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1 Colectivo Situaciones u.a. Que se vayan todos! Krise und Widerstand in Argentinien Aus dem Spanischen übersetzt von Stefan Armborst Herausgegeben von Ulrich Brand Assoziation A

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Colectivo Situaciones u.a.

Que se vayan todos!Krise und Widerstand in Argentinien

Aus dem Spanischen übersetzt von

Stefan Armborst

Herausgegeben von

Ulrich Brand

Assoziation A

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Das Buch beruht auf der argentinischen OriginalausgabeColectivo Situaciones: A puntes para el nuevo protagonismo social

(erschienen bei E diciones De mano en mano, April 2002).

In Spanien ist das Buch bei V irus E ditorial (www.comalter.net/virus)und in Italien unter dem Titel

Piqueteros. L a rivolta argentina contro il neoliberismo im VerlagDeriveA pprodi (www.deriveapprodi.org) erschienen.

Inhaltsverzeichnis

Ulrich BrandEinleitung: Spurensuche nach neuen Formenemanzipativer Politik 7

Colectivo SituacionesVorwort: Für einen neuen sozialen Protagonismus 19

Colectivo SituacionesDer 19. und 20. Dezember: E in Aufstand neuen Typs 27

Horacio GonzálezDie Nacht des 19. Dezember 52

León RozitchnerDen Bann des Schreckens brechen 60

La Escena ContemporáneaDas Ende der menemistischen Kulturund die Ambivalenz nationaler Symbole 63

Colectivo SituacionesVielfalt und Gegenmachtin den E rfahrungen der Piqueteros 69

MTD SolanoDie Zeiten der Bewegung 95

Colectivo SituacionesPlünderungen und soziale Netze:E indrücke vom 19. und 20. Dezember 105

Colectivo Situaciones»Asambleas«: Die Versammlungen in den Stadtteilen 116

Luis ZamoraE ine paradoxe Situation:die Repräsentation von der Repräsentation aus negieren 130

Raúl ZibechiZum Produzieren braucht es keine ChefsBesetzte Fabriken als Teil der Bewegung 135

© der deutschsprachigen AusgabeBerlin, Hamburg, Göttingen, März 2003:

Assoziation AGneisenaustraße 2a

10961 BerlinTel.: 030-69582971

E-Mail: [email protected]

ISBN 3-935936-19-2

Lektorat + Satz: thebTitelgestaltung: kv

Druck: Winddruck Siegen

Die Mitglieder des Colectivo Situaciones sind:

Edgardo FontanaNatalia FontanaVerónica Gago

Fabio RomanellaMario Santucho

Sebastián ScolnikDiego Sztulwark

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Alix ArnoldBesetzte Betriebe: Anmerkungen zum Dilemmader Selbstverwaltung im Kapitalismus 146

Colectivo SituacionesÜber den Tausch zu einer neuen ÖkonomiePraxis und Probleme der Tauschnetzwerke in Argentinien 152

Stefan ThimmelTauschbörsen: Gescheitertes Experimentoder E rfahrung für die Zukunft? 16 1

Alix ArnoldH.I.J.O.S. – den Tätern keine Ruhe lassen 173

Colectivo SituacionesDiffuse Netze: Von der politischen Illusionzu neuen Formen der Gegenmacht 180

Stefan Armborst und Colectivo SituacionesHerrschaft – Krise – WiderstandChronologie der jüngsten Geschichte Argentiniens 203

Zu den AutorInnen 220

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Ulrich Brand

Einleitung: Spurensuchenach neuen Formen emanzipativer Politik

Ähnlich wie Ende 1994 Mexiko stand im Dezember 2001 Argen-tinien für kurze Zeit im Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit. Wäh-rend jedoch einige Jahre zuvor die Finanzkrise in dem zentral-amerikanischen Land mit schnellen internationalen Finanzhilfengemeistert wurde, versagten die potenziellen Geldgeber sieben Jahrespäter jegliche Unterstützung. Fünf Präsidenten gaben sich umWeihnachten 2001 innerhalb von knapp zwei Wochen die Klinkeder Casa Rosada, des Präsidentenpalastes an der Plaza de Mayo inBuenos Aires, in die Hand. Anfang Januar übernahm der PeronistEduardo Duhalde das Amt.

Ähnlich wie in Mexiko kam die Krise nicht unerwartet, son-dern spitzte sich im Jahr vorher zu. Nach einer dreijährigen Wirt-schaftskrise beschleunigte sich im Verlauf des Jahres 2001 die Kapi-talflucht, weil das berühmt-berüchtigte »Vertrauen« der interna-tionalen – aber auch argentinischen – Anleger fehlte. Dramatischwurde die Situation, als am 30. November an einem einzigen Tagdie privaten Sparer 1,3 Milliarden Pesos (damals noch 1,3 Mrd.US-Dollar entsprechend) von ihren Konten abhoben. Am 1. De-zember verfügte Wirtschaftsminister Domingo Cavallo die E in-frierung der Sparguthaben, den sog. Corralito (»Pferch«), um dievom Zusammenbruch bedrohten Banken und die Parität von ar-gentinischem Peso und US-Dollar zu schützen. Es durften monat-lich nur noch maximal 1.000 US-Dollar pro Konto abgehobenwerden. Bei denen, die überhaupt so viel Geld hatten, machtesich die Angst breit, dass zum einen der Verfügungsrahmen weitereingeschränkt werden würde. Zum anderen drohten weitere Ver-luste im Fall eines Zwangsumtausches der Dollarguthaben in ar-gentinische Pesos, weil dieser von einer Abwertung bedroht war.

Die Ursache der Krise liegt zum einen in der für viele peripher-kapitalistische Länder andauernden internationalen Abhängigkeit,die zuvorderst darin besteht, dass die Form der Integration in denWeltmarkt eine dynamische bürgerlich-kapitalistische Entwicklung

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nur selten zulässt. Die jüngste Krise in Argentinien ist aber auchdadurch gekennzeichnet, dass das neoliberale Projekt mit einerMilitärdiktatur (1976-1983) begann und die während dieser Zeitdrastisch anwachsende Auslandsverschuldung nach der Abdankungder Militärs zu einem Knebel für jegliche nicht-neoliberale Wirt-schaftspolitik wurde. Dies bekam die erste demokratisch gewählteRegierung unter Raúl Alfonsín in den 80er Jahren deutlich zu spü-ren. Das sich nach dem Moratorium Mexikos im Sommer 1982herausbildende internationale Schuldenregime zielte nicht daraufab, die damit einhergehenden Lasten zwischen nördlichen undsüdlichen Ländern und Banken gleichmäßig zu verteilen. Vielmehrsetzten sich die im sog. Londoner (internationale Großbanken)und Pariser Club (G7-Länder) zusammengeschlossenen Gläubi-ger mit ihren Interessen durch: nämlich den Schuldendienst (Zinsund Tilgung) zu sichern. Die Regierungen der verschuldeten Län-der wurden zu sog. Strukturanpassungsprogrammen (SAP) gezwun-gen, wenn sie fresh money erhalten wollten. Diese Programme sa-hen eine Verringerung des Defizits der öffentlichen Haushalte,eine drastische Rücknahme sozialpolitischer Funktionen des Staa-tes, Währungsabwertung, wirtschaftliche Außenöffnung und eineLiberalisierung des Finanzsektors sowie die – besonders umstritte-nen – Privatisierungen vormals öffentlicher Unternehmen vor. Dasüberragende Ziel bestand darin, Mittel für den Schuldendienstfreizumachen. Federführend wurden hier zwei internationale In-stitutionen, in denen die metropolitanen Länder das Sagen hat-ten, nämlich der Internationale Währungsfonds (IWF) und dieWeltbank. Die Politik der SAP wurde später, dem Sitz von IWFund Weltbank folgend, als Washington Consensus bezeichnet.

Der Neoliberalismus ist aber nicht nur ein von außen aufge-zwungenes Wirtschaftsmodell, sondern ein Klassenprojekt der herr-schenden Eliten, denen sich angesichts eines prekären Akkumu-lationsmodells in den 70er Jahren mit der Auslandsverschuldungeine alternative Möglichkeit der Reichtumsbildung bot, indem siegünstige Kredite aufnahmen. Diese wurden nicht für produktiveInvestitionen genutzt, sondern ins Ausland auf Konten mit höhe-ren Zinsen transferiert.

In den 90er Jahren kam im sich immer stärker entindustria-lisierenden Argentinien ein zweiter Weg der Reichtumsbildunghinzu. Unter dem mit links-nationalistischen Wahlkampfver-sprechen im Jahr 1989 gewählten peronistischen Präsidenten Car-

los Menem kam es zu einem umfassenden Privatisierungs-programm. In den Jahren 1992/1993 flossen 21 Milliarden US-Dollar ins Land. Dem neoliberalen Modell zufolge war das positiv,denn Auslandsinvestitionen wurden als wichtiger Beitrag zur Ent-wicklung angesehen. Allerdings handelte es sich zu zwei Drittelnum Unternehmensaufkäufe im Zuge von Privatisierungen: DasTelefonnetz, die Fluglinie A erolíneas A rgentinas, die Erdölgesell-schaft, Teile des Straßennetzes, die Rentenversicherung sowie dieBuslinien und das Wassernetz in Buenos Aires gehörten zu denprominentesten Fällen. Zu Beginn und Mitte der 90er Jahre gabes vorübergehend hohe Wachstumsraten – samt der prompten Redevom milagro argentino (argentinischen Wunder) –, aber von einerökonomischen Stabilisierung konnte nicht gesprochen werden.

Das neoliberale Projekt Menems hatte zunächst eine breiteUnterstützung in der Bevölkerung. Die Überbewertung der ein-heimischen Währung durch eine zehn Jahre aufrechterhaltene 1:1-Bindung an den US-Dollar ermöglichte zusammen mit sinkendenZöllen billige Importe, von denen insbesondere die Mittelklassenprofitierten. Die Währungsparität ermöglichte zusammen mitAuslandskrediten und Privatisierungen eine niedrige Inflation.Nach zwei Hyperinflationen zu Beginn und Ende der 80er Jahremit traumatischen Alltagserfahrungen (1989 betrug sie 4.800 Pro-zent) und immensen Umverteilungswirkungen von unten nachoben war die niedrige Inflation eine zentrale Legitimations-grundlage neoliberaler Politik. Dabei konnte sich Menem – imGegensatz zu seinem Vorgänger Alfonsín und seinem Nachfolgerde la Rúa – der Unterstützung einer wichtigen gesellschaftlichenKraft in Argentinien sicher sein: der peronistischen Gewerkschaf-ten. Sie führten gegen die beiden nicht-peronistischen Präsiden-ten mehrere Generalstreiks durch, hielten aber unter Menem still.

Das Erstaunliche im Dezember 2001 war so weniger die Krise,sondern die Reaktion der argentinischen Bevölkerung. Wurde ihrdoch nach der mörderischen Militärdiktatur, einer von Wirtschafts-krisen begleiteten Redemokratisierung in den 80er Jahren und ei-ner neoliberalen Musterregierung unter Menem politische Apa-thie und Zerstrittenheit zugeschrieben. Wenn Linke aus Westeu-ropa nach Lateinamerika blickten, dann in den 80er Jahren nachMittelamerika und in den 90er Jahren eher nach Brasilien zur Ar-beiterpartei PT und Landlosenbewegung MST, nach Uruguay zueiner breiten Linken in der Frente A mplio und natürlich in den

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letzten Jahren nach Mexiko und Ecuador, wo indigene Bewegun-gen ein emanzipatives Projekt vorantrieben. Argentinien? Nada.

Das (überwundene?) Erbe des Peronismus

In der Tat lag und liegt eine politische Linke im klassischen Sinnein Argentinien danieder. Das hat neben der Militärdiktatur mitdem widersprüchlichen peronistischen Erbe zu tun. Der Peronis-mus geht auf die 1940er Jahre zurück, als Juan Domingo Perón(zusammen mit seiner E hefrau E vita Perón) dazu beitrug, alsArbeits- und Sozialminister und später als Präsident die Lebensbe-dingungen der breiten Bevölkerung zu verbessern. Gründungs-mythos ist der 17. Oktober 1945, als auf Betreiben der US-Regie-rung der Minister Perón wegen seiner »antiimperialistischen« Äu-ßerungen festgenommen wurde. E ine gewaltige Massenmobili-sierung erreichte seine Freilassung und knüpfte die symbolischenBande zwischen dem national-populistischen Führer und seinemVolk.

Mit seiner populistischen Politik stand er damals nicht alleine,denn auch in anderen lateinamerikanischen Ländern konnten nachden Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise seit 1929 und angesichtseines gewissen Spielraums im Zuge der Blockkonfrontation eigen-ständige nationale Wirtschaftspolitiken durchgesetzt werden: vomStaat induzierte Industrialisierung, Stärkung des Binnenmarktes,aktive Außenhandelspolitik, eine gewisse Umverteilung. DiesePolitiken waren Ausdruck eines Klassenkompromisses. Perón wurdevon der traditionellen Oligarchie und der Kirche gehasst, grenzteaber auch nicht-peronistische Linke aus. Teil des Klassenkompro-misses war der Aufbau starker, eng an den Staat und die peronis-tische Partei gebundener Gewerkschaften, die keine unabhängigeArbeiterInnenvertretung duldeten. Der frühe Peronismus verbes-serte die Lebensbedingungen, verschaffte den Lohnabhängigen zumersten Mal in der argentinischen Geschichte eine gewisse politischeMacht, setzte erhebliche materielle Rechte für Frauen durch. Dies al-les war verkörpert in den peronistischen Verbänden und derperonistischen Partido Justicialista (Gerechtigkeitspartei) – geschahjedoch in engen und kontrollierten Bahnen. Der »Sozialpakt« inArgentinien, der auf einer antiimperialistischen Rhetorik, aber auchPraxen der Verstaatlichung ausländischer Unternehmen basierte,wurde von der Industriebourgeosie teilweise gestützt.

Der Peronismus hatte immer verschiedene Flügel und machteMetamorphosen durch. Alejandro Horowicz schreibt in seinemBuch L os cuatro peronismos, dass die Uneinheitlichkeit und Dis-kontinuität seine zentralen Merkmale seien. Nach der knapp zehn-jährigen Präsidentschaft Peróns bis zu einem Militärputsch 1955entwickelte sich ein »Peronismus im Widerstand«, der entschei-dend zu den breiten Volksbewegungen seit Ende der 60er Jahrebeitrug. Mit Héctor Cámpora gewann ein linker Peronist die Wah-len am Ende einer weiteren Militärdiktatur (1966-1973) und gabsein Amt an Perón ab. Der Peronismus basierte in dieser Phase aufder Industriebourgeosie und den radikalen sozialen Bewegungen.Beide Peronismen bekämpften sich aufs Schärfste und teilweisemit Waffengewalt. Die peronistische Linke glaubte zu LebzeitenPeróns, den »Alten« von einer progressiven Politik überzeugen zukönnen. Er sei von den falschen Leuten »eingekreist«, und manmüsse ihm mit Massendemonstrationen die Augen öffnen für das,was die Bevölkerung wolle. Perón selbst, der am 1. Juli 1974 starb,hatte für die sozialrevolutionären Vorstellungen nichts übrig. Deroffizielle Peronismus – und das waren auch die Gewerkschaften,aus deren Reihen besonders viele vor und nach dem Putsch er-mordet wurden – widersetzte sich der Militärdiktatur ab 1976 nicht.Der Klassenkompromiss wurde von oben endgültig aufgekündigt.Die peronistische Linke, die zum Opfer ihrer unklaren populistisch-linksnationalistischen Rhetorik wurde, hatte dem nur wenig ent-gegenzusetzen. In den 80er Jahren und noch stärker nach demWahlsieg Menems in den 90ern entwickelt sich der Peronismus zueiner neoliberalen Partei. Heute hat der Peronismus nichts mehrzu bieten. E r wurde unter Menem restlos diskreditiert. Korrupti-on und die Tradition eines autoritären Caudillismo bestimmen seinBild. Wichtig wird in Zukunft sein, inwieweit die Linke sich vonihrem peronistischen Erbe befreien und die disziplinierende Machtder Gewerkschaftsbürokratie brechen kann.

