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Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis, Bd. 20 Herausgegeben von Friedrich Stadler, Wien, Österreich

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Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis, Bd. 20

Herausgegeben vonFriedrich Stadler, Wien, Österreich

Diese Reihe, begonnen bei Hölder-Pichler-Tempsky, wird im Springer-Verlag fort-gesetzt. Der Wiener Kreis, eine Gruppe von rund drei Dutzend WissenschaftlerIn-nen aus den Bereichen der Philosophie, Logik, Mathematik, Natur- und Sozialwis-senschaften im Wien der Zwischenkriegszeit, zählt unbestritten zu den bedeutends-ten und einflußreichsten philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, speziell als Wegbereiter der (sprach)analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie. Die dem Wiener Kreis nahestehenden Persönlichkeiten haben bis heute nichts von ihrer Ausstrahlung und Bedeutung für die moderne Philosophie und Wissenschaft verloren: Schlick, Carnap, Neurath, Kraft, Gödel, Zilsel, Kaufmann, von Mises, Reichenbach, Wittgenstein, Popper, Gomperz – um nur einige zu nennen – zählen unbestritten zu den großen Denkern unseres Jahrhunderts. Gemeinsames Ziel dieses Diskussionszirkels war eine Verwissenschaftlichung der Philosophie mit Hilfe der modernen Logik auf der Basis von Alltagserfahrung und einzelwissenschaftlicher Empirie. Aber während ihre Ideen im Ausland breite Bedeutung gewannen, wurden sie in ihrer Heimat aus sogenannten „rassischen“ und/oder politisch-weltanschaulich Gründen verdrängt und blieben hier oft auch nach 1945 in Vergessenheit. Diese Rei-he hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese DenkerInnen und ihren Einfluss wieder ins öffentliche Bewußtsein des deutschsprachigen Raumes zurückzuholen und im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs zu präsentieren.

Weitere Bände in dieser Reihehttp://www.springer.com/series/3410

Friedrich Stadler

Der Wiener KreisUrsprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext

Überarbeitete Auflage von STUDIEN ZUM WIENER KREIS (Suhrkamp Verlag 1997/2001). ISBN 3-518-58207-0

ISSN 2363-5118 ISSN 2363-5126 (electronic)Veröffentlichungen des Instituts Wiener KreisISBN 978-3-319-16047-4 ISBN 978-3-319-16048-1 (eBook)DOI 10.1007/978-3-319-16048-1

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Friedrich StadlerInstitut Wiener KreisUniversität WienWienÖsterreich

Abb. 1 Eingangstür des Mathematischen Seminars der Universität Wien, Boltzmanngasse. Treff-punkt des Wiener Kreises (Schlick-Zirkels)

Für Ivich, Serena und Mira

IX

Vorwort zur Zweiten Auflage

Die erste Auflage dieses Buches, 1997 unter dem Titel Studien zum Wiener Kreis im Suhrkamp Verlag (Frankfurt/M.) erschienen, ist seit Jahren vergriffen und die Nachfrage weiterhin gegeben. Daher habe ich mich entschlossen, eine zweite über-arbeitete Auflage im Springer Verlag (Dordrecht-Heidelberg-London-New York) im Rahmen der deutschsprachigen Reihe „Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreises“ herauszubringen, die bis 2013 mit dem Band 17 im Wiener Springer Ver-lag (Wien-New York) erschienen ist. Einen weiteren Anlass dazu bildet eine erst-malige Ausstellung über den Wiener Kreis, die im Hauptgebäude der Universität Wien anlässlich ihres 650 Jahr-Jubiläums vom März bis Oktober 2015 gezeigt und danach als Wanderausstellung im Ausland präsentiert wird.

Diese zweite Auflage unterscheidet sich von der ersten durch eine deutliche Kürzung der Vorgeschichte des Wiener Kreises im Kontext der österreichischen Philosophie und sie wurde hinsichtlich der Forschungsliteratur und Primärquellen so weit wie möglich aktualisiert. Außerdem erfolgte eine behutsame Redigierung des Textes zum Zwecke der Straffung und besseren Lesbarkeit. Die bio-bibliografi-schen Texte sind ebenfalls redigiert und leicht umgestellt worden. Zur laufenden Forschung über den Wiener Kreis/Logischen Empirismus finden sich ergänzend Referenzen in der Website des Instituts Wiener Kreis: www.univie.ac.at/ivc

Für die umfangreichen Recherchen, die Redaktionsarbeit und das Lektorat bedanke ich herzlich bei Dr. Christoph Limbeck-Lilienau, für die bewährte elek-tronische Aufbereitung bei Robert Kaller, beide Institut Wiener Kreis. Nicht zuletzt sei dem Springer Verlag (Dordrecht), speziell Lucy Fleet,für die gute langjährige Zusammenarbeit gedankt.

Wien, Jänner 2015 Friedrich Stadler

XI

Inhaltsverzeichnis

Prolog ............................................................................................................... XV

1 Der Ursprung des Logischen Empirismus – Wurzeln des Wiener Kreises vor dem Ersten Weltkrieg .............................................. 11.1 Mach, Boltzmann, Einstein und der Wiener Kreis ............................. 14

Teil I WIENER KREIS UND LOGISCHER EMPIRISMUS IN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT – AUFBRUCH UND VERTREIBUNG

2 Das soziokulturelle Umfeld: Die „Spätaufklärung“ ............................... 33

3 Die nichtöffentliche Phase des Wiener Kreises 1918–1928..................... 453.1 Die Konstituierung 1918–1924: Hans Hahn – der

„eigentliche Begründer des Wiener Kreises“ ..................................... 453.2 Die Institutionalisierung des Schlick-Zirkels 1924–1929:

Zwischen Tractatus und Aufbau ......................................................... 48

4 Die öffentliche Phase des Wiener Kreises von 1929 bis zum „Anschluss“ .................................................................................. 654.1 Die innere Entwicklung des Logischen Empirismus ......................... 65

4.1.1 Der Schlick-Zirkel – Übersicht und Dokumentation zur wissenschaftlichen Kommunikation ................................ 75

4.2 Die äußere Entwicklung des Logischen Empirismus bis zum „Anschluss“ ................................................................................ 1504.2.1 Der Verein Ernst Mach (1928–1934) ..................................... 1504.2.2 Die Programmschrift Wissenschaftliche

Weltauffassung.Der Wiener Kreis (1929) .............................. 1544.2.3 Die Erste Internationale Tagung – Prag 1929 ........................ 1584.2.4 Die Vortragstätigkeit des Vereins Ernst Mach

1929–1932 im Überblick – Kommentar zur Popularisierungwissenschaftlicher Weltauffassung ............... 161

4.2.5 Internationalisierung und Emigration seit 1930 – zwei Tagungen und sechs internationale Kongresse für Einheit der Wissenschaft ................................ 167

XII Inhaltsverzeichnis

5 Karl Mengers Wiener Kreis: Das Mathematische Kolloquium 1928–1936.................................................................................................... 2015.1 Das Mathematische Kolloquium und drei Vortragszyklen ................. 2045.2 Das Prinzip der logischen Toleranz – Die Relativierung der

Dichotomie zwischen analytischen und synthetischen Aussagen ...... 2075.3 Wittgenstein, Brouwer und der Wiener Kreis .................................... 2095.4 Karl Menger und Kurt Gödel – Das Genie aus der Sicht

seines Mentors .................................................................................... 2115.5 Das Mathematische Kolloquium und drei Vortragszyklen –

Übersicht zur wissenschaftlichen Kommunikation ............................ 213

6 Wittgenstein und der Wiener Kreis – Denkstil und Denkkollektiv ....... 2256.1 Annäherungsversuche – Der Einzelgänger und die Gruppe .............. 2256.2 Der Physikalismus-Streit – Zwischen Rezeption und Plagiat ............ 2316.3 Mentalitäten – Philosophie und Wissenschaft als Sprachspiele ......... 2346.4 Gespräche zwischen Wittgenstein, Schlick und Waismann

im Überblick ....................................................................................... 237

7 Heinrich Gomperz, Karl Popper und der Wiener Kreis – Zwischen Abgrenzung und Familienähnlichkeit ..................................... 2417.1 Heinrich Gomperz und der Wiener Kreis ........................................... 2417.2 Der Gomperz-Kreis – Diskussionen 1929–1931 (Fragmente) ........... 2487.3 Die Logik der Forschung im Kontext ................................................ 2507.4 Bemerkungen zur „Popper-Legende“ ................................................ 2577.5 Dokumentation: Popper und der Wiener Kreis – Aus einem

Gespräch mit Sir Karl Popper (1991) ................................................. 266

8 Zum philosophischen und politischen Pluralismus im Wiener Kreis – am Beispiel von Otto Neurath und Moritz Schlick.................... 285

9 Die universitäre und volksbildnerische Dimension – Der Untergang der Vernunft ............................................................................ 2939.1 Wiener Kreis und Universität Wien ................................................... 293

9.1.1 Zur geistig-politischen Situation an den Wiener Hochschulen ........................................................................... 293

9.1.2 Zur Stellung der wissenschaftlichen Philosophie .................. 2949.1.3 Zur politische Lage der Hochschulenin

der Ersten Republik ................................................................ 2979.1.4 Hans Hahn und die „Vereinigungsozialistischer

Hochschullehrer“ .................................................................... 2989.1.5 Hochschulpolitische Ereignisse imÜbergang zum

