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VERÖFFENTLICHUNGEN DES MAX-PLANCK-INSTITUTS FÜR GESCHICHTE

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Studien zur Germania Sacra

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Studien zum Kanonissenstift

herausgegeben von Irene Crusius

VANDENHOECK & RUPRECHT GÖTTINGEN " 2001

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Sanctimoniales quae se canonicas vocant. * Das Kanonissenstift als Forschungsproblem

von IRENE CRUSIUS

Im August 816, so berichten die Annales Laurissenses minores, berief Kaiser

Ludwig der Fromme ein großes Konzil nach Aachen, wo verbindlich ent-

schieden wurde - praeceptun: est, zit monadhi omnes cursun: sancti Benedicti

cantarent ordine regulari, und wo ferner duo codices scripti stint, unus de vita clericorun: et alter de vita nonnartan 1.

Die schlichte Nachricht beinhaltet einen Eingriff weltlicher Herrschaft in kirchliche Verfassung, wie es so »umfassend und radikal niemals zuvor und nie später in der Kirchengeschichte«2 versucht worden ist. Nachdem bereits Karl der Große auf die Unterscheidung des clericalis ordo vom ordo tnonachi- cus gedrungen und zahlreiche Konzilien die endgültige Definition dieser Le- bensweisen vorbereitet hatten3, sollten nun ab sofort und unter Einsatz von Kontrollmechanismen; alle Mönche und Nonnen, die zwei- oder dreifache Gelübde abgelegt hatten oder ablegen wollten, einer einzigen Regel folgen, der Regula Benedicti. Alle anderen in vita communis Lebenden, Kleriker

und Laien, wurden auf die neu kodifizierten Institutiones canonicorum und

* Konzil von Chalon-sur-Saune 813 (MGH Conc 2,1 5.284 can. 53). 1 MGH SS 1 S. 122. 2 RUDOLF SCIIIEFFER, Die Entstehung von Domkapiteln in Deutschland (BonnHistForsch 43)

1976S. 232. 3 JOSEF SEAIMLER, Das Frankfurter Konzil von 794. Zur Entscheidung aufgerufen. »Vita reli-

giosa« um 800 (Das Frankfurter Konzil von 794, hg. von R. BER. NDT Si = QuAbhhMittelrhein-

KiG 80) 1997 S. 395-415. - NIKOIAUs STAUBAcII, Cultus divinus und karolingische Reform

(FrühMAStud 18.1984 S. 546-581). 4 Bereitsab September 817 sollten Königsboten (missi) Klöster und Stifte visitieren, uni die

Einhaltung der 816 erlasssenen Regeln zu überprüfen (MGH Conc 2,1 S 460). In Einzelfällen

hatte sich auch Karl der Große bereits der missi dominici bedient, um Klöster auf ihre benedikti-

nische Observanz hin zu überprüfen, vgl. JOSEF SE. \1r1LER, Mönche und Kanoniker im Franken-

reiche Pippins III. und Karls des Großen (Untersuchungen zu Kloster und Stift = VeröffMPIG

68 = StudGS 14) 1980 S. 96.

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sanctimonialium verpflichtet. Damit wurde nicht nur die Vielfalt der regional oder personal verbreiteten monastischen Regeln außer Kraft gesetzt, son- dern auch die unter diesen Regeln bis dahin praktizierte Vielfalt gemein- samen Lebens von Personen verschiedenen Standes, also von Mönchen, Kle- rikern und Laien, als ungesetzlich erklärt. Konnten bis 816 die monasteria in ihrem Personenstatus und demzufolge auch in ihren Aufgaben Mehrzweck- institutionen sein, dienten sie also dem Opus Dei, der Weltflucht, der Aske- se, der Selbstheiligung, dem Totengedächtnis, wie andererseits auch der Mission, der Seelsorge, dem Unterricht, dem Landesausbau, der Verwaltung und anderen öffentlichen Aufgaben, so sollten jetzt Status und Aufgaben, die ordines also getrennt, und durch sie die jeweilige Institution definiert

werden. Bezeichnend für die Schwierigkeiten dieser Scheidung' und für die

sich über mindestens vier Generationen hinziehende Akzeptanz der Aache- ner Beschlüsse ist bekanntlich die lange fehlende sprachliche Unterscheidung der Institutionen: bis in das 11. Jahrhundert hinein wurden Kloster und Stift

monasterium genannt. Daß wir aber heute die vor 816 existierenden monaste- ria überhaupt als Mehrzweckinstitutionen erkennen und bezeichnen kön-

nen, ist letztlich Resultat der spät, aber endgültig wirkenden Aachener Ge-

setzgebung und der sich aus ihr und durch sie entwickelnden bzw. verfesti- genden kirchenrechtlichen Normen.

Die Vielfalt der älteren Möglichkeiten für geistliche vita communis, meist regional oder herrschaftsgebunden bedingt, soll 816/17 ersetzt werden durch eine einheitliche Regelung für das ganze regnum Francorum. Überall im Reich sollen Kleriker in gleich organisierter Gemeinschaft leben, Mönche

und Nonnen dieselbe Profeßformel ablegen, unter derselben Disziplin leben, dieselbe Liturgie singen. Die spirituelle Einheit der Kirche soll in einheitli- chen Formen sichtbar werden. Einheitliche Strukturen aber bedeuten Reichs kirche, und sie ist Voraussetzung und Grundlage für die Einheit des Reiches. So das auf eine vereinfachte Formel gebrachte Reformprogramm Karls des Großen, das vom Sohn konsequent fortgeführt wird. Die neue Ordnung basiert auf den alten, »authentischen« Texten: so wie Karl der Große nach dem »reinen« Text der Regula Benedicti suchen läßt, so fordert Ludwig der Fromme eine Zusammenstellung der Kirchenväterzitate und Zu- sammenfassung der canones für die vita communis der Kleriker, um den Mißständen im Klerus zu begegnen und den cultus diviutrs neu zu ordnen.

Schon zwei Jahre nach dem Tod seines Vaters griff Ludwig der Fromme höchstpersönlich in die Reformdebatte ein. Der Prolog zu den beiden Regel-

5 SEMMLCR, Mönche und Kanoniker (wie Anm. 4) S. 78 f.

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büchern 6 schildert die Szene: der Kaiser erinnert das in der Aachener Pfalz versammelte Reichskonzil an die Mißstände in der Versorgung und Unter- bringung von Kanonikern an manchen Kirchen. Um sie abzustellen, fordert

er den Entwurf einer institutionis forma für Kanoniker und ruft zum Gebet auf, damit Gott zu dem Unternehmen seinen Segen gebe. Die Versammlung, in der Mehrzahl Bischöfe und Prälaten, denen der Vorwurf galt, verwahrt sich dagegen, ihnen bleibt aber nichts anderes übrig, als in intimo gastdio die Hände gen Himmel zu heben, um Gott zu danken, daß er einen so frommen

und guten Fürsten zum procurator der Bedürfnisse seiner Kirche bestellt ha- be. Man beschließt, eine institutio aus den Schriften der Kirchenväter und canones zu erarbeiten. Der Kaiser stellt dazu die Pfalzbibliothek zur Ver- fügung. Die Institutio sanctimonialium7 wird nach dem gleichen Prinzip er- stellt und zielt, wie die Kanonikerregel, auf die Scheidung der Ordines, die bisher auch in Frauenkommunitäten eine einzige vita communis führen konnten.

Im Gegensatz zur Institutio canonicorum hat die Forschung der Institutio sanctimonialium lange Zeit geringe Aufmerksamkeit gewidmet. Wenn selbst der Editor, Albert \Verminghoff, die Institutio santimonialium nur für eine »Übersetzung« der Kanonikerregel »ins Weibliche« hält und den Eindruck hat, »als habe es der Synode an Lust, wenn nicht an Kraft gefehlt, die Gele-

genheit zur Ausarbeitung einer von Grund aus originalen Regel gehörig aus- zunutzen«s, so wird nicht nur der Charakter der Institutio als Kompilation

und Festschreibung alter Gewohnheiten verkannt, sondern man wird auch die Geringschätzung der Frauengemeinschaft im Gegensatz zum Kanoniker-

stift heraushören. Genau dies aber, zusammen mit einer oft schlechten Quel- lenlage, war lange Zeit der Grund, weshalb Frauenkommunitäten, ob Klo-

ster oder Stift, wenig Interesse in der Forschung gefunden haben. Zudem un- terlagen und unterliegen Kanonissenstifte offenbar immer noch dem Verdikt Gregors VII. und der Lateransynode von 10599: sie sind heruntergekom-

mene Klöster und bedürfen der Reform, oder, wie der Nestor der Kirchen-

geschichte, Albert Hauck, formulierte: »die ganze Einrichtung des kano-

6 Institutio canomcorum Aquisgranensis cd. ALBERT W R1tINGIIOFF (MGH Conc 2,1) 1906 S. 307 f.

7 Institutio sanctimonialium Aquisgrancnsis cd. ALBERT \VER\IINGHOFF (MGH Conc 2,1) 1906 S. 421-456.

S ALBERT t\7ERTIINGHOFF, Die Beschlüsse des Aachener Concils im Jahre 816 (NA 27.1902 S. 634 und 631).

9 Ebd. 5.669-675. Dazu JOSEF Sr-%th%LER, Die Kanoniker und ihre Regel. (Studien zum welt- lichen Kollegiatstift in Deutschland, hg. von IRENE CRUSIUS = VeröffMPIG 114 = StudGS 18) 1995 S. Iosf.

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nischen Lebens erscheint wie ein Zugeständnis an die menschliche Schwä- che«10. Das Kanonissenstift teilt also das Schicksal seines männlichen Pen- dants, des Kanonikerstifts, dessen Wesen, Funktionen und Wirkungen eben- falls verkannt worden sind, bis die moderne Stiftskirchenforschung sich sei- ner annahm". Anstoß zur näheren Beschäftigung mit der Institutio sancti- monialium gab letztlich die historische Frauenforschung'2.

Im Gegensatz zum Klerikerstift ist dem Kanonissenstift zwar schon 1907 durch K. Heinrich Schäfer eine Gesamtdarstellung gewidmet worden; sie ist heute jedoch in ihren allgemeinen Thesen wie auch in Einzelfragen weit- gehend überholt und wurde schon kurz nach ihrem Erscheinen von Wilhelm Levison kritisch beurteilt13. Trotzdem wird das Buch auch heute noch als Standardwerk herangezogen, was zu manchen Irritationen und Fehlschlüs- sen führt. Neben regionalen Studien zu Kanonissenstiften in Österreich und in der Schweiz14 ist vor allem die »Kronlandschaft« des Frauenstifts, Sach- sen, in mehreren Arbeiten durch Johanna Heineken, Wilhelm Kohl, Karl J. Leyser und Michel Parisse nach verschiedenen Aspekten untersucht wor- den15. Schließlich sind im Rahmen der Germania Sacra-Grundlagenfor-

11 ALBERT HAUCK, Kirchengeschichte Deutschlands 2.81954 S. 600. Zum schlechten Ruf der Kanonissen Jetzt ULRICH ANDERMANN, Die unsittlichen und disziplinlosen Kinonissen. Ein To-

pos und seine Hintergründe (WestfZs 146.1996 S. 39-63).

11 Vgl. IRENE CRUSIUS, Das weltliche Kollegiatstift als Schwerpunkt innerhalb der Germania Sacra (BIIdtLG 120.1984 S. 241-253). - DIES., Artikel >Stift< (IRE 32) 2030 S. 160-167.

12 PETRA HEIDEBRECIIT und CORDLILA NOLTE, Leben im Kloster. Nonnen und Kanonissen (Weiblichkeit in geschichtlicher Perspektive. Fallstudien und Reflexionen zu Grundproblemen der historischen Frauenforschung, hg. von URSULA A. J. BECHER und JöR. x Rüsrx) 1985 S. 79-115. - TIIOMAS SCHILP, Norm und Wirklichkeit religiöser Frauengemeinschaften im Früh- mittelalter. Die Institutio sanctimonialis Aquisgranensis des Jahres S 16 und die Problematik der Verfassung von Frauenkommunitäten (VeröffMPIG 137 = StudGS 21) 199S S. 37 f.

13 KARL HEINRICH SclIÄreR, Die Kanonissenstifter im deutschen Mittelalter (Kirchenrechtl- Abhh 43/44) 1907. Nachdruck 1965. Rezension von LtxtsoN (WiuiEL_i LzvIsox, Aus rhei- nischer und fränkischer Frühzeit. Ausgewählte Aufsätze) 194S S. 4S9-516. - Zum Forschungs-

stand s. SCHILP (wie Anm. 12) S. 19-39. - Ärgerlich z. B. derArtikel Klerus, Kleriker. von B: U.

