiner Residenz zum Gericht ginge. Hupen, Polizei-eskorte und Flaggen haben nichts mit dem Wesen eines Amtes zu tun). ... Ich bin etwas amüsiert über Ihren Wunsch, in Peshawar mit einer Ehrengarde empfangen zu werden, und über die Verwendung eines Mercedes Benz, oder waren es gleich mehrere solcher Wagen? ... Es stört mich nicht, dass Dr. Arsalaan (Ihr Sohn) nur 16 von 100 Punkten für seinen englischen Aufsatz bei der Prüfung für den öffentlichen Dienst bekam, dass gegen ihn ein Verfahren vor einem Gericht in Belutschistan anhängig ist, dass er vom Gesund-heitsministerium Belutschistans zur FIA [Bundespolizei] wechselte, dass er eine Ausbil-dung an der Polizeiakademie ergattern konnte, dass er angeblich einen BMW der 7er-Serie fährt, dass eine Klage in Zusammenarbeit mit dem National Accountability Bureau [Anti-Korruptionsbehörde] gegen ihn läuft. ... Entsetzt bin ich darüber, dass Sie im Gerichtssaal bestimmte Entscheidungen verkünden, während im schriftlichen Urteil ein gegenteiliger Beschluss festgehalten ist. ... Mein Unmut betrifft auch die Art und Weise, in der das letzte und höchste Berufungsgericht unter Ihrer Leitung mit der Gerechtigkeit umgeht. ... Ihre Methode, Herr Vorsitzender, Verhandlungen zu führen, vereitelt einen angemessenen Gerichtsprozess und erzeugt Verachtung gegen den Obersten Gerichtshof. ... Schmerzlich empfinde ich die große öffentliche Aufmerksamkeit für Verfahren, die der Herr Vorsit-zende unter dem Banner der Grundrechte am Obersten Gerichtshof aufgegriffen hat. ... Herr Vorsitzender, dieses Schreiben mag Sie verärgern, zumal Sie ohnehin zu Wutanfällen neigen, doch denken Sie darüber nach! Vielleicht ist Ihnen nicht bewusst, wie Ihre Richter-kollegen über Sie denken und sprechen. ... Ich hoffe, dass Sie die Weisheit und den Mut besitzen, Ihre Fehler zu korrigieren, und dafür sorgen, dass an meinem Obersten Gericht wieder Klarheit, Ruhe, Barmherzigkeit, Langmut und mit Gnade gepaarte Gerechtigkeit Einzug halten.»

Page 168: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

166

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Angesichts dieser Auseinandersetzungen überraschte es nur wenige, dass der Oberste Richter Pakistans am 9. März 2007 zum Regierungssitz von General Pervez Musharraf gerufen wurde, wo ihm Fehlverhalten und Autoritätsmiss-brauch vorgeworfen wurde und Musharraf ihn zum Rücktritt von seinem Amt aufforderte. An diesem Treffen nahmen neben Premierminister Shaukat Aziz auch die Chefs der wichtigsten Geheimdienste – Intelligence Bureau, Military Intelligence und Inter-Services Intelligence – sowie der Verteidigungsminister und der Generalstabschef teil. Doch der Oberste Richter verweigerte seinen Rücktritt, worauf General Musharraf mit der Bemerkung wütend den Raum verließ, die Direktoren der Geheimdienste würden Beweismaterial vorlegen, wozu allerdings keiner von ihnen in der Lage war. Dennoch hielt man den Obersten Richter nahezu fünf Stunden im Präsidentensitz fest, und der Direktor des Inlandsgeheimdienstes, Brigadegeneral (im Ruhestand) Ejaz Shah, ein enger Freund von General Musharraf, bearbeitete ihn hartnäckig, damit er seinem Rücktritt zustimmte.

Als der Oberste Richter den Präsidentensitz schließlich verlassen durfte, hatte man sämtliche protokollarische Ehren für ihn gestrichen. Später wurde er mitsamt seinen Familienmitgliedern unter Hausarrest gestellt und durfte auch keine Gäste empfangen. Es war nicht das erste Mal, dass ein Militärdik-tator einen Oberster Richter aus dem Amt entfernt hatte. Dies war schon bei drei anderen Gelegenheiten geschehen: 1977 wurde der Oberste Richter Pakistans Muhammad Yaqub Ali Khan31 von General Zia ul-Haq abgesetzt; 1981 wurde der Oberste Richter Sheikh Anwar ul-Haq32 seines Amtes enthoben; und im Jahr 2000 wurde der Oberste Richter Saeeduz Zaman Siddiqui33 von General Pervez Musharraf aus seinem Amt entfernt.

Dennoch stellte der Fall des Obersten Richters Chaudhry eine neuartige Situation dar, da die Anwälte einen dreitägigen Protest und eine Bestreikung sämtlicher Gerichte ankündigten, um ihre Missbilligung dieses Angriffs gegen die Justiz zum Ausdruck zu bringen. Im ganzen Land wurden Protestkundgebungen abgehalten und die Anwälte boykottierten die Gerichte. Am 12. März 2007 kam es in Lahore zu einem Zusammenstoß zwischen den Anwälten und der Polizei,

31 Der Oberste Richter Muhammad Yaqub Ali Khan trat sein Amt am 1. November 1975 an. Er verlor es infolge mehrerer Gesetzesänderungen, die der Militärdiktator Zia ul-Haq am 22. September 1977 durchgeführt hatte. Richter Yaqub Ali hatte ein von Yayha Khan verhängtes Kriegsrecht für nicht mit der Verfassung Pakistans vereinbar erklärt.

32 Der Oberste Richter Sheik Anwar ul-Haq war ein Verwaltungsbeamter, den General Zia ul-Haq persönlich als Nachfolger des Obersten Richters Muhammad Yaqub Khan ausge-wählt hatte. Er weigerte sich jedoch, seinen Eid auf die Provisorische Verfassung von 1981 abzulegen, die von General Zia ul-Haq, dem damaligen Obersten Verwalter des Kriegs-rechts, erlassen worden war, und schied aus dem Amt.

33 Richter Saeeduz Zaman Siddiqui war zur Zeit des Militärputsches von General Pervez Musharraf im Jahr 1999 Oberster Richter Pakistans. Er widersetzte sich der Forderung, gemäß der von Musharraf im Jahr 2000 erlassenen Anordnung eines Amtseids für Richter einen neuen Eid zu leisten. Die Konsequenz war, dass er sein Amt als Oberster Richter Pakistans aufgeben musste.

Page 169: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

167

azm

at a

bbas

und

sai

ma

Jasa

m E

in H

offn

ungs

schi

mm

er:

die

Anw

alts

bew

egun

g in

Pak

ista

n

bei dem mehrere Menschen verletzt wurden, was zu der äußerst aufgeheizten Stimmung bei den darauffolgenden Kundgebungen führte.

Am 13. März 2007 sammelte sich eine große Menschenmenge auf der Consti-tutional Avenue, um den Obersten Richter zu unterstützen, als dieser zum Obersten Gerichtshof gebracht wurde, um zum ersten Mal seit seiner Suspendie-rung vor den Obersten Richterrat zu treten. Die Polizei versuchte, den Obersten Richter daran zu hindern, zum Gerichtshof zu gelangen. Er wurde dabei misshan-delt, an den Haaren gezogen und zum Einsteigen in ein Auto gezwungen. Die Bilder dieser Vorgänge wurden live im Fernsehen übertragen, und am nächsten Tag zeigte jede Zeitung auf dem Titelblatt das Photo eines Polizeibeamten, der den Obersten Richter an den Haaren zog. Die Live-Berichterstattung zog den Ärger der Regierung auf sich, und die Reaktion folgte binnen weniger Tage: Die Polizei drang am 16. März 2007 in die Räume eines Fernsehsenders in Islamabad ein, verletzte Mitarbeiter und verursachte massive Sachschäden, so dass die Live-Berichterstattung über den Polizeieinsatz gegen eine Protestkundgebung abgebrochen werden musste.

Indessen ernannte General Musharraf Javed Iqbal zum amtierenden Obersten Richter Pakistans, ohne auf Rana Bhagwandas, den zu dieser Zeit höchsten Richter am Obersten Gerichtshof, der sich gerade auf einem Privatbesuch in Indien befand, zu warten oder ihn zu fragen. Dieser Vorgang wurde zum Gegen-stand erhitzter Debatten in den Medien, und die Regierung sah sich schließ-lich gezwungen, am 22. März 2007, kurz nach seiner Rückkehr nach Pakistan, Bhagwandas zum amtierenden Obersten Richter Pakistans zu ernennen. Viele glaubten, dass die Wiedereinsetzung Chaudhrys jetzt nur noch eine reine Formalie sei, da das Amt nun in den Händen von Richter Bhagwandas lag, der als mutiger und unparteiischer Verfechter der Rechtsstaatlichkeit bekannt war.

Parallel zu diesen Ereignissen hatte eine Gruppe von Anwälten, die den Obersten Richter [Chaudhry, auch im Folgenden weiterhin Oberster Richter genannt] vertraten, eine Petition beim Obersten Gerichtshof Pakistans einge-reicht, mit der sie gegen die Entscheidung von General Pervez Musharraf Wider-spruch einlegten. Zudem beschloss die Führung der Anwälte, die Angelegenheit an die Öffentlichkeit zu bringen und Seminare und Kundgebungen im ganzen Land zu veranstalten. Dieses Vorgehen der Anwaltsvereinigung sowie die Bereit-schaft des Obersten Richters, Einladungen anzunehmen und vor verschiedenen Anwaltskammern zu sprechen, wurde von der Regierung scharf kritisiert, die den Anwälten vorwarf, eine Rechtsfrage zu politisieren.