Zum Anliegen des Buches

Die Interpretationen der aktuellen Ereignisse in Argentinien sindvielfältig und speisen sich aus widersprüchlichen Alltagserfahrungenund politischen Entwicklungen. Zweifellos muss zuerst gesehenwerden, dass sich die materiellen Lebensbedingungen der meistenMenschen dramatisch verschlechtert haben. Die Einschätzung der

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Widerstände reicht von einem Versinken der Bevölkerungsmehr-heit in Depression bis hin zur Feststellung einer revolutionärenSituation, wobei letztere Perspektive eher außerhalb Argentiniensvertreten wird. Viele, auch hierzulande, sehen im nicht von linksgefüllten »Machtvakuum« das Hauptproblem. »Da passiert ja oh-nehin nichts«, ist die immer wieder zu hörende Einschätzung. »Esgibt keinen politischen Akteur, der Alternativen vorantreiben könn-te.« Allerdings, und das wird in diesem Buch sehr deutlich, mussder Begriff der Alternativen selbst problematisiert werden. Es gehteben nicht um jene großen Entwürfe, welche die konkreten Er-fahrungen ignorieren oder funktionalisieren. Das gilt auch für eineradikale und häufig avantgardistische Linke. Aus argentinischerPerspektive schreibt das Colectivo Situaciones: »Die erträumtenAufstände sind immer (im)perfekter und unmöglicher als die rea-len, die sich nicht an die karikaturhaften Reste einer verschlisse-nen Avantgarde anpassen.«

Wir wollen mit diesem Band keine Großinterpretation der jüng-sten Geschehnisse in Argentinien vorlegen. Das Buch ist außer-dem keine »realitätsgerechte« Darstellung der Ereignisse. Wer sichdazu informieren möchte, sei beispielsweise auf den informativenReader des Forschungs- und Dokumentationszentrums Chile/Lateinamerika (FDCL) oder das Sonderheft der ila der Informati-onsstelle Lateinamerika zu Argentinien verwiesen.

In den versammelten Beiträgen geht es zentral um die Ereignis-se, die am 19./20. Dezember 2001 kulminierten und den Aus-gangspunkt für weitere Prozesse darstellten. Die Perspektive, ausder die sozialen Prozesse der letzten Jahre betrachtet werden, istaber kein »positivistisches« Festhalten der Geschehnisse, sonderngleicht einer Spurensuche: Der Blick soll auf die kapillaren emanzi-pativen Veränderungen jenseits von Regierungspolitik, der nächs-ten Verhandlungsrunde mit dem IWF oder den anstehenden Wah-len gerichtet werden. Wie und wo entstehen rebellische Subjekti-vität und Ansätze neuer Formen der Vergesellschaftung in denspezifischen Lebensumständen der Menschen in Argentinien? Wieäußert sie sich, was sind ihre Potenziale, ihre Widersprüche undihre Grenzen?

D ie Mitglieder des Colectivo S ituaciones und die anderenAutorInnen nehmen diese fragende und tastende Perspektive ein.Jenseits der – damit nicht unwichtig werdenden – makropolitischenund makroökonomischen Sichtweisen werden die widersprüchli-

chen Erfahrungen jener in den Blick genommen, die sich aus ganzunterschiedlichen Motivationen wehren und konkrete Alternati-ven entwickeln. Darin schaffen sie neue Räume und Erfahrun-gen, geraten an Grenzen. Interessant ist dabei, dass dies zunächstohne große Visionen geschieht. Aus der Ablehnung des Bestehen-den heraus entstehen nicht Visionen, sondern alternative Praxen.Diese sollen nicht romantisiert werden, dazu sind sie zu prekär.Und Romantisierung hat allzu oft zu Enttäuschungen geführt.Nein, es geht zunächst darum, diese Erfahrungen, die sich ausvorhergehenden historischen Kämpfen speisen, zur Kenntnis zunehmen. E ine Aufgabe der Bewegungen und ihrer zukünftigenEntwicklung wird u.a. darin bestehen, sich durch die desaströsenNiederlagen der argentinischen Linken hindurchzuarbeiten.

Die AutorInnen dieses Buches suchen an den Rändern der jüng-sten Entwicklungen nach neuen Erfahrungen, nämlich nach Be-wegungen, welche die etablierten und in die Krise geratenen For-men von Politik und die damit verbundenen Denkweisen in Fragestellen. Das »positive Nein« stellt eine schwierige Absetzbewegungvon bisher herrschenden politischen, repräsentativen und institu-tionellen Formen dar. Eine solche Suche ist immer vom Scheiternbedroht, aber der einzige Weg, der Zukunftsperspektiven eröffnenkann. Diese Spurensuche verdichtet sich zu einem Bild sich voll-ziehender und möglicher gesellschaftlicher Veränderungen. DiePerspektive wird im Vergleich zu vielen Darstellungen umgekehrt:Es geht nicht um die Größenordnung der Ereignisse und auchnicht darum, wie Aufsehen erregend sie sind, sondern um die Prak-tiken, welche durch sie ermöglicht werden.

Der Fokus liegt von daher auf den neuen Bewegungen, die sichden klassischen Sichtweisen entziehen. Denn – und das ist keines-wegs denunzierend gemeint! – die dominante Form des Sich-Wehrens bleibt auch im heutigen Argentinien eher traditionellenPolitikmustern verhaftet. In diesen geht es zuvorderst um denAufbau einer machtvollen Bewegung, die im gesellschaftlich-poli-tischen Leben eine Rolle spielt. Die damit verbundene Gefahr be-steht darin, dass es zu einer Orientierung an der »großen«, d.h.staatlichen Politik kommt und die Bewegungen sich auf die herr-schenden (partei-)politischen Logiken einlassen.

Das Colectivo Situaciones hat sich eine interessante Methode zuE igen gemacht. Ihre sog. investigación militante (militante Unter-suchung) will keine »Wahrheit« über die Ereignisse herausfinden,

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sondern es geht vielmehr darum, sich öffnende Handlungs-perspektiven auszuloten. Sie bilden Thesen, um die Wirklichkeitzu begreifen, um Denkräume zu eröffnen. Reflexion findet daherin Auseinandersetzung mit den ProtagonistInnen selbst statt undwird mit eigenen Überlegungen angereichert. Sie betrachten nichtdie Gesamtheit der Bewegung, sondern das entstehende Neue. Mitihren Worten: die »zapatistischen« Teile der Bewegungen. Denndie RebellInnen im südostmexikanischen Bundesstaat Chiapashaben besonders nachdrücklich darauf insistiert, dass die herrschen-den Formen der Politik – und nicht nur ihre Inhalte – ein zentralesProblem für emanzipative Praxen darstellen. Ihre Antwort daraufist kein Alternativmodell, sondern ein Vorschlag, den unsicherenWeg fragend-reflektierend zu gehen, Lern- und Erfahrungsprozesseals konstitutiv anzusehen. Preguntando caminamos – so lautet diezentrale Kategorie der Zapatistas.

In dem Buch wird u.a. deutlich, dass Kategorien wie »Inklusion/Exklusion« sehr problematisch sind, weil sie Zuschreibungen sind,die den Sinn der Kämpfe bzw. der Kämpfenden nur unzureichendwiedergeben. Geht es überhaupt, so die Frage, den Menschen imheutigen Argentinien um Inklusion? Ist nicht die Etikettierungder »Ausgeschlossenen« als solche eine entmächtigende Form derInklusion?

Die sich in den verschiedenen Prozessen verdichtenden Erfah-rungen und Perspektiven lassen sich nicht auf einen »Nenner« brin-gen. Die Kategorien der Gerechtigkeit, Autonomie und Würde –nicht abstrakt, sondern immer sehr konkret und materiell zu ver-stehen – sind vielleicht noch am ehesten geeignet, Verschiedeneszu verbinden. Das dritte Weltsozialforum in Porto Alegre im Janu-ar 2003 hat gezeigt, dass gerade der Begriff der Autonomie in sehrverschiedenen emanzipativen Kämpfen in Lateinamerika einenzentralen Bezugspunkt darstellt. Verbinden bedeutet aber nichtVereinheitlichen. Vielmehr geht es heute darum, inwieweit sichan verschiedenen Orten und in konkreten AuseinandersetzungenResonanzen bilden. Ein Denken in der Kategorie der Resonanzenermöglicht auch, eine zentrale Schwäche der argentinischen Lin-ken zu überwinden – nämlich ihre fehlende Bereitschaft, das Neuezu begreifen. Oder um es mit den Worten von León Rozitchner zusagen: »Es geht nicht darum, von der Linken zu fordern, sie solleeinen Schritt zurückgehen. Vielmehr ist sie aufgefordert, die neu-en Bewegungen zu begleiten und erneut in der Schule des Alltags

zu lernen, um so mit den versteinerten Schematismen der Vergan-genheit zu brechen.«

Eine interessante Kritik wird auch an Teilen der sog. globali-sierungskritischen Bewegung formuliert. Dort »lassen sich zweiTendenzen erkennen. Auf der einen Seite stehen diejenigen, diesich an der Konstituierung alternativer Zentren orientieren undso – mit der Absicht, der derzeitigen ungerechten Globalisierungeine gerechtere Globalisierung entgegenzustellen – die Zerstreu-ung organisieren möchten. Auf der anderen Seite befinden sichdiejenigen, die auf die Mannigfaltigkeit setzen und argumentieren,dass wenn die Globalisierung eine Eigenschaft des Kapitalismusist, es dem Widerstand zukomme, die Welt zu ›entglobalisieren‹.«

Die Kämpfe an verschiedenen Orten sind nicht als immer grö-ßer werdender Strom zu verstehen, der irgendwann die Verhält-nisse umstürzt. Die Kämpfe können voneinander wissen und ler-nen, aber dies stellt keine Erfolgsgarantie dar. Denn, so eine wei-tere These gegen Ende des Buches und durchaus kritisch gegendie sog. globalisierungskritische Bewegung gewendet, die explizi-ten Netze laufen immer Gefahr, die in den konkreten Kämpfenliegenden Potenziale nicht nur nicht zur Kenntnis zu nehmen,sondern zu verfälschen. Die diffusen Netze, um die es im letztenKapitel geht, sind daher entscheidend. In diesem Zusammenhangentwickelt das Colectivo Situaciones auch eine pointierte Kritik am»Mythos des Globalen«. Dieses Buch stellt auch die weit verbreite-te nord-westliche Überheblichkeit in Frage, wonach nur in denZentren des Kapitalismus eine ernst zu nehmende linke Theorie-produktion stattfindet. Die vom Colectivo Situaciones eingenom-mene situationistische Perspektive stellt die Erfahrungen der kämp-fenden Menschen und das darin enthaltene Potenzial emanzipativerVeränderung ins Zentrum der Analyse. Dazu machen sie einigeVorschläge, die streitbar und anregend sind. Die Überlegungendes Colectivo, die sich theoretisch in der Tradition des Situationis-mus (Guy Debord), Poststrukturalismus (Gilles Deleuze) undPostoperaismus (Toni Negri) verstehen, sind keine gesichertenEinsichten, sondern Hypothesen.

Einiges wird Widerspruch erzeugen. Mir selbst erscheint dasherausgearbeitete Neue teilweise etwas »lokalistisch«, d.h. emanzi-pative Veränderungen können scheinbar nur im direkten Lebens-umfeld stattfinden. Das »konkrete Universelle«, wie es genanntwird, scheint nur am konkreten Ort zu existieren. Institutionelle

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Kämpfe oder die Ebene internationaler Auseinandersetzungenscheinen wenig Raum zu haben, Fragen des Erfahrungsaustauschsdrohen dabei unterschätzt zu werden. Auch das Amalgam ihrerpoststrukturalistisch inspirierten radikalen Subjektkritik und ihremphatischer Bezug auf die neuen Subjekte – insbesondere diePiqueteros – irritiert eher, als dass es zu weiter gehenden Einsich-ten beitragen würde. Und schließlich unterschätzen sie aus ihrerPerspektive dann doch etwas, was man die Strukturebene nennenkönnte. Für die Analyse der strukturellen Veränderungen schei-nen sie sich nicht besonders zu interessieren, sondern bleiben hiermit der an Karl Polanyi angelehnten Metapher der »Markt-gesellschaft« diffus. Doch es käme m.E. auch darauf an, in densich verändernden politisch-ökonomisch-kulturellen StrukturenGestaltungsspielräume für emanzipative Bewegungen zu identifi-zieren. Das widerspräche nicht der Form der »militanten Untersu-chung«, sondern wäre ein wichtiges Komplement. Beim ColectivoSituaciones scheint es, dass die Multitude im Sinne Toni Negrisvoluntaristisch den »Knoten« hin zu alternativen Formen der Ver-gesellschaftung durchschlagen könnte.

Und dennoch: Das Buch vermittelt nicht nur die aufregendenErfahrungen der jüngsten Kämpfe und Auseinandersetzungen inArgentinien, sondern ist auch theoretisch anregend. Nicht verges-sen werden sollte, dass das Buch relativ neue Phänomene zu be-greifen versucht, für welche die theoretischen Begriffe noch ineiner kollektiven Debatte entwickelt werden müssen.

Bei den vorliegenden Texten handelt es sich weitgehend umgekürzte und überarbeitete Kapitel aus dem im vergangenen Jahrerschienenen Buch des Colectivo Situaciones »19 y 20. A puntes parael nuevo protagonismo social« (Der 19. und 20. Dezember: Anmer-kungen zu dem neuen sozialen Protagonismus). Dazu kommeneinige Originalbeiträge (u.a. von Alix Arnold zu den besetzten Fa-briken und von Stefan Thimmel zu den Tauschringen).

Die Mitglieder des Colectivo Situaciones waren in den 90er Jah-ren in der Gruppe E l M.A .T.E . (Movimiento Á mplio de Trans-formación E studiantil – Breite Bewegung studentischer Transfor-mation) aktiv. Diese Gruppe war an der Universität, in Stadttei-len, unabhängigen Gewerkschaften sowie bei den H.I.J.O.S. undden Madres de Plaza de Mayo aktiv und hatte zeitweise fast ein-hundert aktive Mitglieder. Die aktuell sieben Leute des Colectivoentschieden sich vor etwa drei Jahren, sich stärker der investigación

militante (militante Untersuchung) zu widmen und gründeten eineneue Gruppe.

Neben den AutorInnen sei an dieser Stelle besonders dem inSpanien lebenden Übersetzer und Freund Stefan Armborst gedankt.Er hat nicht nur eine exzellente Übersetzungsarbeit geleistet, son-dern stand auch hinsichtlich der Auswahl der Texte mit Rat zurSeite. Seine Compañera Marisa García Mareco, selbst exilierteArgentinierin, konnte einige knifflige Fragen klären. BesondererDank gebührt auch dem Verleger, Theo Bruns, der sich engagiertin den Entstehungsprozess des Buches einmischte. E in Verleger,wie man ihn sich als Autor oder Herausgeber wünscht. FinanzielleUnterstützung gab es von der Kommune Niederkaufungen, vomAStA der Uni Köln, vom AStA der Uni Kassel, vom Lateinameri-ka-Komitee Nürnberg, von der Aktion Selbstbesteuerung sowieprivat von Markus Wissen und Wiebke Dreier, Unterstützung beiden Korrekturen von Helen Schwenken. Auch hierfür muchísimasgracias.

Das Wissen um die Erfahrungen emanzipativer sozialer Prozes-se in anderen Teilen der Welt ist ein wichtiger Teil linker Praxisund Reflexion. Wenn das Buch bei den LeserInnen dazu etwasbeiträgt, dann hat sich der nicht unerhebliche Aufwand gelohnt.

Kassel, im März 2003

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Colectivo Situaciones

Vorwort:Für einen neuen sozialen Protagonismus

Der Aufstand des 19. und 20. Dezember in Argentinien hatte einedoppelte Stoßrichtung. Zum einen beinhaltete er ein klares »Nein«zur kapitalistischen Art und Weise, das politische und wirtschaft-liche Leben zu organisieren. Zum anderen ging es in ihm darum,Kategorien und Mentalitäten zu entwickeln, in denen der sich schonseit langem im Verborgenen herausbildende neue soziale Prota-gonismus Gestalt gewinnen kann. Diese beiden Aspekte des jüng-sten sozialen Widerstands in Argentinien wollen wir anhand drei-er verschiedener, aber miteinander verflochtener Dynamiken nach-zeichnen.

I.

Die erste Dynamik speist sich daraus, dass der neue Protagonismusin seinen vielfältigen Formen vor der Herausforderung steht, seinesoziale Produktion und Reproduktion zu gewährleisten. Hier hat inder Praxis bereits eine aktive Suchbewegung begonnen. In ihr gehtes darum, die eigenen Fähigkeiten zu erweitern und zu stärken,sich mit alternativen Netzen materieller Produktion untereinan-der zu verknüpfen bzw. diese selbst aufzubauen. Gesucht und aus-probiert werden also Organisationsformen, die über die – im Prozessder Stadtteilversammlungen entstandene und dort verankerte –kollektive und demokratische Diskussion hinausgehen und Prak-tiken entwickeln, welche eine wirkliche materielle V ergesellschaf-

tung des eigenen Tuns beinhalten.Dies ist also die erste Entwicklungsdynamik, die es herauszu-

streichen gilt: das Erproben alternativer Lebensformen, die paral-lele Kreisläufe der Produktion, der Verteilung und des Konsumsvon Gütern und Kenntnissen fördern und die den permanentenVersuch darstellen, alltäglich und konkret die soziale Reprodukti-on zu gewährleisten – einschließlich der damit verbundenen Er-folge und Misserfolge.

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Versammlungen der Cartoneros angenommen. Hierbei handelt essich um Menschen aus den Vorstädten von Buenos Aires, die sichdem Aufsammeln von verwertbarem Müll, vor allem von Papierund Karton, widmen. Aus dieser noch neuen Verbindung entstandbei einem Teil der Versammlungen der Impuls zur Gründung vonselbstorganisierten Volksküchen und Kinderkrippen bzw. -gärten.