„Ständestaat“ .......................................................................... 3009.1.6 Die Berufung von Moritz Schlickim Jahre 1922 ................... 3019.1.7 Der Habilitationsversuch von Edgar Zilsel 1923/24 .............. 302

XIIIInhaltsverzeichnis

9.1.8 Die Ernennungen von Hans Eibl undViktor Kraft im Jahre 1924 ......................................................................... 303

9.1.9 Die Lehrkanzelbesetzung nach Heinrich Gomperzim Jahre 1934 .......................................................... 305

9.1.10 Die Lehrkanzelbesetzungnach Moritz Schlick im Jahre 1937 und der Abschied Karl Mengers .......................... 306

9.1.11 Moritz Schlick und die Entlassung Friedrich Waismanns ...... 3089.2 Universität, Schulreform und Volksbildung ....................................... 309

9.2.1 Übersicht: Lehrveranstaltungen und Vorträge von Wiener-Kreis-Mitgliedern ...................................................... 316

9.3 „Worte trennen – Bilder verbinden“: Otto Neuraths „Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum“, Bildstatistik und Isotype ......................................................................................... 3519.3.1 Das „Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseumin

Wien“ 1925–1934 .................................................................. 3519.3.2 „Wiener Methode der Bildstatistik“ und „Isotype“ ................ 3539.3.3 Bildstatistik und politische Graphikdes Konstruktivismus .... 3559.3.4 „Wiener Methode der Bildstatistik“ und Schule .................... 3569.3.5 Bildpädagogik und Volksbildung ........................................... 357

10 Epilog: Exodus der wissenschaftlicher Vernunft .................................... 363

Teil II DER WIENER KREIS – DIE BIOBIBLIOGRAPHISCHE DIMENSION

11 Der Wiener Kreis im Überblick ................................................................ 37511.1 Der Wiener Kreis in Diagrammen ...................................................... 37511.2 Register der Zeitschrift Erkenntnis I-VIII (1930–1940) ..................... 38911.3 Inhaltsübersicht Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung ...... 40211.4 Inhaltsübersicht Einheitswissenschaft ................................................ 40311.5 Inhaltsübersicht Foundations of the Unity of Science ........................ 404

12 Der Wiener Kreis und sein Umfeld – Biobibliographien ........................ 40712.1 Der Kern – Biographie, Bibliographie, Literatur ............................... 40712.2 Die Peripherie – Biographie, Bibliographie, Literatur ........................ 51312.3 Moritz Schlicks DissertantInnen, Schüler und Gäste ......................... 610

13 Dokumentation: Zur Ermordung von Moritz Schlick ........................... 61513.1 Editorische Vorbemerkungen ............................................................. 61513.2 Dokumente zum Mord an Moritz Schlick –

Vorgeschichte, Mordprozess und die Folgen ..................................... 617

Quellen und Literatur...................................................................................... 647

Namenregister ................................................................................................. 681

XV

Prolog: Zum Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie im Überblick1

Am Beginn wissenschaftlicher Philosophie in der Habsburger-Monarchie steht ohne Zweifel der Prager Volksbildner, Philosoph, Mathematiker und Theologe Bernard Bolzano (1781 bis 1848). Als Vertreter des böhmischen Reformkatholizismus im jo-sephinischen Geiste musste er zwangsweise mit dem Bund von Thron und Altar in Konflikt geraten. Vor allem wegen seiner „volkstümlichen Erbauungsreden“ – mit sozialreformerischen und sozialutopischen Entwürfen – wurde er 1819 aus seinem Lehramt (einer Professur für Religionslehre an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität) entfernt und mit Schreibverbot belegt.2 Seine Schriften sollten nur mehr anonym oder außerhalb Österreichs erscheinen. Trotzdem konnte der böh-mische „Anti-Kant“ durch seine Schüler im österreichischen Geistesleben einen entscheidenden Einfluss ausüben, der sich einerseits in der Thun-Hohensteinschen Bildungsreform, andererseits in der eher indirekten Rezeption bei Frege und der polnischen Logikerschule um Kasimir Twardowski niederschlug. Weil der deutsche Idealismus von Kant bis Hegel in katholischen Habsburgerlanden als revolutionär zurückgedrängt wurde, konnte Bolzano mit seiner objektivistischen Erkenntnis- und Wissenschaftslehre (1837 ff.), speziell der Theorie von „Wahrheiten und Sätzen an sich“, die moderne Logik und Mathematik von Tarski bis zum Wiener Kreis anti-zipieren: Durch die „semantische Wende“ seiner antipsychologistischen Philoso-phie prägte er die Mengenlehre genauso wie Karl Poppers Drei-Welten-Lehre oder Gödels „logischen Realismus“. Der mathematische Mentor des Wiener Kreises, Hans Hahn, lieferte zum Beispiel Anmerkungen zu Bolzanos Paradoxien des Un-endlichen (1920) und edierte zusammen mit Alois Höfler ab 1913 weitere Schriften des „böhmischen Leibniz“ – wie Bolzano auch genannt wurde. (In Berlin sorgte vor

1 Zur Geschichte des Logischen Empirismus in der Zwischenkriegszeit im Überblick und zur ersten Einführung vgl. Stadler 1982b; Dahms 1985; Kruntorad 1991; Haller und Stadler 1993; Haller 1993; Geier 1992; Uebel 2007; Carus 2010; Richardson und Uebel 2007. Zum geistigen Hintergrund: Bradbury und McFarlane 1978; Nautz und Vahrenkamp 1993; Stadler 1987/1988; Kadrnoska 1981; Leser 1981; Danneberg et al. 1994; Sandner 2014. Das Buch zum Titel des Ka-pitels: Reichenbach 1951 und 1977.2 Berg und Morscher 1986; Neemann 1984; Winter et al. 1969 ff., S. 9 ff, Lapointe 2011.

Prolog: Zum Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie im ÜberblickXVI

allem der Mathematiker Walter Dubislav, der sich 1937 in Prag das Leben nahm, für eine Verbreitung von Bolzanos Ideen.)

Dieser philosophische Objektivismus und logische Realismus wurde vor allem über Franz Brentano und seinen großen Schülerkreis mehr oder weniger stark in der österreichischen Philosophie aufgenommen. Nicht zuletzt in weltanschaulich-politischer Hinsicht stand Bolzano durch sein oberstes Sittengesetz („Handle stets so, daß du optimal dem allgemeinen Wohl dienst!“) im Kontext der sozialreforme-rischen Aufklärungsbewegung und wurde deshalb auch als Frühsozialist apostro-phiert.

Mit dem Wirken von Franz Brentano (1838–1917) in Wien beginnt der Dis-kurs einer empirischen Philosophie in der Tradition von Leibniz und Bolzano mit Abgrenzung zum deutschen Idealismus.3 Durch seine breite Wirkung wird Bren-tano zum Mentor der österreichischen wissenschaftlichen Philosophie, wenn auch noch in der Tradition rationaler Schulmetaphysik. Auf Brentano, der wie Bolzano beruflich ein Opfer der katholischen Amtskirche wurde, geht das objektivistisch-phänomenologische Paradigma in der österreichischen Philosophie zurück, das bis ins 20. Jahrhundert reicht. Seine Überlegungen zur Philosophie bedeuten einen weiteren Schritt in Richtung auf ein exaktes, empirisch-logisches Denken mit vor-sichtiger Orientierung an den Einzelwissenschaften und mit der Perspektive einer Höherentwicklung wissenschaftlicher Philosophie; konkret seien hier die Lehren der Intentionalität, der Evidenz sowie seine Sprachkritik und analytische Metaphy-sik genannt, von denen der philosophische Realismus und die Sprachanalyse für die Herausbildung des Logischen Empirismus relevant werden. In diesem Sinne lautete bereits eine seiner zentralen Habilitationsthesen: „Die wahre Methode der Philo-sophie ist keine andere als die der Naturwissenschaften.“4 Diese Botschaft wurde durch seine prominenten Schüler im akademischen Bereich weiterentwickelt, unter ihnen Anton Marty und Thomas Garrigue Masaryk in Prag, Alexius Meinong in Graz und Kasimierz Twardowski in Lemberg.5 Diese Impulse für die Gestalttheo-rie, Phänomenologie und Sprachanalyse wurden aber auch von Moore und Russell aufgenommen. Hier sei insbesondere auf den Brentano-Schüler und späteren tsche-choslowakischen Staatspräsidenten Thomas G. Masaryk hingewiesen, der sowohl den „Positivismus“ wie auch den „kritischen Realismus“ als wesentliche Bestand-teile seiner Weltanschauung bezeichnete.6 Seine Unterstützung der Berufung Car-naps nach Prag 1931 kann deshalb genauso wenig überraschen wie die von ihm im gleichen Jahr zusammen mit Oskar Kraus betriebene Gründung der Brentano-Ge-sellschaft. Und da er in seiner Wiener Zeit auch Heinrich Gomperz unterrichtete, ist wohl auch ein gewisser geistiger Transfer nach Wien anzunehmen. Trotz seiner idealistischen Neigung postulierte Masaryk die Notwendigkeit einer wissenschaft-

3 Baumgartner et al. 1990; Chisholm und Haller 1977; Chisholm 1982; Werle 1989; Brentano-Studien 1988 ff.; Smith 1994; Jacquette 2004.4 Franz Brentano, Habilitationsthese 4, in: ders. 1968b, S. 137.5 Zur Wirkungsgeschichte vgl. Spiegelberg 1969; Lindenfeld 1980; Dölling 1999; Brozek 2011; Antonelli und David 2014.6 Novak 1988.