Es war sehr ermutigend zu beobachten, dass die Mehrheit der Richter der höheren Gerichte an den Seminaren oder Veranstaltungen teilnahm, zu denen Chaudhry als Hauptredner eingeladen war. Vor diesen Foren sprach er zu Themen wie Rechtsstaatlichkeit oder Unabhängigkeit der Justiz, während die Führer der Anwaltsbewegung auf sehr politische Weise über Rechtsstaatlichkeit, die Versuche, der Justiz einen Maulkorb anzulegen, das Verhältnis von ziviler und militärischer Verwaltung, die Unabhängigkeit der Justiz und andere Themen diskutierten, womit sie in der Öffentlichkeit auf große Resonanz stießen.

Page 170: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

168

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Ohne Frage spielten auch die elektronischen Medien eine wichtige Rolle für den Erfolg der Veranstaltungen, indem sie eine umfassende Live-Berichterstat-tung boten. Sie begannen zum Beispiel bereits zu senden, als der Oberste Richter am 5. Mai 2007 um 9 Uhr morgens seine Residenz in Islamabad verließ, um auf Einladung der Anwaltskammer von Lahore bei einem Seminar einen Vortrag zu halten. In jeder Stadt auf dem Weg nach Lahore wurde dem Obersten Richter ein großer Empfang bereitet, und 16 amtierende Richter des Hohen Gerichts-hofs von Lahore warteten die ganze Nacht an der Straße, bis die Wagenkolonne des Obersten Richters am Morgen des 6. Mai 2007 eintraf. Der Oberste Richter benötigte fast 24 Stunden, um von Islamabad nach Lahore zu gelangen, was sonst nur rund 5 Stunden gedauert hätte.

Eine ähnlich umfangreiche Berichterstattung fand am 21. Mai 2007 statt, als Chaudhry ein Seminar bei der Anwaltskammer von Karatschi abhalten sollte. Er wurde vom Flughafen in Karatschi aus allerdings wieder zurückge-schickt, nachdem er dort mehrere Stunden gewartet hatte. Wie üblich hatten die Nachrichtensender live zu berichten begonnen, als der Oberste Richter seine Residenz in Islamabad verließ, und zeigten, wie er den Flughafen erreichte und ein Flugzeug nach Karatschi bestieg. Dann allerdings nahmen die Ereignisse einen unglücklichen Verlauf, da es in Karatschi zu Zusammenstößen zwischen Anhängern verschiedener den Obersten Richter unterstützenden politischer Parteien und der Muttahida Qaumi Bewegung (MQM) kam, die hinter Musharraf stand und kategorisch erklärt hatte, sie werde einen Besuch des Obersten Richters in Karatschi nicht zulassen.

Dass Bewaffnete sich frei in der Stadt bewegen und Gewalttaten begehen konnten, während sich Polizisten in Sichtweite befanden, war ein hinlänglicher Beweis dafür, dass dies alles mit der stillschweigenden Duldung, wenn nicht gar der vollen Unterstützung durch die Regierung geschah. Das Büro eines Nachrich-tensenders, der einen Film über den Angriff bewaffneter Männer auf Privatbesitz gesendet hatte, geriet für mehrere Stunden unter schweren Beschuss, und die Menschen im ganzen Land wurden Zeuge der schrecklichen Szenen. An diesem Tag kamen 51 Menschen ums Leben, es gab mehr als 150 Verwundete und große Schäden an öffentlichem wie privatem Eigentum. Die Streiks, zu denen die Anwälte und die politischen Parteien in den folgenden Tagen aufriefen, um gegen das Blutbad zu protestieren, sollten das Land lahmlegen und ein klares Signal an General Musharraf senden, dass er im Begriff war, die Kontrolle zu verlieren.

Die Führer der Anwälte

Besonders hervorzuheben ist die wichtige Rolle, die die Führung der Anwälte für den Erfolg der Bewegung und die letztendliche Wiedereinsetzung aller unter General Musharraf abgesetzten Richter spielte. Es ist unmöglich, alle Menschen im Land zu nennen, die bei den Anwälten eine Führungsrolle eingenommen und in der Folge finanzielle wie persönliche Verluste erlitten haben, doch sie alle

Page 171: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

169

azm

at a

bbas

und

sai

ma

Jasa

m E

in H

offn

ungs

schi

mm

er:

die

Anw

alts

bew

egun

g in

Pak

ista

n

verdienen tiefempfundenen Dank. Die Liste dieser Menschen umfasst Namen wie den des Präsidenten der Anwaltskammer des Obersten Gerichtshofs von 2006-07, Muneer A. Malik, des SCBA-Präsidenten von 2007-08, Chaudhry Aitzaz Ahsan, und des SCBA-Präsidenten von 2008-09, Ali Ahmed Kurd, sowie Richter (im Ruhestand) Tariq Mahmood, Baz Muhammad Kakar, Ather Minallah, Hamid Khan, Hadi Shakeel Ahmad, Rasheed Rizvi und viele andere.

Die Führer der Anwälte organisierten eine sehr erfolgreiche Bewegung und vollbrachten die schwierige Aufgabe, verschiedene Teile der Gesellschaft hinter einem Ziel zu vereinigen: der Wiedereinsetzung und Unabhängigkeit der Richterschaft. Sie erreichten es, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern oder auf irgendeine Form von Gewalt zurückzugreifen.

Internationale Anerkennung

Die Bewegung der Anwälte erhielt Unterstützung von Anwälten und Menschen-rechtsorganisationen aus aller Welt. Viele Anwaltskammern und führende Anwälte forderten die Wiedereinsetzung des entlassenen Obersten Richters, was den Druck auf die Militärregierung erhöhte. Zugleich bekam Richter Chaudhry in Anerkennung seiner persönlichen Verdienste im Kampf für die im Rechts-system verankerten Grundsätze von Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit an der Harvard Law School die prestigeträchtige «Medal of Freedom» verliehen, die erst zweimal zuvor vergeben worden war, nämlich an den legendären Anti-Apartheid-Führer Nelson Mandela sowie an die Gruppe, die die Entschei-dung im Fall Brown gegen das Board of Education angefochten hatte, was zum Ende der Rassentrennung in den Bildungsanstalten der USA geführt hatte. Die Anwaltskammer von New York City verlieh Chaudhry als einer Symbolfigur der Bewegung für die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten in Pakistan die Ehrenmitgliedschaft. Der Oberste Richter erhielt zudem die Auszeichnung «Jurist des Jahres» der in New York erscheinenden Zeitschrift The National Law Journal für das Jahr 2007. Dies alles geschah, während der Kampf um die Wiedereinset-zung des entlassenen Richters noch im Gange war.

Die Wiedereinsetzung des Obersten Richters

Die wachsende öffentliche Unterstützung für den Obersten Richter und die immer größer werdenden Menschenmengen bei den Anhörungen sowie die Tatsache, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe jeglicher Substanz entbehrten, führten dazu, dass das Blatt sich wendete – zum Nachteil Musharrafs. Am 16. Juli 2007 ließen die Anwälte der Regierung die Anklage gegen den Obersten Richter fallen. Vier Tage später, am 20. Juli 2007, setzte ein 13-köpfiges Richter-gremium des Obersten Gerichtshofes den Obersten Richter wieder in sein Amt ein. Zum ersten Mal in der Justizgeschichte Pakistans war ein Richter, der von einem Militärdiktator abgesetzt worden war, wieder in sein Amt zurückgelangt, und zwar während der Diktator, der ihn suspendiert hatte, immer noch an der

Page 172: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

170

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Macht war. Die Wiedereinsetzung des Obersten Richters wurde im ganzen Land gefeiert, und am meisten freute die Menschen, auf welche Weise der Oberste Gerichtshof seine Unabhängigkeit behauptet hatte.

4 macht und Widerstand

Am 21. Juli 2007 nahm Chaudhry seine Arbeit als Oberster Richter Pakistans wieder auf. Nachdem dies erreicht war, wurde es zum wichtigsten Ziel für die Anwaltsbewegung, die Unabhängigkeit der Justiz zu schützen und weiter auszu-bauen. Mit Hilfe der Public Interest Litigation34 überwachten die Anwälte die Unabhängigkeit der höheren Richterschaft sehr aufmerksam.

Einige Beobachter kritisieren die Anwaltsbewegung, weil sie versucht habe, eine Situation herbeizuführen, in der die Justiz als große Bedrohung für das militärische Establishment erscheinen musste, und weil sie eine Verfassungs-krise herbeigeführt habe, indem sie General Musharrafs Präsidentschaftswahl vor dem Obersten Gerichtshof anfocht. Doch es kann nicht bestritten werden, dass das Gericht gerade mit der Zulassung solcher Fälle zur Verhandlung unter Beweis stellte, dass die Justiz letztendlich unabhängig war. Und hätte das Gericht es abgelehnt, Petitionen gegen General Musharraf zur Verhandlung zuzulassen, hätte es dadurch das Vertrauen untergraben, das es im Laufe der vorangegan-genen Monate in der Öffentlichkeit gewonnen hatte. In der Zeit vom 21. Juli bis zum 3. November 2007 befasste sich der Oberste Gerichtshof mit mehreren Fällen, die von weitreichender Bedeutung waren. Auf einige von ihnen soll im Folgenden kurz eingegangen werden.

Das Verfahren um die Wählerlisten

Am 26. Juli 2007 befasste sich ein Gericht des Obersten Gerichtshofs in erster Instanz mit einer Petition, die Benazir Bhutto gegen die pakistanische Wahlkom-mission eingereicht hatte. Sie beschuldigte darin die Regierung des institutiona-lisierten Betruges, da die Namen von 22 Millionen Wählern nicht in die Wähler-verzeichnisse eingetragen worden seien. Sie stellte fest, dass die Wählerliste für die allgemeinen Wahlen im Jahr 2002 die Namen von 74 Millionen Wählern enthalten habe, während die aktuelle Liste nur 52 Millionen Wähler aufführe. Das Gericht erließ Richtlinien für die Wahlkommission, um die Erfassung der 22 Millionen Wahlberechtigten, die nicht registriert worden waren, sicherzustellen und zu gewährleisten, dass die Frauen in den Stammesgebieten nicht von den Wählerlisten ausgeschlossen blieben.