Seit jetzt schon sieben Jahren weitet sich die Bewegung derTauschringe aus. Sie bilden eine erstaunliche alltägliche Praxis soli-darischer Ökonomie, welche in Argentinien derzeit eine bemer-kenswerte Größenordnung erreicht hat. Diese Form des Tauscheshat sich in der Tat zu einer parallelen Ökonomie ausgeweitet. Längstist er kein marginales Phänomen mehr, sondern die spezifischeArt und Weise, in der Millionen von Menschen einen Gutteil ih-rer Existenzprobleme lösen und viele darüber hinausgehende Be-dürfnisse befriedigen. Die Tauschpraxis ist eben nicht nur eineÜberlebensstrategie. Sie umfasst vielmehr alternative Praktiken imUmgang mit Geld und Waren, d.h. mit deren Herstellung, Vertei-lung und Verbrauch. Der solidarische Tausch bricht mit denDistributionsstrukturen des formalen Marktes und setzt auf dieHerausbildung und Festigung von Vergesellschaftungsformen, diesich nicht am kapitalistischen Markt orientieren oder von diesembestimmt sind.

Wenn die enorme Ausweitung der Tauschringe sich auch zeit-gleich mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise vollzog, so kanndieses Phänomen alternativer Ökonomie doch nicht auf die Suchenach der Lösung individueller Überlebensprobleme reduziert wer-den. Die ProsumentInnen, in welchen sich die Funktionen vonProduzentInnen und VerbraucherInnen neu zusammenfinden,umfassen alle Bereiche des alltäglichen Lebens (Gesundheitsdien-ste und Medikamente, Handwerksdienstleistungen, Computer-wissen und vieles mehr).

II.

Die zweite Dynamik, die in den Stadtteilversammlungen virulentgeworden ist, bezieht sich auf die Debatte darüber, wie der imDezemberaufstand entstandenen Losung Que se vayan todos (Allesollen abhauen!) Sinn verliehen werden kann.

Angesichts der anstehenden Präsidentschaftswahlen wollen ei-nige diese Losung wahlstrategisch umsetzen und fordern eine ver-

Was diesen ersten Aspekt angeht, so möchten wir die Entwick-lung zweier in Argentinien heute grundlegender Praxisformen ge-nauer betrachten: die Bewegung der Stadtteilversammlungen(Asambleas) sowie die Netzwerke der Tauschringe (Trueques). Auchwenn in der letzten Zeit die Teilnahme an den Versammlungenzurückgegangen ist, so haben sich doch kleinere Gruppen vonV ersammlungsaktivistInnen konsolidiert, die sich der Aufrechter-haltung bestimmter Aktivitäten widmen. Die Dynamik der Ver-sammlungen ist also von einer gegenläufigen Bewegung gekenn-zeichnet: E ine abnehmende Teilnahme steht im Kontrast zur Ver-größerung der Vielfalt. Dies hängt nicht zuletzt davon ab, wie sichdie Beziehung zwischen den politischen Parteien und denNachbarInnen gestaltet. Aufgrund von Konflikten mit den altenKadern der Linken verlassen an der Basis Engagierte manchmaldie Versammlungen, um sich anderen konkreten Aufgaben zu wid-men. Andere verbleiben in den Versammlungen und halten eineoft spannungsgeladene Zusammenarbeit mit den Parteikadernaufrecht.

In den vergangenen Monaten entstanden zwei Initiativen, wel-che die Bewegung der Versammlungen charakterisierten. Die er-ste ist die Besetzung verlassener Gebäude, die sich formal im E igen-tum des Staates oder der Gemeinden bzw. in Privateigentum be-finden. Diese Besetzungen dienen zur Durchführung vongemeinschaftsbezogenen und kulturellen Aufgaben und sind Teileiner Strategie der Wiederaneignung des eigenen Stadtviertels.Diese Strategie rückt immer mehr in den Mittelpunkt der politi-schen Praxis der Versammlungen, wohingegen in den ersten Wo-chen nach dem Aufstand im Dezember 2001 praktische Optionenvorherrschten, die vor allem an das Auf und Ab der landesweitenpolitischen Gesamtlage geknüpft waren.

Die zweite Initiative ist die Verknüpfung der Versammlungenmit den von ArbeiterInnen nach der offiziellen Schließung durchdie privaten EigentümerInnen in E igenregie weitergeführten Pro-duktionsstätten und Betrieben. Bis jetzt beinhaltet diese Bezie-hung vorwiegend den Versuch, sich gegenseitig zu unterstützen.Dazu gehört die Förderung von – noch unter prekären Bedingun-gen arbeitenden – Netzen der Alternativökonomie, in denen dieBetriebe ihre Produkte verkaufen können und konkrete politischeSolidarität gegen staatliche Repression und die drohende Räumungder Produktionsanlagen finden. Darüber hinaus haben sich die

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form als auch in einer ganzen Palette anderer Vorgehensweisenauf. Sie stützt sich auf ein Recycling von Personen, die im Diensteder letzten Militärdiktatur gestanden und deren Methoden über-nommen haben. Wir sprechen hier von polizeiähnlichen Söldner-gruppen, pöbelnden Halbstarkenbanden mit Mafiakontakten so-wie den Sicherheitsunternehmen, die sich zu wahren Privatarmeenentwickelt haben und im direkten Dienst von Konzernen oderGruppierungen der politischen Macht stehen. Die verschiedenenAusdrucksformen der Repression beweisen, dass der Angriff aufradikale gesellschaftsverändernde Praxen nicht unbedingt eine ein-heitliche Form aufweisen muss. Nicht immer ist ein klassischerStaatsstreich nötig, um die Gewalt gegen emanzipatorische Initia-tiven zu eskalieren. Schließlich kann die Repression auch in derGestalt auftreten, die Bewegung in »Sektoren« aufzuteilen, um siebewusst ihrer Schlagkraft zu berauben und sie organisatorisch zuzerstreuen und zu schwächen.

III.

Die den Dezemberereignissen zugrunde liegenden Strukturen ha-ben sich bis heute im Wesentlichen nicht geändert. Die Krise derInstitutionen (Minderheitsregierung), der L egitimität (durchgehen-de Ablehnung der Parteien und politischen Köpfe, schwindelerre-gend hoher Grad an Korruption im öffentlichen und privaten Be-reich), der Politik (Hegemoniekrise aufgrund der Unfähigkeit, einProjekt nationaler Integration umzusetzen), der Wirtschaft (fortge-setzte Anwendung des Neoliberalismus und Zerstörung der pro-duktiven Basis des Landes), der F inanzen (Fortdauer der Zahlungs-unfähigkeit und des Ressourcentransfers in die industriellen Zen-tren des Kapitalismus) sowie des sozialen L ebens ist ungebrochen:Rekord bei der Arbeitslosenrate, immer prekärere Lohn- und Ar-beitsbedingungen und eine durch die Privatisierungen hervorge-rufene und sich immer weiter beschleunigende Zerrüttung dessozialen Kompromisses, auf dem der Wohlfahrtsstaat und dessenLeistungen an die BürgerInnen, vor allem im Bereich der Gesund-heit und der öffentlichen Bildung, beruhte.

In Argentinien ist der Staat als Garant nationaler Integrationnicht mehr funktionsfähig. Das will sagen, dass er die von ihmvormals erfüllten Aufgaben, wie zum Beispiel die Ausübung desGewalt- und Geldmonopols, nicht mehr erfüllt. Unsere These ist,

fassunggebende Versammlung, die das politische Mandat neu be-stimmen und die bisherigen Mandatsträger komplett austauschenwürde. Dieser Vorschlag stammt von Sektoren, die mit den vor-handenen Links- bzw. Mitte-Links-Parteien sympathisieren. Die-se drohen mit einer umfassenden Wahlenthaltung für den Fall,dass die derzeit gültige Wahlgesetzgebung nicht radikal verändertwird, und beschwören ihre Treue zu den sozialen Bewegungen.Die traditionellen Parteien dagegen lehnen diese Initiative als un-durchführbar ab.

Auf der anderen Seite steht der Versuch, ein Bündnis allerPiquetero-Organisationen zu erreichen. Dieser Vorstoß besaß vorallem in den ersten Monaten nach dem Dezemberaufstand eineenorme Attraktivität und wurde mit großem Schwung vorgetra-gen. Für diese Initiative sprach, dass sie die Herausbildung einesneuen sozialen Protagonismus anerkannte. Gleichzeitig war sie je-doch zu sehr von der traditionellen Zentrierung auf die Machtfra-ge geprägt, ohne sich zu fragen, inwieweit der neue Protagonismusüberhaupt von der grundsätzlichen Infragestellung dessen zu tren-nen ist, was üblicherweise als »Politik« bezeichnet wird.

Vor unseren Augen erscheinen gegengesellschaftliche Struktu-ren, die aus vielfältigen – nicht immer in sich konsistenten undunterschiedlich effektiven – Netzwerken bestehen, deren Mitglie-der aber von einer tiefen Skepsis gegenüber allen angeblich überWahlen zu erreichenden Lösungen geprägt sind. In diesen Struk-turen wird das »Alle sollen abhauen!« in die Praxis umgesetzt, aufsie gründet sich eine alternative soziale Produktion und Repro-duktion.

Schließlich sei noch eine dritte Dynamik erwähnt, nämlich dieinnere Schwäche und Zerbrechlichkeit dieser alternativen Erfah-rungen angesichts der Kräfte, die Argentinien in ein wahres »Nie-mandsland« zu verwandeln beabsichtigen, um eine brutale Rekolo-nialisierung des sozialen Raums zu bewerkstelligen. Wir sind heu-te mit einer wachsenden legalen und illegalen Repressionkonfrontiert, welche die aus komplexen und pluralen Netzen be-stehende Bewegung direkt angreift, wobei die Piquetero-Organisa-tionen im Zentrum des Angriffs stehen.

Am 26. Juni 2002 wurden mit Darío Santillán und MaximilianoCosteki zwei Mitglieder der Arbeitslosenkoordination Coordinadorade Trabajadores Desocupados Aníbal V erón ermordet. Die Repressi-on gegen die sozialen Bewegungen tritt sowohl in staatlicher Uni-

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Die politische Situation in jedem dieser Länder unterscheidetsich stark voneinander, aber ihr Schicksal ist eng miteinander ver-knüpft. Die Krise der Region ist unübersehbar geworden. Wieschon vor Jahrhunderten erscheint Lateinamerika heute als einausgebeutetes Territorium, aber auch als Ort der Hoffnung. DieZapatistas haben wie wenige andere auf diese Janusköpfigkeit hin-gewiesen. Das Gleiche tun heute die argentinischen Piqueteros.Und diese Zwiespältigkeit lädt auch uns dazu ein, sich den Her-ausforderungen der Zukunft zu stellen.

Buenos A ires, im Januar 2003

dass der Staat trotz dieser Entwicklung nicht von der Bühne ver-schwinden wird. Die Akteure emanzipatorischer Gegenmachtwerden weiter mit einem Staat konfrontiert sein, der seine Fähig-keiten zur Repression und zur Kooptation pflegen und ausbauenwird.

Wir haben es also mit einem gesellschaftlichen Panorama zutun, in dem ein bankrotter neoliberaler Staat, ein sich konsolidie-rendes und ausdehnendes mafioses Netz, das den Staatsapparatund Teile der Massenmedien kontrolliert, sowie eine wachsende,aber immer noch unter prekären Bedingungen existierende Gegen-macht von unten gleichzeitig existieren.

In diesen Monaten hat die »Bewegung der Bewegungen« ge-meinsame Charakteristika herausgebildet: die positive Einschät-zung organisatorischer Autonomie und horizontaler Interdepen-denz, eine klare Vorstellung über den heute grundlegenden sozia-len und politischen Konflikt sowie eine eingespielte Solidaritätzwischen Gruppen, die zu punktuellen Anlässen zusammentref-fen, in denen es vor allem um die staatliche Repression geht. Dazugesellt sich die Überzeugung, durch das eigene Engagement sowiedie gemeinsam eingesetzte Kraft einen Zukunftshorizont geöffnetzu haben, der sich von den bekannten Wissensbeständen und dentraditionellen das Soziale und das Politische betreffenden Denk-weisen und Gewohnheiten radikal unterscheidet.

IV.

Es wurde zu Recht festgestellt, dass der Nationalstaat nur sehrbegrenzt als Rahmen taugt, wenn nach einer Szenerie für einekünftige Revolution gesucht wird. Über die Frage hinaus, was unter»Nation« zu verstehen ist, ist es offensichtlich, dass die argentini-sche Gesellschaft sich in einem Schnittfeld von Kraftlinien befin-det, die weit über die territoriale E inheit des Landes hinauswei-sen. Tatsächlich führen die neoliberalen Politiken heute zu weitreichenden Verwerfungen in einer ganzen geografischen Region.Zur Zeit sind vor allem Brasilien und Uruguay betroffen, obwohldiese Länder keineswegs so gelehrige Schüler der internationalenFinanzinstitutionen waren wie Argentinien. Aber auf je eigeneWeise haben auch sie es nicht vermocht, sich der Kultur und denpolitischen Strategien des real existierenden Kapitalismus zu ent-ziehen.

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Colectivo Situaciones

Der 19. und 20. Dezember:Ein Aufstand neuen Typs

Ein Aufstand ohne Subjekt

Der Aufstand des 19. und 20. Dezember 2001 in Argentinienhatte keinen Urheber. Es gibt keine verfügbaren politischen odersoziologischen Theorien, um die über 30 Stunden hinweg unun-terbrochen sich entfaltenden Geschehnisse in ihrer ganzen Breiteund in ihrer Logik verständlich zu machen. Schwierig wird dieseAufgabe durch die Menge an individuellen und kollektiven Ge-schichten, die mangelnde Abstimmung untereinander sowie denNiedergang der Repräsentationen, die unter anderen Bedingun-gen in der Lage gewesen wären, diesen Ereignissen in organisier-ter Weise Sinn zu verleihen.

Es erweist sich als schwierig, die Intensität und Pluralität derKämpfe intellektuell zu erfassen, die sich bei den Cacerolazos(Kochtopfdemonstrationen) des 19. sowie der offenen Konfronta-tion des 20. Dezember verknüpft haben. Eins nach dem anderenversagten die gebräuchlichen Interpretationsmuster: die politischeVerschwörung, die verdeckte Hand obskurer Interessen oder diefinale Krise des Kapitalismus.

Selbst auf der Straße war nicht leicht zu verstehen, was vor sichging. Was weckte die Energie bei Menschen, die so lange in Le-thargie verharrt hatten? Was wollten die vielen sich versammeln-den Leute? Wollten sie das gleiche wie ich? Wie lässt sich dies inErfahrung bringen? Ist es überhaupt wichtig, das zu wissen?

Zunächst in den Stadtvierteln von Buenos Aires, dann auf derPlaza de Mayo waren die verschiedensten Parolen zu hören. »Wernicht mithüpft, ist ein E ngländer«. – »Wer nicht mithüpft, ist einMilitär«. Oder: »V aterlandsverräter an die Wand.« »Cavallo – du

bist ein Schwein«. – »A rgentinien, A rgentinien«. Und am häufig-sten wurde am 19. Dezember geschrien: »Den A usnahmezustandkönnt ihr euch sonst wohin stecken.« Und später das erste »Que sevayan todos«. Das Potpourri der Demosprüche ließ in der Gegen-

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wart die Kämpfe der Vergangenheit neu aufscheinen: gegen dieDiktatur, gegen den Malwinen-Krieg 1982 (engl. Falklands; da-mit wollten sich die Militärs am Ende ihrer Herrschaft patrioti-sche Unterstützung sichern), gegen die Straffreiheit der Völker-mörder, gegen die Privatisierung des öffentlichen Eigentums usw.Die Slogans überlagerten sich nicht und ebenso wenig konntenGruppen identifiziert werden, die schon vor der dort versammel-ten Menge existierten. Alle, zu einem Kollektiv vereint, sangen dieSprüche einen nach dem anderen. Zur gleichen Zeit kam es aufallen Straßen zu Aktionsformen, die von den Piqueteros her be-kannt waren: Barrikaden, das Anzünden von Material, das Blo-ckieren von städtischen Verkehrsadern.

Die intensivsten Augenblicke dieser beiden Tage ließen die Spra-che überflüssig werden. Nicht weil die sich bewegenden Körpersich in Schweigen hüllten. Dies war ganz und gar nicht der Fall.Sondern weil die Parolen in ungewöhnlichen Bedeutungsmusternzirkulierten. Die Sprache funktionierte auf andere Art und Weise.Sie klang zusammen mit den Kochtöpfen. Sie ersetzte diese nicht,sondern begleitete sie. Aber sie bezog sich auf keine Forderung,transportierte keinen festgelegten Sinn. Die Worte bedeutetennichts, sie klangen nur. Es war nicht möglich, aus ihnen zu lesen,sondern nur ihre neu erlangte besondere Funktion zu begreifen:Sie brachten die akustischen Ressourcen der dort Versammeltenzum Ausdruck, als kollektive Bestätigung des Möglichen. Ausge-hend von Fragmenten, die sich in einem einheitlichen und zu-gleich unbestimmten Willen gegenseitig anzuerkennen begannen,gewannen die Worte an Konsistenz.