Prolog: Zum Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie im Überblick XVII

lichen Philosophie mit Orientierung an den empirischen Wissenschaften – wie uns Karel Capek (1969) berichtet. Schließlich sei noch angemerkt, dass der vielseitige Christian von Ehrenfels7 in diesem Prager Klima im Einflussbereich Brentanos, Meinongs und vor allem Machs seine bahnbrechenden Arbeiten zur Gestaltpsycho-logie veröffentlichte, durch die er zu einem Vorläufer der später berühmten Berliner Schule um Wolfgang Köhler, Max Wertheimer und Kurt Koffka wurde.

Der entscheidende Schritt allerdings auf dem Weg zur Herausbildung wissen-schaftlicher Philosophie und Weltauffassung wird wohl von ( Ernst Mach (1838–1916) geleistet – und zwar im Zuge eines Paradigmenwechsels zur Moderne.8 Denn der Polyhistor Mach war sowohl als Zentralfigur im Wien der Jahrhundertwende als auch als Reformer im Bereich der Naturwissenschaften bedeutsam. Sein Ver-such einer historisch-sozialen und evolutionären Fundierung der Wissenschaft stand – in engem Zusammenhang mit seiner politischen Praxis – im Zeichen der französischen und englischen Aufklärung. Mach gelang es, zur Überwindung des mechanischen Materialismus eine empirische Einheit von Physik, Physiologie und Psychologie als monistisches Weltbild zu präsentieren, das in der Philosophie und Naturwissenschaft, Politik und Kunst folgenreich und kontrovers rezipiert wurde. Diese plakativ als „Positivismus“ gehandelte Wissenschafts- und Erkenntnistheorie – mit Elementenlehre, Ökonomieprinzip und historisch-kritischer Methode – aktu-alisierte bereits um 1900 das Problem einer interdisziplinären wissenschaftlichen Weltauffassung mit dem inhärenten Anspruch auf Humanisierung und Demokrati-sierung von Wissenschaft und Gesellschaft. Unabhängig von der erkenntnistheore-tischen Problematik des Machschen „Phänomenalismus“ oder „realistischen Empi-rismus“ (Banks 2014) – einer pointierten Reaktion auf die zeitgenössischen meta-physischen Systemphilosophien – waren damit die Grundlagen für die Formierung des Wiener Kreises gegeben. Die Tatsache, dass die Institution, mit welcher der Wiener Kreis von 1929–1934 in die breite Öffentlichkeit wirkte, den Namen „Ver-ein Ernst Mach“ trug, ist vor diesem Hintergrund nur der äußere Ausdruck dieses geistigen Zusammenhangs.9

In Berlin schlug sich dieser Einfluss in der von dem Mach-Anhänger Joseph Petzoldt initiierten Gründung der „Gesellschaft für positivistische Philosophie“ nieder, die als Vorläuferorganisation der 1927 ins Leben gerufenen „Gesellschaft für empirische/wissenschaftliche Philosophie“ betrachtet werden kann.10 Die breite Wirkungsgeschichte Machs kann nur gestreift werden, um den Entwicklungszu-sammenhang anzudeuten: Er war 1861 Privatdozent für Physik in Wien, 1866–1867 Ordinarius für Mathematik in Graz und 1867–1895 Inhaber des Lehrstuhls für Ex-perimentalphysik in Prag, wo er seine internationale Reputation begründete. Dort geriet Mach nun auch als Dekan und Rektor zwangsweise in den schwelenden Na-

7 Fabian 1986; Fabian 1983 ff.8 Blackmore 1972; Haller und Stadler 1988; Hoffmann und Laitko 1991; Blackmore 1992; Banks 2014.9 Stadler 1982b, Teil 2.10 Neben den Beiträgen von Hoffmann (1993) und Laitko (1993) vgl. Hentschel 1990; Milkov und Peckhaus 2013.

Prolog: Zum Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie im ÜberblickXVIII

tionalitätenstreit, wobei er als Gegner jedes Nationalismus vergeblich gegen die Teilung der Universität in eine deutsche und tschechische Fakultät eintrat und eine eigene tschechische Universität gefordert hatte. Der von Bolzano bereits vertretene „Bohemismus“ – die friedliche und gleichberechtigte Koexistenz beider Sprach-gruppen – war aufgrund des habsburgischen deutschnationalen Zentralismus zu einer Minderheitenposition geworden. Dadurch wurde auch das Prager kulturelle Leben beeinflusst11: Innerhalb der deutschsprachigen Prager Bevölkerung (von rund 5 % der Gesamtbevölkerung) waren etwa die Hälfte Juden, die als eine Art Sub-kultur eine außerordentlich wichtige Rolle in Literatur und Wissenschaft spielten. Das harmonische Bild von der aufgeklärten, multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft in Prag, aber auch in Wien und Berlin, kann demnach eher als Ästhe-tisierung von „Kaffeehausliteratur“ betrachtet werden und sollte einer nüchternen Beschreibung der soziologischen Gegebenheiten weichen. Bekanntlich spielte in allen drei Hauptstädten das Judentum (vor allem das assimilierte) eine überragen-de Rolle. Doch bereits vor dem Ersten Weltkrieg nahmen die jüdischen Intellek-tuellen mit dem Aufkommen des rassistischen Deutschnationalismus innerhalb der deutschsprachigen Bevölkerung eine defensive Stellung ein – eine Entwicklung, die rund zwei bis drei Jahrzehnte später in die Katastrophe von Emigration, Exil und Massenvernichtung führen sollte. Die Zerstörung eines kulturellen Kosmos war im Fin de siècle schon vorgezeichnet.12

Mit der Berufung nach Wien auf den eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für „Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaf-ten“ im Jahre 1895 blieben Mach nach einem Schlaganfall im Jahre 1898 nur mehr wenige Jahre bis zu seiner Pensionierung als aktiver Wissenschaftler im Jahre 1901. Im Jahre 1902 übernahm Ludwig Boltzmann (1844–1906) zusätzlich zu seinem Lehrstihl für theoretische Physik Lehraufträge für Philosophie in der Tradition Machs.13 Auch wenn der hartnäckig gepflegte Mythos vom selbstmörderischen Gigantenkampf einer eingehenden Untersuchung nicht standhält, waren Mach und Boltzmann für den Wiener und Berliner Kreis zwei komplementäre Bezugsperso-nen im thematischen Spannungsfeld zwischen „Phänomenalismus“ und „Realis-mus“, Atomistik und Relativitätstheorie. Auch Albert Einstein (1879–1955) spielte sowohlin seiner Prager und Berliner Phase zusammen mit Mach und Boltzmann eine entscheidende Rolle im naturphilosophischen Bereich des Logischen Empiris-mus. Man braucht nur die kenntnisreiche Biographie von Philipp Frank14 zu lesen, um diesen biographischen und intellektuellen Wirkungszusammenhang besser zu verstehen. Die Freundschaft Einsteins mit Philipp Frank bis ins amerikanische Exil ist nur ein Ausdruck dieser meist unterschätzten wissenschaftlichen Kommunikati-on, denn Frank konnte als Einsteins Nachfolger in Prag – ab 1912 bis zu seiner Emi-gration 1938 – die mitteleuropäische Wissenschaftskultur entscheidend miterleben und mit prägen. Die Tatsache, dass der in Berlin bei Max Planck sozialisierte Moritz

11 Zur Prager (ethnischen) Kultur: Brod 1979; Frank 1979.12 Ehalt et al. 1986; Botstein 1993.13 Broda 1955; Broda 1979; Sexl 1981 ff, Stadler und Dahms 2015.14 Frank 1979.

Prolog: Zum Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie im Überblick XIX

Schlick von 1922 bis zu seiner Ermordung 1936 Machs und Boltzmanns Lehrstuhl für Naturphilosophie in Wien innehatte, ist eine dieser Kontinuitäten auf institutio-neller Ebene. Die Liquidierung dieses Lehrstuhls 1937 an der Universität Wien war eine der entscheidenden Zäsuren während des „Aufstiegs der wissenschaftlichen Philosophie“ (Reichenbach 1951/1954).15

Mit dem Disziplinen überschreitenden Einfluss von Mach, Boltzmann und Ein-stein können wir die Entstehung des Logischen Empirismus bis in die republikani-sche Zeit präzisieren. Diese Rezeptionslinien sollen keineswegs darüber hinweg-täuschen, dass hier sowohl für Wien wie für Berlin, Prag und Warschau von einer marginalisierten Strömung gesprochen werden muss, die besonders auf akademi-schem Boden einer dominanten philosophia perennis in verschiedenen Varianten gegenüberstand.