34 Das ist ein eigenes Rechtsinstitut; ähnelt der Popularklage. (Anm. der Red.)

Page 173: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

171

azm

at a

bbas

und

sai

ma

Jasa

m E

in H

offn

ungs

schi

mm

er:

die

Anw

alts

bew

egun

g in

Pak

ista

n

Suo-Moto-Kompetenz und Grundrechtsfälle

Bei verschiedenen Gelegenheiten hatte der Oberste Richter Chaudhry bereits über die Vorteile gesprochen, die die Ausübung der Suo-Moto-Kompetenz für die Stärkung der Bürgerrechte und den Schutz vor systematischen Menschen-rechtsverletzungen bieten könne. Laut Medienberichten sagte Chaudhry, dass die Zivilgesellschaft eine bedeutende Rolle im Kampf um die Unabhängigkeit der Justiz spiele, dass es nun die Pflicht der Justiz sei, die Rechte des einfachen Bürgers zu schützen und dass die Justiz ihre diesbezüglichen Anstrengungen verdoppeln müsse.35

In einem Fall griff der Gerichtshof die Klage eines Mannes auf, der vorbrachte, dass ihm von Ärzten, die im Auftrag einer organisierten Bande von Organhänd-lern arbeiteten, ohne seine Einwilligung eine Niere entfernt worden sei. Das Gericht tadelte die Regierung und wies sie an, gegen die an diesem Organhandel Beteiligten vorzugehen und bei der nächsten Kabinettssitzung gesetzliche Maßnahmen zur Unterbindung dieses Übels mit höchster Priorität zu behan-deln.

Im Fall einer anderen Klage hatte die Hauptstadt-Entwicklungsbehörde (Capital Development Authority, CDA) städtische Grundstücke in Islamabad und der näheren Umgebung an einflussreiche Personen für eine angeblich landwirt-schaftliche Nutzung verpachtet. Das Gericht ordnete an, dass die CDA eine Untersuchung durchführen müsse, um die tatsächliche Nutzung zu ermitteln, und im Falle einer Vertragsverletzung angemessene Maßnahmen zu ergreifen habe.36 Daneben zog der Oberste Gerichtshof auch einige Fälle an sich, bei denen es um die Verletzung von Frauenrechten ging, und nahm sich dabei einige der einflussreichsten Personen Pakistans wegen Menschenrechtsverletzungen vor.

Das Verfahren um verschwundene Personen

Im Zuge der Verhandlung einer Petition, die von der Menschenrechtskommis-sion Pakistans und anderen Beschwerdeführern am 20. August 2007 eingereicht worden war, wies der Oberste Gerichtshof die Regierung an, eine korrekte Liste der verschwundenen Personen zu erstellen, und drohte dem Direktor der staatli-chen Untersuchungsbehörde mit Haft, falls ein gewisser Hafiz Abdul Basit nicht aufgespürt werde. Mehrere Personen, darunter auch Hafiz Abdul Basit, tauchten vor der nächsten Verhandlung des Falles wieder auf.

Erstaunlicherweise gelang es den Behörden nun wie durch ein Wunder, zu jeder Verhandlung weitere verschwundene Personen aufzuspüren. Das Gericht wurde vom stellvertretenden Generalanwalt informiert, dass von den 416

35 Dawn Newspaper, 31. August 200736 Dawn Newspaper, 12. Oktober 2007. Unter denjenigen, denen Land zugeteilt worden war,

befanden sich General Pervez Musharraf, Premierminister Shaukat Aziz, der Führer der PML-Q, Chaudhry Shujaat Hussain, und der Vorsitzende des Senats, Mian Muhammad Soomro.

Page 174: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

172

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

verschwundenen Personen insgesamt 181 ausfindig gemacht worden seien,37 von denen wiederum 90 aus Belutschistan stammten. Das Richtergremium, das das Verfahren um die verschwundenen Personen führte, drückte sein Missfallen über die mangelhaften Anstrengungen zu deren Wiederauffindung aus und warnte, es werde die führenden Köpfe der Geheimdienste ISI und MI vorladen, wenn der Vertreter der Regierung nicht in der Lage sei, das Gericht über den Verbleib der verschwundenen Personen zu informieren. Dann allerdings wurden die Bemühungen des Gerichts durch die Verhängung des Ausnahmezustandes beendet.

Die Rückkehr der Sharif-Brüder

Um ihre Verbannung aus dem Land anzufechten, wurden im Namen des früheren Premierministers Mian Nawaz Sharif und seines jüngeren Bruders, des früheren Ministerpräsidenten des Punjab, Mian Shahbaz Sharif, am 2. August 2007 zwei Petitionen beim Obersten Gerichtshof eingereicht. Am 23. August 2007 erklärte ein siebenköpfiges Richtergremium, dass die Sharifs das unverlierbare Recht hätten, in ihr Land zurückzukehren, und wiesen die Regierung an, sich ihrer Rückkehr nicht in den Weg zu stellen. Als dann allerdings Nawaz Sharif am 10. September 2007 in Islamabad landete, wurde ihm ein Haftbefehl vorgelegt, und statt ihn vor ein ordentliches Gericht zu stellen, schob man ihn gegen seinen Willen nach Saudi-Arabien ab.

Die Sharif-Brüder brachten eine Petition wegen Missachtung des Gerichts gegen Premierminister Shaukat Aziz und andere vor, und das Gericht befasste sich ernsthaft mit den Vorgängen. Es ordnete an, dass die Vorstandsvorsitzenden der Pakistan International Airlines und der Luftfahrtbehörde einen Bericht über die Ereignisse am Tag der Landung von Nawaz Sharif zu liefern hätten und die Weisung vorlegen sollten, auf deren Grundlage er nach Saudi-Arabien transpor-tiert worden war. Das Gericht drohte zudem damit, nötigenfalls den Premier-minister vorzuladen, um sich von ihm die Gründe für die Nichtbefolgung der gerichtlichen Anordnungen darlegen zu lassen. Das Verfahren wegen Missach-tung des Gerichts war noch in der Schwebe, als General Musharraf den Ausnah-mezustand ausrief.

Die zwei Ämter von General Musharraf

Mehrere Petitionen waren beim Obersten Gerichtshof eingereicht worden, um die Regelung anzufechten, dass General Musharraf sowohl das Amt des Präsi-denten als auch das des Generalstabschefs innehatte. Darin wurde gefordert, das Gericht solle General Musharraf verbieten, zwei Ämter gleichzeitig auszuüben, da dies einen klaren Verstoß gegen die Verfassung darstelle. Ein 11-köpfiges Richtergremium führte mehrere Verhandlungen in dieser Sache durch, während

37 Dawn Newspaper, 11. Oktober 2007

Page 175: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Feier zum Unabhängigkeitstag in Hyderabad, 14 August 2009

Page 176: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

174

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

zunehmend Gerüchte aufkamen, dass General Musharraf das Kriegsrecht verhängen könnte, um seine Autorität zu festigen. Noch bei einer Verhandlung am 2. November 2007 wies jedoch der Generalstaatsanwalt, der die Regierung vertrat, Berichte über eine bevorstehende Verhängung des Kriegsrechts zurück.

Die Erklärung des Ausnahmezustandes durch General Musharraf

Doch dann rief am 3. November 2007 General Musharraf tatsächlich den Ausnahmezustand aus, vielleicht weil er fürchtete, es werde zu einem ungüns-tigen Urteil in der Frage seiner zwei Ämter kommen. Damit schaltete er die gesamte Justiz aus. Kein Präzedenzfall ist bekannt, wo ein Militärdiktator, der von einem Gericht oder der Öffentlichkeit herausgefordert wurde, zu solch einer Maßnahme griff. Diesmal war auch deshalb alles anders, weil der Ausnahmezu-stand von einem 7-köpfigen Richtergremium des Obersten Gerichtshofes Pakis-tans ausgesetzt wurde. Armeekräfte entfernten die Richter aus dem Gericht und stellten sie unter Hausarrest.

Im Vergleich zu früheren Zeiten, in denen das Kriegsrecht gegolten hatte, kam aus der Justiz jetzt weit mehr Widerstand. Zum Beispiel wurde 1977 unter dem Kriegsrecht nur ein Richter aus seinem Amt entfernt, während es unter der Provisorischen Verfassungsordnung (Provisional Constitutional Order, PCO) von 1981 bereits 16 Richter waren. Im Jahr 2000 entfernte die Militärregierung unter der PCO 2000 13 Richter, und als am 3. November 2007 der Ausnahmezu-stand verhängt und von den Richtern verlangt wurde, einen neuen Eid auf die PCO 2007 abzulegen, verweigerten dies 43 Richter der höheren Gerichte und des Obersten Gerichtshofes.

Ein Beobachter bemerkte treffend, dass die Anwaltsbewegung die Mehrheit der höheren Richterschaft erfolgreich mit der konstitutionellen Krankheit der Unabhängigkeit infiziert habe, und dass auch die Öffentlichkeit erkannt habe, dass eine unabhängige Justiz für eine demokratische Ordnung unabdingbar sei. Äußerst ermutigend blieben auch die Reaktionen der politischen Parteien und der Öffentlichkeit auf die Verhängung des Ausnahmezustandes. Im Gegensatz zu der Stille, die auf die Verhängung des Kriegsrechts in den Jahren 1958, 1969, 1977 und 1999 gefolgt war, kam es nun zum ersten Mal zu öffentlichem Widerstand.