HERGEMÖLLER im LexMA 5.1991. Sp. 1208, der im Gefolge von Schäfer u. a. die Kanonissen mit den altkirchlichen Diakonissen gleichsetzt.

14 INGE GAMPL, Adelige Damenstifte. Untersuchungen zur Entstehung adeliger Damenstifte in Österreich (Wiener Rechtsgeschichtliche Arbeiten 5) \\ ien 1960. -JOSEF SIEG1r"ART O. P., Die Chorherren- und Chorfrauengemeinschaften in der deutschsprachigen Schweiz vom 6. Jahrhun- dert bis 1160 (Studia Friburgensia NF 30) Fribourg 1962. - DIETER GEUE. \ICII, Aus den Anfän-

gen der Fraumünsterabtei in Zürich (Geschichte und Kultur Churräticns. Festschrift für Pater Iso Müller, hg. von URSUS BRUNOLD und LOTHAR DEMAZES) Disentis 1986. S. 211-231.

15 JOHANNA HEINEKEN, Die Anfänge der sächsischen Frauenklöster. Diss. phil. Göttingen 1909. - WILItELM KohIL, Bemerkungen zur Typologie sächsischer Frauenklöster in karolingi- scher Zeit (Untersuchungen zu Kloster und Stift [wie Anm. 3J) S. 112-139. - KARL J. LEYSER,

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schung inzwischen sieben Frauenstifte bearbeitet und publiziert worden16 und fünf weitere in Vorbereitung". Außerhalb dieses Projekts ist zu beob-

achten, daß trotz einiger Stiftsmonographien's die monastischen Institutio-

nen (oder die, die man dafür hält - wir kommen noch auf das Problem zu- rück) immer noch größeres Interesse finden. In jüngster Zeit scheint sich die Tendenz etwas zu wandeln, da sowohl in Lothringen wie in Baden-Wärt= temberg Tagungen zu dem Thema stattgefunden habeni9. Ein noch dringen- deres Desiderat an Grundlagenforschung besteht allerdings für die westfrän- kischen Frauenkommunitäten, die in diesem Zusammenhang nicht nur zu Vergleichszwecken unentbehrlich wären. Es wäre zu wünschen, daß sich die französische Forschung, die ja durchaus Interesse für die sächsischen Kano-

nissenstifte zeigt, auch einer umfassenden Bearbeitung und Quellenedition

z. B. von Chelles, Farmoutier, Fosses u. a. annähme, so wie das für Remire-

mont geschehen ist20.

Herrschaft und Konflikt. König und Adel im ottonischen Sachsen (VeröffMPIG 76) 1984. - Mi-

CHEL PARISSE, Les Chanoinesses dans l'Empire gertnanique (D: `-XI` siecles) (Francia 6.1978 S. 107-126). - DERS., Les femmes au monastere dans le Nord de l'Allemagne du IX` au XI` sie- cles (Frauen in Spätantike und Frühmittelalter, hg. von WERNER AFFELDT) 1990 S. 311-324. - DERS., Die Frauenstifte und Frauenklöster in Sachsen vom 10. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts (Die Salicr und das Reich, hg. von STEFAN WEINFURTER 2) 1991 5.465-501. - Ausführlicher auf die Literatur geht Scltttr (wie Anm. 11) ein.

16 GS NF 7: Das reichsunmittelbare Kanonissenstift Gandersheim, bearb. von HANS GoET-

TING. 1973. - GS NF 10: Das (freiweltliche) Damenstift Freckenhorst, bearb. von WILtIELAM KOHL 1975. - GS NF 21: Das Kanonissenstift und Benediktinerinnenkloster Herzebrock, be-

arb. von EDELTRAUD KLUrTING. 19S6. - GS NF 23: Das Kanonissenstift und Benediktinerinnen- kloster Liesborn, bearb. von HELstuT MÜLLER. 19S7. - GS NF 32: Das (freiweltliche) Damenstift Buchau am Federsee, bearb. von BERNHARD TilEIL 1994. - GERHARD TADDEY, Das Kloster Hei-

ningen (VeröffMPIG 14 - StudGS 5) 1966. - FRANZ-JOSEF HEYEN, Untersuchungen zur Ge-

schichte des Benediktinerinnenklosters Pfalzel bei Trier (ca. 700-1016) (VeröffMPIG 15 = StudGS 5) 1966.

17 In Bearbeitung sind die Kanonissenstifte Essen, Überwasser/Münster, Geseke sowie Oe-

ren/Trier und St. Walburgis/Eichstätt mit ihren vermutlich stiftischen Anfängen. I6 Z. B. EDELTRAU» KLUrrING, Das (freiweltliche) adelige Damenstift Elsey. Geschichte, Ver-

fassung und Grundherrschaft in Spätmittelalter und Frühneuzeit (Altenger Beiträge 14) 1980. - SILVIA BUNSELAtEYER, Das Stift Steterburg im Mittelalter (BraunschwJb Beih. 2) 1983. - HELGA GIERSIEPEN, Das Kanonissenstift Vilich von seiner Gründung bis zum Ende des 15. Jahrhunderts

(VcröffStadtArchBonn 53) 1993. - BERND ULRlclr HUGKER, Stift Bassum (SchrrInstHistLd- ForschVechta 3) 1995.

19 Die Ergebnisse der baden-württembergischen Tagung sind publiziert: Geistliches Leben

und standesgemäßes Auskommen. Adlige Damenstifte in Vergangenheit und Gegenwart, hg.

von KURT A. NDERAMANN (KraichtalerKolloquien 1) 1995.

20 Zu Nivclles JEAN J. HDE0. AN\, L'abbaye de Nivclles des origines au XR" siede (MemAcad- Belg Classe Lettres 46,4) 1952. - Einen kurzen Bericht über den Forschungsstand von Nivclles

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Doch kehren wir zurück zu den Ergebnissen des Aachener Konzils im Jahre 816. Die Aufzeichnung von Institutiones für Männer und Frauen ver- führt zu dem Schluß, das Konzil habe unter Zugzwang gestanden, zu der Regula Benedicti, die ja für beide Geschlechter galt, ein Äquivalent zu schaf- fen, eine Regel, wonach der zweite, nunmehr vom monastischen geschiedene Ordo leben könne gemäß seinen nichtmonastischen Aufgaben. An dieser Stel- le sei jedoch die Frage gestattet, ob die beiden Institutiones überhaupt als Regel, als konstitutive Norm beurteilt werden dürfen, wie das weithin in der Forschung geschieht. Scharf hat bereits darauf hingewiesen, daß die Aache-

ner Synode von 817 zusätzlich eine hntit: itio laicorum geplant hatte, worauf sich wenig später (um 820) Jonas, Bischof von Orleans, in seiner h, stitutio laicalis bezieht21 und woraus vielleicht der Kompilations- und Empfehlungs-

charakter der Institutiones deutlicher wird. So wie eine Institutio laicorum ja

nur ein Laienspiegel, eine christliche Ethik für Laien sein kann, so wird man in den Aachener Institutiones eher Richtlinien denn ein Gesetz im Sinne der Ordensregeln sehen dürfen, woraus sich im übrigen die oft als Defizite emp- fundenen Lücken in den Institutiones z. B. zu stiftischen Verfassungsfragen

erklären ließen, vor allem aber die abweichende Verfassungswirklichkeit der Stifte, woraus sich aber andererseits auch die Offenheit und \\7andlungs- fähigkeit der Institution Stift ergibt, die ihr bis in die Neuzeit hinein Aktuali- tät verliehen hat22.

Die relativ ähnliche Konzeption der Institutiones canoniconim und sancti- monialium und ihre gleichzeitige Publikation als zwei Teile eines Codex

muß außerdem zu der Annahme führen, daß Männer- und Frauenstifte glei- chen oder mindestens ähnlichen Funktionen dienen sollten. Die Kanoniker-

stifte werden zur materiellen Versorgung der Kleriker an zentralen Kirchen,

und Remiremont gibt SCHILP (wie Anm. 12) 5.154-160. Der Stand von Chelles hat sich seit HOFFMANNS Kritik (wie Anm. 27) nicht geändert.

22 JOACHIM SCHARF, Studien zu Smaragdus und Jonas (DA 17.1961) 5.366.

22 SEMMLER, Kanoniker und ihre Regel (wie Anm. 9) 5.105 hat bereits auf den Charakter von »Rahmenrichtlinien« hingewiesen. HEIDEURECIIT / NoL're (wie Anm. 12) S. IOS und ebenso SCHILP (ebd. ) S. 144,161 und passim stellen in der Instiutio sanetimonialium Widersprüche, »ei- ne innere Unausgewogenheit und Unausgeglichenheit« fest, sehen in ihr ein »Kompromißwerk divergierender Interessen« der Konzilsteilnehmer mit Zugeständnis hauptsächlich an den Adel - wobei übrigens die Übereinstimmung der königlich-kaiserlichen, nämlich an seinen Hausmona- steria, mit den adeligen Interessen nicht thematisiert wird. - Für das Kanonikerstift wurde seine »Fremdbestimmung« als Charakteristikum und Chance zur Vielfalt interpretiert, vgl. PETER MoRAw, Über Typologie, Chronologie und Geographie der Stiftskirche im Mittelalter (Unter- suchungen zu Kloster und Stift [wie Anm. 4] S. 9-37). Es läge nahe, die erstaunliche Langlebig- keit des weiblichen Pendants aus denselben Gründen, u. a. aus der Offenheit der Institutio sanc- timonialium zu erklären.

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die Organisation ihres Gemeinschaftslebens zur Intensivierung des öffentli-

chen Gottesdienstes, der Seelsorge und der Durchstrukturierung der Bis- tümer gebraucht. Bei aller auch beabsichtigten Erziehung und Disziplinie-

rung des Klerus - nicht Weltflucht, Askese und Selbstheiligung sind Ziele kanonikalen Lebens, sondern das Wirken in der Öffentlichkeit23. Welchen dem entsprechenden Reformziel aber sollte die Institutio sanctimonalittm dienen? Einer Gleichschaltung, wie es der Regula Benedicti für Mönche und Nonnen möglich ist, steht der in dieser Zeit fest verfügte Ausschluß der Frauen von höheren Weihen, Altardienst, Seelsorge24 u. a. entgegen. Wobei

allerdings einschränkend gesagt werden muß, daß wir über die Bedeutung der Kanonissen- und Äbtissinnenweihe wie auch über die vielleicht daraus

resultierenden »quasi clerical functions«25 der Äbtissin im 8. /9 Jh. viel zu wenig wissen. Liest man im übrigen den aus Kirchenvätertexten kompilierten

ersten Teil der Institntio sanctimonialittm, so gewinnt man den Eindruck, daß diese Ermahnungen ebensogut an Benediktinerinnen gerichtet sein könnten. Was also können diese sanctimoniales canonice viventes für oder im Sinne der Kirchenreform leisten, was nicht auch von Benediktinerinnen ge- leistet werden kann? Stundengebet und Totengedächtnis sind nach mittel- alterlicher Auffassung ohnehin wirkungsvoller, wenn sie von denen voll- zogen werden, die sich der strengsten Askese unterziehen, also von Nonnen

mit abgelegtem Gelübde. Auch daß der Besitz von Kanonissenstiften könig- lichem Zugriff zugänglicher sei26, trifft erstens nicht generell zu und ist au-

23 Grundlegend dazu MoRAýr, ebd. S. 9-37, sowie Guy P. MARCHAL, Was war das weltliche Kanonikerinstitut im Mittelalter? (RevHistEccl 94.1999 5.761-507; 95.2000 S. 7-53). Zusam-

menfassend mit Literatur CRUSIUS, Artikel >Stift. (wie Anm. 11). 24 K. HEINR! CH SCHÄFER, Kanonissen und Diakonissen. Ergänzungen und Erläuterungen

(RömQuschr 24.1910 S. 49-90). Die von SCHÄFER schon in seinem Band >Kanonissenstifter< (wie Anm. 13) geäußerte Ansicht, daß die altkirchliche Diakonisseninstitution in der Kanonisse ihre Fortsetzung fände, wird nach wie vor kritisch beurteilt. - SUZANNE FONAY WEM+PLE, Women in Frankish Society. Marriage and the Cloister 500 to 900.1951 S. 136-148 handelt ausführlich über die zunehmende Ausgrenzung der Frauen von klerikalen Funktionen. - Vgl. auch ARNOLD ANGENENDT, »Mit reinen Händen«. Das Motiv der kultischen Reinheit in der abendländischen Askese (Herrschaft, Kirche, Kultur. Beiträge zur Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Friedrich Prinz, hg. von GEORG JENAL = MonogrGMA 37) 1993 S. 297-316. - Dazu ebenso der Aufsatz von GISELA MusCHioL in diesem Band 5.135-135.