Bereits vor dem Ersten Weltkrieg wurde ab 1907 in dem Zirkel um Philipp Frank, Otto Neurath und Hans Hahn im Anschluss an Mach über die Wissenschaft-lichkeit der Philosophie, speziell über eine Synthese von Empirismus und Konven-tionalismus (Duhem, Poincaré, Brentano, Meinong, Husserl, Helmholtz, Freud), diskutiert.16 Daher kann man – mit Haller (1986) – von einem „ersten Wiener Kreis“ sprechen, in dem die Auseinandersetzung mit dem alten „Positivismus“ gepflegt wurde. Besonders Frank und Mises lieferten Neuinterpretationen unter Einbezie-hung der modernen Logik von Frege, Russell und später Wittgenstein. Um Neu-rath entwickelte sich ein wissenschaftstheoretischer Holismus, der sich später bei Quine wiederfindet.17 Der kohärenztheoretische Standpunkt und eine pragmatische Theoriendynamik waren daher schon in den dreißiger Jahren Bausteine der physi-kalistischen (empiristischen) Enzyklopädie der Einheitswissenschaft. Carnap hatte in seinem frühen Hauptwerk Der logische Aufbau der Welt (1928), dem Konven-tionalismus folgend, mit Hilfe der Typentheorie ein Konstitutionssystem wissen-schaftlicher Begriffe auf phänomenalistischer Basis vorgestellt (methodologischer Phänomenalismus).18 Es sei nur nebenbei erwähnt, dass Carnap diesen Logischen Aufbau ganz bewusst im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang von Kunst und Architektur, speziell der europäischen Neuen Sachlichkeit, betrachtete. Daher kann es nicht überraschen, daß er wie auch Otto Neurath und Herbert Feigl in Vorträgen im Dessauer Bauhaus die enge Verwandtschaft von „Wissenschaftlicher Welt- auf-fassung“ und moderner sozialer Architektur unterstrich.19 Transparenter „Aufbau“, nachvollziehbare Konstruktion und bewusste Lebensgestaltung stellten die gemein-same Mentalität und Motivation dar, die im Planungsdenken Neuraths den theore-tischen und praktischen Höhepunkt fand. Hier ist sowohl das von ihm begründete „Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien“ (1925–1934) mit der dortentwi-

15 Vgl. Kap. 12. Weiterhin: Stadler 1988; Heiß u. a. 1989; Fischer und Wimmer 1992.16 Frank 1949a, S. 1–52; Haller 1986, 89–107.17 Koppelberg 1987 und 1993; Lauener 1982; Schilpp 1991; Creath 1990.18 Vgl. die Beiträge zu Carnap in Haller und Stadler 1993; Logic and Language 1962; Schilpp 1963; Krauth 1970; Buck und Cohen 1971; Hintikka 1975; Spohn 1991; Carnap 1993; Friedman 1999; Friedman und Creath 2007; Carus 2010.19 Galison 1993 und 1990; Dahms 2004.

Prolog: Zum Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie im ÜberblickXX

ckelten „Wiener Methode der Bildstatistik“ zu nennen (unter Verwendung des figu-rativen Konstruktivismus von Gerd Arntz und anderen) sowie sein Engagement im Siedlungs- und Städtebau.20

Mit der Programmschrift Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis von 1929 ging die lose gefügte Gruppe um Moritz Schlick erstmals an die Öffent-lichkeit. (Stadler/Uebel 2012). Und bereits damals wird der theoretische Pluralis-mus der „neuen Philosophie“ (Reichenbach) vor dem Minimalkonsens – nämlich Empirismus, Logismus und wissenschaftliche Grundeinstellung – offenkundig. Die Reform der Philosophie erfolgte nicht nach einem einheitlichen, homogenen Ak-tionsprogramm mit inhaltlicher Gleichschaltung, sondern konnte überhaupt nur auf dem Boden empirisch-rationaler Gesinnung mit exakter Methodologie gedeihen, und zwar wider jeden Geniekult und wider jede philosophische Esoterik. Daher sollte die offizielle Bezeichnung der Bewegung nach Neurath auf die kollektive Orientierung und zugleich auf den Ursprung des Logischen Empirismus mit ange-nehmen Konnotationen hinweisen.

Zur Strukturierung der Geschichte des Wiener Kreises bietet sich dementspre-chend eine Gliederung in vier Phasen an21:

1. Der Diskussionszirkel von 1907 bis zum Ersten Weltkrieg mit Frank, Hahn und Neurath. Gleichzeitig organisierte Richard von Mises in Wien seine Gesprächsrunde.

2. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis zum Beginn der Donnerstagabendtreffen unter Moritz Schlick (ab 1924) als Konstituierungsphase, in der Hans Hahn eine bedeutende Rolle spielte. Frank nennt ihn deshalb den „eigentlichen Begründer“ des Wiener Kreises.

3. Die nichtöffentliche Phase von 1924 bis 1928 mit den persönlichen Kontakten zu Ludwig Wittgenstein und der Übersiedlung Carnaps nach Wien.

4. Die öffentliche Phase ab 1929 mit der Publikation der Programmschrift, der Gründung des „Vereins Ernst Mach“ und dem ersten internationalen Auftreten als Gruppe auf der „1. Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften“ in Prag 1929. In diese Zeit fallen die regelmäßigen Kontakte mit Karl Popper. Schließlich ist mit der von Carnap und Reichenbach gemeinsam herausgegebe-nen Zeitschrift Erkenntnis ab 1930 der Eintritt in die philosophische Öffentlich-keit abgeschlossen.

Aber gleichzeitig mit dem internationalen Aufstieg der wissenschaftlichen Philo-sophie beginnt Anfang der dreißiger Jahre auch der Auflösungsprozess in Öster-reich und Deutschland mit den politisch und „rassisch“ bedingten Emigrationen ab 1933/1934 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Die Ermordung von Moritz Schlick stellte ein symbolisches Fanal dieses Niedergangs der Vernunft im Lande dar. Die letzten epigonalen privaten Diskussionszirkel waren nur mehr geduldete Zusammenkünfte vor der endgültigen Zerstreuung des Logischen Empirismus aus Wien, Prag, Warschau und – zuvor bereits, seit der Machtergreifung Hitlers – aus

20 Haller und Kinross 1991; Stadler 1982; Vossoughian 2011.21 Zur Periodisierung vgl. eingehender Kap. 3 und 4.

Prolog: Zum Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie im Überblick XXI

Berlin. Von diesem Zeitpunkt an haben wir es praktisch mit einer neuen Phase einer exilierten, im wesentlichen jedoch erfolgreichen Wissenschaftskultur zu tun, deren Transformation zugleich auf Kosten der ursprünglichen kognitiven Identität Erfolg-te.

Zurück zur Vienna Station22: Nach der Heimkehr Hans Hahns nach Wien 1921 konnte dieser die Berufung von Moritz Schlick 1922 auf die Lehrkanzel für Philo-sophie der induktiven Wissenschaften mitbewirken. Er selbst behandelte in seinen eigenen Lehrveranstaltungen moderne Logik, vor allem Russell und später, ange-regt durch den in Wien gastierenden deutschen Mathematiker Kurt Reidemeister (1893–1972), auch Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus, mit dessen Ex-egese ab 1926 systematisch im Schlick-Zirkel – mit Carnap als treibender Kraft – begonnen wurde. Mit der Berufung Schlicks war auch auf akademischem Boden ein geistiges Zentrum vorhanden, um das sich neben den bereits Arrivierten jünge-re Studenten, Doktoranden und Dozenten gruppierten (unter ihnen Herbert Feigl, Friedrich Waismann, ab 1924 Rudolf Carnap, Bela Juhos, Heinrich Neider, Josef Schächter, Edgar Zilsel und die Mathematiker Felix Kaufmann, Karl Menger, Kurt Gödel, Gustav Bergmann, Heinrich Löwy, Theodor Radakovic; schließlich von der jüngsten Generation Walter Hollitscher, Rose Rand, Marcel Natkin; an der Periphe-rie nicht zu vergessen der Architekt Josef Frank. Dazu gesellte sich in den folgenden Jahren eine Reihe prominenter und jüngerer Gäste aus dem Ausland (wie Alfred J. Ayer, Frank P. Ramsey, Ernest Nagel, Willard Van Orman Quine, Alfred Tarski, Eino Kaila, Arne Næss, Hans Reichenbach, Walter Dubislav, Kurt Grelling, Carl Gustav Hempel, Hasso Härlen, Albert Blumberg, Åke Petzäll, Jørgen Jørgensen, Tscha Hung und Ludovico Geymonat). Zu erwähnen sind auch die sporadisch ge-ladenen Gäste aus dem Wiener Geistesleben, zum Beispiel Robert Reininger oder Karl Bühler. Mit zusätzlichen Publikationsreihen („Schriften zur wissenschaftli-chen Weltauffassung“, herausgegeben von Frank und Schlick 1929–1937, sowie „Einheitswissenschaft“, herausgegeben von Neurath 1933–1938) wurde die brei-tere Palette der Beiträge in der Zeitschrift Erkenntnis spezifisch ergänzt und präzi-siert. Die internationalen Tagungen 1929 und 1934 in Prag bzw. 1930 in Königsberg sowie die sechs großen „Internationalen Kongresse für Einheit der Wissenschaft“ in den Jahren 1935–1941 in Paris (zweimal), Kopenhagen, Cambridge, Harvard und Chicago bedeuteten den Durchbruch des Logischen Empirismus zur modernen philosophy of science.