Nachdem der Oberste Richter Chaudhry und einige andere führende Vertreter der Justiz erst verhaftet und dann unter Hausarrest gestellt worden waren, ernannte General Musharraf den Richter Abdul Hameed Dogar zum neuen Obersten Richter Pakistans unter der PCO 2007. Zudem wurde die gesamte Führung der Anwaltsbewegung unter Arrest gestellt, und einige hundert Aktivisten unter den Anwälten kamen sogar ohne jede rechtliche Grundlage ins Gefängnis. Auch mehrere führende Menschenrechtsaktivisten und Mitglieder der Zivilgesellschaft befanden sich unter den Inhaftierten. Die frühere Premiermi-nisterin Benazir Bhutto brachte ihren Widerstand gegen den Ausnahmezustand zum Ausdruck, und der frühere Premierminister Mian Nawaz Sharif sowie Mian Shahbaz Sharif landeten am 25. November 2007 trotz des ihnen angedrohten

Page 177: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

175

azm

at a

bbas

und

sai

ma

Jasa

m E

in H

offn

ungs

schi

mm

er:

die

Anw

alts

bew

egun

g in

Pak

ista

n

Arrests auf dem Flughafen Lahore. Hunderte erschienen am Flugplatz, um mit großem Jubel ihre exilierten Führer zu empfangen, die dann mit einer mehrstün-digen Prozession durch die Stadt ihre Unterstützung durch die Massen demons-trierten.

In der Absicht, seinen Zugriff auf die Macht noch zu verstärken, nahm das Militär auch die Medien ins Visier. Kurz nach der Verhängung des Ausnahme-zustandes wurden alle Nachrichtenkanäle und Sender mit aktueller Berichter-stattung abgeschaltet. Dennoch zog die Opposition gegen Musharrafs Herrschaft immer weitere Kreise. Unter massivem nationalen und internationalen Druck trat General Musharraf am 28. November 2007 als Oberbefehlshaber der Armee zurück. Der vorherige Direktor des ISI, General Ashfaq Parvez Kayani, übernahm an seiner Stelle das Amt des neuen Generalstabschefs. Doch General Musharraf sah sich weiterhin anhaltendem Druck ausgesetzt und hob am 15. Dezember 2007 den Ausnahmezustand wieder auf. Er versicherte, er werde seine Zusage einhalten und wie geplant am 8. Januar 2008 allgemeine Wahlen abhalten lassen. Ohne Frage war es für die Herrschaft von Präsident Musharraf ein harter Schlag, dass die frühere Premierministerin Benazir Bhutto am 27. Dezember 2007, kurz nachdem sie ihre Beteiligung am Wahlkampf bekanntgegeben hatte, ermordet wurde. Die Regierung beschuldigte die Tehrik-e-Taliban Pakistan, den Mord verübt zu haben, während die Öffentlichkeit Musharraf vorwarf, seine Pflichten vernachlässigt und dadurch den Anschlag erst ermöglicht zu haben.

Die Wahlen von 2008

Die neunten allgemeinen Wahlen in Pakistan, die am 18. Februar 2008 abgehalten wurden, waren nach Ansicht vieler die wohl ersten in der Geschichte des Landes, bei denen es um konkrete Themen ging und es klare Forderungen seitens der Öffentlichkeit gab. Vor Beginn der Wahlen herrschte allgemein der Eindruck, dass es zu einer Zersplitterung der Stimmen kommen würde, wobei die Pakistan People’s Party (PPP) von der Sympathiewelle nach der Ermordung Benazir Bhuttos profitieren könnte. Die hinter Musharraf stehende Pakistan Muslim League Quaid-e-Azam (PML-Q) schien in einer besseren Position zu sein als die Pakistan Muslim League Nawaz (PML-N) des ehemaligen Premiermi-nisters Mian Nawaz Sharif. Mehr als 20 der kleineren Parteien und die Anwalts-bewegung boykottierten die Wahlen. Die PPP und die PML-N hatten sich für die Unabhängigkeit der Justiz ausgesprochen, und Chaudhry und viele andere glaubten, dass dieser Faktor zu ihrem Wahlerfolg beigetragen hatte. Die PML-N hatte die Wiedereinsetzung des Obersten Richters sogar zu einem Punkt ihres Wahlprogramms gemacht.38

Nach Ende der Stimmenauszählung war klar, dass die Wählerschaft der hinter Musharraf stehenden PML-Q eine massive Absage erteilt hatte. Die PPP gewann die größte Zahl der Sitze in der Nationalversammlung, gefolgt von der PML-N,

38 http://www.pmln.org.pk/manifesto.php

Page 178: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

176

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

während die PML-Q weit abgeschlagen an dritter Stelle lag.39 Bemerkenswert ist, dass nicht weniger als 22 Minister der Regierung ihren Sitz verloren, darunter der Vorsitzende der PML-Q und der Präsident der Nationalversammlung.40

Beobachter haben sechs wesentliche Faktoren identifiziert, die dazu beige-tragen haben, die politische Landschaft des Landes zu verändern und der PML-Q die Macht zu entziehen: Militäroperationen in Belutschistan und den Stammesgebieten; Entlassung des Obersten Richters Pakistans; wachsendes politisches Bewusstsein, insbesondere aufgrund der techni-

schen Revolution im Bereich der elektronischen Medien; die Rolle der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die zum politischen

Bewusstsein beigetragen haben; ein Preissprung bei Elektrizität, Erdgas und Erdölprodukten, verbunden mit

einer Lebensmittelknappheit; die Ermordung der früheren Premierministerin Benazir Bhutto am 27.

Dezember 2007.

Am 24. März 2008 wurde der frühere Präsident der Nationalversammlung, Yousuf Raza Gilani, zum Premierminister gewählt. In der ersten Parlamentsrede in seiner neuen Funktion ordnete er die Freilassung aller Richter an, einschließ-lich des Obersten Richters Pakistans, Iftikhar Mohammed Chaudhry. Allge-mein herrschte der Eindruck, dass der Kampf um eine unabhängige Justiz nun gewonnen wäre. Doch die darauffolgenden Tage widerlegten diese Meinung, und es sollte noch ein weiteres Jahr des Kampfes nötig sein, um endlich das erstrebte Ziel zu erreichen. Es versteht sich von selbst, dass die Anwaltsbewegung im Widerstand gegen das Kriegsrecht an vorderster Front stand. Da nun eine zivile Regierung die Macht übernommen hatte, hofften die Anwälte, ein einfa-cher Parlamentsbeschluss würde ausreichen, um den Obersten Richter wieder in sein Amt einzusetzen. Doch nun erwies sich, dass sich nicht nur militärische Regierungen, sondern auch eine zivile Regierung mit der Idee einer unabhän-gigen Justiz nicht wirklich anfreunden konnte. Das Ringen um eine wahrhaft demokratische Ordnung war noch längst nicht entschieden.

Als die Regierung die Wiedereinsetzung der entlassenen Richter verschleppte, wurde den Aktivisten der Anwaltsbewegung klar, dass ihr Boykott der Wahlen ein Fehler gewesen war.41 Sie erkannten, dass ein Machtwechsel zugunsten einer wohlwollenden demokratischen Regierung zur Erfüllung ihrer Forderungen hätte führen können. Ohne den Boykottaufruf wäre es auch nicht zum Abbruch der Beziehungen zur PPP und der Awami National Party (ANP) gekommen, von denen die eine in der Nationalversammlung dominierte, die andere in der Nordwestlichen Grenzprovinz. Dennoch war der Kampf noch keines-

39 www.ecp.gov.pk.com40 Daily Jang, 19. Februar 200841 Laut Interviews mit führenden Vertretern der Anwaltsbewegung, die im Jahr 2009 durch-

geführt wurden.

Page 179: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

177

azm

at a

bbas

und

sai

ma

Jasa

m E

in H

offn

ungs

schi

mm

er:

die

Anw

alts

bew

egun

g in

Pak

ista

n

wegs beendet, da das Thema der entlassenen Richter erfolgreich ins Zentrum der nationalen Politik gehoben worden war und mehrere politische Parteien, darunter auch die PML-N, gelobt hatten, sich für die Sache einzusetzen, selbst wenn das bedeuten würde, aus der Koalitionsregierung auszuscheiden.

Der Widerstand politischer Parteien

Die Geschichte Pakistans zeigt, dass nicht nur Militärherrscher die Justiz manipu-lierten, auch verschiedene zivile Regierungen handelten keineswegs anders. Die Führer der wichtigsten politischen Parteien, darunter der PML-N und der PPP, nahmen am Kampf für die Wiedereinsetzung des Obersten Richters teil. Die Führer der PML-N und PPP hatten öffentlich die Wiedereinsetzung der entlas-senen Richter gefordert und auch eine «Charter of Democracy» unterzeichnet, die entsprechende Schritte vorsah. Diese Zusagen wurden gleichermaßen in der Murree-Bhurban-Deklaration und in der Islamabad-Deklaration aufrechter-halten. Das Problem blieb jedoch ungelöst und konnte in den Wahlkampagnen der beiden Parteien erfolgreich genutzt werden. Nachdem die Freilassung der entlassenen Richter am 24. März 2008 durch den von der PPP gestellten neuen Premierminister anfänglich eine Euphorie ausgelöst hatte, kam es danach zu einem Stillstand. Dafür verantwortlich war offenbar Asif Ali Zardari, der stell-vertretende Vorsitzende der PPP. Die Art und Weise, wie er die Wiedereinset-zung der entlassenen Richter um persönlicher Vorteile willen manipulierte und behinderte, sollte ein trauriges Kapitel in der Geschichte der PPP, wenn nicht ganz Pakistans werden.