Das Volksfest – denn der 19. Dezember ist in Argentinien einFeiertag – dehnte sich aus. Es handelte sich um das Ende der ter-rorisierenden Auswirkungen der Diktatur sowie die offene Her-ausforderung eines von der Regierung ausgerufenen Ausnahme-zustands. Gleichzeitig wurde die Überraschung gefeiert, Protago-nistInnen einer historischen Tat zu sein. Und dies, ohne sich alsjeder E inzelne die persönlichen Gründe der anderen erklären zukönnen.

Die Abfolge war in der ganzen Stadt dieselbe: von der Angstzur Wut, auf den Balkon, auf die Terrasse, an die Straßenecke ...Und einmal dort angekommen war nichts mehr wie zuvor. E inMittwoch. Für einige war es 22 Uhr 30, für andere 23 Uhr. In denInnenhöfen und auf den Straßen ergab sich eine noch nie da ge-

wesene Situation. Tausende von Menschen erlebten zur gleichenZeit eine Transformation: »ergriffen« zu werden von einem uner-warteten kollektiven Prozess. Gefeiert wurde auch, dass die Fiestanoch möglich war. Und die Entdeckung starker sozialer Wünsche,die in der Lage sind, Tausende Einzelschicksale zu verwandeln.

Dabei kam es zu keinem Versuch, die Dramatik der Situationzu leugnen. Die um sich greifende Freude setzte sich nicht überdie Sorgen und den Kampfeswillen jedes und jeder Einzelnen hin-weg. Es handelte sich um den gleichzeitigen spannungsgeladenenZusammenprall all dieser Elemente. Gegriffen wurde zu archai-schen Formen des Ritus, zu einer simulierten Teufelsaustreibung,deren Sinn – so würden die AnthropologInnen sagen – die Wie-derentdeckung der Fähigkeiten der Masse, des Kollektiven, desNachbarschaftlichen zu sein schien. Jede und jeder E inzelne dürf-te innerhalb von Minuten zu Entscheidungen gekommen sein,die gewöhnlich schwierig zu treffen sind. Vom Fernseher wegzu-gehen. Mit sich selbst und den anderen ins Gespräch zu kommen.Sich zu fragen, was sich denn in Wirklichkeit abspielte. Nur füreinige Sekunden dem intensiven Impuls zu widerstehen, mit demKochtopf in der Hand auf die Straße zu gehen. Sich behutsamanzunähern, um sich daraufhin in unvorhergesehene Richtungenmittragen zu lassen.

Einmal auf der Straße, brachten Barrikaden und Feuer in denStraßen die NachbarInnen zusammen. Und von dort aus die Orts-veränderung, um zu sehen, was an anderen nahe gelegenen Stra-ßenecken los war. Und die Entscheidung, wohin zu gehen sei: zurPlaza de Mayo oder zur Plaza de los Dos Congresos. Außerdem wur-den in jedem Stadtviertel näher gelegene Ziele ausfindig gemacht:so das Haus des Ex-Diktators Videla oder das von Wirtschaftsmi-nister Cavallo.

Die Menschenmenge teilte sich und, je nach Stadtviertel, wur-den alle »Objekte« gleichzeitig besetzt. E ine äußerst radikale Spon-taneität gründete sich so auf der kollektiven Erinnerung. Tausen-de von Menschen, die mit klaren und präzisen Absichten vorgin-gen. E ine kollektive Intelligenz schritt zur Tat.

Als der Morgen graute, begann sich eine andere Szenerie abzu-spielen. Während einige schlafen gingen – die einen um drei Uhr,die anderen um halb sechs – begann die Diskussion darüber, wasgeschehen war und wie es weiter gehen solle: Viele fuhren fortsich zu organisieren, um zu verhindern, dass die Plaza de Mayo

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von den Repressionsorganen eingenommen wurde, da, zumindestformal, weiterhin der Ausnahmezustand herrschte.

Es begann sich ein offener Konflikt abzuzeichnen, der sich zudiesem Zeitpunkt noch nicht in ganzem Umfang entfaltet hatte.Denn am 20. Dezember zeigten sich die Dinge auf eine andereArt und Weise. Die Plaza de Mayo wurde zum herausragendenStreitobjekt. Was sich dort später zur Mittagszeit abspielte, wareine wirkliche Schlacht. In der unmittelbaren Umgebung des Platzeslag etwas in der Luft, was später schwer zu beschreiben war. DieGewalt der Auseinandersetzungen bildete einen Kontrast zumscheinbar fehlenden Sinn, weshalb die Menschen dort versammeltwaren.

Die Jugendlichen stellten sich offen der Polizei entgegen, wäh-rend die Älteren auf dem Platz aushielten und von Orten aus, dieein wenig weiter hinten lagen, Unterstützung leisteten. Rollen undAufgaben strukturierten sich auf spontane Weise. Die Plaza de

Mayo bestätigte wie oftmals zuvor ihre Rolle als privilegierter Schau-platz gemeinschaftlicher Aktionen von großer symbolischer Kraft.Nur dass es dieses Mal nicht die Vorstellung gab, welche frühereManifestationen begleitet hatte, die fest an die – heute so eifrigwie wirkungslos von der Polizei verteidigte – Macht des rosafarbe-nen Regierungspalastes glaubten. Am Ende dieses Tages, als dienationale Regierung zurückgetreten war, wurden in jeder Woh-nung die stattgefundenen Auseinandersetzungen ausgewertet. Er-gebnis der brutalen Polizeirepression waren Gefangene, Verletzteund viele Tote. Von offizieller Seite wird von 30 Toten im ganzenLand gesprochen, aber wir wissen, dass es mehr waren.

In Buenos Aires wurde das Bild der Stadt neu entworfen. DasFinanzzentrum erlitt große Zerstörungen. Oder vielleicht wurdees nur rekonstruiert durch neue Menschenströme, neue Formen,die Stadt zu bewohnen und den Sinn der Schaufenster und derBanken zu verstehen. Die freigelegten Energien waren außerge-wöhnlich; und wie es vorauszusehen war, waren sie nicht einzu-dämmen. Auf die Ereignisse des 19. und 20. Dezember folgt inder Stadt Buenos Aires eine fieberhafte Aktivität mit E scraches,Versammlungen und Demonstrationen. Im Rest des Landes istdie Reaktion sehr unterschiedlich. Aber in allen Provinzen ver-knüpfen sich die Geschehnisse mit dem schon existierenden Wi-derstand: Straßensperren, Plünderungen, Proteste und lokale Volks-aufstände.

Worte und Schweigen:

Von der Interpretation zum Nicht-Repräsentierbaren

Mit dem Schweigen und der Ruhe erlangten die Worte wiederihren herkömmlichen Gebrauch. Die ersten Interpretationen mach-ten die Runde. Diejenigen, die darum besorgt waren, das Gesche-hene möglichst schnell politisch zu interpretieren, hatten enormeSchwierigkeiten. Es war offensichtlich, dass hinter den Ereignis-sen keine bestimmte Macht stand. Nicht weil diese Kräfte nichtexistierten, sondern weil die Geschehnisse jedwedes Kontroll-dispositiv überschritten hatten, das die Absicht gehabt hätte, sichden Tatsachen überzustülpen. Die Fragen der etablierten Machtblieben ohne Antwort: Wer steckte hinter alledem? Wer führte dieMassen an?

Diese Fragen sind ideologisch. Sie rufen Gespenster an. Wasbeinhaltet die Fragestellung, die hinter dem Leben geheime Mächteauszumachen glaubt? Wie begreift diese ausfragende und konspi-rationsgläubige Subjektivität die Existenz, wenn sie glaubt, dereinzig mögliche Sinn der Tatsachen läge im Spiel von schon kon-stituierten Mächten? Selbst wenn diese Fragen in anderen Si-tuationen einen gewissen Sinn gemacht hätten, so waren sie dochnie so schal wie an den Tagen des 19. und 20. Dezember. Wieniemals zuvor in der Geschichte unseres Landes wurde die Tren-nung zwischen den Körpern samt ihren Bewegungen und der Vor-stellungswelt der etablierten politischen Kräfte spürbar. Letzterewaren gezwungen, ihre ganze Ohnmacht zu offenbaren: Nicht nurdass sie nicht in der Lage waren, der Situation einen Sinn zu ver-leihen, sondern auch danach gelang ihnen nichts anderes, als sichpassiv den Auswirkungen der Ereignisse anzupassen. So auf denKopf gestellt und zur Karikatur gemacht, gelangten alle vorfabri-zierten Interpretationsmuster zur Anwendung, um die Versamm-lungen zu dominieren, die darauf abzielten, die Bewegung des 19.und 20. Dezember am Leben zu halten.

Es gab viele Diagnosen: »sozialistische Revolution«, »revolutio-näre Krise«, »antidemokratischer Faschismus«, »reaktionäre Anti-politik des Marktes«, »zweite nationale Unabhängigkeit«, »ein ver-rückter und irrationaler sozialer Ausbruch«, ein »Orkan derBürgerInnen für eine neue Demokratie« oder gar die Sintflut selbst.Alle diese in ihren Inhalten vielfältigen Interpretationen gehen aufdie gleiche Art und Weise vor: Angesichts eines Ereignisses größe-

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rer Reichweite werfen sie ihre herkömmlichen Netze aus, wobeisie viel weniger das konstatieren, was diesen entgeht, als vielmehrdie Möglichkeit behaupten, eine ganz anders geartete Bewegungzu formen.

Die Bewegung des 19. und 20. Dezember verzichtete auf allezentralisierten Organisationen. Diese erschienen weder in denAufrufen noch bei der Durchführung der Aktionen. Aber auchnicht später, als es darum ging, diese zu interpretieren. Ein Zu-stand, der in früheren Epochen als ein Mangel erlebt worden wäre,manifestierte sich in diesem Moment als ein Erfolg. Denn dieAbwesenheit war nicht spontan. Es existierte eine massenhafte undandauernde Haltung der Ablehnung jeder Organisation gegenüber,die beabsichtigte, das Engagement auf der Straße zu repräsentie-ren, zu symbolisieren oder zu dominieren. Die Intelligenz von untenüberschritt in all diesen Aspekten die intellektuellen Vorhersagenund politischen Strategien.

Aber mehr noch: Auch der Staat war nicht der zentrale Organi-sator hinter der Bewegung. In Wirklichkeit wurde der Ausnahme-zustand nicht so sehr bekämpft, sondern vielmehr vereitelt. Wäh-rend die Konfrontation von zwei entgegengesetzten symmetrischenBlöcken ausgeht, betont die Vereitelung eine A symmetrie. DieMenge desorganisierte die Wirksamkeit der Repression, welche dieRegierung mit dem ausdrücklichen Ziel angekündigt hatte, dasnationale Territorium zu kontrollieren. Die Neutralisierung derstaatlichen Machtpotenziale durch eine vielfältige Reaktion vonunten war gerade möglich wegen des Nichtvorhandenseins – unddies ist keinesfalls als Mangel zu verstehen – eines einheitlichenAufrufs und einer zentralen Organisation. Auch eine Anzahl vonIntellektuellen – die sich äußerst wohl fühlen in ihrer Rolle – fühl-te sich um ihre Autorität gebracht durch eine handelnde Vielfalt,die den gesamten festen Grund ins Wanken brachte, auf dem jenezu denken gewohnt waren.

Aber vielleicht können wir uns noch ein wenig mehr einigengrundlegenden Neuerungen der Bewegung des 19. und 20. De-zember annähern. Die Anwesenheit so vieler Personen, die gewöhn-lich nicht öffentlich agieren – es sei denn in der Rolle von durchdie Medienapparate und politischen Institutionen zu repräsentie-renden Objekten –, entmachtete jeden Versuch der Zentralisie-rung. Es gab keine individuellen ProtagonistInnen: Jede Situationder Repräsentation wurde entkräftet. Es handelte sich um eine

praktische und effektive Entmachtung, die durch die körperlichanwesenden Frauen und Männer in die Wege geleitet und danndurch das »Que se vayan todos« (Alle sollen abhauen!) verlängertwurde.

Ohne Diskurse, ohne Fahnen und Transparente, ohne Worte,die einen einheitlichen Sinn verleihen, entfaltete der Aufstand des19. und 20. Dezember gerade in dem Maße seine Wirkung, wie ersich jeder leichten und unmittelbaren Bedeutungszuschreibungwidersetzte. Die Bewegung zerschmetterte die Gesamtheit vonErfahrungen, die negativ auf den widerständigen Energien derje-nigen Frauen und Männern lastete, welche sich dort in unerwar-teter Weise zusammenfanden. Im Unterschied zu den Volksauf-ständen der Vergangenheit organisierte sich die Bewegung nichtunter der Vorspiegelung eines einzulösenden Versprechens. Diederzeitigen Mobilisierungen haben die Sicherheit einer verhei-ßungsvollen Zukunft aufgegeben. Die Anwesenheit einer riesigenMenschenmenge auf den Straßen verlängerte nicht den Geist der70er Jahre. Es handelte sich nicht um aufständische Massen, diemit dem sozialistischen Versprechen eines besseren Lebens dieZukunft erobern.

Die Bewegung des 19. und 20. Dezember zieht ihren Sinn nichtaus der Zukunft, sondern aus der Gegenwart: Ihre Selbstbestäti-gung liest sich nicht in Programmen und Vorschlägen, wie dasArgentinien der Zukunft aussehen solle. Natürlich gibt es gemein-sam geteilte Wünsche. Aber diese lassen sich nicht in einheitliche»Modelle« des Denkens, der Aktion und der Organisierung ein-fassen. Ihre Vielfalt war eine der Schlüsselbedingungen für dieWirksamkeit der Bewegung: In ihr wurde die Erfahrung gemacht,welche Kraft die intelligente Vielfalt von Demonstrationen, Sam-melpunkten, verschiedenen Gruppen sowie die Pluralität von Or-ganisationsformen, Initiativen und Formen der Solidarität besitzt.Dies machte es möglich, dass sich in jeder Gruppierung simultandie gleichen Gedanken herauskristallisierten, ohne dass es zu ei-ner ausdrücklichen Koordination unter ihnen gekommen wäre.Gleichzeitig war dies das wirksamste Mittel gegen jedwede Hin-dernisse, die den Aktionen hätten in den Weg gelegt werden kön-nen.

Es gab keine sinnlose Zerstreuung der Kräfte, sondern eine Er-fahrung des Vielfältigen, eine Öffnung hin zu neuen und attrakti-ven Prozessen. Zusammengefasst lässt sich der Aufstand durch

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keinen der Mängel, die ihm zugeschrieben werden, definieren.Seine Fülle bestand in der Schlagkraft, mit der die Gesellschaftsich in ihrer Vielfältigkeit behauptete, sowie im Einschnitt, den erin der eigenen Geschichte markierte.

Der Aufstand als Macht der »Absetzung«

»In der A ngst der Menge liegt die Macht der instrumen-

tellen V ernunft ...D ie moderne politische Philosophie entsteht nicht aus der

V erwaltung, sondern aus der A ngst.«Toni Negri

Wenn der 19. und 20. Dezember dem fragmentierten sozialenKörper seinen Stempel aufgedrückt hat, so wartet dieses sichtbareund inspirierende Neue noch darauf, umgesetzt zu werden. Aberdieser Einschnitt wirft eine Schwierigkeit auf. Die Politik, die indiesen Tagen entsteht, ist nicht unmittelbar entzifferbar. Sie erfor-dert eine Ausarbeitung. Es handelt sich nicht einfach darum zuerkennen, was wir in den Tagen des 19. und 20. Dezember mach-ten, um anschließend zu sehen, wie es weitergeht. Und auch nichtdarum, die hinter dem Ablauf der Ereignisse verborgene Wahrheitzu entdecken, um aus ihr eine Handlungsvollmacht abzuleiten.Die Aufgabe ist viel komplexer. Es geht um die Frage: Was machen

wir mit dem, was wir machten?Das Getane ist Teil eines gemeinsamen Erbes, präsent in jeder

Interpretation, die formuliert wird, aber gleichzeitig widersteht esjedem Versuch der exklusiven Aneignung. Es kristallisieren sichverschiedene Praktiken gesellschaftlicher Transformation heraus,welche sich von den bleibenden Elementen der Dezembertage in-spirieren lassen.

Auch unsere militante Untersuchung beabsichtigt nicht, sicheine Wahrheit über das Geschehene anzueignen, sondern möchtedie sich neu eröffnenden Handlungsperspektiven ausloten. Aberdiese Öffnung ist nicht spontan. Es gibt kein Werden ohne Ausar-beitung. Die derzeitigen Wandlungsprozesse fordern dazu auf, dieGesamtheit sicherer Wahrheiten über die Politik aufzugeben, umsich in unbekannte Dimensionen der Zeit und des Raums zu be-geben, die durch die Tage des 19. und 20. Dezember geöffnetworden sind. Dieses Ausloten ist in der Praxis nicht von vornher-

ein abgesichert. Und es ist auch für uns als E inzelne nicht einfach,die Risiken dieser Reise ins Ungewisse auf sich zu nehmen.