Die dreißiger Jahre waren also gleichzeitig durch Internationalisierung und Auf-lösung gekennzeichnet. Die „Wende der Philosophie“ (Schlick) vollzog sich nach Frank verknüpft mit dem Schicksal der neuen Demokratien.23 Trotz individueller Differenzen konnte sich in dieser Aufbruchsbewegung das Selbstverständnis ei-ner eigenständigen philosophischen Bewegung etablieren. Das geschah in den drei Nachbarländern fast gleichzeitig mit den bekannten Vernetzungen: In Prag war der geistige Boden durch Mach, Einstein und Frank aufbereitet, aber nicht – sieht man von philosophischen Manifestationen im literarischen „Prager Kreis“ um Max Brod

22 Coffa 1991.23 Frank 1979.

Prolog: Zum Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie im ÜberblickXXII

ab – institutionalisiert. In Berlin markiert das Wirken von Helmholtz, Hertz und Planck, dessen Stelle zuvor Boltzmann abgelehnt hatte, mit Petzoldt den Trend zur Verwissenschaftlichung der kantianisch ausgerichteten Schulphilosophie. Die hin-dernisreichen Berufungen Schlicks nach Rostock und Kiel unter Mithilfe von Ein-stein und Max Born signalisieren diese Widerstände. Einsteins eigenes Engagement in Berlin ab 1913 – seine Relativitätstheorie, von Schlick als einem der ersten phi-losophisch verarbeitet, wurde bereits Anfang der zwanziger Jahre zum Gegenstand auch des kulturpolitischen Kampfes – liefert den theoretischen Rahmen für Hans Reichenbachs Arbeit von 1926 bis 1933 im Berlin der Weimarer Republik: nämlich die philosophische Verarbeitung und Analyse der modernsten naturwissenschaftli-chen Erkenntnisse mit einer langsamen Emanzipation vom Neukantianismus (Leo-nard Nelson und die Fries’sche Schule). Diese Wurzeln sind im Konventionalismus des frühen Carnap zu finden, der in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre seine erste Fassung des Aufbaus schreibt. Auch er atmet nach seinem Studium in Jena und Freiburg (unter anderem bei Frege) die politisch und wissenschaftlich revolutionäre Luft der geistigen Weltstadt Berlin. Ab 1920 korrespondiert er mit Reichenbach, mit dem er sich mehrmals im Leben, noch in den USA, persönlich treffen und philo-sophisch auseinandersetzen wird. Ein erster innovativer gemeinsamer Schritt war die von beiden im Jahre 1923 organisierte Erlanger Tagung zur wissenschaftlichen Philosophie, zu der auch Paul Hertz, Walter Dubislav und Moritz Schlick geladen waren.24

0.1 Exkurs: Wien-Berlin-Prag biographisch – Rudolf Carnap, Richard von Mises, Hans Reichenbach und Edgar Zilsel

Am Beispiel dreier im selben Jahr geborener Protagonisten können wir das histori-sche und systematische Spektrum des Logischen Empirismus illustrieren: Zunächst Carnap als Programmdenker und Systematiker25, der mit seiner rationalen Rekons-truktion unter dem Einfluss der Gruppendiskussion eine nachvollziehbare Entwick-lung – vom Aufbau über die Logische Syntax bis hin zu Semantik und induktiver Wahrscheinlichkeit – erkennen lässt. Sein gleichzeitiges Festhalten am Enzyklopä-die-Projekt konnte die Entfremdung zwischen ihm und dem überzeugten Empiris-ten Neurath seit den späten dreißiger Jahren nicht verhindern: Der semantische und formalistische Trend bedeutete für Neurath eine Distanzierung vom aufklärerischen einheitswissenschaftlichen Programm. Bereits die Prioritätsstreitigkeiten zwischen Carnap, Neurath und dem „Mystiker“ Wittgenstein hatten zu Beginn der dreißiger Jahre inhaltliche und mentale Differenzen erkennen lassen.26 Da existierte vorerst

24 Thiel 1993.25 Vgl. die Beiträge zu Carnap in Haller und Stadler 1993. Dazu die Hommage auf Carnap in: Hintikka 1975, S. xii–xviii.26 Vgl. Hintikka 1993; Haller 1990. Ferner das Kap. 6.

Prolog: Zum Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie im Überblick XXIII

mehr Gemeinsamkeit zwischen Carnap und Reichenbach27: Beide waren Aktivisten der deutschen Jugendbewegung (Wandervogel und freideutsche Studentenschaft) und teilten die Vision des demokratischen Sozialismus. Nach dem Scheitern der ge-sellschaftlichen Revolution wandten sie sich mehr und mehr der wissenschaftlichen Revolution zu, indem sie Theorie und Praxis nicht mehr als notwendig verknüpft betrachteten. Das war keine Wende im politischen Bewußtsein – so artikulierte Car-nap viel später noch offen seine Kritik an der McCarthy-Ära in den USA oder seine Sympathie für den Prager Frühling –, sondern stellte den gezielten Versuch dar, auf dem Gebiet der Philosophie und Wissenschaft einen konkreten Beitrag zum „Aus-gang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) zu leis-ten. Die lebens- und sozialreformerischen Projekte blieben bis zur Emigration regu-lative Leitbilder. Bei Zilsel28 zeigte sich dies neben dem Engagement in der Wiener Volksbildung und Schulreform theoretisch vor allem in der Kritik am Geniekult seiner Zeit sowie in der Arbeit am „Ideal der Sache“ gegen jeden Irrationalismus, Universalismus und Faschismus. Während Carnap und Reichenbach eine mühsame Etablierung in der Hochschule erleben konnten, war dies dem kompromisslosen Zilsel versagt geblieben. Seine Studien zum Geniebegriff passten genauso-we-nig in den vorherrschenden Zeitgeist wie die während seines Exils entstandenen aufwendigen Untersuchungen zur Entstehung neuzeitlicher Wissenschaft. Zilsels tragisches Scheitern bis hin zum Selbstmord – Entwurzelung und Pauperisierung im amerikanischen Exil – symbolisiert die Geschichte des Logischen Empirismus ebenso wie die erfolgreiche akademische Laufbahn Carnaps und Reichenbachs in den USA.

Alle drei Protagonisten waren im übrigen für eine Prager Professur im Ge-spräch: Reichenbach lehnte 1931 wegen seiner Identifikation mit der Berliner Wis-senschaftskultur ab, Zilsel und Neurath konnten als Nachfolger Carnaps in Prag, der letzten demokratischen Bastion Mitteleuropas, nicht reüssieren. (Wie wir aus der einschlägigen Korrespondenz wissen, war andererseits in Wien 1926 auch Rei-chenbach neben Carnap im Gespräch gewesen, dem Schlick schließlich den Vorzug gegeben hatte.) Ab 1934 war aber auch in Prag das politische Klima mit antisemi-tischen und nazistischen Kundgebungen vergiftet, so dass der endgültige Weggang Carnaps im Jahre 1936 – unterstützt von Charles Morris und Willard Van Orman Quine29 – eine verständliche Folge war. Bereits Jahre vor dem „Anschluß“ und dem Münchener Abkommen war der geistige und physische Exodus des Logischen Em-pirismus (symbolisiert durch Carnap, Reichenbach und Zilsel) vorgezeichnet, und wir können uns schwer dem Gedankenexperiment entziehen, was gewesen wäre, hätte die Geschichte nicht zum Untergang, sondern zum Sieg der Vernunft geführt … Allein die in Carnaps Logischer Syntax der Sprache (1934) formulierten Inhalte bedeuten im Ansatz die Geburt der modernen Wissenschaftstheorie. Auch Zilsel

27 Vgl. die Beiträge zu Reichenbach in Haller und Stadler 1993 und Reichenbach und Cohen 1978; Kamlah und Reichenbach 1977 ff.28 Neben den Beiträgen zu Zilsel in: Haller und Stadler 1993 vgl. Dvorak 1981; Zilsel 1976 und 1990.29 Carnap 1963, S. 20–34; Creath 1990, S. 107 ff.

Prolog: Zum Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie im ÜberblickXXIV

erarbeitete seine wissenschaftshistorischen und wissenschaftssoziologischen Be-funde bereits in seiner Wiener Zeit, so dass die Historisierung der „Wissenschafts-logik“ – welche gegenwärtig im Anschluss an Mach gepflegt wird – ebenfalls be-reits vorhanden war, bevor sie im amerikanischen Exil unterging. Zilsels Aufsätze zur Philosophie im Faschismus waren darüber hinaus ein konkreter Beitrag zum theoretischen Kampf gegen die nationalsozialistische Ideologie und deren geistige Mitläufer.30 Auf dieser Ebene war er einer der konsequentesten Verfechter des wis-senschaftlichen Philosophiegegen eine romantische, literarisierende Metaphysik und Professorenphilosophie.

Mit den drei Persönlichkeiten des Logischen Empirismus haben wir zugleich wesentliche innere und äußere Elemente der gesamten Bewegung repräsentiert: aufklärerisches politisches Bewusstsein mit basisdemokratischer Ausrichtung; die bedeutende Rolle des Judentums mit dem damit verknüpften Schicksal der Emig-ration; den logisch-mathematischen, naturphilosophischen und sozialwissenschaft-lichen Impetus; schließlich die Historisierung, Naturalisierung und pragmatische Ausrichtung der Wissenschaftstheorie, die in heutige Debatten einmündet. Noch Thomas Kuhn lieferte, wie schon erwähnt, seinen wirkungsvollen Beitrag The Structure of Scientific Revolutions (1962) im Rahmen der „Enzyklopädie der Ein-heitswissenschaft“; Carnap als Herausgeber begrüßte die Studie wärmstens. Die breite Wirkung dieser erweiterten Wissenschaftstheorie auch im Bereich moderner Sozialwissenschaften (Entscheidungs- und Spieltheorie) ist ein eigenes Kapitel des vom republikanischen Wien, Berlin und Prag ausgehenden Einflusses.