Während diese Verzögerungstaktik im Gange war, kämpfte die Anwaltsbewe-gung mit den üblichen Protestkundgebungen und symbolischen Hungerstreiks weiter für die Wiedereinsetzung der entlassenen Richter und die Absetzung von General Pervez Musharraf. Die Auseinandersetzungen nahmen jedoch eine neue Wende, als die Führung der Anwälte ankündigte, am 14. Juni 2008 einen langen Marsch von Lahore nach Islamabad durchzuführen. Erwartungsgemäß waren weder Anhänger noch Führer der PPP in der großen Menge, die an jenem Tag Islamabad erreichte. Die Führung der PPP gab weiterhin Stellungnahmen heraus, denen zufolge es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Richter wiederein-gesetzt würden. Das deutete darauf hin, dass Musharraf womöglich die Zügel immer noch in der Hand hatte, und dass nichts geschehen würde, solange er noch im Amt war.

Einige Beobachter schrieben die Verzögerung der Wiedereinsetzung der Richter durch die PPP deren politischer Verunsicherung zu: Die Partei hatte in der Vergangenheit schon einmal einen Konflikt mit einer unabhängig werdenden Justiz erlebt, als sie gerade im Begriff war, ihre exekutive und legislative Macht zu festigen. Damals standen sich Premierministerin Benazir Bhutto und der Oberste Richter Sajjad Ali Shah gegenüber. Um diesmal einen derartigen Konflikt zu vermeiden, entwickelte die PPP offenbar die Strategie, den Anteil der abhän-gigen Richter zu erhöhen, indem der auf die Provisorische Verfassungsordnung

Page 180: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

178

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

eingeschworene Oberste Richter im Amt belassen wurde und am Obersten Gerichtshof und allen höheren Gerichten die Zahl der Richter erhöht wurde, die hinter der PPP standen.

Unter massivem Druck und aus Furcht vor einem Amtsenthebungsverfahren des Parlaments legte Präsident Musharraf am 18. August 2008 sein Amt nieder. Damit machte er den Weg für Asif Ali Zardari frei, der am 6. September 2008 zum Präsidenten gewählt wurde. Sobald Präsident Zardari im Amt war, machte er keinen Hehl mehr aus seinem mangelnden Interesse, die entlassenen Richter und insbesondere den Obersten Richter wiedereinzusetzen. Stattdessen begann er, Anschuldigungen zu erheben, und erklärte, der Gerichtshof sei für seine Jahre im Gefängnis verantwortlich. Diesen Vorwurf hatte er bereits unverblümt erhoben, als der Oberste Richter Chaudhry ihn im März 2008 in Islamabad aufsuchte, um nach der Ermordung von Benazir Bhutto zu kondolieren (Malik 2008). Um die Situation zu beruhigen, griff die PPP jedoch zu einer «Gefälligkeitstaktik» und setzte nach der Verhängung des Ausnahmezustandes am 3. November 2007 einige entlassene Richter wieder in ihre Ämter ein. Dieser Prozess der Wieder-einsetzungen dauerte über Monate an, doch ohne jeden Hinweis, dass am Ende auch der Oberste Richter sein Amt zurückerhalten würde.

Unterdessen vertiefte sich der politische Konflikt zwischen der PPP und der PML-N, und zur allgemeinen Überraschung entzog der Oberste Gerichtshof, mit Abdul Hameed Dogar als Oberstem Richter, Mian Nawaz Sharif und Mian Shahbaz Sharif das Recht, ein öffentliches Amt zu bekleiden oder sich darum zu bewerben. Die Reaktion der Öffentlichkeit kam für die Regierung vielleicht unerwartet – es kam im ganzen Land zu Demonstrationen. Die PML-N, die sich bislang mit öffentlicher Kritik an der Regierung zurückgehalten hatte, verbün-dete sich mit der Anwaltsbewegung, doch deren Führung verhinderte verdienst-vollerweise, dass die Bewegung nun von einer politischen Partei vereinnahmt wurde.

Man rief zu einem weiteren langen Marsch auf, und die Führung der Anwälte kündigte an, Islamabad erst wieder zu verlassen, wenn Chaudrhry wieder in seinem Amt sei. Der lange Marsch sollte am 11. März 2009 in Quetta beginnen und durch alle großen Städte führen, bevor er in Islamabad enden würde. Die letzten Teilnehmer sollten am 15. März 2009 von Lahore aus aufbrechen. Geplant war, dass alle Beteiligten in Islamabad ausharren würden, bis der Oberste Richter wieder eingesetzt wäre. Überraschenderweise verlor nun aber die Regie-rung die Nerven und unternahm alles, um die Anwälte an der Durchführung des langen Marsches zu hindern. Eine große Zahl politischer Aktivisten und Anwälte wurden inhaftiert. In zwei der vier Provinzen Pakistans wurde ein Verbot verhängt, Kundgebungen und Protestaktionen durchzuführen. Daraufhin wurde der Marsch der Anwälte, der am 11. März 2009 unter der Führung des SCBA-Präsidenten Ali Ahmed Kurd begonnen hatte, an der Grenze zu Sindh gestoppt.42 Der Marsch, der am 12. März 2009 auf der Autobahn von Karatschi nach Lahore

42 The News International, Dawn, Daily Times, Jang, 12. März 2009.

Page 181: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

179

azm

at a

bbas

und

sai

ma

Jasa

m E

in H

offn

ungs

schi

mm

er:

die

Anw

alts

bew

egun

g in

Pak

ista

n

beginnen sollte, wurde von der Polizei unter dem Einsatz von Schlagstöcken verhindert, wobei sehr viele Menschen Verletzungen erlitten.43 Gleichzeitig ließ die Regierung mit zahlreichen Containern die Straßen nach Islamabad blockieren, so dass auch der Zugang zum Parlamentsgebäude und zur Consti-tutional Avenue versperrt war. Das Leben in Islamabad wurde abgewürgt.44 Am Morgen des 15. März 2009 waren sämtliche Straßenverbindungen zwischen Lahore und Islamabad blockiert, damit der lange Marsch Islamabad nicht errei-chen konnte45. Außerdem stellte die Regierung Mian Nawaz Sharif, Aitzaz Ahsan und viele andere der führenden Köpfe unter Hausarrest und postierte starke Polizeieinheiten vor ihren Häusern. Die politischen Aktivisten und Anwälte, die den Gerichtshof von Lahore erreichten, wurden mit Schlagstöcken und Tränengas angegriffen, bis der Polizei die Tränengasgranaten ausgingen. Da es der Polizei nicht gelang, den Widerstand der Demonstranten zu brechen, war sie schließlich gezwungen, sich auf eine sichere Distanz zurückzuziehen.46 Während diese Geschehnisse noch in Gang waren, setzte sich Mian Nawaz Sharif über seinen Hausarrest hinweg, erzwang sich einen Weg durch die Polizeisperren und gelangte auf die Ferozepur Road. Als er die Lower Mall Road erreichte, war die Zahl derer, die ihn begleiteten, bereits auf einige Tausend angewachsen.

Bilder von den Menschenmassen, darunter Frauen und Kinder, die sich an dem Protest beteiligten, regierungsfeindliche Sprechchöre skandierten und die Wiedereinsetzung des Obersten Richters verlangten, wurden ununterbrochen auf den Nachrichtenkanälen gesendet. Die Führung der Anwaltsbewegung kündigte an, sie werde überall, wo der lange Marsch von den Regierungskräften aufgehalten werde, Sit-ins veranstalten, bis den Teilnehmern erlaubt werde, nach Islamabad weiterzuziehen.47 Mian Nawaz Sharif sprach zu den Teilneh-mern, drückte seine Entschlossenheit aus, mit den Sit-ins fortzufahren, bis der Oberste Richter wieder im Amt sei, und rief die Menschen, die den Marsch vor ihren Fernsehgeräten verfolgten, dazu auf, herauszukommen und teilzuneh-men.48

Selbst die Organisatoren des langen Marsches hatten nicht mit einer solch großen Menge an Unterstützern gerechnet. Es waren noch keine hundert Kilometer Entfernung zurückgelegt, als zur allgemeinen Überraschung Mian Nawaz Sharif und Chaudhry Aitzaz Ahsan informiert wurden, dass die Regierung bereit sei, die Weisung zur Wiedereinsetzung des Obersten Richters zu erteilen.

Es sollte eine historische Nacht in Pakistan werden, in der wenige Menschen zu Bett gegangen sein dürften, ehe sie – kurz nach dem Morgengrauen – den Höhepunkt der Entwicklung miterleben konnten: Premierminister Yousuf Raza Gilani informierte den Amtssitz des Obersten Richters Pakistans von der Wieder-

43 The News International, Dawn, Daily Times, Jang, 13. März 2009. 44 The News International, Dawn, Daily Times, Jang, 15. März 2009.45 The News International, Dawn, Daily Times, Jang, 15./16. März, 2009.46 The News International, Dawn, Daily Times, Jang, 15. März 2009.47 Geo, Aaj TV-Interviews mit der Führung der Anwälte, 15. März 2009.48 Rede von Nawaz Sharif vor den Demonstranten, 15. März 2009.

Page 182: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

180

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

einsetzung von Iftikhar Mohammed Chaudhry. Am Ende hatte die Führung der PPP vielleicht begriffen, dass die Partei, auch wenn sie über ein Jahrzehnt nicht an der Macht gewesen war, zwar über ein stabiles Stimmenpotenzial verfügte, dass der Widerstand gegen die Wiedereinsetzung des Obersten Richters ihr aber großen Schaden zufügen konnte. Oder war der Schaden bereits angerichtet?