Wenn wir von einem Aufstand sprechen, so tun wir dies nichtin der gleichen Weise, in der wir von anderen Aufständen gespro-chen haben. Denn der 19. und 20. Dezember haben Räume ge-öffnet, die über die Erfahrungen hinausgehen, die etwa durch dengesamten marxistisch-leninistischen Wissensbestand über die Re-volution überliefert worden sind. Es handelt sich um einen Auf-stand in dem Sinn, dass eine Ordnung zerrüttet wurde, die vor-gab, den Volksmassen gegenüber souverän zu sein.

Wenn wir den Begriff des Aufstands beibehalten, um die Mi-schung aus Körpern, Ideen, Lebensgeschichten und Sprachen zukennzeichnen, welche an den Tagen des 19. und 20. Dezemberzusammentrafen, so lehnen wir es doch strikt ab, die E inzigartig-keit dieses Ereignisses in einen Wissenskanon über die Geschichteeinzuschreiben, der von einer vorgeblich »wissenschaftlichen« Sub-jektivität etabliert worden ist.

In der Tat war die Bewegung des 19. und 20. Dezember weitmehr eine traditionelle Politikmuster absetzende (»destituierende«)Aktion als eine klassische, Macht anstrebende (»instituierende«)Bewegung. Oder in anderen Worten: Die souveränen und schaf-fenden Kräfte entfachten eine Rebellion, mit der sie keine Machteinsetzenden Absichten verknüpften – wie es die politische Dok-trin der Souveränität vorsieht –, sondern sie übten ihre die eta-blierten politischen Kräfte absetzende Macht aus. Dies ist wohldas Paradoxe der Tage des 19. und 20. Dezember. E ine Gesamt-heit von instituierenden Kräften, die weit entfernt, eine neue sou-veräne Ordnung zu gründen, vielmehr die in ihrem Namen aus-geübten Politiken delegitimierte. Weder wurde eine neue Stufe imRahmen einer Machtstrategie erklommen noch das Ende einesAkkumulationsprozesses erreicht.

Im Unterschied zu den politischen Revolutionen produziertedieser die etablierten Mächte absetzende A ufstand auch keine »Si-tuation der Situationen«, kein Zentrum, das die von ihm in Fragegestellte staatliche Zentralität ersetzt hätte. In die Wege geleitetwurde eine Erfahrung der Selbstbestätigung. In dieser gab es eineWiederentdeckung der Kräfte von unten. In gewisser Weise stehtdie Frage im Raum, wie ein Nationalstaat funktionieren kann, wenndie legitimen InhaberInnen der Souveränität in der Praxis jedeRepräsentation beseitigen.

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Die A bsetzung (destitución) ist ein Vorgang von größter Bedeu-tung: Wenn bisher die durch eine souveräne Macht durchgeführ-te Politik sich in der staatlichen Konstitution des Sozialen reali-sierte, scheint die absetzende Aktion eine andere Form zu sein, diePolitik auszuüben bzw. der sozialen Transformation Ausdruck zuverleihen. Diese Absetzung beinhaltet keine apolitische Haltung:die Weigerung, eine repräsentative Politik (der Souveränität) auf-rechtzuerhalten, stellt die Bedingung – und die Prämisse – eines»situationalen« Denkens sowie einer Gesamtheit von Praktiken dar,deren Sinnpotenziale nicht mehr vom Staat eingefordert werden.

Mit dem Begriff der Öffnung bezeichnen wir die Verknüpfungder Praxis der A bsetzung, welche das Feld des Möglichen erweitert,mit der Ausübung eines sozialen Protagonismus, der sich nichtauf die Souveränität stiftenden Funktionen beschränkt. In diesemSinn ist es kein Zufall, dass die politischen und gewerkschaftli-chen Organisationen in den Tagen des Dezember 2001 am Randeder Ereignisse verblieben. Sie verlieren ihr relatives Gewicht ange-sichts der Anwesenheit einer Menge, welche die Repräsentanteneinfach absetzt.

Das Zusammentreffen von traditionellen politischen Aktivistenund der Menge ist nicht einfach. Es ist, als ob die Hauptfigureines Westerns irrtümlich in einem Film des italienischen Neo-realismus erscheinen würde. Die ProtagonistInnen folgen je eige-nen Drehbüchern, die nirgendwo übereinstimmen. Selbst wennes scheint, dass sie sich verständigen, ist dies nicht mehr als eineIllusion, ein vorübergehender Augenblick, in dem die Dialoge sotun, als ob sie auf einen Nenner kämen. Danach erklären die Per-sonen des Neorealismus dem Sheriff, dass er Rom nicht unterKontrolle hat, sondern sich entscheiden sollte, entweder ihr Dreh-buch zu akzeptieren oder aber in den Wilden Westen zurückzu-kehren. Das Schlimmste, was der Sheriff machen kann, ist alleAnderen von seiner Rolle überzeugen zu wollen und von ihnenGehorsam zu fordern.

So jedoch handeln die Mitglieder politischer und gewerkschaft-licher Organisationen, die sich dagegen sträuben, das Entsteheneines neuen Protagonismus zu akzeptieren, den sie wohl begleitenkönnen, dem sie sich aber nicht in törichter Weise entgegenstellensollten. So werden sie nur selbst zu Hindernissen auf dem Weg zuneuen Lösungen.

Das positive »Nein«

Ausgehend von einer wörtlichen Lesart ihrer Losungen lässt sichder Sinn der Ereignisse des 19. und 20. Dezember kaum erfassen.Es tut sich hier ein Paradox auf: Der Ausspruch »Alle sollen ge-hen; keiner soll bleiben!« (Que se vayan todos, que no quede ni unosolo) benötigt, um begriffen zu werden, eine Verständnisleistung,die in der Lage wäre, hinter der negativen Form eine Positivität

auszumachen. Aufgrund des Niedergangs der Repräsentationenverbietet sich hier jede direkte Interpretation: Das Wort wird er-griffen, um auf jeden »absichtsvollen« Diskurs zu verzichten.

Der Ruf vom Dezember 2002 beinhaltete den Auftritt der –bisherigen – ZuschauerInnen auf der Bühne. Dieses Auf-die-Büh-ne-Treten, welches für die SchauspielerInnen (die in diesem Mo-ment ihre Rolle aufgeben) traumatisch ist, bedeutet gleichzeitigdie Unterbrechung des Drehbuchs, welche durch diese massen-hafte Invasion der Bühne verursacht wird. In der Tat macht dieseBesetzung alle Spielarten des bisherigen Werks zunichte. Der neueProtagonismus weigert sich, die Bedingungen aufrechtzuerhalten,welche die Repräsentation ermöglichen.

Denjenigen, die sich des Theaters erfreuen, bleiben drei Wahl-möglichkeiten. Die erste ist die unmittelbarste. Das Publikum kanndiesen unvorhersehbaren Akt ablehnen, der in ihren Augen alletheatralischen Möglichkeiten zerstört. Wenn jedes Bühnenstückauf der grundlegenden Trennung zwischen SchauspielerInnen undPublikum beruht, wenn diese Trennung dem Theater seine spezi-fische Dynamik verleiht, dann kann das Publikum den Tatsachendie Anerkennung versagen und fordern, dass jeder E inzelne anseinen Platz zurückkehrt, um so das Werk weiter genießen zu kön-nen und so zu tun, als sei nichts geschehen. Auf der Bühne gäbe esso ein Stück mit zwei Autoren. E iner ist der ausdrücklich Ge-nannte: der Verantwortliche des Werks, der Szenen, so wie sie voruns erscheinen. Der andere ist unsichtbar und verteilt die jeweili-gen Rollen: Die einen kommen in den Zuschauerraum, die ande-ren auf die Bühnenbretter.

Die zweite Option: das Scheitern der Repräsentation zu betrau-ern. Die Feststellung, dass das Spiel seinem Ende entgegengehtund dass das Publikum auf Dauer nicht mehr auf den Sitzen zuhalten ist, beweist das Scheitern des unsichtbaren Autors, der dasTheater ohne die charakteristische Trennung nicht begreifen kann.

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Es gibt aber noch eine dritte Option: Es ist möglich, die Plänedes unsichtbaren Bühnenautors zu vereiteln und die Ununter-scheidbarkeit zwischen Publikum und SchauspielerInnen zu ak-zeptieren, ohne sich der Möglichkeit eines theatralischen Ausdrucks(ohne Autor) zu berauben. Aber es wird dann nicht nur ein Stückund einen Autor geben, das heißt, die Geschichte wird nicht aufeinen Theatersaal reduziert werden, sondern jede und jeder wirdeinen Sinn für das eigene Drama, die eigene Tragödie, die eigeneKomödie finden müssen. Im Unterschied zur traditionellen Posi-tion wird sich der Sinn nicht aus einer dem Werk von einem Au-tor a priori verliehenen Kohärenz ableiten, sondern sich in einemoffenen Prozess des Werdens erschließen.

Die gleichzeitige Anstrengung des Spielens und Interpretierensist jedoch komplex und verurteilt uns dazu, auf eine bleibendeBedeutung für die Ereignisse, sogar für die selbst herbeigeführten,zu verzichten. Die Ununterscheidbarkeit zwischen Bühne undZuschauerraum stiftet eine einheitliche, aber in sich unendlichdiverse Räumlichkeit. So kann es geschehen, dass ganze Dialogeihre Konsistenz nur ausgehend von einem anscheinend davon ab-gekoppelten Ereignis finden. Dies scheint bei den Tagen des 19.und 20. Dezember der Fall gewesen zu sein. Für viele, die mitKochtöpfen unter dem Arm auf die Straße gingen, war mitnich-ten klar, was dort vor sich ging. Viele andere glaubten die Lage zuverstehen, bis ein unvorhergesehener E ingriff in die Geschehnisseihnen zeigte, dass der Film in ihren Köpfen nicht mit der Realitätin E inklang stand. E ine eher traditionelle Sichtweise wirft denTeilnehmerInnen jenes Aufstandes vor, sie hätten keine realisti-schen Vorschläge zu machen und ihre Forderungen seien nichtumsetzbar. Es handle sich letzten Endes um ein mit einem funda-mentalen Mangel behaftetes Vorgehen. Und in der Bilanz wird einÜbermaß an Unordnung und Gewalt sowie das Fehlen von Wor-ten und Vorschlägen konstatiert.

Aus einer Perspektive heraus, die sich darauf konzentriert, die-sen Tagen einen Sinn abzugewinnen, stellt sich jedoch die Frage,was so viele Menschen im gleichen, intensiven und konzentrier-ten Zeitraum miteinander verbunden hat. Die Hypothese könntefolgendermaßen formuliert werden: Die Positivität der Negationwurzelt sowohl in der Absetzung der bisher herrschenden politi-schen, repräsentativen und institutionellen Formen als auch in dendadurch eröffneten Zukunftsperspektiven. Mit anderen Worten,

das Potenzial der Tage des 19. und 20. Dezember besteht darin,eine einheitliche Handlungsebene zu schaffen, welche die Hierar-chien nicht anerkennt, die für die institutionelle Politik konstitu-tiv sind.

Es handelt sich nicht nur um den Sturz einer Regierung, son-dern um die Negation der Transzendenz auf allen Ebenen hin zueiner durch die Multitude gestifteten Immanenz. Natürlich wurdedie Absetzung des Staates als Metastruktur bereits durch die Markt-kräfte bewerkstelligt. Aber was an den beiden Dezembertagen vorsich ging, spielte sich auf der E bene der Ausarbeitung vonWiderstandformen ab, ihrer »internen Hypothesen«. Es handeltesich um ein Experiment, in dem es um die wirksamen sowie umdie schon unnützen Formen ging. Dass sich für die Massen be-wahrheitete, wie die klassischen politischen Formen sich als ohn-mächtig erwiesen, wurde nicht zum Anlass für die eigene Hoff-nungslosigkeit, sondern förderte die eigene Kraft: E ine Zeit derIllusionen und des Abwartens ging zu Ende. Aktiviert wurden krea-tive und Such-Mechanismen, um die effektivsten Formen des so-zialen Kampfes zu finden.

E s entsteht also eine andere und subtile Bestätigung derinstituierenden Kräfte. Die Bestätigung, dass alle herkömmlichenWege versperrt sind, eröffnet eine neue Reihe von Kämpfen an-statt diese zu verhindern. Diese abweichende Neubegründung ar-beitet nicht gemäß der hinlänglich bekannten Formen der Volks-souveränität. Stattdessen wird mit neuen Formen der Gegenmachtexperimentiert. In der Tat wurde die soziale Landschaft durch denunerwarteten Einbruch einer neuen Kraft ohne Führung umorga-nisiert.

Die Ebene der Immanenz muss, um als solche zu existieren,aber auch die »Frage der Medien« beantworten können. Es han-delt sich um ein verallgemeinertes Phänomen: Die Bewegung ver-steht voneinander zu trennen, was »im Fernsehen abläuft« undwas »in Wirklichkeit passiert«. Es etabliert sich eine neue Formdes »Sehens«, was das Fernsehen zeigt, ihm mit Misstrauen zubegegnen, es zu »benutzen«. Auf der Avenida de Mayo, einer Stra-ße im Zentrum von Buenos Aires, steht auf eine Wand geschrie-ben: »Macht den Fernseher aus und geht auf die Straße!« Die Be-wegung gibt ihre Beziehung zu den Medien nicht auf, aber sieordnet diese Beziehung neu, indem sie ihnen gegenüber eine akti-ve, durchdachte und kritische Haltung einnimmt.

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Die Massenmedien wenden die ihnen eigene Logik an: E inemStrom von Energien, welcher noch sein Bett sucht, schreiben sieeine »minimale« Rationalität zu. Und diese minimale Rationalitätzielt auf die Rekonstruktion in der Logik eines traditionellen Büh-nenstücks, in dem die Repräsentanten ausgewechselt werden, umnicht die Beziehung der Repräsentation als Ganze aufs Spiel zusetzen. Nur so ist zu verstehen, dass eine Gruppe wohlmeinenderJournalistInnen sich in einem Fernsehprogramm an der Idee be-geisterte, unter den TeilnehmerInnen der Asambleas von BuenosAires ein Casting über die Rollenbesetzung der neuen politischenFührungsebene vorzunehmen.

Aber das Nein der neuen Kräfte war eine Bekräftigung in einemtiefgreifenderen Sinn: In die Form selbst, welche die aufständischeNegation annahm, war eine Positivität eingeschrieben. Dass dieMenge als einzige Autorin gehandelt hat, bedeutet, dass die Kraftdes Nein genau in dem wurzelt, was nicht zur Staatsmacht gerinnt.Sie braucht sich nicht durch Vorschläge zu legitimieren und auchnicht die medialen Normen einzuhalten, welche verführerischeDiskurse und attraktive Bilder benötigen. Die Energien der Bewe-gung sind auf ihre Art und Weise schaffend. Ihre Auswirkungensind nicht vorübergehend. Allen Versuchen, sie zu begrenzen, zukanalisieren oder zu institutionalisieren, zum Trotz sind ihre pro-duktiven Auswirkungen schon spürbar. Absehbar ist die weitereAusarbeitung neuer Formen aus konkreten Situationen heraus.

Auf einer entscheidenderen Ebene handelt es sich hier um einewesentliche Herausforderung an die Tradition des dialektischenDenkens, das die Negation als notwendiges vorhergehendes Mo-ment einer Affirmation ansieht. Bei Hegel wurde die dialektischverstandene Negation als Moment aufgefasst, das einer höher ent-wickelten Affirmation vorausgeht. Nur in diesem Sinne besitzt sieeine indirekte »Positivität«. Demgegenüber lässt sich die Negati-on, von der wir hier sprechen, nicht so leicht erfassen. Sie entfaltetsich nicht in einer linearen, sondern in einer multiplen Zeit. Wirmeinen eine Negation, die selbst eine multiple Eröffnung vonZukunft darstellt.

Es handelt sich nicht um ein negatives Moment der Geschich-te, das sich gegen Ende eines Prozesses zum Positiven hin entwi-ckeln kann, und auch nicht um eine reine, unilineare Negativität,also ein Zeichen von Krise und Auflösung. Das dialektische Neinlässt sich erfassen als ein »noch ist es nicht, aber mit Sicherheit

wird es sein«. Es ist ein mangelhaftes Nein, ein notwendiges Mo-ment, das aber überwunden werden muss. Diese philosophischeBetrachtung ist nicht beliebig. Ein ganzer Zyklus von Aufständenwurde von der dominierenden revolutionären politischen Theorieunter diesem Blickwinkel analysiert. Die Rebellion der Unterdrück-ten wurde als ein notwendiges Moment aufgefasst. Diese wieder-um leitet sich ab von ungerechten, negativen Bedingungen. DieRevolution ihrerseits wurde als Bewegung verstanden, die jeneNegation verneint, in einem organischen Werdensprozess hin zurVersöhnung des sozialen und historischen Ganzen mit sich selbst.Die Widersprüche wurden so letztendlich überwunden. Der Auf-ruhr, als Negation, bestätigte »das Neue«, den Sozialismus.