25 Zur consecratio, bencdictio, velatio vgl. WE. +MPLE (wie Anm. 24) S. 141 und passim, sowie RE-

NE Merz, La consecration des vierges en Gaule des origines ? l'apparition des livres liturgiques

(Revdroitcan 6.1956 5.321-339). Außerdem GISELA MuscilloL, Famula Dci. Zur Liturgie in me-

rowingischen Frauenklöstern (BeitrrGaltMönchtBenOrd 41) 1994 S. 276-300. 26 Es gibt lediglich eine Empfehlung der Bischöfe auf dem Konzil von Reims 813, daß die ma-

terielle Absicherung und der Schutz der Frauenmonasterien in der Hand des Kaisers liegen solle, vgl. SEAtMtLER, Frankfurter Konzil (wie Anm. 3) S. 409.

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ßerdem sicherlich nicht als Reformmotiv anzunehmen. Der Ernst der karo- lingischen Reformbestrebungen läßt ebensowenig Resignation vor etwaigen Interessen des Adels, seine Töchter oderWitwen angemessen unterzubrin- gen und zu versorgen, - wie immer wieder zu lesen - als ausreichende Erklä-

rung zur Abfassung der Institcrtio sanctinionialium zu. Die Entwicklung der königlichen monasteria zeigt zudem, daß dies ebenso im Interesse des Kö-

nigs gewesen sein könnte. Wenn man die erleichterte Askese der Kanonissen

sowie die Möglichkeit, eigenen Besitz und eigene Wohnung zu haben und aus der Kommunität wieder ausscheiden zu können, also nicht als Zuge-

ständnis an die menschliche Schwachheit, wie oben zitiert, interpretieren

will, dann muß das 816 als eigene Rechtsform angestrebte Kanonissenstift

zusätzlich zum Stundengebet und Totengedächtnis eine andere, Benedikti-

nerinnenklöstern nicht mögliche Aufgabe im karolingischen Reformpro-

gramm erfüllen. Will man die Reformbemühungen Ludwigs des Frommen - und seines Ratgebers, Benedikt von Aniane - ernstnehmen, und das sollte man wohl, dann muß dem Kanonissenstift analog zu den Aufgaben der Ka-

noniker eine öffentliche Funktion zugedacht gewesen sein. Für das 7. /8. Jahrhundert ist mehrfach bezeugt, daß der adelige Nach-

wuchs, und zwar nicht nur der weibliche, in den unter der Regula mixta le- benden Frauenklöstern erzogen wurde. Die Königin Balthild, Gründerin

und Äbtissin des Klosters Chelles, ließ ihren Sohn Chlotar III. (j 673) eben- dort erziehen, auch ihr Ururenkel Teuderich I\V. ( 737) genoß seine Ausbil- dung in Chelles27. Adela, Gründerin und Äbtissin des Klosters Pfalzel bei Trier, ließ ihren Enkel Gregor, den späteren Utrechter Bischof und Lehrer Liudgers, in ihrem Kloster erziehen. Als der junge Mann 721 zwar die latei-

nische Tischlesung korrekt vortragen konnte, aber von dem als Gast im Klo-

ster weilenden Bonifatius aufgefordert wurde, das Gelesene in seiner Mut- tersprache zusammenzufassen, scheiterte er, was nicht nur einen Einblick

gibt in die Probleme und Sorgen, die den Missionar im fremden Land be-

wegten, sondern auch in die vielleicht nicht nur auf Adelas Enkel zu bezie- henden Defizite lateinischer Laienbildung2S. Die Beispiele klösterlicher Er-

ziehung, auch von späteren Königinnen oder Fürstinnen, zeigen den Einfluß irisch-angelsächsischer Gewohnheiten29, denn der fränkische Adel hatte sei-

27 WEAIPLE (wie Anm. 24) S. 298 Anm. 20. Zu Chelles im übrigen HARTmttrr HoFFaIA. \N, Unter-

suchungen zur karolingischen Annalistik (BonnHistForsch 10) 195S S. 56. Über das Scriptorium des Bildungszentrums Chelles s. BERNHARD Biscitorr, Die Kölner Nonnenhandschriften und das Scriptorium von Chelles (D1: RS., Mittelalterliche Studien 1) 1966 S. 26-32.

28 Liudger, Vita Gregorii abbatis Traiectensis, cd. G. H. PERrz (MGH SS 15) S. 67 f. 29 RosAAMOND McKrrrr. RtcK, Frauen und Schriftlichkeit im Frühmittelalter (Weibliche Le-

bensgestaltung im frühen Mittelalter, hg. von HANS-WFRxER Gorrz) 1991 S. 112-115 mit wei- teren Beispielen. Vgl. auch Dies., The Carolingians and the Written Word. 19S9 S. 212-223.

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ne Kinder bisher offenbar meistens am Hof erzogen. Wenn uns der jetzige, bei weitem nicht befriedigende Forschungsstand nicht täuscht, so ragen im 7. /8. Jahrhundert als Bildungszentren die Frauenklöster Chelles, Farmou-

tier, Notre Dame de Laon, Nivelles und Remiremont heraus, die alle - auch dies sei angesichts der widerstreitenden Meinungen mit Vorbehalt gesagt - der Columban-Waldebert-Regel3Ö folgten. Die weit strengere Cäsarius-Re-

gel für Nonnen verbietet dagegen die Aufnahme von solchen Schülerinnen

ad nutriendum et ad docendum, die nicht auf Dauer im Kloster bleiben woll- ten31. Die karolingischen Reformen greifen diese einschränkenden Maßnah-

men auf: noch unter Karl dem Großen wird allen Frauenkommunitäten die Erziehung von Knaben verboten32, und die Aachener Reformbeschlüsse von 817 verfügen, daß alle nunmehr der Regula Benedicti folgenden Klöster nur noch oblati in die Klosterschulen aufnehmen dürfen33. Das Kloster sollte fortan ein von der Welt abgeschlossener Lebenskreis sein, in dem alle Men-

schen unter einheitlicher Regel und einheitlichem Recht lebten und in dem

nur noch der eigene Nachwuchs erzogen werden sollte. Die Erziehung und Bildung von Laien auch für weltliche Aufgaben war im benediktinischen Klostersystem theoretisch nicht mehr denkbar. Solch »öffentliche« Funktion der bisher vorwiegend irofränkisch ausgerichteten Klöster mußte also, hielt

man sie für notwendig, von anderen übernommen werden. Dafür stand 816/817 offenbar das monasterium der sanctin: oniales canonice viventes, die Institution des Kanonissenstifts, zur Verfügung. Es ist sicherlich kein Zufall, bedürfte aber noch eingehender Untersuchungen, daß sich gerade die her-

30 Vgl. FRIEDRICH PRINZ, Frühes Mönchtum im Frankenreich. 2198S S. 141 ff. - Ebenso Mu-

SCIIIOL (wie Anm. 25) S. 73 f. Andererseits AL&IN DIERKENS, Prolegomenes ii une histoire des rela-

tions culturelles entre les iles Britannique et le continent pendant le Haut Moyen Age (La Neu-

strie, publ. HARTTtuT ATSrtA = Francia Beih. 16,2) 19S9 5.371-394, der den columbanischen Einfluß auf das merowingische Gallien sowie die späteren insularen Beziehungen fürweniger ge-

wichtig hält, im Gegensatz etwa zu ROSAMOND MCürrrERICK, The diffusion of insular culture in

Neustria between 650 and 850 (ebd. S. 395-432).

31 Cesare d'Arles. Queres monastiques 1: (Eueres pour les moniales, t: d. A. DE VOGÜE et J.

COURREAU (Sources ChreUennes 345) 19SS S. 1 S6. - HEIDEBRECIrr / NOLTE (wie Anm. 12) und

nach ihnen SCHILP (ebd. ) haben die Institutio sanctimonialium mit der Cäsarius-Regel vergli-

chen. Engere und vergleichbare Beziehungen wären sicherlich zwischen der Columban- bzw.

auch der '\tWaldebert-Regel und der Institutio festzustellen, was auch deshalb näherliegen würde,

weil viele der später als Stifte zu erkennenden westfränkischen Frauenmonasterien nach diesen

Regeln lebten, vgl. MUSCIIIOL (wie Anm. 25) S. 73 f.

32 803/04 Capitular für Salz (MGH Capit 1,119): Onmino pmhibenurs, ut urdlatenus masaa tun flium auf nepoteöi tel parcntem siunn in nionasterio puellarsan auf nutriendu: n conunendare pracsnmat, nec quisgiiani i11, un sitsciperc andeat.

33 817 Konzil von Aachen (MGH Capit I S. 346): ut scola in nronasterio non habeatur nisi eo- rum qui oblati Bunt.

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18 Irene Crusius

vorragenden Bildungs- und Erziehungszentren Chelles, Nivelles, Farmou-

tier, Fosses letztlich für die kanonikale Lebensweise entschieden haben34. Einhard schildert Karl den Großen als einen Familienpatriarchen, der sei-

ne Großfamilie am liebsten um sich versammelt sah. Infolgedessen erhielten Töchter, Nichten, Enkelinnen wie die Söhne am Hof eine Ausbildung in li- beralibtts st:: diis durch einen baiol:: s oder pedagogtts35 und wurden nicht etwa im Kloster erzogen. Nahegelegen hätte z. B. eine Ausbildung im Königsklo-

ster Chelles, stand ihm doch die hochgebildete Schwester des Kaisers, Gise- la36, vor, die das Kloster zu einem geistigen und politischen Zentrum des Reichs entwickelt hatte, ähnlich wie es im 10. Jahrhundert nur noch Qued- linburg werden sollte. Die Erziehung der karolingischen Prinzessinnen am Hof war offenbar von Erfolg begleitet, was die \V iissensvermittlung, also la-

teinische Bildung, Lesen, vielleicht auch Schreiben betrifft, doch die Erzie- hung zu einer christlichen Lebensführung, die Vermittlung christlich-niora- lischer Prinzipien scheint wenig gefruchtet zu haben. Die Fehltritte der karo- lingischen Prinzessinnen waren ein solches Skandalon, daß Ludwig der Fromme nach dem Tode des Vaters »den ganzen weiblichen Troß, der sehr groß war«, sofort vom Aachener Hof verbannte und in Klöster wies, während ihre Liebhaber mit schweren Strafen belegt wurden37. Noch 15 Jahre später, 829 halten es die Väter des Pariser Konzils für notwendig, in ihren Fürsten-

spiegel die Pflicht des Kaisers zur strengen Erziehung der Prinzen und Prin-

zessinnen aufzunehmen (wie übrigens auch die \\7arnung vor Pol), gamie! )3S. Als Redaktor der Konzilsakten, vielleicht auch als Verfasser ihrer Vorlage

gilt der Bischof von Orleans, Jonas, einer der treuesten Anhänger Ludwigs des Frommen und Sprecher der konservativ-gemäßigten Bischöfe. In seiner

34 Zu Chelles s. oben Anm. 27, sowie ReallcxGermAltkde 4.19S0 Sp. 422-430 (H. ATSatn). - Zu Nivellcs: JEAN J. HOEBANX, L'Abbayc dc Nivclles des origines au XP sicele (wie Anm. 20) S. 171-183. - Zu Farmoutier: A. GALLI, Farmoutiers au Moyen Age (Sainte Fare et Farmoutiers) 1956. Zur Nähe Farmoutiers zur karolingischen Königsfamilie KARL Scw. uD, Religiöses und sippengebundenes Gemeinschaftsbewußtsein (DA 21.1965 S. 49-155). - Zu Fosses: Ai IN DIER-

KENS, Abbayes et Chapitres entre Sambres et Meuse (Francia Beih. 14) 19S5 S. 70-90,293-296, 303-311,321,338.

35 Einhard, Vita Karoli c. 19, cd. O. HOLDER-EGGER (MGH SS rer. Germ) 19I 1 S. 23 ff. 36 Gisela, nach Alcuins Urteil eine jemiua verbipotens, war die enge Beraterin ihres Bruders,

vgl. HorrMANN (wie Anm. 27) S. 56 ff., auch JANET L NELSON, Women and the word (Women

and the Church, cd. W. J. Siieus and D. WooD) 1990 S. 64 f. 37 Anonymi vita Hludowici 21 und 22 (FrhSteinGedAusgabe 5) 1955 5.293/292. 38 Pariser Konzil (MGH Conc. 2,2 S. 678 f. cap. XXV), vgl. dazu Ha_. s HUBERT A,. -roN, Für-

stenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit (BonnHistForsch 32) 196S S. 20S Anm. 349.