Die Rolle der Medien

Auch in der Vergangenheit hat es Anlässe gegeben, bei denen das pakistanische Volk womöglich Widerstand gegen das Vorgehen von Militärdiktatoren geleistet und sich gegen sie erhoben hätte, wenn es den heutigen schnellen Informations-fluss gegeben hätte. General Musharraf, der unter dem Motto der «aufgeklärten Mäßigung» ständig pseudo-demokratische Grundsätze im Mund führte, prahlte oft mit der «Freiheit» die er den Massenmedien gewährt habe.49 Und tatsäch-lich gab es eine ungeschönte Berichterstattung über die Krise in Belutschistan, die Militäroperation in den Stammesgebieten, die schikanöse Behandlung von Oppositionellen, die willkürliche Unterdrückung Andersdenkender, die sich verschärfende Krise der Justiz, das Verschwinden (die illegale Inhaftierung) von hunderten Menschen, die verdächtigt wurden, in Verbindung mit radikalen islamischen Gruppen zu stehen, und über den öffentlichen Unmut angesichts der Preiserhöhungen für Güter des täglichen Bedarfs und für Erdölprodukte. Die Medien machten sich dadurch bei dem Diktator höchst unbeliebt. Und die Ereignisse am 9. März 2007 waren der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Die Bilder von der Demütigung des Obersten Richters Pakistans durch den Militärdiktator und später seiner Misshandlung durch einen Polizeibeamten steigerten die öffentliche Empörung über General Musharraf und stärkten die Sache des Obersten Richters im Urteil der Öffentlichkeit.

Es gab auch vorher schon Druck auf die privaten Nachrichtensender, die Aktivitäten der Regierung positiv darzustellen und die Berichterstattung über die Operationen in Belutschistan und den Stammesgebieten einzuschränken, doch dieser Druck erreichte mit dem Ausbruch der Justizkrise ein bisher nicht gekanntes Ausmaß. Über die Medienregulierungsbehörde (Pakistan Electronic Media Regulatory Authority, PEMRA) führte die Regierung Gesetze ein, die dazu dienen sollten, den Medien einen Maulkorb anzulegen. Es kam in dieser Zeit ständig zu Schikanen und Einschüchterungen. Doch trotz aller Schwierigkeiten erfolgte weiterhin eine umfassende Live-Berichterstattung über die Besuche des Obersten Richters in verschiedenen Städten. Aus Sicht der Regierung stellten sich die Medien damit auf die Seite der Aufständischen. Dies führte, insbeson-dere nach Verhängung des Ausnahmezustandes, zur massiven Beschneidung der sogenannten Freiheit, die den Medien vom Militärdiktator gewährt worden war. Sämtliche elektronische Medien in Pakistan mussten den Betrieb einstellen;

49 So als sei es eine besondere Gunst, Nachrichtensendern ihre Arbeit im Land zu erlauben, und als sei es alleiniges Vorrecht der Militärregierung, Pressefreiheit zu gewähren.

Page 183: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

181

azm

at a

bbas

und

sai

ma

Jasa

m E

in H

offn

ungs

schi

mm

er:

die

Anw

alts

bew

egun

g in

Pak

ista

n

selbst Sender, die nur Kochsendungen oder Musik ausstrahlten, durften nicht weiterarbeiten; einige der wichtigsten Nachrichtensender blieben monatelang abgeschaltet; nur den Sendern, die dem Druck der Regierung nachgaben und einen Verhaltenskodex unterzeichneten, wurde die Wiederaufnahme ihres Sendebetriebs erlaubt.

Nach allgemeiner Auffassung wurden die privaten Medien deshalb am heftigsten getroffen, weil sie ihre Unabhängigkeit, die objektive Berichterstat-tung und die Kritik an der Politik und dem Vorgehen der Regierung aufrechter-hielten. Die Medien, die gegen Musharrafs Regime mutigen Widerstand geleistet hatten, wurden noch einmal mit einer ähnlichen Situation konfrontiert, als sie ihr Augenmerk auf die unerfüllten Versprechen der zivilen Regierung unter Präsident Asif Ali Zardari richteten. Als Präsident Zardari die Nachrichtensender für ihre «voreingenommene» Haltung gegenüber der Führung der PPP im Allge-meinen und dem Präsidenten im Besonderen durch Einstellung ihres Sendebe-triebs «bestrafen» wollte, trat der damalige Informationsminister zurück, weil er angeblich nicht bereit war, den Befehl zu befolgen und die Pressefreiheit einzu-schränken.

Die Rolle der Zivilgesellschaft: Frauen und Studentenvereinigungen

Einer der vielversprechendsten Aspekte der Anwaltsbewegung war die Unterstüt-zung, die sie in allen Bereichen der Gesellschaft fand. Es war das erste Mal, dass sich die Aktivisten von religiösen Parteien, politisch-religiösen Parteien, Nichtre-gierungsorganisationen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften, Organisationen für Minderheitenrechte, Menschenrechtsorganisationen und Studentenvereinigungen zusammenschlossen, um für ein gemeinsames Ziel einzutreten. Ein kurzer Blick auf Ideologie und Arbeit jeder einzelnen dieser Gruppen würde schnell zeigen, dass viele von ihnen Programme verfolgten, die in völligem Gegensatz zueinander standen. Doch sie legten ihre Differenzen beiseite und arbeiteten zusammen für die Wiedereinsetzung der Richter.

Frauen spielten eine besonders wichtige Rolle in der Anwaltsbewegung. Bushra Khaliq schreibt dazu in ihrem Buch: «Unter diesen Frauen waren nicht nur Anwältinnen, Vertreterinnen der Zivilgesellschaft und politische Aktivis-tinnen, sondern auch Frauen aus der Arbeiterschicht. Diese Frauen kämpften Schulter an Schulter mit ihren männlichen Kameraden. Seit März 2007 stellten sie sich als ebenbürtige Partnerinnen der Unterdrückung durch das Regime Musharrafs entgegen. Wie auch die Männer wurden viele dieser Aktivistinnen mit Schlagstöcken traktiert, mit Tränengas beschossen und infolge des am 3. November 2007 verhängten Ausnahmezustandes sogar hinter Gitter gebracht» (Khaliq 2009).

Es war auch außerordentlich ermutigend zu beobachten, dass trotz des Verbots jeder politischen Betätigung an den Hochschulen eine große Zahl Studenten jede Gelegenheit nutzte, um sich zu beteiligen. Einige der Studenten nahmen an den Protestkundgebungen teil, verlangten jedoch, von den Medien

Page 184: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

182

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

nicht fotografiert oder gefilmt zu werden, um ihre Eltern nicht zu verärgern. Die Universitäten waren auf die gewöhnlich nicht an «Veränderung» interessierten wohlhabenden Schichten ausgerichtet. Einer der Kundgebungsteilnehmer wurde mit den Worten zitiert: «Wir wollen die Revolution, aber bitte sagen Sie das unseren Eltern nicht!» Die Regierung ging auch gegen die Studenten vor, und viele wurden zusammen mit ihren Professoren wegen der Durchführung von Demonstrationen eingesperrt.

Auch gegen andere Mitglieder der Zivilgesellschaft ging die Regierung mit willkürlichen Maßnahmen vor, um sie an der Unterstützung der Anwaltsbe-wegung zu hindern, doch letztlich ohne Erfolg. Nach Verhängung des Ausnah-mezustandes wurden mehrere führende Menschenrechtsaktivisten in Haft genommen, was jedoch ihre Entschlossenheit nur vergrößerte. Auf die Abset-zung des Obersten Richters durch General Musharraf am 9. März 2007 reagierte die pakistanische Menschenrechtskommission binnen weniger Stunden mit einer Stellungnahme, die diesen Schritt verurteilte. Auch die internatio-nalen Netzwerke der Menschenrechtsorganisationen äußerten ihre Sorge und forderten in Briefen an General Musharraf, die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren. Der Generalsekretär der Internationalen Juristenkommission beschrieb in einem solchen Brief die Absetzung des Obersten Richters als einen beispiel-losen und verfassungswidrigen Akt, der die Unabhängigkeit der Justiz und die Rechtsstaatlichkeit in Pakistan bedrohe. Aus aller Welt kam Unterstützung; viele Anwaltsvereinigungen und Anwaltsgremien aus den verschiedensten Ländern brachten ihre Solidarität mit der Bewegung zum Ausdruck und forderten die Wiedereinsetzung des Obersten Richters. Unter den Unterstützern waren die Österreichische Rechtsanwaltskammer, die Anwaltsorganisationen in England, die amerikanische Anwaltsvereinigung und Anwaltsvereinigungen in Kanada, Frankreich und verschiedenen anderen Ländern.

5 fazit – der Weg vorwärts

Seit der Unabhängigkeit Pakistans im Jahr 1947 wurden Judikative und Legisla-tive in Pakistan von wenigstens drei Generalgouverneuren, sieben Präsidenten, 26 Premierministern und vier Oberbefehlshabern der Streitkräfte als bloße Erweiterungen der Exekutive benutzt.50

Die zivilen und militärischen Herrscher Pakistans betrachteten und behan-delten Judikative und Legislative 60 Jahre lang als der Exekutive untergeordnet. Dies änderte sich erst, als diese Regel vom Obersten Richter Chaudhry in Frage gestellt wurde, der sich weigerte, auf die Anordnung eines militärischen Oberbe-fehlshabers hin seinen Platz zu räumen. Manche Beobachter glauben, dass der Kampf, der auf das «Nein» Chaudhrys gegenüber Musharraf folgte, sein größtes Ziel am Morgen des 16. März 2009 mit der Wiedereinsetzung des Obersten Richters in sein Amt erreichte. Doch andere halten an der Meinung fest, dass

50 Pakistan: Justice Restored What Next? CRSS RO4102009F05, www.crss.com.pk

Page 185: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

183

azm

at a

bbas

und

sai

ma

Jasa

m E

in H

offn

ungs

schi

mm

er:

die

Anw

alts

bew

egun

g in

Pak

ista

n

der Kampf um die Unabhängigkeit weit davon entfernt ist, sein Ziel erreicht zu haben.