Die Negation der Negation war das Schlüsselelement. Lenintheoretisierte über dieses Moment der »revolutionären Situation«,die zur Krise wird und dann zur Affirmation der proletarischenKräfte gerinnt. Ihre wesentliche Bedingung ist, dass die »unten«sich nicht regieren lassen und dass die »oben« nicht mehr regierenkönnen. Die politische Avantgarde fungierte als Trägerin der hi-storischen Vernunft, als Positivität, welche über die Meere derNegativität steuert in der Hoffnung, sich selbst zu verwirklichen.Der Ozean ist die Metapher, in der sich die wirtschaftlichen undpolitischen Strukturen von Herrschaft auflösen: der Wechsel inden politischen Beziehungen der gegeneinander kämpfenden so-zialen Klassen. E s ist der Moment, in dem die Ausbeutungs-beziehungen neu abgesichert oder umgekehrt werden. Entwedergelingt es den Gesellschaften, das kapitalistische Stadium, dieQuelle aller Unterdrückung, zu überwinden. Oder aber die Dia-lektik scheitert und der Zyklus tritt in neue Phasen ein, die sich –unter sich immer weiter verschlechternden sozialen Bedingungen– bis ins Unendliche aneinander reihen.

Dies war die dominante Geschichtsphilosophie der zeitgenös-sischen Revolutionen. Sowohl der Erfolg als auch das Scheiternwurden ausgehend von einer unhinterfragten Hypothese analysiert:Die Gesellschaften verändern oder erhalten ihre relativ dauerhaftenStrukturen von oben her. Für uns ist es nicht mehr möglich, diehistorischen Ereignisse von dieser Philosophie aus zu denken. Diesozialen Strukturen sind nicht modellierbar. Die deterministischeAuffassung basiert auf einem linearen und homogenen Zeit-verständnis. Demnach sind wir in der Lage, die Gründe der Phä-nomene zu manipulieren und neu zu produzieren. Die Herausfor-

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derungen der Gegenwart werden von einem idealen Bild der zu-künftigen Gesellschaft aus analysiert und »verwaltet«. Doch dieseAuffassung ist für uns nicht mehr geeignet, um die Ereignisse des19. und 20. Dezember zu interpretieren.

Die jüngste argentinische Aufstandserfahrung geht beharrlichüber das Scheitern der revolutionären Erfahrungen der Moderneund ihr Geschichtsverständnis hinaus. Sie spricht von einem radi-kalen Wandel hin zu neuen Modalitäten, welche die überliefertenrevolutionären Bilder nicht verachten, aber sich ihnen auch nichtunterwerfen. Wie das zapatistische Ya basta! nimmt die Affirmationnicht die Form eines Versprechens an. Sie beginnt mit der Ableh-nung der derzeitigen Zustände. Aber diese Ablehnung ist, genauergesehen, nicht nur eine bloße Reaktion, sondern eine Geste derSelbstbestätigung, die es erlaubt, die Negation auszuüben. DieseKraft kündigt sich nicht an. Sie wird nicht beschrieben. Es handeltsich nicht um eine Drohung. Vielmehr bricht sie herein durch diekörperliche Anwesenheit von Frauen und Männern. In wenigenWorten: Sie werfen die Alltäglichkeit des Nationalstaats oder derschnellfließenden Marktbewegungen einfach über den Haufen.

Erfahrungen, die bisher noch nicht verknüpft waren, erschei-nen in dieser Bewegung als zusammenhängend. Es handelt sichum ein komplexes Phänomen der vielfältigen V erbindung unter-schiedlicher Situationen, die sich nicht in einer Situation zusam-menfassen lassen. Ihre Methoden der Konfrontation, ihre schnellwechselnden AnführerInnen waren in radikaler Weise »situational«.Ohne feste Führung, ohne Modelle, ohne Versprechen und ohneProgramme vollzieht sich einer der wichtigsten Aufstände der zeit-genössischen argentinischen Geschichte – und zugleich die erstegroße Gehorsamsverweigerung seit der Diktatur.

Unumkehrbarkeit

E s geht nicht darum, zu dem zurückzukehren, was wirwaren und nicht sind. Und auch nicht darum, uns in

andere zu verwandeln.Marcos

Wie sind die Gründe des Volksaufstands zu begreifen? Diedeterministische Sichtweise auf den Zusammenhang von Ursacheund Wirkung ist nicht neutral. Sie beinhaltet die Vorstellung ei-

ner homogenen und umkehrbaren Zeit, einer im Raum verortetenZeit, welche das Subjekt beobachtet, misst und von daher kennt.Wenn jedes Ereignis durch ein anderes hervorgerufen wird, sokönnen die Geschehnisse leicht erklärt (und vorhergesehen) wer-den. Es scheint demnach möglich zu sein, die natürlichen undsozialen Prozesse zu manipulieren, zu kontrollieren und zu len-ken.

Aber so etwas gibt es nicht. Die Spaltung zwischen Subjektund Objekt, die Reduzierung der Rationalität auf das analytischVorhersehbare und die einfachen Formen der Kausalität sind Be-standteile einer anachronistischen Ideologie. Ihre Gültigkeit besit-zen sie nur im Rahmen festgelegter Prämissen, aber als Funda-ment für das Sein in der Welt sind sie nicht mehr zu gebrauchen.

Aber auch die postmoderne Einstellung lässt sich nicht auf-rechterhalten. Die Ankündigung des Endes der Geschichte, derRevolutionen, der sozialen Kämpfe und der Ideen wurde in denletzten Jahren durch eine wirkliche Gegenoffensive von untenLügen gestraft. Unter veränderten Bedingungen hat sie neue, bis-her undenkbare Widerstandsformen entwickelt.

Der 19. und 20. Dezember können also nicht mechanisch aufbestimmte Ursachen zurückgeführt werden, sondern die Ereignis-se ergaben sich durch das Phänomen der F usion. Althusser würdevon Überdeterminierung sprechen. Weder fundamentaler Wider-spruch noch reine Inkonsistenz. Ihr Erscheinen ist irreversibel. Sowie es auch die Aufstände der vergangenen argentinischen Ge-schichte waren. Trotz aller Ähnlichkeiten gibt es jedoch auch gro-ße Unterschiede. Das heißt, dass die Dezember-Ereignisse in ih-ren Konsequenzen zwar ebenso neubegründend – »instituierend« –sind wie die vorhergehenden, dass ihre Wirksamkeit aber nichtdirekt, sondern paradox ist. Die Bedingung für ihre Effektivitätliegt in der A bsetzung – »Destituierung« – der bislang geltendenrepräsentativen Formen. Von daher erklärt sich die irritierendeUnmöglichkeit, auf das Geschehene die bisher vorherrschendenDenklogiken anzuwenden.

Die konstitutiven Kräfte der Aufstandsbewegung leiten sichnicht von klassenbezogenen oder individuellen Projekten ab. Ohnediese Projekte zu leugnen, produzieren diese doch ein Darüber-hinaus-Weisendes, was sie neu interpretiert und jede bewusste Pla-nung übersteigt. Der neue Protagonismus funktioniert nicht aus-gehend von der Wahl, sondern von der E ntscheidung. Die Wahl ist

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dem rationalen Subjekt als Autor der Geschichte zu E igen. IhreKohärenz ist dergestalt, dass sie es dem Subjekt erlaubt, sich denin der Welt vorhandenen Dilemmata entgegenzustellen, ohne da-bei die eigene Konsistenz entscheidend zu beeinträchtigen. Dieäußere Welt erscheint dem rationalen Subjekt als eine Gesamtheitvon Tatsachen und Worten, gegenüber denen es seine Eigenschaftals auswählendes Subjekt bestätigen muss. Die E ntscheidung hängtdemgegenüber nicht von der vorhandenen Information ab. Sie setztkein selbstgenügsames und überhistorisches (individuelles oder kol-lektives) Subjekt voraus. Die Entscheidung verweist auf das Ver-gängliche und das Zeitliche – eine Kreuzung, eine Fusion schonvorhandener Elemente, ein Multiples, das sich als Kollektivkörperkonstituiert. Die Situation entsteht einfach.

Der Aufstand des 19. und 20. Dezember folgt dieser paradoxenLogik der Fusion, der Unvorhersehbarkeit und der neuen Erschei-nungen, die keinen Anspruch auf Absolutheit mehr erheben. Wennüber die Gründe, über die Geschichte gesprochen wird, so gehtdies – zur gleichen Zeit – einher mit einer Reflexion über dereninnere Struktur, die gewöhnlich als linear angenommen wird. Inder Tat kann die Fusion als Mischung sowie als E inbruch einerGesamtheit lokaler Praktiken des Widerstands, früherer Niederla-gen, unbeseitigter Ungerechtigkeiten und frustrierter Hoffnungenbezeichnet werden, die ganze Generationen umfasst und den Stem-pel ihrer Epoche trägt. Die realen Kämpfe und die in sie verwi-ckelten Generationen sind Ausdruck der Entscheidung, sich nichtan die gewaltförmige »soziale Ausschließung« zu gewöhnen, diesich mit einem weitgehend »abwesenden« Staat (was als »argenti-nischer Neoliberalismus« bezeichnet werden kann) verknüpft.

Kann dieses nicht definierte Magma eine »Ursache« darstellen?Wir wissen es nicht. Auf jeden Fall handelt es sich nicht um eine»Akkumulation« im mechanischen und deterministischen Sinne,wonach zum Beispiel der Ausnahmezustand den Tropfen darstellt,der »das Fass zum Überlaufen« brachte. Keine der unterschiedli-chen Erinnerungen kann als Grund gelten, wenn sie getrennt von-einander betrachtet werden, denn sie wirken nur als solche, inso-fern sie sich in eine umfassende – und sie aktualisierende – Dyna-mik einfügt haben.

Die Fusion, in welcher alle zusammenfließenden Elemente ih-ren festen Zustand verlieren, um sich miteinander zu vermischenund so für eine neue Konsistenz Raum zu schaffen, fiel in der Tat

zeitlich mit der Erklärung des Ausnahmezustands zusammen. Aberso wie die Temperatur den Siedepunkt anzeigt, letztlich aber dieWärme für das Kochen verantwortlich ist, so war der Ausnahme-zustand nicht der eigentliche Grund, sondern allein auslösendes

Moment der Irreversibilität dieser Fusion.Die unmittelbaren Auswirkungen des Aufstands waren für sei-

ne ProtagonistInnen offensichtlich. Die Gegenwart verlor ihre fes-te Determiniertheit. Der »Grund« dafür beinhaltet ein komplexesZusammenspiel von verschiedenen Dimensionen und Zeitebenen.Die Gegenwart drehte sich plötzlich um sich selbst und eröffneteso unvorhergesehene Zukunftsperspektiven. Deren Ausgangspunktwar das Aufbrechen aufgestauter Wissens- und Widerstandspoten-ziale, die vergangene Niederlagen neu ins Bewusstsein riefen. Plötz-lich schien erneut die Vergangenheit auf; es zeigte sich, dass diesenicht ganz und gar abgeschlossen war, sondern sich über Jahrehinweg bis in die Gegenwart verlängert hatte. Denn die Zeit ver-läuft in sich überlagernden Dimensionen, und unter der Hegemo-nie der dominanten räumlichen Repräsentationen werden nichtall ihre Möglichkeiten ausgeschöpft.

Was zerbarst, war die Zeit. Von daher das Irreversible. Die Aus-wirkungen des 19. und 20. Dezember erschöpfen sich nicht imEntstehen einer neuen politischen Konjunktur. Der besondere Wertder derzeitigen Situation liegt mehr in den Formen, in denen dieAuswirkungen dieses Bruchs, dieser Öffnung konkret ausgestaltetwerden, und nicht so sehr in der unmittelbaren Fähigkeit, in tra-ditioneller Weise verstandene »politische Ziele« zu erreichen.

Das Irreversible spielt nicht darauf an, dass die Auswirkungendieses Ereignisses einen unabänderlich fortschrittlichen Charak-ter besitzen, sondern bezieht sich auf die Veränderung der Zeit-lichkeit. In dieser neuen politischen Szenerie gibt es keine Garan-tie, keine definitive Neuigkeit und auch keine abgeschlossenenEntdeckungen. Alles ist noch zu tun, ist noch im Prozess. Sogarwenn die Energien nachlassen, wenn die Bewegung sich zerstreutoder, was noch schlimmer ist, wenn sie mehr oder weniger institu-tionalisiert wird, so verbleibt doch der Einschnitt der Dezember-tage sowie der nachfolgenden Erfahrungen, welche versuchten,diesen weiterzuentwickeln.

Geöffnet hat sich so also die Möglichkeit, eine ethische Bewe-gung ins Leben zu rufen. E in Übergang: vom Erleiden der Impe-rative einer Zeit und eines Raums zur Möglichkeit, diese beide

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Variablen selbst gestalten zu können; von der Last eines entfrem-deten Alltags zur Frage nach den Möglichkeiten, diesen Ablaufauf andere Weise zu organisieren.

Die aufständische Gewalt

Einer der vielen Verdienste des Aufstands besteht darin, dass ereine Perspektive geschaffen hat, von der aus eine Vielzahl von inunserem Land vorhandenen Erfahrungen umfassend betrachtetwerden kann. Diese Sichtbarkeit war vor dem Dezember nichtvorhanden. Sie war einfach nicht wahrnehmbar. Unserer Einschät-zung nach kann diese neue Sichtbarkeit nicht von einer anderenpraktischen Entdeckung getrennt werden: Die Multitude erprobtein der Realität, in welcher Form sich die Machtstrukturen verän-dert hatten.

In der Tat war seit dem Ende der Diktatur – die auf die sozialenKämpfe der 70er Jahre folgte – eine Aufgabe zu bewältigen. Esging darum, ausgehend von tiefgreifenden gesellschaftlichen Trans-formationen – die sowohl in den politischen und wirtschaftlichenStrukturen als auch in der Wahrnehmung, welche die Massen vondiesen besaßen, stattgefunden haben – Ideen, Konzeptionen undTaktiken des politischen Kampfes neu zu entwerfen. Dies geschahin einem Prozess, der sich mit den lokalen Aufständen, den Straßen-blockaden, den Land- und Fabrikbesetzungen, den Stadtteil-versammlungen sowie den Kochtopfdemonstrationen in Gang ge-setzt hat.

Der Ausnahmezustand enthüllte zwei parallel ablaufende Pro-zesse: zum einen die Feststellung, dass die staatliche Herrschaftnicht mehr auf die gleiche Art und Weise funktionierte wie in den70er Jahren – ohne dabei jedoch notwendigerweise ihre repressiveFunktion zu verlieren –, und zum anderen die Herausbildungmassenhafter und dezentraler Kampfformen.

Der Ausnahmezustand wurde wegen der Plünderungen in wei-ten Teilen Argentiniens ausgerufen und als solcher wurde er vonder politischen Opposition, der Regierungsseite und den wichtig-sten Unternehmen des Landes gefordert. Sein Scheitern war nichteinem bestimmten Grad an politischer Schwäche, sondern derEntscheidung für einen massenhaften Widerstand geschuldet,welcher unter den gegebenen politischen und institutionellenUmständen die Ausübung der Repression wirkungslos werden ließ.

E in Staat, der sich jeder einzelnen Forderung aus der Bevölkerungversagt hatte, konnte nicht reagieren, als ihm alle Forderungen alsBündel präsentiert wurden. Er verhedderte sich in seiner eigenenHandlungsunfähigkeit.

Es ist nichts Neues, dass der argentinische Staat nicht mehr aufdem gesamten Staatsgebiet die – von den Investoren und Politi-kern geforderte – Ordnung garantieren kann. Das Neue liegt dar-in, dass der Widerstand von unten gezeigt hat, dass er gelernt hat,mit den sich verändernden Bedingungen umzugehen. Es geht ihmnicht mehr um den frontalen Angriff auf die Macht, sondern umderen Desorganisierung. Die Konfrontation beruht auf der Fähig-keit, die repressiven Kräfte zu neutralisieren und zu zerstreuen.Von daher ist es wichtig, sich ihnen nicht auf der Basis eines zen-tralen Organisationsmodells entgegenzustellen.

Dies beinhaltet nicht die These einer möglichen »inneren Zer-setzung« des kapitalistischen Gesellschaftsmodells. Dieses hat vonjeher auf verschiedene Art und Weise funktioniert, und entgegender Überzeugung vieler »Antikapitalisten« wird sich sein Ablebennicht ausgehend von einer seiner »zyklischen Krisen« vollziehen.