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Sanctimoniales quae se canonical vocant 19

bereits erwähnten Schrift De institutione laicali39 handeln drei lange Kapitel über die Pflicht der Eltern, ihre Kinder nach christlichen Grundsätzen zu er- ziehen. Christliche Kindererziehung wird als häuslicher Pastoraldienst ge- wertet, wobei vor allem die Mütter (und Tanten? ) des Adels für die religiöse Grunderziehung der Jugend verantwortlich gemacht werden. Damit erhebt Jonas von Orleans natürlich keine neuen Postulate, stellt aber die Erziehung in den Zusammenhang einer inneren Christianisierung der frühmittelalterli-

chen Gesellschaft. In den letzten Jahren ist das Thema vor allem in der feministischen Litera-

tur ausführlichst, wenn leider auch nicht immer mit Sachkenntnis abgehan- delt worden. Zuletzt hat Cordula Nolte in sehr fundierter Weise die Rolle der Frau in der Christianisierung vom 5. bis B. Jahrhundert untersucht, wo- bei neben den Wirkungsmöglichkeiten christlicher Frauen in heidnischer Ehe und Umwelt auch ihre Erziehungsfunktionen und der Einfluß in der be-

reits christlichen Familie erörtert werden". Merkwürdigerweise fragt aber niemand danach, auch Nolte nicht, woher denn nun diese adeligen Damen ihre Fähigkeiten bezogen, den Kindern nicht nur christliches Verhalten vor- zuleben, sondern ihnen christliches Grundwissen, Psalter, Gebete, Glau- bensinhalte, wenn nicht sogar Lesen und Schreiben beizubringen. Wo hat Dhuoda gelernt, ihre Gedanken lateinisch zu formulieren, so daß sie fähig

war, dem Sohn ihren Liber manualis zu hinterlassen? Woher hat sie ihre weit über den Psalter hinausgehenden Bibelkenntnisse, wo hat sie nicht nur den Donatus, sondern Ovid, Prudentius, Isidor, Gregor den Großen, Augustin

und andere Kirchenväter kennengelernt? Wo hat sie gelernt, grammatische Formeln in ethische Normen ( amo te et amor a te, osculo te et osculor a te, agnosco te et agnoscor a te), altgermanische Rhythmen in lateinische Verse

umzusetzen? 41. Solche Kenntnisse übersteigen sicherlich eine Erziehung im Schoße der adeligen Familie und die Unterweisung durch einen Hauslehrer. Riche vermutet aufgrund von Dhuodas Bildung, daß sie aus dem Gebiet

nördlich der Loire, also aus dem Einzugsbereich der großen westfränkischen

39 MIGNE PL 106.1864 Sp. 279-306. Dazu JoAcI u+t ScitARF, Studien zu Smaragdus und Jonas (DA 17.1961 S. 353-384).

40 CORDLILA NOLTE, Conversio und christianitas. Frauen in der Christianisierung vom 5. bis 8. Jahrhundert (MonogrGMA 41) 1995 S. 179-231. - Genannt werden muß auch der Aufsatz

von JANET L. NELSON, Les femmes et ('evangelisation au Di` siede (RevNord 68.1986 S. 471-485), die die Rolle des Stifts in der Erziehung nicht erkennt, weil sie Kloster- und Stifts- funktionen nicht unterscheidet und aus der Existenz einer Magistra schließt, die karolingische Kirche habe gegen ihre eigene Gesetzgebung der monastischen Frau Erziehungsfunktionen zu- gestanden (5.482 f. ).

41 Dhuoda, Manuel pour mon Pils, ed. PIERRE RIcue (Sources Chretiennes 225) 1975 5.176. Dazu Pr t DRONKE, Women Writers of the Middle Ages. 1984 S. 36-54.

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20 Irene Crusius

monasteria stammt42. Spricht man von der Rolle der ihrem Haus vorstehen- den adeligen Ehefrau und Mutter in der Christianisierung der frühmittel-

alterlichen Gesellschaft, von ihren Verdiensten bei der Verchristlichung der Welt, so wird man die inonasteria nicht vergessen dürfen, denen sie, vermut- lich mehr als wir nachweisen können, ihre christliche Bildung verdankt. Klö-

ster irofränkischen Ursprungs und - seit 816 - Kanonissenstifte bildeten

eben nicht nur ihren eigenen Nachwuchs aus, sondern erlaubten ihren Zög- lingen, »in die Welt« zurückzukehren. Der Christianisierungsprozeß in dem dem Mittelalter wichtigsten Strukturelement, der Familie, wurde ohne Zwei- fel durch die geistliche Erziehung in diesen monasteria gestützt und geför- dert. So wie die irofränkischen Frauenklöster zwischen Seine und Maas Zen- tren einer neuen Spiritualität vor allem für den weiblichen Adel bildeten, so dienten Kanonissenstifte als Stützpunkte einer internen Christianisierung. Wo waren sie nötiger als in den jungen Missionsgebieten? Ist dies die Erklä-

rung dafür, daß in Sachsen etwa 55 Kanonissenstifte vom Ende des B. bis

zum Ende des 11. Jahrhunderts gegründet wurden, mehr als irgendwo sonst im Reich43>

Die bisherige Literatur hat für die einzigartige Gründungswelle, wenn überhaupt, nur wenig befriedigende Erklärungen gegeben. Leyser bietet so- ziale Gründe an: Versorgung und Schutz unverheirateter Töchter und xX it- wen, Einschränkung von Promiskuität und Kindstötung, dazu herrschafts-

politische Ursachen: Konzentration und Kontinuität von Landbesitz statt ständig wiederkehrender Erbteilung. »Der Drang Nonnen(! )klöster zu grün- den ... war die Antwort einer auf die Sicherung der eigenen Existenz be- dachten aristokratischen Kaste angesichts ihrer immer wiederkehrenden Ge- fährdung«". Parisse konstatiert ebenfalls »eher gesellschaftliche als religiöse Beweggründe« und meint die Ursache in einer größeren Exklusivität des sächsischen Adels zu finden. Ohne den von Leyser angeführten Nutzen 45

41 Dhuoda, Manuel (wie Anm. 41) S. 37. 43 Dem stehen in Sachsen im gleichen Zeitraum etwa 5 Benediktinerinnenklöster sowie ca. 40

Kanonikerstifte und 25 Benediktinerklöster gegenüber, wobei diese undifferenzierte Statistik

nur die (oft genug nur vage einzuschätzende) Gründungssituation berücksichtigt. Trotzdem läßt

sich sagen, daß eine von SUZANNE F. WEMPLE (wie Anm. 24) S. 156 und Jr AXTIBBETrS SCIIULEN-

BURG, Women's monastic communities 500-1100: Patterns of expansion and decline (SIGNS 14,1.1988/89) für Frankreich, Belgien und England festgestellte -gender-based pattern of mo- nastic asymmetry« mindestens für Sachsen nicht zutrifft, es aber auch kein Übergewicht von rno- nasteria für Frauen gibt, wie manche Darstellungen zu suggerieren scheinen.

44 KARL J. LEYSER, Herrschaft und Konflikt. König und Adel im ottonischen Sachsen (Ver- öffMPIG 76) 1984 S. 107 f., 122.

45 MICHEL PARISSE, Die Frauenstifte und Frauenklöster in Sachsen vom 10. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts (Die Salier und das Reich, hg. v. S1ErAx %'Ehrt: xrzR 2) 1991 S. 4S4. Auch

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Sanctimoniales quae se canonicas vocant 21

von Stiftsgründungen leugnen zu wollen - eine Erklärung, warum die Insti- tution des Kanonissenstifts sich ausgerechnet in Sachsen solcher Beliebtheit erfreut, scheint mir darin nicht zu liegen. Schutz und Versorgung von Töch- tern und Witwen müßte ja auch im Interesse des übrigen Reichsadels gelegen haben.

Stattdessen ist es in diesem Zusammenhang vielleicht von Bedeutung, daß Hrotsvitha die Gründung von Gandersheim auf die Erscheinung des Täu- fers (! ) Johannes zurückführt, was möglicherweise den oben angesprochenen Missionszusammenhang assoziiert. Johannes der Täufer sei Aeda, der Ge- mahlin Herzog Billungs und späteren Äbtissin von Herford, erschienen und habe ihr die Gründung eines Frauenklosters und den königlichen Ring ihrer Nachkommen prophezeit. Gandersheim sei dann von Aedas Tochter Oda und Graf Liudolf gestiftet worden, und Aeda habe als Herforder Äbtissin ih- re Enkelin Hathumod in Herford zur ersten Äbtissin von Gandersheim er- zogen46. Die vier jüngeren Schwestern der Hathumod wachsen bereits in Gandersheim auf, zwei von ihnen heirateten später. Auch die Mutter Oda weilt als Witwe, wie ihre Mutter, im Stift47. Das uns bereits aus westfränki- schen Klöstern des 7. /S. Jahrhunderts vertraute Muster: Äbtissin-Mutter oder -Großmutter erzieht Tochter oder Enkelin im Kloster48 wiederholt sich in der nächsten Generation: auch die spätere Königin Mathilde, Gründerin von Quedlinburg und Nordhausen, wird in Herford von ihrer gleichnamigen Großmutter erzogen und übt als Witwe ähnliche Aufgaben in Quedlinburg aus49 wie Oda in Gandersheim und Aeda in Herford. Die Stammütter des liudolfingisch-ottonischen Geschlechts als christliche Erzieherinnen und Traditionsträger - nicht zufällig gelten sie wie ihre westfränkischen Vorgän- gerinnen als heilig: sancta mater, sancta genitrix50.

Die beiden Viten der Königin Mathilde begründen im übrigen die Ver- legung des Stifts Wendhausen nach Quedlinburg als auch die Gründung des Stifts Nordhausen nicht nur mit der Sorge um Wohlergehen und Seelenheil

DERS., Les Chanoinesses dans ('Europe Germanique (IX`-XI` siecles) (Francia 6.1978 S. 107-126) und DERS., Les femmes au monastere dans le Nord de l'Allemagne du IX` au XIe siecle (Frauen in Spätantike und Frühmittelalter, hg. v. \V AFFELDT) 1990 S. 311-324.

16 Hrotsvitha, Primordia coenobii Gandeshemensis (MGH SS in us. schol. 1902) S. 229 ff. {' GOETrING, Gandersheim (wie Anm. 16) S. 2S9-291,375. 41 Vgl. NOLTE, Conversio (wie Anm. 40) S. 263-278. 49 Vita Mathildis reginae posterior Cap. 2 (Die Lebensbeschreibungen der Königin Mathilde,

hg. von BERND ScII(h rE = MGH SS rerGerm 66) 1994 S. 150. so PATRICK CORBET, Les saints ottoniens. Saintete dynastique, saintete royal and saintete fe-

minine autour de I'an Mil (Francia Beih 15) 1986, der allerdings den Akzent auf die Memorial- funktion setzt. ROBERT Folz, Les saintes reines du Moyen Age en Occident (VI`-XIII` siecles) (Subsidia Hagiographica 76) Brüssel 1992.

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22 Irene Crusius

der liudolfingischen Familie, mit der Memoria, sondern auch mit der Sorge

um die Erziehung der adeligen Mädchen. Kurz vor ihrem Tod besuchte die Königin das Stift Nordhausen, um »emsig zu erforschen, welchen Unterricht jede (p:: ella) erhielt. Denn seitdem sie das monasterzum gegründet, hatte sie die Gewohnheit, die Schule zu besuchen und das Studium jeder einzelnen zu prüfen, weil sie am liebsten den Fortschritt jedes Mädchens sehen und hören

wollte«51. Wie auch immer man die Darstellungsabsicht der beiden Viten deutet, ob als ottonische Hausüberlieferung, Memorialzeugnis, Heiligenvita

oder als Mittel zur Existenzsicherung52, ihr exempelhafter Charakter dürfte

ein schwerwiegendes Argument für die Erziehungsfunktion von Kanonissen-

stiften sein. Die Skepsis mancher Autoren in diesem Punkt - selbst die 1994

erschienene Edition der Vitae Mathildis kommentiert die oben zitierte sdiola als bloße Singschule53 - ist sicherlich nicht gerechtfertigt, wenn man das an- gestrebte Erziehungsziel und die dafür nötigen Erziehungsinhalte in Augen-

schein nimmt, wie ich es für das frühe Mittelalter zu skizzieren versucht habe.