Die pakistanische Justiz wurde durch die Präsidenten, Premierminister und Armeechefs unter absoluter Kontrolle gehalten, indem diese die Ernennungen, Beförderungen und Entlassungen aus dem Dienst kontrollierten. Politische Abläufe wurden oft durch Nötigung oder Beeinflussung der Justiz manipuliert, was diese auf den Status eines Staatsorgans, das den Mächtigen zu dienen hat, reduzierte. Leider führte die durch eigennützige Interessen begründete weitge-hende Tatenlosigkeit der Mitglieder der höheren Justiz nicht nur zu deren schlechtem Ruf, sondern sie behinderte auch Reformen auf der Ebene der unter-geordneten Instanzen.

Dennoch knüpft das pakistanische Volk heute, nach dem Erfolg der Anwalts-bewegung, offenbar große Hoffnungen und Erwartungen an die Justiz. Es versteht sich von selbst, dass die Hochstimmung der Öffentlichkeit leicht auch in Ärger umschlagen kann, wenn die höheren Gerichte den Erwartungen und Vorstellungen der einfachen Bürger in Bezug auf eine unabhängige und unpar-teiische Justiz, die ohne Verzögerung für Gerechtigkeit sorgt, nicht entsprechen. Und es stellt sich die Frage, ob die Gerichte diesen einfachen und zugleich sehr anspruchsvollen Erwartungen der Menschen überhaupt entsprechen können, angesichts einer Situation, in der die Justiz erst noch klar von der Exekutive und Legislative getrennt werden muss; in der sie weiterhin um die institutionelle und finanzielle Unabhängigkeit kämpft, damit alle Fälle dem Gesetz entsprechend entschieden werden können und keine Folgen wie der Verlust von Arbeits-platz und Versorgungsbezügen befürchtet werden müssen; und in der zu allem Überfluss auch an den Gerichten eine Kultur der Korruption vorherrscht.

Trotz der schweren Aufgabe, vor der er steht, hat der Oberste Gerichtshof Pakistans bereits Schritte eingeleitet, die auf lange Sicht Früchte tragen könnten. So hat zum Beispiel das National Judicial Policy Making Committee am 16. Mai 2009 alle Justizbeamten, die für die verschiedenen Verwaltungsbehörden der Regierung arbeiten, angewiesen, sich in Fragen der Beförderung unmit-telbar an die zuständigen höheren Gerichte zu wenden.51 Diese Reform dürfte zu einer beschleunigten Abwicklung der Beförderungen beitragen und könnte einen ersten Schritt darstellen, die Aufgaben der Justiz von der Arbeit im Dienst der Exekutive zu trennen. In eine ähnliche Richtung ging am 1. August 2009 die Entscheidung eines vierzehnköpfigen Richtergremiums des Obersten Gerichts-hofes, 34 Richter des Hohen Gerichts von Lahore zu entlassen, weil sie entweder ihren Eid auf die Provisorische Verfassungsordnung geleistet hatten oder auf Anweisung von Richter Abdul Hameed Dogar ernannt worden waren, der von General Musharraf nach Verhängung des Ausnahmezustandes am 3. November 2007 zum Obersten Richter gemacht worden war.52

51 The Daily Times, 16. Mai 200952 The Daily Times, 1. August 2009

Page 186: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

184

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Die pakistanische Anwaltsbewegung hat durch ihren Erfolg enorm dazu beigetragen, die pakistanische Justiz zu dem zu machen, was sie heute ist. Vielleicht hat das Schicksal der Justiz in Pakistan hier eine Chance eingeräumt, die Fehler ihrer Vergangenheit wiedergutzumachen und zu einer unabhängigen, unparteiischen und ehrenhaften Institution zu werden, die die Rechtsstaatlich-keit und die Verfassung an die erste Stelle setzt.

Die Menschen in Pakistan haben durch die Anwaltsbewegung etwas über die Macht von Massenprotesten gelernt. Der einfache Bürger hat eine neue Stärke gewonnen, und die Menschen greifen auf friedliche Demonstrationen zurück, um die Regierung zum Handeln zu zwingen. Dies hat sich sehr deutlich bei den friedlichen Protesten gegen die Auspeitschung eines Mädchens in Swat gezeigt. Auch die Tatsache, dass die Wiedereinsetzung des Obersten Richters im ganzen Land gefeiert wurde, stärkte den Glauben der Menschen, dass die Regierung durch friedliche Proteste dazu gebracht werden könnte, ihre Forderungen zu erfüllen. Dennoch muss diese «Demonstration der Macht» erst noch institutio-nalisiert werden, und soziale Bewegungen sind in Pakistan nach wie vor schlecht organisiert. Doch wenn die Menschen ihre Stärke erkennen und verinnerlichen, könnte dies der Beginn einer neuen Ära sein, der Ära eines demokratischen Pakistan.

literatur

Ahmad, Mushtaq (1970): Government and Politics in Pakistan, Karatschi. Ahmad, Masood (1983): Pakistan: A Study of Its Constitutional History, Research Society of

Pakistan, University of the Punjab, Lahore. Afzal, Rafique, M. (2001): Pakistan, History and Politics 1947 -1971, Karatschi. Ahmad, Ghafoor (1988): Phir Martial Law Aa Gaya, Lahore. Ahmad, Parvez (2005): Changing Role and Image of Judiciary in Pakistan from 1988-1999,

Dissertation, Bahauddin Zakariya University, Multan. Arif, Mehmood Khalid (2002): Khaki Shadows, Karatschi. Butt, Iqbal Haider (2009): Revisiting Student Politics in Pakistan, Punchayat, Rahwali, Gujran-

wala, Pakistan. Bhutta, G. Nisar, und Nayyar A. H. (2009): Restoring Students Unions, unveröffentlichte wissen-

schaftliche Arbeit, Sustainable Development Policy Institute, Islamabad.Chaudhry, G.W. (1957): Constitutional Development in Pakistan, London. Dawood, Jan Muhammad (1994): The Role of Superior Judiciary in the Politics of Pakistan,

Karatschi. Hussain, Shabbir, Syed (2001): Ayub, Bhutto and Zia, Lahore. Hamid, Yousaf (1998): Pakistan – A Study of Political Developments, 1947-97, Pakistan Academy

of Administrative and Social Science, Lahore.Khaliq, Bushra (2009): Revisiting Women Movements in Pakistan, in: Women in Lawyers’

Movement, Women Workers Helpline, Lahore.Khan, Roedad (2000): Pakistan – A Dream Gone Sour, Karatschi. Khan, Hamid (2001): Constitutional and Political History of Pakistan, Karatschi. Mehmood, Safdar (1987): A Political Study of Pakistan, Lahore. Mehmood, Safdar (2002): Pakistan Political Roots and Development 1947–1999, Karatschi. Mehmood, Dilawar (1992): The Judiciary and Politics in Pakistan, Lahore.

Page 187: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

185

azm

at a

bbas

und

sai

ma

Jasa

m E

in H

offn

ungs

schi

mm

er:

die

Anw

alts

bew

egun

g in

Pak

ista

n

Malik, A. Muneer (2008): The Pakistan Lawyers’ Movement – An Unfinished Agenda, Pakistan Law House.

Maluka, Zulfiqar Khalid (1995): The Myth of Constitutionalism in Pakistan, Karatschi. Rizvi, Hasan-Askari (1987): The Military and Politics in Pakistan, Lahore. Shah, Hassan Naseem (1999): Constitution, Law and Pakistan Legal System, Research Society of

Pakistan, University of the Punjab, Lahore. Syed, Anwar (2007): Issues and Realities of Pakistani Politic, Research Society of Pakistan,

University of the Punjab, Lahore.

Page 188: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

186

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

aBkÜrZungen und glossar

AEC Atomic Energy Agency ANP Awami National PartyAWACS Airborne Warning And Control System BBC British Broadcasting CooperationBIP BruttoinlandsproduktBJP Bharatiya Janata PartyBSP BruttosozialproduktCANDU Canadian Natural Deuterium Uranium (Atomreaktor kanadischer Bauart)CBM Confidence Building MeasuresCENTO Central Treaty Organization CD Conference on DisarmamentCDA Capital Development AuthorityCIA Central Intelligence AgencyCJ Chief JusticeCJP Chief Justice of PakistanCKD Completely Knocked DownCOAS Chief of Army StaffCNS Centre for Nuclear StudiesCrPC Pakistan Criminal Procedure Code (Strafprozessordnung)CTBT Comprehensive Nuclear Test Ban TreatyDG Director GeneralESDs Environmentally Sensitive DevicesFATA Federally Administered Tribal AreaFCR Frontier Crimes RegulationFMCT Fissile Material Cutoff treatyGIKI Ghulam Ishaq Institute of TechnologyHEU Highly Enriched UraniumIAEA International Atomic Energy AgencyIB Intelligence BureauIDPs Internally Displaced Persons IJI Islami Jamhoori Ittehad IJT Islami Jamiat-e-TulabaISI Inter-Services IntelligenceISIS Institute for Science and International SecurityISPR Inter Services Public RelationsJI Jamaat-i-Islami