Hinter der relativen Handlungsunfähigkeit des argentinischenStaates steht der komplexe Prozess einer unterbrochenen Anpas-sung. In der Tat verzerrte das Jahrzehnt unter Menem von 1989bis 1999 den Prozess der »Transformation« zu einer postmodernenVersion des Nationalstaats. Wie die derzeitigen Neoliberalen sa-gen, wurde zwar während der Amtsführung Menems erfolgreichdie Phase der Zerstörung des intervenierenden Nationalstaats ab-geschlossen. Es gelang ihm aber nicht, an Stelle des alten Staateseinen neuen »Wettbewerbsstaat« aufzubauen. Der langjährigeWirtschaftsminister Cavallo war derjenige, der dies am schärfstenkritisierte, wenn er argumentierte, dass ein – angemessen privati-sierter – Staat den »Mafias« ausgeliefert worden sei. In Argentini-en haben die Neoliberalen es versäumt, den zweiten Teil ihres Pro-gramms umzusetzen – und dieser entspricht der zweiten Genera-tion von Reformen oder dem sog. Zweiten Washingtoner Konsensneoliberaler Strukturanpassungen. Vielmehr verzettelten sich dieeinen wie die anderen bei schnellen und gewinnbringenden Ge-schäften; hingegen mangelte es ihnen grundlegend an der Fähig-keit, eine stabile politische Hegemonie zu errichten.

Der Ausnahmezustand vermochte niemanden zu beeindrucken.Erhofft wurde von staatlicher Seite, dass die durch die Plünderun-

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gen in Schrecken versetzten Mittelklassen den Ausnahmezustandunterstützen würden, so wie dies bei den Plünderungen des Jahres1989 geschehen war. Doch diese Rechnung ging nicht auf.

Die Komplexität der Situation lag darin, dass angesichts derextremen Schwächung des nationalstaatlichen Institutionensystemshöchst unterschiedliche Erwartungen geweckt wurden. Eine Re-aktion war extrem neoliberal, wonach die Krise nur durch nochmehr »Privatwirtschaft« behoben werden könne. Mehr Privatisie-rung und eine verstärkte staatliche Repression gegen diejenigen,die sich der Profitlogik in den Weg stellten. E ine traditionelletatistische Position klammerte sich hingegen an die Reste desNationalstaats und glaubte an dessen Wiederherstellung. Die ver-fassungsmäßigen Institutionen müssten demnach von den wich-tigsten politischen Parteien des Landes verteidigt werden. Es gabeine weitere Haltung, die auf den Aufbau eines Staates neuen Typsdrängte, der in der Lage sei, für die Durchführung privater Ge-schäfte feste Regeln aufzustellen, eine gewisse Vorhersehbarkeitzukünftiger Entwicklungen zu gewährleisten sowie durch Gesetz-gebung ökonomische und politische Verhaltenskodizes aufzustel-len und zu sichern. Es existierte außerdem eine klassische revolu-tionäre Position, welche die marxistisch-leninistischen Thesen derEroberung der Staatsmacht sowie der proletarischen Diktatur auf-rechterhielt.

Offensichtlich gibt es zwischen diesen Positionen Schattierun-gen. Aber es ist nicht so wichtig, jede einzelne von ihnen zu por-trätieren, als vielmehr das Entstehen einer neuen Position zu beto-nen, die, obwohl sie noch sehr allgemein und wenig ausgearbeitetist, darauf insistiert, dass der soziale Wandel sich nicht ausgehendvon den verschiedenen politischen Programmen vollzieht. Dieseneue Position ist durch die Ereignisse des 19. und 20. Dezembergestärkt worden. Es handelt sich um eine aktive und konstituie-rende Kraft, die gezeigt hat, von welchen Ausgangsbedingungenaus politisch gehandelt werden muss.

Selbst in den Momenten der offenen Konfrontation, wie am20. Dezember bei den kriegsähnlichen Auseinandersetzungen imUmfeld der Plaza de Mayo, waren die Voraussetzungen des Kon-flikts nicht mehr die gleichen, wie wir sie aus den letzten dreiJahrzehnten kennen. Die Gewalt des 20. Dezember gleicht nichtim Geringsten den Formen der Auseinandersetzung der 70er Jah-re. Es handelte sich um eine Gewalt der Massen – von keiner Or-

ganisation angeleitet, gleichwohl mit harten Zusammenstößenzwischen beiden Seiten –, die eher der in den Fußballstadien oderbei den Rockkonzerten in den Arbeitervierteln glich als den zumMythos erhobenen Guerillaaktionen von ehedem. Es handelt sichum neue Formen von »entregelter« Gewalt, gewachsen in Territo-rien, die in den letzten Jahren allmählich zu einem »Niemands-land« geworden sind. Es handelt sich um eine Gewalttätigkeit, dienicht mehr auf »explizite Regeln« oder Vermittlungen baut unddie sich durch Kodizes reguliert, welche für Außenstehende un-verständlich sind.

Die Topographie des postmodernen Kapitalismus charakteri-siert sich dadurch, dass dieser voneinander getrennte Territoriendes Einschlusses und des Ausschlusses schafft. Erstere existierenals wahrhafte F estungen, die zweiten als Niemandsland, wo derHobbes’sche Naturzustand des Kampfes aller gegen alle vorherrscht.Die Tage des 19. und 20. Dezember können in diesem Sinne auchals Moment verstanden werden, in dem die Widerstandspotenziale,die sich in den letzten Jahren in den ausgeschlossenen Territorienherausgebildet hatten, in den Raum der Öffentlichkeit einbrachen,welcher bis dahin der privilegierte Ort der nationalen politischenRepräsentationen gewesen war. Die Gewalt von unten kann je-doch nicht auf die Gewalt der Banden oder der Plünderungenreduziert werden.

Die seit Jahren verbreitete Widerstandspraxis der Straßen-blockaden war in diesem Sinne bedeutsam. Bei ihnen werden For-men der Gewalt praktiziert, die Ausdruck einer legitimen und wirk-samen Selbstverteidigung darstellen. Mitten im Niemandslandwidersetzen sich die Piquetero-Gruppen aktiv dem von oben auf-erlegten »Spiel ohne Regeln« und schaffen neue soziale, politischeund kulturelle Zusammenhänge. Auf dieser Basis hat sich die Fä-higkeit zur Selbstorganisation gestärkt, die in ihrem zugleich de-mokratischen und kämpferischen Charakter für die übrigen Kämpfeeine Symbolfunktion besaß. Am 19. Dezember verbanden sich alldiese E lemente und bildeten eine eigenständige Ausdrucksformder Gewalt. Deren Ziel war es, die neuen Formen der sozialenMobilisierung voranzutreiben und auf diese Weise die staatlicheFähigkeit zur Repression zu übersteigen.

Die Legitimität dieser Ausübung von Gewalt besitzt neuartigeCharakteristika: Sie wurde sich selbst verliehen und hängt nichtvon der Anerkennung anderer ab. Es handelt sich nicht um das

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klassische Szenario des Krieges, in welchem der Feind eine forma-le Kriegserklärung als notwendige Anerkennung anstrebt, um demeigenen Tun Konsistenz zu verleihen. Vielmehr bilden die Kämpfe– über die eigentliche Konfrontation hinaus – ihre eigenen Beur-teilungskriterien und Werte der Gerechtigkeit heraus. Dieser de-fensive und selbstbestätigende Charakter der Gewalt bildet dasFundament einer grundlegenden A symmetrie.

Während der Tage des 19. und 20. Dezember ließen sich diegenannten Unterschiede beobachten. Die von der Staatsmachtausgeübte Gewalt besaß zwei grundsätzliche Formen. Auf der ei-nen Seite machte sie gegenüber den Massen von der SchusswaffeGebrauch und brachte dabei mindestens 30 Menschen um, wobeiviele andere Tote nicht als Opfer staatlicher Repression anerkanntwurden. E ine weitere Form war die Stärkung einer kollektivenPsychose, die für die Sicherheitsideologie funktional war. Es wurdeversucht, einen auf sich selbst bezogenen und den Anderen fürch-tenden Individualismus zu stärken. Die Operationen der »psycho-logischen Kriegführung«, vor allem in den peripheren Bezirkender Provinz Buenos Aires, hatten zum Ziel, diese Mechanismender Macht zu stärken.

Den nicht organisierten Einzelnen und der von ihnen und ge-gen sie ausgeübten entregelten Gewalt mit ihren Mechanismen derVereinzelung und des individuellen Rückzugs ist die Selbstvertei-digung von unten diametral entgegengesetzt. Sie betreibt den Auf-bau überindividueller Verknüpfungen voran, bündelt kollektive,kooperierende und sich gegenseitig stärkende Kräfte, die auf einerkollektiven Ebene die individuellen Fähigkeiten und Wünsche po-tenziert. Demgegenüber verstärkt die dominante Form der Ge-waltausübung die individuelle Isolierung und intensiviert durchihre Praxis die Furcht »des Anderen« – was die Manipulation durchdie Macht leichter macht und jede Autonomie zerstört.

Nach dem Dezember-Aufstand sowie den nachfolgenden Er-eignissen kann die Gewalt nicht mehr in einer abstrakten Weisegedacht werden. Der neue Protagonismus behauptet sich immermehr in den ihm eigenen Formen des Verstehens sowie der sozia-len Intervention, wobei er sich auf die Ausarbeitung von Prakti-ken konkreter Selbstbestätigung stützt. In diesen wird nicht anfeste Kollektive appelliert, damit diese die offensive und im Na-men übergeordneter Werte zentralisierte Gewalt rechtfertigen. Esgeht im Gegenteil um die gesellschaftliche Erfahrung der schon

erwähnten Asymmetrie, wobei der Gewalt, die durch die Staats-macht ausgeübt wird und die sich auf die Gesamtheit der Reprä-sentationen stützt, eine Ethik der körperlichen Anwesenheit ent-gegengesetzt wird, die auf festen und radikal legitimen Gründenund Überzeugungen basiert.

In der Konzeption der mexikanischen EZLN wird dieses neueElement der Gewalt von unten klar beschrieben. Im Artikel »DerVierte Weltkrieg«, der am 23. Oktober 2001 in der mexikanischenTageszeitung L a Jornada erschien, schreibt Marcos: »Die Indígenas,abgesehen davon, dass sie kein Spanisch sprechen, wollen keineKreditkarten; sie produzieren nicht; sie widmen sich der Aussaatvon Mais, Bohnen, Chili, Kaffee; und es fällt ihnen ein, mit derMarimba zu tanzen, ohne den Computer zu benutzen. Sie sindweder KonsumentInnen noch ProduzentInnen. Sie sind über. Undalles, was über ist, kann eliminiert werden. Aber sie wollen undwollen es nicht aufgeben, Indígenas zu sein. Und noch mehr: ihrKampf hat nicht die Eroberung der Macht zum Ziel. Sie kämpfen,damit sie als indigene Völker anerkannt werden, damit ihnen dasRecht auf Existenz zuerkannt wird, ohne sich in Andere zu ver-wandeln.«

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mehr Teil einer interessanten Entdeckung: Als sich im Morgen-grauen des 20. Dezember die Plaza de Mayo füllte – und dies un-ter außergewöhnlichen Umständen, sowohl was die Uhrzeit alsauch den herrschenden Ausnahmezustand angeht –, wurden zwardie Themen der linken Parteien und der sozialen Mobilisierungder letzten Jahre aufgegriffen, aber diese wurden den etabliertenpolitischen Gruppen in Form einer »Substraktion« entwendet undstanden nun zur Disposition aller. Die Losungen, die mit demRuf »A rgentina, A rgentina« endeten, kennzeichneten so eher dasVorhandensein eines gemeinsamen kollektiven Denkens als dasssie die Wiedereinführung eines nationalistischen politischen Kon-zepts bedeuteten, das andere ausschließt.

Ähnlich wie die Rufe »A rgentina, A rgentina« stellte auch dasKochtopfschlagen ein konfuses, zwiespältiges Element dar. Mirschien, es handelte sich um eine Einladung, über alle angespro-chenen Themen nachzudenken, ohne diese zu banalisieren oderauf schon vorher entwickelte politische Gedanken zu beschrän-ken. Es bleibt abzuwarten, bis zu welchem Grad die Linke akzep-tiert, sich mit dem Cacerolazo als Protestform zu identifizieren,weil dies auch bedeuten würde, sich mit den kleinen SparerInnenmit ihrem »Ich will meine Dollars!« auseinander zu setzen. Es gehthier darum, den Rahmen der Interessen abzustecken, die für die-sen spezifischen Moment der Transformation als legitim anerkanntwerden. Sind die Interessen immer partikular? Sind nur Interessenzu akzeptieren, welche den individuellen Horizont überschreiten?Sind die persönlichen Interessen im engeren Sinn in etwas Ande-res transformierbar? Sind die Interessen stets dem Augenblick ver-haftet und müssen sie durch universelle Interessen überwundenwerden? Oder beinhaltet jedes individualistische Interesse schonden Schlüssel seiner eigenen Negation?

Diese Debatte hat etwas mit der Tatsache zu tun, dass es sichbei den Geschehnissen des 19. und 20. Dezember für einen Sek-tor der Linken um eine Vorankündigung dessen handelt, was aufganz Argentinien zukommt. Für diejenigen, welche die Demon-stration des 19. Dezember, die mit Tränengas endete, als einenMoment ansehen, der für eine höhere Bewusstseinsstufe Platzschaffte, kann das, was am darauf folgenden Tag – mit seinen To-ten – passierte, nicht geringer sein. Ist aber der 19. weniger »wert«als der 20. Dezember? Ich habe den Eindruck, dass beide TageFormen eines fortgeschrittenen Bewusstseins zum Vorschein brach-

Horacio González

Die Nacht des 19. Dezember

Die Geschehnisse des 19. und 20. Dezember können davon aus-gehend betrachtet werden, dass Transparente und Fahnen vonGruppen und Organisationen sichtbar abwesend waren. Mirscheint, dass es zum ersten Mal seit vielen Jahren zu einem Auf-tritt der Massen kam, der keine sichtbare Aneinanderreihung be-reits bekannter Äußerungen darstellte. Wenn wir von dem Aspektder Abwesenheit von Parteien und Gruppierungen ausgehen, kön-nen wir die These aufstellen, dass hier etwas »abgezogen« wirdund dass dabei etwas in dem Maße neu zu Tage tritt, in dem wirdie verbleibenden Mosaiksteine neu zusammensetzen. Insofernerscheint mir die Idee der Multitude nicht unangebracht, da dieserBegriff sich auf die Konstituierung einer Form des sozialen Den-kens bezieht, das auf die Körper, die Mobilisierung und die Orts-kenntnis der Stadt bezogen ist. Aber wie geht dies vonstatten? Ebendurch eine Art Substraktion. Die Multitude geht von einer vor-handenen Art des Denkens aus, der sie aber den festen Zusam-menhang und die Starre nimmt.

Die Begriffe Multitude und Pueblo können in diesem Sinne ge-dacht werden, dass die Massen der Bevölkerung sich von der Star-re befreien. Es geht um die Art und Weise, in der Gegenwart einekollektive Aktion zu denken und das Denken von unten zu reakti-vieren. Genauer gesagt handelt es sich um eine Kategorie des Han-delns in der Jetztzeit.

In der Nacht vom 19. zum 20. Dezember lief ich von meinemHaus aus fünfzehn Häuserblocks weit bis zur Plaza de Mayo undbemerkte, wie auf diesem Weg nach und nach verschiedene Ebe-nen des Bewusstseins zum Ausdruck kamen. Dies zu beschreibenist sehr wichtig, weil es sich um einen Tag handelte, an dem allesneu und originell war. Alle stattfindenden Ereignisse wurden vonder Frage begleitet: Was kann ich jetzt machen, wie weit kann ichgehen? Und all dies spielte sich auf einem bestimmten Territoriumab.

Die fehlende Präsenz von Transparenten und Fahnen konnte injener Nacht unmöglich als Mangel betrachtet werden. Sie war viel-

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über die Ablehnung der gegenwärtigen Situation hinaus – eineskizzenhafte Vorstellung der Zukunft beinhaltet hätten. DieserAblehnung stand zunächst nichts zur Verfügung außer der Origi-nalität des massenhaften Zusammenfindens sowie dem Verweisauf die allgemeinste aller Gemeinsamkeiten, nämlich Argenti-nierInnen zu sein.

In jener Nacht trafen die Leute auf Bekannte, die keine Be-kannten mehr waren, weil man nicht wusste, warum man dortwar. Ich selbst kam mir fremd vor. Ich hatte einen Kochtopf, aberes war mir ein wenig peinlich, auf ihn zu schlagen, weil bei mir –wie bei vielen anderen – die Erinnerung an Chile anklang. DerKochtopf auf der Straße war verknüpft mit den dortigen Forde-rungen der Mittelschichten nach dem Rücktritt des PräsidentenSalvador Allende, darum fiel es mir schwer. Aber aus irgendeinemGrund schlug ich dann doch auf meinen Kochtopf. Es war, als obich mir gesagt hätte: »Gut, mir scheint, dies ist es wert.« Zu Fußunterwegs hin zur Plaza de Mayo gab es einige offene Geschäfte,die schnell ihre Gitter herunterließen. Ihnen wurde gesagt: »Sehtdoch, dies ist keine Plünderung, ihr solltet euch auch einreihen.«Aber in Wirklichkeit handelte es sich um etwas, was mit der Plün-derung korrespondierte. Es hatte die Stärke einer Plünderungs-aktion, ohne das Geheimnis seines konstruktiven Impulses gelüf-tet zu haben. Es war wie die Stärke einer enormen Plünderung,aber übersetzt in eine andere Form. Es war nicht das Gegenteil derPlünderung, sondern die Übertragung derselben an einen ande-ren Ort der Stadt, der sich in eine Polis verwandelt hatte, das heißtin das kollektive Versprechen direkter Demokratie.