Und zusätzlich soll wenigstens hingewiesen werden auf die beachtlichen Anforderungen, die der Frau am königlichen Hof oder auf der adeligen Burg

abverlangt wurden: sie war für die gesamte Versorgung des Hauses, für das Finanzwesen und die Oberaufsicht über abhängige \Virtschaftshöfe verant- wortlich54. Auch solche Managerfähigkeiten waren in Kanonissenstiften, die ja riesige Wirtschaftsbetriebe sein konnten, gut zu erlernen. Auch sollte die Unterweisung in »Handarbeiten«, wie sie dem adeligen Stand der Damen

angemessen war, nicht vergessen werden. Dieser Tätigkeit verdanken wir überlieferte Stickereien, geknüpfte und gewirkte Teppiche und anderes, die jetzt allmählich sowohl von Kunsthistorikern als textile Kunstwerke wie von Historikern als Bildquellen gewürdigt werden'. Vor allem die aus sächsi-

51 Vita Mathildis reginae posterior (wie Anm. 49) S. 193 Cap. 23. 5z GERD ALTiIOFF, Causa scribendi und Darstellungsabsicht: Die Lebensbeschreibungen der

Königin Mathilde und andere Beispiele (Litterae Medii Aevi. Festschrift für johanne Autenrieth, hg. V. M. BORGOLTE und H. SPILLING) 1988 S. 117-133. - BERND SCHÜTTE, Untersuchungen zu den Lebensbeschreibungen der Königin Mathilde (MGH StudTexte 9)1994. - PATRICK CoRnET (wie Anm. 50).

51 Vita Mathildis reginne posterior (wie Anm. 49) S. 193 Anm. 199. 54 Vgl. WERNER RÖSENER, Die höfische Frau im Hochmittelalter (Curialitas. Studien zu

Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur, hg. v. J. FLECKENSTEIN = VeröffMPIG 100) 1990 5.211-214.

55 Auf kunsthistorischer Seite hat dafür große Verdienste LEONIE VON NWILCKE. NS, Die textilen Künste von der Spätantike bis um 1500.1991. - Speziell zum QuedlinburgerTeppich DiEs., The Quedlinburg Carpet (HALI 65.1992 S. 96-105). - DºEs., Der Hochzeitsteppich in Quedlinburg (NiederdtBeitrrKunstG 34.1995 S. 27-40). - Dirs., Textilien im Blickfeld des Braunschweiger

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schen Frauenstiften und -klöstern stammenden Teppiche können durch ihr Bildprogramm Zeugnis geben von Bildung, Lektüre und Mentalität ihrer Schöpferinnen. Als Beispiel sei genannt der große Quedlinburger Knüpftep- pich vom Ende des 12. Jahrhunderts, auf dem die Hochzeit der Philologia

mit Merkur nach Martianus Capella dargestellt ist, was zum einen zeigt, daß dieses im Mittelalter weit verbreitete Lehrbuch des spätantiken »founder of the trivium and quadrivium in medieval education«56 auch den Quedlin- burger Kanonissen vertraut war. Die Darstellung, soweit sie aus den überlie- ferten fünf Fragmenten zu rekonstruieren ist, weicht allerdings nicht unwe- sentlich von der mythologischen Erzählung des Martianus Capella ab, wie Johanna Flemming festgestellt hat. Sie hält die Bilderfolge für eine »dichteri- sche Neuschöpfung unter Verwendung einzelner Motive aus der spätantiken Vorlage« und meint: »die Bilderfolge

... zeigt im Bilde der mythologischen Hochzeit ...

das Glück und die Erfüllung, die der höhere Unterricht im Stift und das Leben als Kanonisse im Konvent gewähren«57. Aufgrund von Mar- tianus-Kommentaren aus den Schulen von Chartres und Paris möchte Leo- nie von Wilckens die Darstellung als Metapher für die Hochzeit von »Spon- sus und Sponsa im Hohen Lied und damit von Christus und Maria/Ecclesia« interpretieren und deutet den Zweck des Teppichs als Hochzeitsteppich, auf dem die »Frauen des Stifts« ihre Hochzeit mit Christus vollzogen58. Ganz abgesehen davon, daß dieser Teppich nicht in einem Kloster, sondern in ei- nem Stift lag, wo die Kanonissen keine Gelübde ablegten, so ist Johanna Flemming insofern zuzustimmen, als die Merkurhochzeit hier weniger my- thologisch, nicht im Götterhimmel, sondern in der Gegenwart des 12. Jahr- hunderts mit den dort üblichen Zeremonien: Brautwerbung, Ehegelöbnis, Zuführung der Braut, Ehebett dargestellt ist. Aber vielleicht darf man wenig- stens die (ketzerische) Frage stellen, ob diese Darstellung in einem Stift, das man zwecks Heirat auch wieder verlassen konnte, nicht ebenso die sehr irdi- schen Gedanken und Wünsche der jungen Frauen widerspiegelt, die hier ausgebildet wurden?

Bei der allgemein schlechten Quellenüberlieferung aus Frauenstiften und -klöstern ist immer noch schwer abzuschätzen und in der Forschung umstrit-

Hofes (Heinrich der Löwe und seine Zeit, hg. von J. LUCKIIARDT und F. NIEHOFF 2) 1995 S. 298 f.

nennt weitere Teppiche aus dem sächsischen Raum, u. a. aus dem Kanonissenstift Gerbstedt mit antik-christlichen Darstellungen.

ss WILLIAM H. STAHL, To a better understanding of Martianus Capella (Speculum 40.1965 S. 102).

57 JOHANNA FLEAtstING, Der spätromanische Bildteppich der Quedlinburger Äbtissin Agnes (Sachsen und Anhalt 19 = Festschrift für Ernst Schubert 1997 5.532,541).

Se WILCKENs, Hochzeitsteppich (wie Anm. 55) S. 31-35.

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24 Irene Crusius

ten, wie weit der Unterricht über lateinische Grundkenntnisse zum Verste- hen des Psalters und der übrigen Liturgie hinausging. Doch allein die Werke der Hrotsvitha von Gandersheim offenbaren eine antik-christliche Bildung

auf hohem Niveau. Nur durch sie sind wir über Inhalt und Qualität der Er-

ziehung im Gandersheimer Stift unterrichtet. Daß dies kein Einzelfall ist,

zeigen die fortschreitenden kodikologischen Untersuchungen zu Bibliothe- ken und Scriptorien von Frauenstiften und -klöstern59. Es sollte zudem zu denken geben, durch welche Zufälligkeiten die 'WWerke der Hrotsvitha auf uns gekommen sind"". Im übrigen wird man sich angesichts der vielgerühm- ten lateinischen Bildung der liudolfingischen Frauen und Prinzessinnen des

sächsischen und bayerischen Zweigs61, ob sie nun verheiratet oder geist- lichen Standes waren, unsere für das 9. /10. Jahrhundert ziemlich dürftigen Personallisten der Stifte vielleicht etwas aufgefüllt vorstellen dürfen, auch wenn die Quellen über die Ausbildung dieser Damen schweigen.

Die öffentliche Funktion des Kanonissenstifts, seine Offenheit und seine Kontakte zu Kaiser, Königen und Adel bewirken zudem, daß diese Instituti-

on zentrale und zentrierende Funktionen übernimmt, sowohl kultureller wie politischer Art. Hatte der Ruf des Klosters Chelles bereits im S. Jahrhundert

selbst angelsächsische Mädchen in westfränkische Klöster geholt=, so blüh-

te es unter der Leitung von Gisela, der Schwester Karls des Großen, zu ei- nem der bedeutendsten Bildungs- und Kunstzentren des Karolingerreichs

auf. Sein Scriptorium, an dem nach angelsächsischem Vorbild offenbar auch Frauen beschäftigt waren, schrieb nicht nur die hauseigene Überlieferung,

sondern lieferte auch die offizielle Annalistik des Hofs, wobei die Beziehun-

gen Giselas zum Kaiser und vielen Notablen des Reichs das Kloster zu »ei- ner Nachrichtenzentrale ersten Ranges« 63 erhob. 150 Jahre später ergab sich eine ähnliche Situation für die Stifte Quedlinburg und Nordhausen, die, in

nächster Nähe zu königlichen Pfalzen gelegen, unmittelbar am politischen

59 Hier müssen wiederum BERNHARD B1sciloFFs Arbeiten (wie Anm. 27) über Chelles und Es-

sen (AnnHistNdRh 157.1955 S. 191-194) zuerst genannt werden; sowie HART'rur HOIFM. A\N, (wie Anm. 27); DERS., Buchkunst und Königtum im ottonischen und frühsalisehen Reich. 1956; DERS., Das Scriptorium von Essen in ottonischer und frühsalischer Zeit (Kunst im Zeitalter der Kaiserin Theophanu, hg. v. ANTON VAN Euw und PETER SCHREINER) 1993 5.113-153. RosxsloND MCKIrrERICK, Frauen und Schriftlichkeit (wie Anm. 29) S. 65-11 S hat den Forschungsstand zu- sammengefaßt und weitergeführt.

60 Dazu HANS GOETTING, Das Überlieferungsschicksal von Hrotsvits Primordia (Festschrift für H. Heimpel 3= VeröffMPIG 36,3) 1972 S. 61-105.

61 HERBERT GRUNDDIANN, Die Frauen und die Literatur im Mittelalter (H. GRUNDatKN%, Aus-

gewählte Aufsätze 3- SchrrMGH 25,3) 1978 S. 71 f. 62 BEDA, Historia ecclesiastica IV, 23 (21) und 11I, S nach Hornau-. N (wie Anm. 27) S. 56 f. 63 Ebd. S. 57.

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Sanctimoniales quae se canonicas vocant 25

Geschehen und an der Präsentation des Kaisertums mitwirkten64, und zwar mit weit höherem Rang als die mit Kanonikern besetzten Pfalzstifte anders- wo. Das königliche Kanonissenstift war Residenz königlicher Frauen. Die Äbtissinnen von Gandersheim, Quedlinburg, Essen u. a. hatten Reichsfür-

stenrang, wobei das sei-vitium regis auch die Begleitung des Königs u. U. nach Italien beinhalten konnte6s. Bei den königlichen Festkrönungen schritten die Äbtissinnen in der Prozession neben der Königin, auch wenn sie nicht könig- lichen Geblüts waren66. mährend der italienischen Aufenthalte des Kaisers

oder während der Unmündigkeit Ottos III. verkörperten Königin Mathilde, Kaiserin Theophanu und die Quedlinburger Äbtissin Mathilde als Großmut- ter, Mutter und Tante des Königs die Reichsherrschaft. Die Äbtissin amtier- te als matricia, als Reichsverweserin, patriam con servaverit, adiuverit et auxe- rit; die Sarginschrift nennt sie außerdem abbatissa metropolitan: ab7. Das Stift,

nicht die Pfalz war in diesen Fällen Herrschaftsmittelpunkt des Reichs. Die Feier des höchsten kirchlichen Festes, Ostern, in Quedlinburg hatte für die Königsherrschaft 200 Jahre lang eine legitimierende Wirkung63.

Das Stift hielt den Anspruch auf eine öffentliche Funktion im Rahmen der Königsherrschaft auch noch im 12. /13. Jahrhundert aufrecht, als sich die Beziehungen zum Königtum gelockert hatten. Als Bildzeugnis dafür könnte

wiederum der oben genannte Knüpfteppich dienen, der - unabhängig von der Erzählung des Martianus Capella - in der ersten Bildzeile zwei thronen-

64 Aus den zahlreichen Veröffentlichungen sei hier nur die neueste Literatur genannt: Gerd ALTHOFF, Gandersheim und Quedlinburg. Ottonische Frauenklöster als Herrschafts- und Über- lieferungszentren (FrühMAStud 25.1991 S. 123-144). - JOSEF FLECKENSTEIN, Pfalz und Stift Quedlinburg. Zum Problem ihrer Zuordnung unter den Ottonen (NachrrAkad Göttingen Phil- HistKl 1992 S. 3-15). - ULRICH REUUNG, Quedlinburg. Königspfalz - Reichsstift - Markt (Deutsche Königspfalzen 4, hg. von LUTZ FENSKE = VeröffMPIG 11/4) 1996 S. 184-247. - Mr

CIIAEL GOCKEL, Art. Nordhausen (Die deutschen Königspfalzen. Repertorium 2: Thüringen) 1991 S. 319-385.