Zur Abrundung der exemplarischen biographischen Skizzen von Carnap, Rei-chenbach und Zilsel sei der zwischen den drei Metropolen pendelnde Mathematiker Richard von Mises (1883–1953) erwähnt, der zu den unterschätzten Proponenten der „empiristischen Wissenschaftsauffassung“ zählt.31 Von seinem Studienort Wien gelangte der Rilke-Kenner Mises beruflich über Brünn, Straßburg und Dresden nach Berlin, wo er von 1919 bis 1933 als Professor und Direktor des von ihm be-gründeten „Instituts für angewandte Mathematik“ an der Universität Berlin wis-senschaftlich, aber auch kulturell wirkte: So pflegte er in seinem Hause in Wiener Kaffeehaus-Manier einen „Mises-Kreis“, in dem sich die wissenschaftliche und literarische Avantgarde zum Jour fixe traf, unter ihnen Robert Musil, der die Ent-wicklung des Logischen Empirismus von Mach bis zum Wiener Kreis aufmerksam verfolgte und in seine Theorie des Romans einarbeitete. Mises, der mit dem Buch Wahrscheinlichkeit, Statistik und Wahrheit (1928) durch einen objektiven Begriff der statistischen Wahrscheinlichkeit die spezifische Diskussion mit Reichenbach und Carnap bis hin zu Popper maßgeblich bestimmt hat, musste schließlich Rei-chenbachs Schicksal der Emigration in die Türkei 1933 teilen. Beide betreiben an der neu errichtetenUniversität Istanbul Wissenschaft im Exil, beide leisten dort wirksame Bildungshilfe und legen – nach ihrer zweiten Emigration 1938 in die USA – neben ihrer intensiven Lehrtätigkeit den Grundstein für die Kontinuität wis-senschaftlicher Philosophie: Mises in Harvard, Reichenbach in Los Angeles. Das

30 Zilsel 1992.31 R. von Mises 1963/1964 und 1990.

Prolog: Zum Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie im Überblick XXV

im türkischen Exil verfasste Kleine Lehrbuch des Positivismus (von Mises 1939) ist sozusagen die Wiener Variante und zugleich das Pendant zu Reichenbachs Auf-stieg der wissenschaftlichen Philosophie (1951); und beide Selbstdarstellungen sind – zusammen mit Viktor Krafts Der Wiener Kreis (1950) – Ausgangspunkte der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Logischen Empirismus. Reichenbachs 1935 erschienene Wahrscheinlichkeitslehre und vor allem das 1938 bereits in den USA auch von Thomas Kuhn wahrgenommene Buch Experience and Prediction bildeten die theoretische Vorleistung für den Eintritt in die amerikanische „scien-tific community“. Das „statistische Zeitalter“ (Neurath), von Boltzmann eingelei-tet, wurde erstmals auf der Prager Tagung von 1929 öffentlich und kontrovers im Zusammenhang mit Wahrscheinlichkeit und Kausalität thematisiert und blieb seit-dem ein durchgehendes Thema für die Vertreter der wissenschaftlichen Philosophie (Stadler 2011).

Diese Aktivitäten manifestierten sich nicht nur in Einzelpublikationen, sondern auch in dem gemeinsamen Projekt der Zeitschrift Erkenntnis.32 Die Initiative zur Gründung einer eigenen Zeitschrift war bereits 1923/1924 von Schlick, Reichen-bach und den Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler und Kurt Lewin ventiliert wor-den, bis sich mit der Übernahme und Neuherausgabe der von Hans Vaihinger und Raymund Schmidt geführten Annalen der Philosophie 1930 im Felix Meiner Verlag die Möglichkeit einer eigenen philosophischen Plattform eröffnete. Die Publikati-onsgeschichte der Erkenntnis, die den breitesten Konsens der logisch-empirischen Bewegung repräsentierte, ist selbst ein zeitgeschichtliches Barometer für die Geis-tige Situation der Zeit – wie Jaspers seine kulturpessimistische Analyse nannte. Von Car-nap und Reichenbach im Auftrage der Berliner „Gesellschaft für empirische Philosophie“ und des Wiener „Vereins Ernst Mach“ herausgegeben, stellte dieses Publikationsorgan ein erstes Forum der wissenschaftlichen Philosophie in Öster-reich, Deutschland und der Tschechoslowakei dar. Sie wurde programmatisch mit Schlicks Artikel „Die Wende der Philosophie“ – einer von Wittgenstein inspirierten, euphorischen Bestandsaufnahme des „linguistic turn“ – vorgestellt. Das war jedoch nur eine Intention der Herausgeber, denn Reichenbach unterstrich bereits in seiner Einleitung das Programm, nämlich

Philosophie im Sinne von Wissenschaftskritik zu treiben und durch wissenschaftsanalyti-sche Methoden diejenigen Einsichten in Sinn und Bedeutung menschlicher Erkenntnis zu gewinnen, welche die in immer neuen Systemen formulierte, auf ein angenommenes Eigen-recht der Vernunft gegründete Philosophie der historischen Schulen vergeblich gesucht hatte.33

Reichenbach betrachtete Philosophie als ein Forschen, „ein Analysieren und Hin-durchschauen, ein stetig fortschreitendes Suchen nach Erkenntnis“ (Stadler 2011).34 Das in den folgenden Jahren internationalisierte Unternehmen geriet zusammen mit dem Verlag nach der nationalsozialistischen Machtübernahme bald unter enor-

32 Hegselmann und Siegwart 1992, S. 461–471.33 Reichenbach 1930/1931, S. 1.34 Ebd., S. 3.

Prolog: Zum Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie im ÜberblickXXVI

men Druck.9335 So mussten sich zum Beispiel Reichenbach und der Verleger Felix Meiner bereits im vierten Bd. (1934) gegen die Angriffe Hugo Dinglers zur Wehr setzen, der in einem antisemitisch gefärbten Rundumschlag gegen Einstein, den Wiener und den Berliner Kreis mit der Denunzierung des Logischen Empirismus als einer Art „Kulturbolschewismus“ die Kontrolle über die Zeitschrift zu bekom-men versuchte. Die Schwierigkeiten Meiners wurden wegen Reichenbachs politi-scher Vergangenheit in der sozialistischen Studentenbewegung und wegen seiner jüdischen Abstammung immer größer, so dass dieser selbst einen ausländischen Verleger vorschlug. Der siebente Band 1937/1938 wurde dann nur mehr von Carnap allein herausgegeben, und der achte Band der Erkenntnis musste 1939/1940 bereits als Journal of the Unified Science im holländischen Verlag Van Stockum & Zoon erscheinen, der von dem nach Den Haag emigrierten Otto Neurath als Exil-Ver-lag gewonnen werden konnte. Es ist bemerkenswert, wie diese Auseinandersetzung noch in den fünfziger Jahren eine makabre Fortsetzung fand und auf akademischem Boden wie in der Wissenschaftspolitik der Zweiten Republik präsent war.36 Eine erfreulichere Kontinuität stellte die Wiederbegründung der bis heute existierenden Erkenntnis im Jahre 1975 als International Journal of Analytic Philosophy – heraus-gegeben von Carl G. Hempel, Wolfgang Stegmüller und Wilhelm K. Essler – dar.

Neben der Zeitschriftenpublikation wurde die öffentliche Phase des Logischen Empirismus von den bereits erwähnten Gründungen der beiden Vereine in Wien und Berlin begleitet, die als organisatorische Voraussetzungen für die innere theo-retische Kommunikation und die kooperative Öffentlichkeitsarbeit bis zur Macht-übernahme des Faschismus und Nationalsozialismus gesehen werden müssen. Am 23. November 1928 fand die Gründungsversammlung des „Vereins Ernst Mach“, Verein „zur Verbreitung von Erkenntnissen der exakten Wissenschaften“, statt.37 Die gesamte Gründungsphase dieser Institution kann nur im Zusammenhang mit den sozialliberalen Strömungen der „Spätaufklärung“ in der Ersten Republik ver-standen werden, die selbst wiederum in der Wiener Volksbildungsbewegung ver-ankert war. Das intellektuelle und weltanschaulich-politische Vorfeld des Vereins Ernst Mach – von der Ethischen Gesellschaft, dem Monistenbund, dem „Verein Allgemeine Nährpflicht“ bis zu den Freidenkern – stellte vorerst den gesellschaftli-chen Bezugsrahmen im damaligen antagonistischen Kulturleben der Ersten Repub-lik her und bestimmte auch dessen Schicksal. Der ursprünglich kulturkämpferische Impetus wurde durch den zunehmenden Einfluss von Wiener-Kreis-Mitgliedern, al-len voran durch den Vorsitzenden Schlick, in Richtung auf eine „wissenschaftliche Weltauffassung“ sublimiert, doch war die starke objektive Verknüpfung des Vereins mit der Linken zwischen Liberalismus und Sozialismus der Grund für die prompte Auflösung nach dem 12. Februar 1934. Da konnte auch Schlicks persönliches En-gagement nicht mehr helfen, der noch in gutem Glauben an die Vernunft der neuen Machthaber zu appellieren versuchte. Der Verein Ernst Mach hatte in seiner fünf-

35 Hegselmann und Siegwart 1991.36 Kraft 1954, S. 259–266. Zu einer neueren Standortbestimmung von Dingler aus konstruktivis-tischer Sicht vgl. Wolters 1992.37 Stadler 1982b, S 171 f. und Kap. 4.2.1.