Page 189: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

187

Abk

ürzu

ngen

und

Glo

ssar

JUI Jamiat-ul-Ulema-e-IslamJUI (F) Jamiat-ul-Ulema-e-Islam (Fazl-ru-Rehaman)JUP Jamiat-i-Ulema-i-PakistanKANUPP Karatschi Nuclear Power PlantKESC Karatschi Electric Supply Company KRL Kahuta Research LaboratoryLFO Legal Framework OrderMAD Mutually Assured DestructionMAF Million Acres FeetMI Military IntelligenceMIRV Multiply Independent Reentry VehicleML Muslim LeagueMMA Muttahida Majlis-e-Amal MQM Muttahida Qaumi MovementMRD Movement for the Restoration of Democracy NAP National Awami PartyNAR Nizam-e-Adl RegulationNATO North Atlantic Treaty OrganizationNC Numerically ControlledNCA Nuclear Command AuthorityNDC National Defence ComplexNDP National Democratic PartyNJPMC National Judicial Policy Making CommitteeNUST National University of Science and TechnologyNWFP North West Frontier Province PAEC Pakistan Atomic Energy CommissionPAF Pakistan Air ForcePALS Permissive Action Links PBUH Peace Be Upon HimPCO Provisional Constitution OrderPIAC Pakistan International Airlines Corporation PIEAS Pakistan Institute of Engineering and Applied SciencesPINSTECH Pakistan Institute of Science and TechnologyPLD Pakistan Law DigestPML Pakistan Muslim LeaguePML-C Pakistan Muslim League Convention (Pro-Ayub)PML-N Pakistan Muslim League (Nawaz Group)PML-Q Pakistan Muslim League (Quaid-e-Azam Group) PNA Pakistan National AlliancePPC Pakistan Penal Code (Pakistanisches Strafgesetzbuch)PPP Pakistan People’s PartyPTCL Pakistan Telecommunications Corporation Limited R & D Research & Development SALT Strategic Arms Limitation Treaty

Page 190: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

188

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

SC Supreme CourtSCBA Supreme Court Bar Association SEATO Southeast Asia Treaty OrganizationSLBMs Submarine Launched Ballistic Missiles SPD Strategic Plans DivisionSWU Separative Work UnitTEL Transporter Erector LauncherTNSM Tehreek-e-Nafaz-e-Shariat-e-MohammadiTTP Tehreek-i-Taliban PakistanUAE United Arab EmiratesUAVs Unmanned Aerial VehiclesUET University of Engineering TechnologyUK United KingdomUS United StatesUSA United States of AmericaVAR Vereinigte Arabische EmirateWTC World Trade Center

Nichtenglische Begriffe

Hydel Aus Wasserkraft gewonnene Energie (Staudämme)Hundi Informeller Mechanismus des Geldtransfers von einem Land ins andereKerb market freier Markt für FremdwährungRupien und Paisas Pakistanische WährungseinheitenChawal Urdu für ReisChamra Urdu für LederChadar Urdu für Bettlaken, allgemein TextilienAshraafia EliteAwam VolkMadrassah Religiöses Seminar, Kolleg bzw. religiöse SchuleUlema Islamische ReligionsgelehrteWaqf Ein islamisches Institut, vergleichbar einer StiftungZakat Die Verpflichtung, Almosen zu geben (eine der fünf Säulen des Islam)

Page 191: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

189

Aut

orin

nen

und

Aut

oren

autorinnen und autoren

Abbas Rashid ist Kolumnist der pakistanischen Daily Times und Autor zahlrei-cher Bücher. Er hat an der Federal Government’s Civil Services Academy gelehrt. Rashid ist Gründungsmitglied und Vorsitzender der Society for Advancement of Education (SAHE), einer Nichtregierungsorganisation. Er hat einen Master der Punjab University, Lahore, in Politikwissenschaft und einen Master für Interna-tional Affairs der Columbia University, New York.

Azmat Abbas ist Journalist und Publizist. Seine Schwerpunkte: religiöse Gewalt, Terrorismus, religiöse Konflikte, Governance-Themen. Er ist Produzent der Dokumentarserie Madressahs or Nurseries of Terror? Abbas hat einen Master der Punjab University, Lahore, in Politikwissenschaft. Er verbrachte im Jahr 2004 ein akademisches Jahr an der Stanford University, Kalifornien.

Dr. Pervez Amir Ali Hoodbhoy ist Professor für nukleare und Hochenergiephysik an der Quaid-e-Azam University in Islamabad. Er studierte am MIT in den USA und ist häufig Gast an Universitäten in den USA und in Europa. Er ist Träger des Baker Award for Electronics und des Abdul Salam Prize for Mathematics.

Dr. Kaiser Bengali ist Ökonom mit Abschlüssen von der University of Kara tschi und der Boston University, USA. Seine Forschungsschwerpunkte liegen bei den Themen Industrialisierung, Beschäftigung, urbane und ländliche Entwick-lung, Kommunalverwaltung. Dr. Bengali lehrt und forscht an der University of Kara tschi. Er ist Autor zahlreicher Bücher, Artikel und Studien. Als Visiting Fellow am Sustainable Development Policy Institute (SDPI) in Islamabad war er mit verantwortlich für den zweiten Wasserreport des SDPI.

Dr. Hasan-Askari Rizvi ist unabhängiger Politikberater. Er lehrte an verschie-denen Hochschulen, u. a. an der Columbia University in New York und der Punjab University in Lahore. Dr. Rizvi schreibt für zahlreiche Magazine und Zeitungen in Pakistan. Zu seinen Büchern gehören die Titel Military, State and Society in Pakistan, The Military and Politics in Pakistan und Internal Strife and External Intervention.

Dr. Rubina Saigol ist Autorin vieler Bücher und Studien in Englisch und Urdu. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen bei Fragen zu Religion und Entwicklung, Ethnonationalismus und Menschenrechten. Zurzeit beschäftigt

Page 192: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

190

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

sie sich u. a. mit der Talibanisierung Pakistans. Dr. Saigol ist aktives Mitglied des Women’s Action Forum, Pakistan.

Saima Jasam ist Mitarbeiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Lahore. Ihren Magister machte sie am Institut für soziale Studien in Den Haag, Niederlande. Sie ist Mitglied verschiedener Menschenrechts- und Frauenrechtsorganisati-onen und Buchautorin.

Page 193: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall

Page 194: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall
Page 195: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall
Page 196: Verdrängung und Vielfalt - Pakistan vor dem Zerfall

BA

ND

16

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Pak

ista

n vo

r dem

Zer

fall

Abb

as R

ashi

d D

ie V

erga

ngen

heit

ist

kei

n fr

emde

s La

nd:

Dem

okra

tie,

Ent

-w

ickl

ung

und

Mac

ht i

n Pa

kist

an R

ubin

a Sa

igol

Die

Rol

le v

on K

lass

e un

d Po

litik

bei

der

Rad

ikal

isie

rung

von

Sta

at u

nd G

esel

lsch

aft

in P

akis

tan

Ha-

san-

Ask

ari

Riz

vi P

olit

isch

e Pa

rtei

en u

nd f

ragm

enti

erte

Dem

okra

tie

Kai

ser

Ben

gali

Paki

stan

: V

om E

ntw

ickl

ungs

staa

t zu

m S

iche

rhei

tsst

aat

Perv

ez

Hoo

dbho

y Pa

kist

ans

nukl

eare

r P

fad:

Ver

gang

enhe

it, G

egen

war

t und

Zuk

unft

Azm

at A

bbas

und

Sai

ma

Jasa

m E

in H

offn

ungs

schi

mm

er: d

ie A

nwal

tsbe

we-

gung

in P

akis

tan

Hei

nric

h-B

öll-

Sti

ftun

g S

chum

anns

traß

e 8,

101

17 B

erlin

D

ie g

rüne

pol

itis

che

Sti

ftun

g Te

l. 03

0 28

53

40

Fax

030

2853

4109

inf

o@bo

ell.d

e w

ww

.boe

ll.de

IS

BN

978

-3-8

6928

-043

-1

Paki

stan

s A

nseh

en in

der

Wel

töff

entl

ichk

eit i

st s

chle

cht.

Es

wir

d al

s da

s „g

efäh

r-lic

hste

Lan

d de

r W

elt“

bez

eich

net,

als

Zufl

ucht

sort

für

Tal

iban

und

Al-

Qua

ida.

Pa

kist

an,

die

Ato

mm

acht

, gi

lt a

ls u

nber

eche

nbar

und

fra

gil.

Die

se S

icht

wei

se

auf

Paki

stan

ist

nich

t fa

lsch

. Den

noch

gib

t es

auc

h in

Pak

ista

n vi

ele

Hof

fnun

gs-

träg

er,

die

sich

une

rmüd

lich

für

Dem

okra

tie

und

Men

sche

nrec

hte

enga

gier

en,

oftm

als

unte

r gr

oßen

Gef

ahre

n. P

akis

tan

hat

eine

Ziv

ilges

ells

chaf

t, d

ie e

s tr

otz

alle

r R

ücks

chlä

ge im

mer

wie

der

verm

ag, E

influ

ss a

uf d

ie p

olit

isch

e E

ntw

ickl

ung

des

Land

es z

u ne

hmen

. Die

Bew

egun

g de

r R

icht

er u

nd A

nwäl

te, d

ie e

rfol

grei

ch

gege

n di

e A

bset

zung

des

Obe

rste

n R

icht

ers

Ifti

khar

Cha

udry

auf

die

Str

aße

gin-

gen,

ist

ein

solc

hes

Bei

spie

l. D

ie v

orlie

gend

e P

ublik

atio

n w

ill e

in d

iffe

renz

iert

es

Bild

übe

r di

e ko

mpl

exen

pol

itis

chen

Pro

zess

e un

d ge

sells

chaf

tspo

litis

chen

He-

raus

ford

erun

gen

Paki

stan

s bi

eten

. A

utor

inne

n un

d A

utor

en v

ersc

hied

ener

Dis

-zi

plin

en p

räse

ntie

ren

sow

ohl

Ana

lyse

n üb

er D

efizi

te u

nd S

chw

äche

n al

s au

ch

Idee

n fü

r ei

ne d

emok

rati

sche

re u

nd fr

iedl

iche

re Z

ukun

ft P

akis

tans

.

DE

MO

KR

AT

IE

BA

ND

16

Ver

drän

gung

und

Vie

lfal

t –

Paki

stan

vor

dem

Zer

fall