65 ALTIioFF (wie Anm. 64) S. 133.

66 Auf dem von Walter von der Vogelweide besungenen großen Hoftag zu Weihnachten 1199 in Magdeburg schreitet die Äbtissin Agnes 11. neben der Königin Irene-Marie, der griechischen Kaisertochter, vgl. EDUARD WINKELMANN, Philipp von Schwaben und Otto IV. von Braun-

schweig 1.1873, Nachdruck 1963 S. 150. Agnes wird in der Literatur überwiegend als erste bzw.

zweite Äbtissin, die nicht aus königlichem Geschlecht stammt, angesehen. Dagegen allerdings HORS-r GAISER, Orta de stemmate regali Friderici ... Zur ottonisch-salischen Abstammung der QuedlinburgerÄbtissinnen (Zs\\7ürttLdG 40 1981/S2 S. 221-229).

67 Zur Äbtissin Mathilde ECKHARD FREISE, Art. Mathilde (NDB 16) 1990 S. 376-378 sowie REULING (wie Anm. 64) S. 225-229.

68 Die Gegenkönige Rudolf von Rheinfelden und Hermann von Salm sowie der gegen seinen Vater rebellierende Heinrich V. haben in Quedlinburg Ostern gefeiert, offenbar um ihren Herr-

schaftsanspruch zu dokumentieren, vgl. REULING (wie Anm. 64) S. 217,219.

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26 Irene Crusius

de Gestalten: Imperium und Sacerdotium, umgeben von den vier Kardinaltu-

genden und zwischen ihnen die sich umarmenden Herrschertugenden Pietas

und lustitia zeigt. Der Teppich ist um die Wende des 12. /13. Jahrhunderts

unter der Äbtissin Agnes II. von Meißen (1184-1203) angefertigt worden, al- so mitten im staufisch-welfischen Thronstreit, in dem das Stift Philipp von Schwaben unterstützte und mitten im umkämpften Gebiet lag: Nordhausen

wurde von dem Welfen Otto weitgehend zerstört, Goslar mehrmals bela-

gert69, der Halberstädter Bischof entschied sich für Philipp, der Hildeshei-

mer Bischof für Otto. Das Stift konnte dem Staufer in diesen unruhigen Kriegsjahren Unterkunft bieten in unmittelbarer Nähe zu den welfischen Zentren Braunschweig und der Harzburg. Möglich (doch nicht belegt) wäre ein Aufenthalt Philipps um die Jahreswende (Weihnachten? ) 1195/99, als er Goslar zur Hilfe eilte, aber auch 1199 vor oder nach dem großen Hoftag in Magdeburg. 1207 hat sich Philipp nachweislich mehrere Tage in Quedlin- burg aufgehalten70. Berücksichtigt man also die historische Situation, in der der Quedlinburger Teppich angefertigt wurde, sowie seine zentrale Funktion in der Stiftskirche - mit seinen Ausmaßen 7.00 x 5.40 m bedeckte er an hohen

Festtagen den Boden fast des gesamten Chors vordem Hochaltar71-, so wird man schließen müssen, daß diese Bilder nicht nur als »speailum urorale« für die Kanonissen gedacht waren, wie Johanna Flemming meint72. Ganz abge- sehen von der politischen Bedeutung dieser Darstellung von Imperium und Sacerdotium, auf die hier nicht eingegangen werden kann, wird man in unse- rem Zusammenhang feststellen dürfen, daß das Stift Quedlinburg auch im

12. /13. Jahrhundert noch das Recht und die Pflicht beanspruchte, vor dem König (und dem Bischof? ) Herrschaftsethos anzumahnen und als geistlich- ethische Instanz im Rahmen der Königsherrschaft zu wirken, ähnlich wie es dies bereits in ottonischer Zeit getan hatte73. Auf Dauer jedoch gilt für die Kanonissenstifte wie für ihr männliches Pendant, das Kanonikerstift, daß die »Distanz zum Königtum - parallel zur allgemeinen Territorialisierung - zunahm«74.

69 WINKELMANN (wie Anm. 66) S. 140 f.

70 Reg. Imp. 5 S. 1O, Nr. 226; S. 14 Nr. 33: die Äbtissin Agnes könnte auf diese WW'eise in Beglei-

tung der Königin nach Magdeburg gereist sein. - Ebd. S. 46 Nr. 160-163. 71 Undatierte Urkunde der Äbtissin Agnes II.:... ei tapele ante summum altare sanuis fideliter

obtitlimtts (UBEichsfeld 1, hg. von ALOYS SChIMIDT = GQProvSaehsenAnhalt NR 13) 1933 Nr. 165 S. 96.

72 FLEMMING (wie Anm. 57) S. 549. 73 ALTIIOFF (wie Anm. 64) 5.142 ff. betont die Herrscherkritik und -mahnung in den Quedlin.

burger Annalen. 74 Mom w, Typologie (wie Anm. 22) S. 26.

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Sanctimoniales quae se canonicas vocant 27

Für die öffentlichen Funktionen der Institution Kanonissenstift ist das kö- nigliche Stift Quedlinburg aber nur ein, freilich herausragendes Beispiel von vielen. Man wird davon ausgehen dürfen, daß Kanonissenstifte auf dem Ni- veau adeliger Herrschaft vergleichbare Mittelpunktsfunktionen erfüllt ha- ben, ja daß die so zahlreichen sächsischen Gründungen überhaupt die eigen- ständige Formierung und Zentrierung von Adelsherrschaft anzeigen, ist hier doch der Wohnsitz, die adelige Burg als Zentrum in den meisten Fällen erst wesentlich später zu erfassen'. Ob die von Last und Kohl zu den Kanonis- senstiften in Beziehung gebrachten Burgwälle im Innern überhaupt längerfri- stig besiedelt waren, ist offenbar noch zu beweisen76. Die neuen Stiftskir- chen dienten als Stifter- und Familiengrablege. Das von der Frauenkom- munität gewährleistete Totengedenken, aber auch das Gebet für die Aktivi- täten der Lebenden war konstitutives Element des Familienbewußtseins, wo- bei zu fragen ist, ob die primär monastische Aufgabe der Memoria vielleicht deshalb einer kanonikalen Frauengemeinschaft anvertraut wurde, weil sie dort einen öffentlicheren Charakter, eine breitere öffentliche Wirkung hatte als in einem Kloster. Dienten die unter Umständen aufwendigen öffentlichen Totenoffizien der Markierung eines Herrschaftsbereichs, wie die weit und unter Opfern und Mühen hergeholten Reliquien seiner Sicherung? Die Par- allele zum Kanonikerstift ist evident: so wie z. B. die Konradiner ihre Stifts- gründungen an der Lahn77 als Mittel der Herrschaftssicherung einsetzten, so dienten auch Kanonissenstifte diesem Zweck - erstaunlicherweise, denn Stiftsherren sind außer für die Memoria immerhin einsetzbar für Pfarrseel- sorge, Verwaltung und Diplomatie.

Die auffallend zahlreichen Reliquientranslationen7' aus Rom oder west- fränkischem Gebiet zeigen im übrigen die Konkurrenzsituation der adeligen Herrschaftsbereiche an: nur die alten, authentischen Reliquien gewähren wirkungsvollen Schutz und wirken Wunder, weshalb kein adeliger Stifter sie entbehren kann. Wie sehr Nachahmung und Konkurrenz die zahlreichen

73 KARL SCHMID, Zur Problematik von Familie, Sippe und Geschlecht, Haus und Dynastie beim mittelalterlichen Adel (ZGO 105.1957 S. 31 ff. ) - Dazu auch MARTIN LAsT, Zur Erfor- schung frühmittelalterlicher Burgwälle in Nordwestdeutschland (NdsächsJb 40.1968 S. 31-60, besonders S. 58 f. ). - GERHARD STREICH, Burg und Kirche während des deutschen Mittelalters (VortrrForsch Sonderband 29,1) 19S4 S. 125-137,327-343.

76 MARTIN LAST, Zur Einrichtung geistlicher Konvente in Sachsen während des frühen Mittel- alters (FrühMAStud 4.1970 S. 342-344). - KohL, Typologie (wie Anm. 15) S. 115-119.

77 WOLF HEINO STRUCK, Die Stiftsgründungen der Konradiner im Gebiet der mittleren Lahn (RheinVjbll 36.1972 S. 2S-52). - PETER Moit s, Hessische Stiftskirchen im Mittelalter (Arch- Dipl 23.1977 S. 425-45S).

78 KLEMENS HONSELMMANN, Reliquientranslationen nach Sachsen (Das ersteJahrtausend 1, hg. von VICTOR H. ELBERN) 1964 S. 159-193.

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sächsischen Stiftsgründungen bewirkt haben mögen, lassen die Germania Sacra-Bearbeitungen Freckenhorst und Herzebrock, vielleicht auch Lies- born erkennen, die diese Kanonissenstifte dem Verwandtenkreis der Ekber-

tiner zuweisen79. Für die billungischen Gründungen Herford, Vreden, Mete- len, Borghorst, Kemnade, MöllenbeckS° gilt sicherlich Gleiches: sie alle die-

nen der Herrschaftsverdichtung. Selbst Bischof Altfrids Aktivitäten in Essen

und Gandersheim (? ) sind offenbar nicht in erster Linie im Interesse des Bis-

tums Hildesheim, sondern im eigenkirchlichen Interesse seiner Familie zu in-

terpretieren, was erst seine Amtsnachfolger zu Gunsten Hildesheims aus- zunutzen versuchten81. Das Selbstverständnis der Bischöfe als Angehörige ihrer Familie läßt sich ebenso bei der Gründung von Borghorst` nachwei- sen. Insofern ist die relativ hohe Anzahl von Kanonissenstiften in Sachsen

nur bedingt aus der Struktur des sächsischen Adels zu erklären. Aber sicher- lich sind Versorgung und Schutz der adeligen Frauen, Kindstötungen und Promiskuität im sächsischen Adel nicht die primären Motive bzw. Ursachen

zur Gründung dieser Institutionen, wie Leysers Darstellung postuliert und wie es die angelsächsische Forschung weitgehend von ihm übernommen hat. 83. Die Funktion des Kanonissenstifts als Zentrum adeliger Herrschaft läßt die Bearbeitung weiterer Stifte (z. B. im Rahmen der Germania Sacra)

auch für die allgemeine Forschung wünschenswert und dringlich erscheinen, nicht nur um die noch weitgehend ins Dunkel gehüllten sächsischen Herr-

79 KoiiL, Typologie (wie Anm. 15) S. 123 ff.; KLUEn. c, Herzebrock (wie Anm. 16) S. 51. - WILI[ELM Koh L, Die Gründer des Klosters Liesborn (An Ems und Lippe 19S1 S. 76-SO); dage-

gen MÜLLER, Liesborn (wie Anm. 16) S. 63-70.

80 GERD ALTIIOI'F, Das Nekrolog von Borghorst (Westfälische Gedenkbücher und Nekro- logien I= VeröffHistKomWestf 40) 1978 S. 264 ff.

81 TnoMns SCHILT, Die Gründungsurkunde der Frauenkommunität Essen (in diesem Band S. 153 ff., 164). - DERS., Norm (wie Anm. 12) S. 150 ff. - CASPAR EIILERS, Gandersheim (Reper-

torium Königspfalzcn: Niedersachsen 1) 2000 S. 259 f., der die Beteiligung Altfrids an der Grün- dung von Gandersheim in Frage stellt gegen HANS GOETTINC, Die Anfänge des Reichsstifts Gan- dersheim (Braunschweigtb 31.1950 S. 40 ff. ).

82 ALTIIOFF, Nekrolog (wie Anm. 80) S. 266 f. 83 Die englische Fassung 'Rule and Conflict in an Early Mediaeval Society. ist 1979 erschie-

nen. Seine Thesen übernommen hat u. a. Suzanne F. \Vesurtr, Female Monasticism in Italy and its Comparison with France and Germany from the Ninth through the Eleventh Century (Frau-

en in Spätantike und Frühmittelalter, hg. von W. AFFCLDT) 1990 S. 291-310, wozu schon JANrr L. NELSON (ebd. 5.328 f. ) kritische Fragen stellte. Auch ROS. ON'D McKXTTERICK, Women in

the Ottonian Church (Women in the Church, ed. W. J. SIIULs and D. Wooo - Studies in Church History 27) 1990 S. 98 wendet gegen Leyser ein: . The huge numbers of religious foun- dations for women is above all a religious response of a particular kind as well as a social one.. Im übrigen ist eine Rezeption deutscher Literatur zum Thema Kanonissenstift in der angelsäch- sischen Forschung erst in jüngster Zeit zu beobachten.

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Sanctimoniales quae se canonicas vocant 29

schaftsverhältnisse im 9. /10. Jahrhundert durchsichtiger zu machen, son- dern auch weil die weitere Entwicklung der Stifte unter königlichem, bi-

schöflichem oder schließlich päpstlichem Schutz sowie die Entwicklung vom adeligen Eigenstift zur adeligen Vogtei die Veränderungen im politischen Kräftespiel und im Selbstbewußtsein des Adels spiegeln.