Prolog: Zum Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie im Überblick XXVII

jährigen Tätigkeit in Vorträgen und Studiengruppen ein Stück demokratischer Wis-senschaft vermittelt und praktiziert. Die etwa 50 Vorträge zeigen die Beteiligung eines Großteils des Wiener Kreises und seiner Peripherie, aber auch vieler anderer in- und ausländischer Natur- und Sozialwissenschaftler. Dieses Popularisierungs-organ war trotz seiner parteipolitischen Unabhängigkeit und theoretischen Plurali-tät nolens volens ein Teil der Kulturbewegung im sozialdemokratischen Wien. Die Partizipation von Feigl, Waismann, Zilsel, Kraft, Neurath, Kaufmann und anderen als Lehrer an Volkshochschulen und die Mitarbeit von Hahn, Zilsel und Neurath an der Glöckelschen Schulreformbewegung sind konkrete Manifestationen der gesell-schaftliche Identifikation, die in der antimetaphysischen Einheitswissenschaft nur das schärfste Instrument, ein „Occamsches Rasiermesser“, gegen den grassierenden Irrationalismus, die metaphysische Spekulation und die universalistische System-philosophie fand. Dieses Programm war weder zeitlich noch personell oder theore-tisch identisch mit dem innerphilosophischen Profil des Wiener Kreises, hat jedoch mit der Forcierung des Physikalismus, der Einheitswissenschaft und der kollektiven interdisziplinären Arbeitsausrichtung einen wichtigen Impuls für die – ab 1934 von Neurath organisierte – Unity-of-Science-Bewegung ausgeübt. Bis dahin war der Anspruch mit der Parole „Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben, und das Leben nimmt sie auf“38 der gesellschaftlichen Realität am nächsten, zu-gleich am bedrohlichsten und am stärksten bedroht.

Eine analoge Szene finden wir im Falle der Berliner Gesellschaft für empirische/wissenschaftliche Philosophie von 1927 bis 1933 vor.39 Das Ziel, die Überwindung des Auseinanderdriftens von Einzelwissenschaften und Philosophie, war bereits im Gründungsaufruf der von Petzoldt ins Leben gerufenen „Gesellschaft für positi-vistische Philosophie“ im Jahre 1912 formuliert worden. Als Unterzeichner lesen wir David Hilbert, Felix Klein, Ernst Mach, Albert Einstein, Max von Laue und – Sigmund Freud. Auch dies war eine Absage an die dominierende aprioristische Philosophie in und um die „Kantgesellschaft“, in der nach dem Ersten Weltkrieg die „Gesellschaft für positivistische Philosophie“ wegen inhaltlicher Differenzen und wirtschaftlicher Schwierigkeiten wieder aufging. In einem zweiten Anlauf konnte von Petzoldt die Berliner Ortsgruppe der „Internationalen Gesellschaft für empiri-sche Philosophie“ begründet werden, an der sich Mediziner, Techniker, Biologen und Psychologen und eben die Vertreter der neuen Philosophie um Hans Reichen-bach maßgeblich beteiligten. Obwohl nun die Grundintentionen beider Vereinigun-gen in Wien und Berlin sehr ähnlich waren, zeigte der Kreis um Reichenbach eine geringere Verankerung in der Berliner Volks- und Arbeiterbildungsbewegung, zu-gleich aber einen stärkeren interdisziplinären Trend: Als wissenschaftliche Philo-sophie wird dort eine philosophische Methode verstanden,

welche durch Analyse und Kritik fachwissenschaftlicher Resultate zu philosophischen Fragestellungen und Antworten vordringt. Mit einer solchen wissenschaftsanalytischen Methode stellt sich die Gesellschaft in bewußten Gegensatz zu allen Ansprüchen einer Phi-

38 Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis 1929, S. 45.39 Zur „Berliner Gesellschaft“ vgl. die entsprechenden Beiträge von Danneberg, Hoffmann, Kam-lah, Laitko, Peckhaus und M. Reichenbach in: Haller und Stadler 1993; Danneberg u. a. 1994.

Prolog: Zum Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie im ÜberblickXXVIII

losophie, die ein Eigenrecht auf Vernunft behaupten und Sätze von aprioristischer Geltung aufstellen möchte, welche der wissenschaftlichen Kritik nicht unterliegen.40

Nicht so sehr das Programm einer physikalistischen Einheitswissenschaft stand also hier im Zentrum der Bemühungen als vielmehr die Durchdringung der Philoso-phie, ausgehend von den Einzelwissenschaften Biologie, Psychologie und anderen Disziplinen der Naturwissenschaft und Technik. Dementsprechend finden sich im Vortragsprogramm der Berliner Gesellschaft neben Philosophen, Logikern und Ma-thematikern gleichrangig Ärzte, Individualpsychologen und Psychoanalytiker, mit denen Reichenbach bis in die amerikanische Zeit Kontakt pflegte. Diese Aktivitäten sind mit den Namen Walter Dubislav, Friedrich Kraus, Alexander Herzberg, August von Parseval, Kurt Grelling, Carl G. Hempel und vor allem mit den Gestaltpsycho-logen Kurt Lewin und Wolfgang Köhler verbunden. Von den links orientierten Den-kern, die im amerikanischen Exil noch Kontakt mit Reichenbach pflegen sollten, sei hier neben Bertolt Brecht noch Karl Korsch angeführt, der im Journal of Unified Science auch als Autor an der logisch-empirischen Bewegung teilnahm. Und als Marginalie nicht uninteressant ist, dass als letzter dokumentierter Vortrag in der Berliner Gesellschaft derjenige von Alfred Adler am 23. 5. 1933 über „Besitz- und Gebrauchspsychologie“ aufscheint. Während in Wien die Tradition von Bolzano, Brentano, Mach und Wittgenstein vorerst das Selbstverständnis prägte, wurde in Berlin zumindest terminologisch stärker an Helmholtz, Planck, Boltzmann und an die neukantianische Schule (Cassirer, Nelson, Fries) angeknüpft. Die moderne Lo-gik und natürlich Einsteins Relativitätstheorie waren gemeinsames Rezeptionsgut in beiden Gruppierungen, die sich mit Beginn der dreißiger Jahre bis zur Emigration trotz persönlicher Differenzen zwischen Reichenbach und den Wienern inhaltlich annäherten. So bedeutete die 1931 auf Anraten von David Hilbert vorgenommene Namensänderung in Gesellschaft für „wissenschaftliche“ statt „empirische“ Philo-sophie die bewusste Integration von Logik und Mathematik.

In Wien reifte der Plan zur Veröffentlichung einer Selbstdarstellungsbroschüre, als Schlick Anfang 1929 einen lukrativen Ruf an die Universität Bonn erhielt, den er schweren Herzens – trotz demonstrativer Untätigkeit des österreichischen Unter-richtsministeriums – auf Betreiben des Mach-Vereins und anderer Sympathisanten ablehnte. Schlicks Entscheidung forcierte die kollektive Arbeit vor allem von Hahn, Carnap und Neurath an der Broschüre, die dann tatsächlich zur Tagung in Prag, die gleichzeitig mit der „Deutschen Physikalischen Gesellschaft“ und der „Deutschen Mathematikervereinigung“ stattfand, aufgelegt werden konnte. Der kämpferische und popularisierende Text wurde in einem ersten Konzept von Neurath zusammen mit den beiden Mitherausgebern erstellt und ist schließlich von Carnap verfasst worden. So kann es nicht überraschen, daß darin die Prinzipien der Diesseitigkeit, Lebensverbundenheit und Interdisziplinarität des Kreises genauso betont werden wie die Referenzen zum englischen Empirismus und zum amerikanischen Pragma-tismus im Zusammenhang mit der Wiener liberalen und austromarxistischen Tradi-tion. Die Berufung auf Frege, Russell und Wittgenstein konnte letzteren nicht davon abhalten, sich wegen des „reklamehaften Stils und dogmatischer Formulierungen“

40 „Gesellschaft für empirische Philosophie“, in: Erkenntnis 1 (1930/1931), S. 72.