Der Titel dieses Aufsatzes Sanctimoniales guae se canonicas vocant - ein Zitat aus den Akten des Konzils von Chalons-sur-Saune 8135 - ist mit Be- dacht gewählt, auch, daß ich die hier zur Diskussion stehenden monasteria oder ecclesiae nach dem Erlaß der institutio sanctimonialium 816 als Kano-

nissenstifte bezeichnet habe, obwohl wir in den meisten Fällen nicht wissen, wie lange sie die Ordnung der alten Klöster beibehielten oder wann für wel- che Regel sie sich entschieden. Ich gestehe, daß ich damit ein Gegengewicht

setzen wollte gegen die benediktinisch gefärbte monastische Brille, mit der diese monasteria vielfach auch noch in der aktuellen Forschungsdiskussion betrachtet werden. In der Literatur, auch in den Germania Sacra-Bänden,

werden sie meistens, in schlichter Übersetzung der Quellenterminologie

»Klöster« genannt, ohne daß damit die benediktinische Observanz gemeint ist, und auch wenn kanonikale Lebensformen festgestellt werden". Das

weckt nun aber entweder falsche Assoziationen oder hat zur Folge, daß die Verschiedenartigkeit der Institutionen Kanonissenstift und Benediktinerin-

nenkloster in der allgemeinen historischen Fachliteratur kaum wahrgenom- men, das Kanonissenstift vergessen oder als verderbtes Kloster der Erwäh-

nung nicht für würdig befunden wird. Damit ist es also in ähnlicher Lage

wie vor zwanzig bis dreißig Jahren noch das Kanonikerstift. Man erlebt so manche Überraschungen

- und ich greife wahllos nur einige Lesefrüchte her-

aus: die fehlende Unterscheidung von Kloster und Stift führt z. B. in ein- schlägigen Darstellungen über mittelalterliche Bildung dazu, daß neben Domschulen (episcopal schools) nur Klosterschulen erwähnt werden87. Die

amerikanische und englische Frauenliteratur neigt dazu, die geistliche Frau

84 MGH Conc 2,1 S. 284 can. 53. as Im Gegensatz zur französischen Sprache, in der yeglise eollegiale« sowohl Männer- wie

Frauenstift meint, ist im Deutschen der Terminus . Kollegiatstift« nur für das Männerstift üb- lich.

B6 In den einschlägigen Handbüchern, z. B. H. E. FEI'E, Kirchliche Rechtsgeschichte. 51972; Handbuch der Kirchengeschichte 3,1, hg. von H. JEDIx. 1966 u. a. wird das Kanonissenstift nur als Anhängsel des Kanonikerstifts behandelt. - Bei M. BORGOLTE, Die mittelalterliche Kirche (Enzyklopädie deutscher Geschichte 17) 1992 findet es überhaupt keine Erwähnung.

SI Z. B. PIERRE Riciii, Recherches sur l'instruction des laia du IX` au XII` sii Iles (Cahiers de

civilisation mcdi6vale 5.1962) S. 17S, sieht zur Klosterschule Leine Alternative. Ebenso nicht bei Ros soND McKrrrERICK, The Carolingians and the written word. 19S9 S. 220-223, auch nicht in ihrem Abschnitt Tihe role of women in Carolingian cdueation< 5.223-227.

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30 Irene Crusius

nur als Nonne zu sehen, wobei sie vor allem von dem Bild geprägt wurde, das Leyser vermittelt hat, der die sächsischen Kanonissenstifte als »Nonnen- klöster« bezeichnete, ohne ihren speziellen Charakter hervorzuheben". Er-

staunlich auch, daß im Rahmen der Helvetia Sacra zwar ein umfangreicher Band Kanonikerstifte publiziert worden ist, aber kein Band oder Kapitel über Kanonissenstifte. Die Begründung: »Es handelt sich bei diesen Institu- tionen um Randerscheinungen des regulierten (! ) Chorfrauentums, die sich im Zusammenhang mit den Augustinerinnen historisch viel besser würdigen lassen«89. Das berühmte Zürcher Fraumünster findet man nun aber im Band Benediktinerinnen ohne Begründung der Zuordnung`. Säckingen, Casiz, Mistail (nicht dagegen Lindau) muß man in den Benediktinerbänden suchen, in denen es eine Unter(! )abteilung 'Frühe Klöster' gibt, worin die eben nicht benediktinisch ausgerichteten ntonasteria abgehandelt werden91. Während den Kanonikerstiften also ihre vielfach »unklare« Vorgeschichte

verziehen wird, soll es Kanonissenstifte offenbar möglichst nicht geben in der Schweiz?

Dies ist also mein Ansatzpunkt, weshalb ich für die Zeit nach $16 generell von Kanonissenstiften spreche und nicht etwa von Klöstern oder unentschie- den von Frauenkommunitäten, -gemeinschaften, wie es neuerdings üblich geworden ist, seitdem Semmler Herford, \Y/endhausen, Gandersheim, Es- sen, Neuenheerse u. a. der benediktinischen Observanz zuschreiben wollte92, was von der Forschung aber größtenteils abgelehnt wurde. Die Aachener Re- formgesetzgebung hat nun einmal normativ zwischen sanctimoniales canon ice viventes und Benediktinerinnen unterschieden. Sie vollendete damit die Re-

88 LEYSER (wie Anm. 15) 5.105 ff., wobei der Autor auch durchgehend von »Nonnen« in Gan- dersheim, Quedlinburg etc. spricht, andererseits aber sehr wohl zwischen Mönchskloster und Kanonikerstift unterscheidet (z. B. S. 107). Da die Institution des Stifts in Irland und England

nicht existiert hat, wundert es nicht, wenn z. B. J. L NEtsox, Les femmes et I'cvangclisation (wie Nr. 40) S. 477 ff., 482 Kloster und Stift nicht unterscheidet- GiLrs CoxsrAntr, The Reformation

of the twelfth century. 1996 S. 11 meint sogar, es gäbe für »Stifte- keinen adäquaten englischen Ausdruck, er nennt sie »monasteries, convents, communities and houses« und verwirft die Ter-

mini »chapter« und »collegiate church«. Schade übrigens, daß er die Stiftskirchenforschung der letzten Jahrzehnte (SciiieuvER, Mo1tA'4' etc. ) nicht zur Kenntnis genommen hat und nur die nicht unumstrittene Arbeit von SIEGWART (wie Anm. 14) zitiert.

89 Helvetia Sacra Abt. 11,2: Die weltlichen Kollegiatstifte der deutsch- und französisch-spra-

chigen Schweiz, red. von Guy P. MARCIIAL 1977 S. 5.

90 Helvetia Sacra Abt. III: Die Orden mit Benediktinerregel 1,3, red. von ELSAN%r. Gu. o. Ktt: x- SCIIENKEL. 1986 5.1977-1991, besonders 5.1982.

91 Helvetia Sacra Abt. III: Die Orden mit Benediktinerregel 1,1: Frühe Klöster, die Benedik- tiner und Benediktinerinnen in der Schweiz, red. von Etsv. NE GtLostrx-SeuIExr, EL 1986.

92 JosEF SEDIAILER, Corvcy und Herford in der benediktinischen Reformbewegung des 9. Jahrhunderts (FrühMAStud 4.1970 S. 289-319).

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formbestrebungen der Konzilien Karls des Großen, die u. a. bereits die Ter- mini canonica, monasteria canonicarum, sanctimoniales canonice viventes, sanctimoniales quae se canonicas vocant gebrauchten - Franz J. Felten hat sie in seinem Beitrag zu diesem Band93 zusammengestellt. Eine einheitlich syste- matische und eindeutige Terminologie wurde bekanntlich nicht benutzt. Seit

wann etwa die Kleidung der sanctimoniales eine Unterscheidung der ordines sichtbar machte, bedarf ausführlicherer Untersuchung als hier möglich. Es sei nur darauf hingewiesen, daß die Stiftsdamen im Gegensatz zu den Bene- diktinerinnen nur zu den gottesdienstlichen Pflichten eine einheitliche Chor- kleidung trugen`, sonst dagegen ihre private Kleidung, wie dies offensicht- lich auch die Essener Äbtissin Mathilde (973-1011), Enkelin Kaiser Ottos I.,

auf dem von ihr gestifteten Kreuz (s. Abb. 3) tut. Kritik an dieser »welt- lichen« Kleidung der Kanonissen wurde das gesamte Mittelalter hindurch

geübt. Die Chorkleidung war von Stift zu Stift verschieden, allein der weiße Schleier und das lange weiße Chorhemd (camisia, srrperpellice: im) aus Leinen ist allen gemeinsam und spätestens seit dem 10. Jahrhundert als unterschei- dendes Merkmal gegen die moniales nigrae, die Benediktinerinnen belegt. Beides ist möglicherweise von den irofränkischen Klöstern übernommen worden. Der Schleier mutierte im Lauf der Zeit zum sogenannten Ranzen,

wie ihn die Mescheder Äbtissin Hitda (um 1000) trägt (s. Abb. 2), später, von Stift zu Stift verschieden, zu einer weißen Haube. Die von der Institutio

sanctimonialium empfohlenen nigrae vestes aus Wolle sind in vielen Kanonis-

senstiften als schwarzer Chormantel zu finden, wie ihn ebenfalls die Äbtissin Hitda (s. Abb. 2) trägt. Für die Äbtissinnen von Gernrode und Niedermün-

ster in Regensburg (s. Abb. 1) sind dagegen rote cappae bezeugt, was viel- leicht den Status eines Reichsstifts oder mindestens den Anspruch darauf do- kumentiert. ". In allen Fällen hebt sich die Kleidung der Kanonissen von der

93 Vgl. unten S. 40 ff. 94 Agius, Vita Hathumodae, zitiert von GoE-n\G, Gandersheim (wie Anm. 16) S. 175. Die

Vita Mathildis reginae posterior, (wie Anm. 49) S. 178 berichtet, daß die Königin nach dem To- de ihres Sohnes Heinrich die königlichen Gewänder und den Schmuck ablegte. Spätere Belege bei SCHÄFER (wie Anm. 13) S. 232 f.

95 Institutio sanctimonialium (wie Anm. 7) S. 445. Zum roten Chormantel in Gernrode s. in diesem Band CHARLOTTE \\7AR.. NKE, Das Kanonissenstift St. Cyriacus in Gernrode S. 227. Die ein- drucksvolle Darstellung der Äbtissin Uta von Niedermünster (s. Abb. 1) in ihren kostbaren Ge- wändern, hellem Schleier, roter arppa und roten Schuhen belegt eindeutig, daß Niedermünster

am Ende des 10. Jahrhunderts ein Kanonissenstift und kein Kloster war; von letzterem geht nicht allein HEINRICH \VA. NDERam, Die Reichsstifte Nieder- und Obermünster bis ins 11. Jahr- hundert (Aus Bayerns Geschichte. Festschrift für Andreas Kraus hg. von EGON J. GREIPL U. a. 1991 S. 51-88) aus, was jedoch von CLWunt. A MXRTt, Die Damenstifte Obermünster, Nieder-

münster, St. Paul (Geschichte der Stadt Regensburg 2, hg. von PETER Seltsam) 2000 S. 746 dan-

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Abbildung 1: Ähtissin Uta des Kanonissenstifts Niedermünster in Regensburg. Aus: Regelbuch des Stifts um 990/995 (Staatsbibliothek Bamberg MSC. Lit. 142 Fol. 58')

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Abbildung 2: Äbtissin Hitda des Kanonissenstifts Meschede. Aus: Evangeliar des Stifts um 1000/1020 (Hessische Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt Hs 1640 fol. 6`)

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Abbildung 3: Äbtissin Mathilde des Kanonissenstifts Essen, Stifterbild des sogen. -älteren Mathil- den-Kreuzes« 973/982 (Essen, Domschatzkammer)

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Sanctimoniales quae se canonicas vocant 35

der Benediktinernonnen dadurch ab, daß sie nicht einheitlich und daß sie ei- ne ausschließlich dem Chordienst vorbehaltene ist.