Prolog: Zum Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie im Überblick XXIX

von der Broschüre zu distanzieren, und auch Schlick selbst war von Form und In-halt nicht gerade begeistert.41

Das erste öffentliche Auftreten im Rahmen der Prager Tagung war dann erwar-tungsgemäß – wie Philipp Frank als Hauptorganisator berichtete – vom Widerstand gegen die Wissenschaftliche Weltauffassung seitens der mit veranstaltenden deut-schen Organisationen gekennzeichnet, die mit Verblüffung auf die Perspektive einer Verbindung von Philosophie und modernen Wissenschaften reagierten. In der Tat sollten die dort behandelten Schwerpunkte „Kausalität und Wahrscheinlichkeit“ und „Grundlagen der Mathematik und Logik“ für die folgenden Dekaden zu Dauerbren-nern der philosophischen Diskussion werden. So bedeutete die Selbstdarstellung der Berliner und Wiener Gruppen (Frank, Neurath, Reichenbach, Mises, Carnap, Waismann und Feigl) wohl den spürbaren Beginn des mühsamen, verzweigten und unterbrochenen „Aufstiegs der wissenschaftlichen Philosophie“ im zwanzigsten Jahrhundert. Die Spuren dieses geistigen Aufbruchs sind in Prag verwischt, in Ber-lin und Wien nur mehr schwach oder verzerrt vorhanden. Die Frage, warum das so ist, hängt direkt mit der Entwicklung in den dreißiger Jahren zusammen. Denn wäh-rend die Internationalisierung und der Transfer des Logischen Empirismus in Wort und Schrift zunahmen und sich ein ganzes Netz von Wiener, Berliner und Prager Kreisen um die Zirkel von Schlick, Reichenbach, Frank und Carnap herausbildete, sorgten Faschismus und Nationalsozialismus langsam, aber systematisch für die geistige bis physische Vernichtung oder Vertreibung des Logischen Empirismus aus Europa (ausgenommen England). Aus dem wissenschaftlichen Leben verschwan-den nicht nur die genannten Intellektuellenzirkel, sondern ganze innovative Wis-senschaftskulturen mit einem florierenden Kommunikationsnetz42: unter ihnen Karl Mengers „Mathematisches Kolloquium“ (mit Gödel, John von Neumann, Tarski), der Richard-von-Mises-Kreis in Berlin und Wien (Hahn, Helly, Löwy, Ratzersdor-fer), die kleine Wittgenstein-Gruppe (Schlick, Waismann), der Gomperz-Kreis (mit Zilsel, Kraft, Popper und anderen), die – mit personellen Überschneidungen – alle-samt einen intensiven Dialog pflegten. In diesem Kontext sind zusätzlich der Karl-Bühler-Kreis mit der „Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle“ (Marie Jaho-da, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel), die „Soziologische Gesellschaft“ (Wilhelm Jerusalem, Rudolf Goldscheid, Carl Grünberg, Max Adler), der Otto-Bauer-Kreis (Otto und Helene Bauer, Edgar Zilsel, Otto Neurath) und nicht zuletzt Neuraths „Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum“ als volksbildnerische und sozialwissen-schaftliche Institution zu nennen. Im liberal-konservativen Spektrum agierten die Zirkel um den Historiker Alfred F. Pribram (unter anderem Friedrich Engel-Janosi, Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek, aber auch Moritz Schlick), das Ludwig-Mises-Seminar (neben den liberalistischen Nationalökonomen wie Oskar Morgenstern auch Felix Kaufmann) und der sogenannte „Geist-Kreis“ (mit Her-bert Fürth, Friedrich August von Hayek, Friedrich Engel-Janosi, Gottfried Haber-ler, Fritz Machlup, Oskar Morgenstern, Alfred Schütz, Felix Kaufmann und Karl Menger). Zwischen beiden Polen ist die „Wiener Schule der Rechtstheorie“ um

41 Mulder 1968.42 Vgl. Stadler 1991.

Prolog: Zum Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie im ÜberblickXXX

Hans Kelsen (mit Felix Kaufmann) bis zu dessen politisch bedingtem Weggang 1930 aus Wien anzusiedeln. Kelsen sollte nach seiner endgültigen Emigration Ende der dreißiger Jahre wieder im Rahmen der Unity-of-Science-Bewegung zum Logi-schen Empirismus stoßen und in der „Library of Unified Science“ in Holland ein wichtiges Buch unter dem Titel Vergeltung und Kausalität (1940) publizieren, das inzwischen, leider ohne Hinweis auf die Entstehungsgeschichte, wiederaufgelegt worden ist.43

Soweit einige Hinweise zum Panorama einer versunkenen Welt – was die Fragen provoziert, warum diese kreativen Wissenschaftskulturen aus der geistigen Land-schaft auch im Nachkriegs-Österreich verschwunden blieben, wie denn eine derar-tige produktive Wissenschaft heutzutage soziologisch und theoretisch auszusehen hätte und schließlich ob es so etwas wie machbare conditions of excellence geben könnte.

Ein Unterschied zum heutigen Wissenschaftsbetrieb ist auf den ersten Blick er-kennbar: Um es in modischer Terminologie zu sagen, war das Wissenschaftsprofil des Logischen Empirismus tatsächlich multiethnisch und multikulturell, zugleich auch fächer- wie länderübergreifend, schließlich von einer kontinuierlichen und dynamischen Kommunikation geprägt. Was aber vielleicht noch entscheidender ist: Trotz individueller Differenzen funktionierte die gemeinsame Arbeit an offe-nen Problemen und Themen. Transparenz und Klarheit waren die Voraussetzungen für eine pluralistische Theoriendynamik mit erwünschter Kritik und Selbstkritik im Kampf der Argumente. So gab es neben den Publikationen einzelner Mitglieder eben gemeinsame Buchreihen und Veranstaltungen als Ergebnis bewußter Teamar-beit, ohne daß man eine hermetische „Schule“ bilden wollte.

Eine der letzten Stationen dieser Internationalisierung auf mitteleuropäischem Boden war die „Prager Vorkonferenz“ von 1934, wenige Tage vor dem großen tra-ditionellen „8. Internationalen Kongreß für Philosophie“44, der bereits die Rolle der Philosophie zwischen Demokratie und Faschismus zum Thema machte (unter anderem mit einem Beitrag von Thomas G. Masaryk). Für Frank und seine Ge-sinnungsfreunde wie Neurath, der nach dem Februar 1934 nicht mehr nach Öster-reich zurückkehren konnte und in Prag praktisch auf der Durchreise ins holländi-sche Exil Station machte, war die Diagnose klar – wenn auch aus heutiger Sicht naiv-optimistisch: die Entwicklung von der Demokratie zum Totalitarismus war nicht zufällig begleitet von einem Rückfall wissenschaftlicher Weltauffassung in die „alte Philosophie“. Daher musste der Beitrag im Kampf um eine demokrati-sche Gesellschaft auf geistiger Ebene in der Verbreitung einer antimetaphysischen, wissenschaftsorientierten Forschungsrichtung inmitten der traditionellen Philoso-phenwelt bestehen. So versuchte man – gerade infolge des Eingeständnisses, „daß das menschliche Geschehen mehr von unbewußten Trieben beherrscht wird als von bewußt wissenschaftlichem Denken“ und mit der Forderung, „daß dieses Trieb- und Gefühlsleben … auch als Gegenstand der Wissenschaft ernstgenommen wird“45 –

43 Kelsen 1982.44 Actes du Huitième Congrès de Philosophie à Prague 2–7 septembre 1934, Prague: Orbis 1936.45 Frank 1935b.

Prolog: Zum Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie im Überblick XXXI

sich einerseits gegen Irrationalismus und „Pseudorationalismus“ abzugrenzen und andererseits die Befunde einer wissenschaftlichen Philosophie ganz konkret als positives Paradigma zu präsentieren. Das geschah nun bereits in Koalition mit der polnischen Logikerschule46 (Kasimir Ajdukiewicz, Janina Hosiasson, Alfred Tars-ki, Jan Lukasiewicz), mit den amerikanischen Pragmatisten (Charles Morris, Er-nest Nagel), den skandinavischen Wissenschaftsphilosophen (Eino Kaila, Jørgen Jørgensen, Åke Petzäll), französischen Mitstreitern und anderen. Die auf der „Pra-ger Vorkonferenz“ im Vorfeld philosophischer Rechtfertigung des Totalitarismus vorgebrachten Themen waren für die anschließenden „Internationalen Kongresse für Einheit der Wissenschaft“ verbindlich: Kausalität und Wahrscheinlichkeit, mo-derne Enzyklopädie und wissenschaftliche Sprache. Das ist aber bereits ein eigenes Kapitel einer Exilwissenschaft, welches schon auf die Weiterentwicklung des Lo-gischen Empirismus in Richtung auf analytische Wissenschaftstheorie, Semiotik (Morris) und Wissenschaftsgeschichte (Kuhn) weist.

Diese Transformation war eine natürliche Folge des offenen Forschungspro-gramms der dreißiger Jahre. Auch die Idee einer kollektiven Wissenschaft in prak-tischer Absicht – sieht man von Wittgenstein ab – galt den meisten als Ausdruck des modernen kosmopolitischen Geistes. Im Rahmen der Enzyklopädie wurden demnach common sense und ein Erkenntnisrelativismus mit holistischer Wissen-schaftstheorie angestrebt.

So sehen wir am Beispiel des Logischen Empirismus vor seiner Zerschlagung und der erzwungenen Emigration aus Mitteleuropa, wie die wissenschaftliche Phi-losophie und Weltauffassung im internationalen Rahmen aufblühte und gedieh. Ihr Vermächtnis kann wohl nur darin bestehen, sie kritisch und kooperativ ohne musea-le Nostalgie weiterzuentwickeln.

Wenn – wie oben ausgeführt – der 1991 verstorbene österreichische Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Stegmüller, der selbst mit seinen Büchern wichtige Beiträge zur theoretischen Rückkehr des Logischen Empirismus geleistet hat, nach einer kritischen Bestandsaufnahme zu dem Schluss kommt, dass wir die Leiter, auf der wir über den Empirismus hinausgestiegen sind, nicht wegwerfen müssen47, so könnte man hinzufügen, die wissenschaftstheoretische Forscherge-meinschaft steigt eigentlich noch immer – wenn auch mit Pausen, Hindernissen und Rückschlägen – auf dieser Leiter.

46 Szaniawski 1989.47 Stegmüller 1983 und 1991.