Im Kontext der gesamten karolingischen Kirchenreform muß es also inne-

re Notwendigkeiten gegeben haben, nicht nur männliche Personen geist- lichen Standes in die zwei ordines der clerici und monachi zu scheiden und ihnen getrennte Lebensformen zu empfehlen, sondern auch zwei unter- schiedliche religiöse Lebensformen für Frauen anzuerkennen. Die ordines der Männer wurden von ihren Funktionen her definiert, deshalb scheint es folgerichtig, auch bei den Frauen die ihnen zugedachten Aufgaben als Ursa-

che der Trennung zu sehen: die Nonnen sollten sich dem Gebet, der Askese

und Selbstheiligung widmen, die Kanonissen auch öffentliche Funktionen

ausüben, was weniger strenge Askese und Klausur sowie Nutznießung eige- nen oder (in Form von Präbenden) zugewiesenen Besitzes sogar erforderlich machen konnte, andererseits aber auch eine persönliche Verpflichtung der Äbtissin und der Kanonissen zu strengerer Lebensführung nicht verbot. Die-

se Definition des Kanonissenstifts nach seinen Funktionen, nicht nach Ver- fassungsmerkmalen, scheint mir die Chance zu bieten, auch die Verfassungs-

wirklichkeit näher einzugrenzen und zu bestimmen und dabei einerseits dem

sich offen oder verdeckt immer wieder einschleichenden Vergleich mit dem

regulierten Kloster und dem sich daraus ergebenen Verdikt der Verderbtheit

kenswerterweise nicht übernommen wurde. Die Darstellung der Äbtissin befindet sich in dem Regelbuch, das Herzog Heinrich der Zänker für Niedermünster anfertigen ließ (Bamberg, Staatsbibliothek Msc. Lit. 142), und zwar zwischen ca. 990, dem Amtsantritt von Äbtissin Uta (\VANDERISTrZ S. 80 Anm. 128), und 995, seinem Todesjahr. Die einheitlich gestaltete Hand-

schrift enthält nicht nur die Regula Benedicti - übrigens ursprünglich mit grammatisch weibli- chen Formen (ausadta o filia) - sondern auch die Nonnenregel des Cäsarius von Arles, eingelei- tet von einer ganzseitigen Miniatur. der heilige Cäsarius übergibt seine Regel zwei bunt und nicht etwa schwarz gekleideten geistlichen Frauen. Die Cäsarius-Regel, doch eigentlich seit der Aachener Gesetzgebung 816 durch die Regula Benedicti ersetzt, wird also noch am Ende des 10. Jahrhunderts gleichberechtigt neben der Benediktregel als Grundlage geistlichen Lebens

empfohlen. Man wird angesichts dieser Handschrift, die übrigens bereits von Herzog Heinrichs Sohn, Heinrich II., nach Bamberg gestiftet wurde, also offenbar nie im Besitz von Niedermün-

ster war, vielleicht neu nachdenken müssen über die . Reform« dieses Kanonissenstifts, ob es sich tatsächlich um den Versuch einer Umwandlung in ein Benediktinerinnenkloster handelt,

auch wenn oder gerade weil Otloh dies als Verdienst seines Helden, des hl. Wolfgang, und Heinrichs des Zänkers darstellt (MGH SS 4 S. 534). Da Heinrichs Schwester Gerberga zur glei- chen Zeit einen der glänzendsten Abbatiate im Kanonissenstift Gandersheim ausübte, Heinrich dort auch starb und begraben wurde, sind Umwandlungsinteressen von seiner Seite sehr zu be-

zweifeln (vgl. WARNKE, Gernrode, in diesem Band 5.233 Anm. 143). Dies auch gegen FELTEN in diesem Band S. 109ff. Zur Regelhandschrift vgl. GEORG SWARZENSKI, Die Regensburger Buch-

malerei des X. und XI. Jahrhunderts. 21969 S. 46-55; HARTMUT HOFFMANN, Buchkunst (wie Anm. 59) S. 281 f.; Regensburger Buchmalerei. Ausstellungskatalog. 1987 S. 31 Nr. 14.

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36 Irene Crusius

zu entgehen, und andererseits der Gefahr, mit der Elle von Verfassungskri-

terien zu messen, die aus späterer Zeit gewonnen werden. Gleichbleibende Funktionen können zudem einen Prozeß der langsamen

Entwicklung einer Institution auf vorgegebene Normen hin bewirken: die er- zieherischen Aufgaben eines irofränkischen Klosters können den Stiftscha-

rakter kontinuierlich entwickeln. Solche bruchlosen Übergänge sind sicher- lich häufiger anzunehmen, auch bereits vor 816, als plötzliche ad-hoc-Ent- scheidungen und dramatischer Wechsel des ordo den Auszug und Aufstand

von sanctimoniales zur Folge haben konnten9G. Die öffentlichen Funktionen des Kanonissenstifts bieten zudem eine

Handhabe, nach den inneren Gründen zu fragen, warum so viele Kanonis-

senstifte seit dem 11. /12. Jahrhundert umgewandelt wurden in Männerklö-

ster und -stifte oder auch in regulierte Frauenklöster9?. Wurde es den Refor-

mern oder auch den auf Machterweiterung bedachten Bischöfen leicht ge- macht, weil die Aufgabe der inneren Christianisierung erfüllt war? Brauchte die entstehende Landesherrschaft kein geistliches Zentrum mehr sondern ein weltliches: die Burg, die Residenz, die sich dann der untergeordneten Insti-

tution des Männerstifts oder des Zisterzienserinnenklosters bediente? Ande-

rerseits sind es gerade die Erziehungsfunktionen, die der Institution Stift über die Reformation hinweg bis zur Säkularisation seine erstaunliche Über-

96 Z. B. in Poitiers: GregorvonTours, Historiarum Libri Decem IX, 39ff. (MGH SSrerMerov

1,1)21951 S. 460ff. 97 Vgl. in diesem Band EDELTRAUD KLUerING, Damenstifte im nordwestdeutschen Raum am

Vorabend der Reformation S. 323 f., 332 ff. - PARISSE, Les femmes (wie Anm. 15) S. 321 f. sowie DERS., Frauenstifte (wie Anm. 45) S. 475 spricht von einer »Rückkehr zur benediktinischen Re-

gel« bereits seit Ende des 10. Jahrhunderts, äußert aber gleichzeitig Skepsis gegenüberSEatstLERs Zuweisung von Herford und anderen monasteria zur Regula Benedicti (ebd. S. 321 bzw. S. 46S, 479 Anm. 71). Wenn aber für die Akzeptanz der Institutio canonicorum eine längere Zeit ange- nommen wird - vgl. SEMMLER, Kanoniker und ihre Regel (wie Anm. 9) S. S6 ff. -, so wird dies

auch für die Akzeptanz der Regula Benedicti gelten müssen. Das Beispiel des Regelbuchs für Stift Niedermünster in Regensburg (vgl. oben Anm. 95) dokumentiert dies deutlich. Man sollte also von einer »Rückkehr zur benediktinischen Regel« zurückhaltenderweise lieber nicht spre- chen. Die von PARISSE angeführten Beispiele von im 10. Jahrhundert neu gegründeten Benedikti-

nerinnenklöstern, St. Marien/Gandersheim und St. Marien/Quedlinburg, sind im übrigen ab- hängige Eigenklöster der Kanonissenstifte, die von den Äbtissinnen zu bestimmten Zwecken,

u. a. zur Aufnahme unbotmäßiger oder für sie nicht stiftsfähiger, weil nicht edelfreier Frauen ge- gründet wurden. Als Zeugen einer allgemeinen Tendenz zur Regula Benedicti und gegen Stifte

taugen sie sicherlich nicht. Es wäre aber wünschenswert, ihnen und den Eigenklöstern und -stif- ten der anderen großen Kanonissenstifte: Walbeck, Wendhausen, St. Marien auf dem Lutten- berg bei Herford, Frose, Stoppenberg und Rellinghausen bei Essen eine vergleichende Unter-

suchung zu widmen. Sie würden auch, wenigstens für Herford, Gandersheim, Essen, Quedlin- burg, Gernrode und Nordhausen, eine Antwort geben auf die Frage, wie adelig diese Stifte im 10. /11. Jahrhundert waren, vgl. FELTEN, in diesem Band S. 39-12S.

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Sanctimoniales quae se canonicas vocant 37

lebenskraft gegeben haben. Wenn der Kurfürst von Köln, Maximilian Franz von Österreich, 1787 das Damenstift als die wahre pflanzschule aller ordentli- chen hausrniitter bezeichnet9S - begegnen wir hier nicht doch demselben Er- ziehungsziel wie im Mittelalter, wenn auch in aufklärerischem Gewand? Wenn Fürst Waldburg-Zeil-Trauchburg 1797 eine ausführliche Personen- und Charakterbeschreibung von vier Buchauer Stiftsdamen verschickt, die nur zu Brautschauzwecken gedient haben kann99, so könnte man sich an die Brautschau Heinrichs I. in Herford erinnern, wo er die junge Mathilde erst begutachten läßt, dann sie selber inkognito beobachtet, ehe die Sache offi- ziell und perfekt wird 10°. Und wenn im 18. Jahrhundert unter dem Stiftsper- sonal ein Tanzmeister erscheint - was wissen wir schon von der Unterwei- sung der jungen Damen in den mittelalterlichen Kanonissenstiften? Das Ver- bot Karls des Großen, in den monasteria winileodes, allzu weltliche Lieder zu schreiben und zu verschicken101, auch manche Darstellung auf den Tep- pichen lassen nicht gerade auf Trübsal bei den Damen schließen. Das Be- dürfnis des Adels, seine Töchter für alle Eventualitäten, für die Ehe als auch für ein geistliches Leben, zu bewahren, zu erziehen und zu versorgen, hat sich über Jahrhunderte an die Institution des Stifts geknüpft102. Man wird deshalb vielleicht auch fragen dürfen, ob stiftisches Leben in Benediktinerin- nen- oder Zisterzienserinnenklöstern allein aus dem Hang zu gutem, beque- mem Leben zu erklären ist, und nicht vielmehr auch aus Gründen, die die Funktionen dieser Institutionen betreffen103 Was bedeutet es, wenn im 13. Jahrhundert edelfreie Kanonissen aus den vornehmsten Stiften Essen und St. Ursula/Köln überwechseln in das von ihrem Vater gegründete Zister- zienserinnenkloster am Fuße der Familienburg und dort Einkünfte beziehen,

98 Rotft, Freckenhorst (wie Anm. 16) S. S5 f. 99 TiiEu, Buchau (wie Anm. 16) S. 114,297. 100 Vita Mathildis reginae antiquior (wie Anm. 49) S. 115. - Selbst wenn sich diese Szene reali-

ter so nicht zugetragen hat, so war sie doch in den Vorstellungen des Autors (der Autorin? ) denkbar.

101 789: MGH Capit. 1 S. 63:... et nullatenus ibi winileodos scribere vet mittere praes: mant. 102 Das Motiv der Versorgung müßte sicherlich nicht nur für die neuzeitlichen Damenstifte

hinterfragt werden, vgl. UTE KUPPERS-BRAUN, Frauen des hohen Adels im kaiserlich-freiwelt- lichen Damenstift Essen (1605-1S03) (QuStudBistEssen 8) 1997 sowie in diesem Band DIES., Zur Sozialgeschichte katholischer Hochadelsstifte im Nordwesten des Alten Reiches im 17. und 18. Jahrhundert. S. 366ff. KOPPERS-BRAU:., Frauen S. 26S-275 definiert die Erziehung in den hochadeligen Stiften als Sozialisation . entsprechend den Normen und Wertvorstellungen des Standes«.

103 Dazu in diesem Band Iat+to EIERt, Stiftisches Leben in Klöstern. Zur Regeltreue im klö- sterlichen Alltag des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit S. 314 f.

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also ihr stiftisches Leben fortsetzen? "". Und besteht vielleicht ein Zusam-

menhang, wenn die Nonnen des Zisterzienserinnenklosters \Vald ab dem 14. Jahrhundert keine Klausur einhalten, mit eigenem Besitz, eigenen Haus- haltungen und Bediensteten leben und dem gleichzeitigen Ausbau der klö-

sterlichen Landesherrschaft? 105 Fragen über Fragen - das Kanonissenstift ist

ein Forschungsproblem, ein lohnendes. Ich zitiere Hubert Mordek: »The Aachen rules for canons and canonesses (8 16/17) that Louis desired and ex- pressly authorized proved to be one of the most successful measures of its kind in the Middle Ages ...

Their effect was epochmaking, and research into 1°' their reception has only begun-

104 Den Fall des Zisterzienserinnenklosters St. Katharinen bei Linz am Rhein werde ich bei

anderer Gelegenheit darstellen. 105 MAREN KUIIN-REIIFUS, Das Zisterzienserinnenkloster Wald (Germania Sacra NF 30: Das

Bistum Konstanz 3) 1992 S. 267-271,361-375. 106 HUBERT MORDECK, Recently discovered Capitulate Texts belonging to the Legislation of

Louis the Pious (Charlemagne's Heir. New Perspectives on the Reign of Louis the Pious 814-840, cd. PETER GODMAN and ROGER COLLINS) 1990 S. 449.