Danach hörte ich eine Beschreibung des FernsehjournalistenGustavo Silvestre, der in jenem Augenblick etwas Interessantessagte: Die Leute gingen auf den Bürgersteig ihres Hauses, um zusehen, was los war, und blieben dort eine ziemlich lange Zeit; da-nach bewegten sie sich bis zur Straßenecke, wo sie auch eine Zeitlang verharrten; und danach machten sie sich zur Plaza de Mayoauf. In dieser Erzählung steckte die Anerkennung eines neuen Ter-rains – ich konnte dies mit ansehen und war nicht nur Zeuge, estraf auf mich selbst zu.

Zum ersten Mal beschrieb ein trivialer politischer Fernsehkom-mentator haargenau meinen Fall. Ich ging hinaus auf den Bürger-steig, blieb dort eine Weile und wusste nicht, was zu tun sei. Wirwaren schon einige in derselben Situation. Ich ging bis zur Stra-

ten und dass der Tag der gewalttätigen Auseinandersetzung sichnicht notwendigerweise auf einem höheren Niveau des politischenBewusstseins befindet als der Vortag.

Am 19. Dezember ergab sich eine interessante Situation, dieeine enorme Heftigkeit und Kraft besaß und nicht die Scheibeneiner Bank einschlagenden Jugendlichen benötigte. So branntebeispielsweise in der Casa Rosada kein Licht, und niemand verließdas Gebäude. Es fehlte nur, dass ein orthodoxer Peronist rief: »Wannkommt der General [Perón, A.d.Ü.] raus?«, oder in diesem Fallzumindest ein Minister, aber niemand kam heraus, und es konnteauch niemand das Gebäude verlassen. Dies war das E igentümli-che und auch das Schwerwiegende der Situation, welche eineSelbstverständigung der versammelten Menge forderte. An die Stelleeiner Stimme, welche die Massen hinter sich bringt, trat der Ruf»A rgentina, A rgentina«, der wie in einer Fußballarena erschallte,wenn die Fußball-Nationalelf spielt – es gab sogar viele, die mitdem Trikot der Landesauswahl bekleidet waren.

Die andere Frage war: Wann endet das Ganze? Wie lange soll-ten die Leute dort bleiben? Das Tränengas wurde eingesetzt, weilkein Ende abzusehen war. Allein diese Tatsache war für die argen-tinische Bundespolizei »Gewalt« genug: Dass um zwei oder dreiUhr nachts die Leute immer noch auf dem Platz verharrten, ohnedass sie etwas taten und ohne dass eine Auflösung der Massenan-sammlung in Sicht gewesen wäre. Es handelte sich um eine poli-tisch spannungsgeladene Situation, in der eine enorme Gewaltschlummerte. Das Tränengas diente dazu, dieses inspirierende»Nichts« aufzubrechen. Das Einzige, was passierte, war, dass einJunge mit einer Fahne zwischen den Zähnen auf den hohen Mastinmitten des Platzes kletterte – wie bei diesen Wettbewerben miteiner eingeseiften Stange –, womit er die Menschenmenge in Sor-ge versetzte. Viele baten den Jungen, herunterzusteigen. Das Trä-nengas kam, nachdem der Junge, welcher die Aufmerksamkeit desgesamten Platzes auf sich gezogen hatte, wieder unten war.

Die Tatsache, dass an diesem Tag keine Transparente getragenwurden, war ein überraschender Anblick. Es war eine großartigeNacht; niemals zuvor hatte ich so etwas erlebt, denn es gab nichts,was der Expansion der Menschenmenge Einhalt geboten hätte,außer dem Regierungsgebäude, der Polizei und dem Ruf »A rgen-tina, A rgentina«. Das waren Abstraktionen, die den Platz desseneinnahmen, was der Menge fehlte, nämlich Worte zu finden, die –

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als wir an die Idee der kollektiven Praxis appellierten, uns nichtvorstellten, dass die Mobilisierung notwendigerweise diese Gestaltannehmen würde. Genauso wenig waren wir darauf vorbereitet,dass die Gewalt nicht in der Weise eines traditionellen Volksauf-stands erscheinen würde.

Dies alles wird zu vielen späteren Analysen Anlass geben, undes muss dazu dienen, dass wir uns Fragen stellen, denn ohne diesewerden wir nicht weit kommen. Ich denke, dass es Texte der argen-tinischen Geschichte gibt, die man »enthistorisieren« kann, umihnen eine neue Bedeutung zu verleihen, um sie auf andere Weisemit dem zu verketten, was heute passiert. Die argentinischen Tex-te sind, vom Standpunkt der Wirksamkeit der Mobilisierung ausgesehen, interessant. Die einstimmigen Rufe stammen aus derSchulzeit. Man kann behaupten, dies zeige einen geringenBewusstseinsgrad, das kann sein, aber diese Rufe sind die laute-sten. Sie sind in den Fußballstadien zu vernehmen. Die einstim-migen Rufe sind zu hören, wenn es um das Eigentum und dieNation geht, und sie nehmen eine konservative Form an. Sie re-flektieren das etablierte Denken, ein Denken, das den Kategoriender Identität verhaftet bleibt, in Bezug auf die Bank und auf meinBildungskapital, mein Schulkapital, das »argentinisch« genanntwird, eben weil es dem Anschein nach von Beginn an existiert undjeder kritischen Befragung standhält. In den Mobilisierungen tau-chen all diese traditionellen Bilder in Reinform auf. Aber vielleichtist dies der notwendige Zwischenschritt, um sie kritisch in Fragezu stellen.

Hinter dem »Alle sollen abhauen!« verbirgt sich ein weiteresDilemma, denn die große Relevanz dieser Aussage besteht darin,dass sie kein Objekt besitzt. Sie ist drastischer als alles andere, undniemand kann sie sich zuschreiben. Da es sich um eine kollektiveSchöpfung handelt, besteht das Problem darin, ob sie es verdient,wörtlich genommen zu werden, oder nicht. Vielleicht sollte mandies nicht tun, weil in diesem Fall der sich ergebende politischeStreit weniger interessant wäre als der gegenwärtige Zustand, indem dieser Ausruf dazu zwingt, Bilanz aus der Vergangenheit zuziehen. Ich traute mich nicht »Alle sollen abhauen!« zu rufen –aufgrund meiner argentinischen Besonnenheit und weil ich Situa-tionen kennen gelernt habe, die diesen einschneidenden Momen-ten unserer Geschichte folgten und in denen sich diese erst inihrer ganzen Heftigkeit entfalteten.

ßenecke, da waren wir schon mehr, und wir machten uns auf denWeg zur Plaza de Mayo. Es handelte sich um in Straßenmeterngemessene Bewusstseinsstufen oder -ebenen.

Niemand konnte von sich behaupten, er habe das Ganze be-gonnen, und in meiner Kneipe Británico hörte man tagelang denSatz: »Ich sah dich und ging los.« Es war eine Kette ohne Anfang.Jemand sagte mir, er habe in seiner Wohnung den Fernseher ange-lassen, weil er nur einen Augenblick auf die Straße gehen und inKürze zurückkehren wollte. Als er Stunden später nach Haus kam,lief sein Fernseher noch und wartete ungeduldig auf seinen Besit-zer. Auch mir passierte dasselbe. Alle diese Elemente mikrosozialerAlltäglichkeit scheinen mir von großem Interesse zu sein. Das heißt,die Spontaneität ist interessant, weil sie bestimmte Grundlagenhat und es sich eben nicht um eine riesige Strömung handelt,deren konkreter Ausdruck nicht ausfindig gemacht werden könn-te. Das Interessante sind diese kleinen Risse in der Alltagsroutine.

Die Plaza de Mayo ist ein Ort mit einer Beständigkeit, die es zuanalysieren gilt. Und gleiches gilt für Versuche, bei späterenCacerolazos das Rathaus der Stadt Buenos Aires, den Cabildo, an-zuzünden. Bei den dafür Verantwortlichen handelte es sich mitSicherheit nicht um organisierte Linke, vielleicht um schlechteSchülerInnen, die auf den langweiligen Geschichtsunterricht eineoriginelle Antwort fanden. Aber denjenigen, die inmitten der auf-steigenden Flammen auf das Dach des Rathauses stiegen, riefendie Leute zu, sie sollten wieder heruntersteigen, und verwandeltensich so in eine Stimme der kollektiven Verantwortung.

Die Stadtviertel als Handlungsraum, die Zeiten der Zusammen-künfte sowie das Ausnutzen der Nacht sind neue Elemente, diedazu zwingen, unser Thema wiederaufzunehmen. Es geht darum,Argentinien neu zu denken und sich dabei auf jene Erfahrung zustützen, in der sich das Alltägliche auf der Grundlage routinehafterBilder der Stadt organisiert. Es gilt, in neuen Konzepten zu den-ken. Denn die Art, in der sich das Alltägliche dem Außeralltäglichenüberstülpt – also die Form, in der Tag, Nacht sowie viele Symboleinterpretiert werden – beinhaltet eine große Originalität und trägtdas Versprechen in sich, dass es zu einer neuen Verschmelzung alldieser E lemente kommen kann. Vielleicht gibt es keine Erfahrungder argentinischen Bevölkerung in der Vergangenheit, auf die zu-rückgegriffen werden kann, um durch deren genaue Befragungdas heutige Dilemma zu lösen. Ich habe den Eindruck, dass wir,

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für zahlen, diese wortwörtlich zu nehmen, indem sie sich zumgerechtfertigten Ziel derselben Kritik macht, die sie selbst voran-treibt. Aufgeworfen wird damit erneut die Frage nach dem Ur-sprung der Politik und der mit ihr verbundenen Kraft. Deshalbdürfen wir keines der angesprochenen Themen vernachlässigen;denn die umfassenden Themen der Politik verlangen nach großenTexten, die mit den Rufen auf der Straße oder mit der Bewegungder Leute auf der Straße beginnen. Zur gleichen Zeit benötigenwir eine gewisse Dosis an Mut zur Auseinandersetzung mit Vorge-hensweisen, die zu sehr den alten Gewohnheiten verhaftet sind,um die außergewöhnliche Potenzialität dieser grundlegenden Kräftezu verstehen, welche in einem Zustand des Zeichens bzw. derAndeutung verbleiben. Anstatt von uns zu verlangen, zu einer ver-meintlichen »Konkretheit« überzugehen, wie dies eine bestimmteLinke übereilt in Betracht zieht, fordern uns jene Kräfte zu derÜberlegung auf, dass die wahre Effektivität darin liegen könnte,den Zustand der kreativen Bildhaftigkeit, der aktiven Bereitschaftund der beständigen, kollektiven Neuinterpretation aufrechtzuer-halten.

Aber ich war von der wortwörtlichen Interpretation dieses Slo-gans überrascht. Ich hätte besser daran getan, ihn als bildhafteDarstellung eines komplexen Sachverhaltes zu akzeptieren, um ihnmir wirklich zu E igen zu machen. Auf der anderen Seite gibt esLeute, die ihn singen und dabei an seine reale Umsetzung in derWirklichkeit denken, und in dieser stellen sie sich eine unmittel-bare revolutionäre Lösung vor, die grundlegend sein mag, derenPreis aber darin besteht, das Ausmaß an kollektivem Bruch undInspiration, das in diesen Worten zum Ausdruck kommt, aus denAugen zu verlieren. Wenn diese Worte aber vor dem StaatlichenGerichtshof gesprochen werden, scheinen sie ihr Objekt gefun-den zu haben: die Mitglieder des Gerichts, die in der Tat »alleabhauen sollen«. Mir scheint, es handelt sich um einen Ruf nachDemokratie, der so weit greift, das er mit Sicherheit eine Debatteüber neue Themen eröffnet.

Dies alles darf jedoch nicht verwechselt werden mit einer nai-ven Verblendung, wie sie einigen AnhängerInnen der Massenver-sammlungen zu E igen ist, die denken: »Alle sollen abhauen undwir bleiben!« Hier geht die drastische, beunruhigende und abgrün-dige Dimension der kollektiven Ausrufung verloren. Wenn nureinige Asambleas bleiben sollen, dann nimmt man diesem Satz sei-ne enorme bildhafte Kraft. Es fehlt ihm die Singularität. Vor demGerichtshof gibt es sie, aber ich verstehe es so, dass das »Alle sollenabhauen!« ein enormes Neugründungsprojekt in sich birgt, dennwir sind alle gezwungen, unaufhörlich Objekte zu suchen. DenAusruf mit Unmittelbarkeit zu füllen bedeutet paradoxerweise, ihmEffektivität zu nehmen. Seine Gültigkeit entfaltet sich, wenn mitihm das gesamte Szenarium überblickt wird, wenn eine agierendeKraft entsteht und eine vorzeitige Auflösung verhindert wird. Fürmich liegt das Interessante hierin: Alle sollen abhauen, aber es gibteine Regierung, also richten wir unser Augenmerk auf sie. Unddies nicht nur vom Gesichtspunkt der Kontrolle und Überwachungaus, sondern aus der Perspektive neuer Formen der Geschichte.

Die diesem Slogan inhärente Potenz benötigt keine Linke, dieallzu leicht verkündet: »Alle sollen abhauen und wir bleiben!« Ih-nen geht es letztlich um die Ablösung der Regierung durch eineandere, die nicht von den verallgemeinernden Auswirkungen des»Alle sollen abhauen!« erfasst würde. Aber welche Regierung wäredies, die sich der inneren Gesetzmäßigkeit dieser Losung entzie-hen könnte? Eine solche Regierung würde einen hohen Preis da-

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In diesem Sinne hat etwas Neues begonnen: die Erkenntnis,dass wir gemeinsam die Macht besitzen, Kräfte zu gestalten, diewir vorher als unbeeinflussbar wähnten. Zum ersten Mal kam eszu einem Einschnitt, der die unterworfene Subjektivität verwan-delte. Diese begann zu begreifen, wie viel Macht sie besitzt, wennsie sich in ein kollektives Ganzes eingliedert, das die gleichen Zie-le eint. Am Horizont erschien die Möglichkeit, den subjektivenTerror zu besiegen und auf diese Weise neue Perspektiven für eineerneuerte soziale Macht von unten aufscheinen zu lassen.

Das will nicht heißen, dass nichts mehr sei wie früher. Wirerliegen nicht der Illusion, alles sei schon getan. Es handelt sichum einen Prozess, der viel Zeit braucht, denn die Ängste undZwangsverhältnisse, die es zu besiegen gilt, sind tief verwurzelt.Und die ständig vorhandene Drohung mit der Repression ist eineauf uns lastende Realität. Die Herausforderung besteht darin, eineStrategie zu entwickeln, die uns auf friedliche und demokratischeArt und Weise befähigt, unser Widerstandspotenzial zu vervielfa-chen, nachdem wir die Macht ziviler Kollektivität entdeckt ha-ben.

Diese Gegenmacht droht sich selbst einzuengen, wenn ihrRhythmus der Schnelligkeit und Hektik verhaftet bleibt, die eini-ge ungeduldige Sektoren der Linken von ihr fordern. Denn es ent-steht keine neue Subjektivität ohne ein Kollektiv, das sie erzeugtund ihr eine Existenz in der Zeit verleiht, deren Dauer nur diekonkrete Erfahrung selbst bestimmen kann.

Wir warnen also vor den in der Hitze des Augenblicks aufge-stellten, abstrakten und rein voluntaristischen Konzepten der Lin-ken. Die Komplexität der sozialen Kreativität sprengt all diese theo-retischen Formeln.

Die Linke sollte lernen, dass sie unfähig war zu vollbringen,was andere auf spontane Weise taten, als sie neue, vorher undenk-bare Formen der Organisierung schufen. Denn es ist offensicht-lich, dass die Geschehnisse des 19. und 20. Dezember kein Werkder Linken, sondern eine Erfahrung der Übereinkunft von Men-schen sind, die zuvor deren Vorschlägen distanziert gegenüber-standen. Es geht nicht darum, von der Linken zu fordern, sie solleeinen Schritt zurückgehen. Vielmehr ist sie aufgefordert, die neu-en Bewegungen zu begleiten und erneut in der Schule des Alltagszu lernen, um so mit den versteinerten Schematismen der Vergan-genheit zu brechen.

León Rozitchner

Den Bann des Schreckens brechen

Der Genozid der Militärdiktatur von 1976-1983 zerstörte das so-ziale Gewebe, um mit Hilfe des Terrors eine einförmige Gesell-schaftlichkeit durchzusetzen. Da es unmöglich war zu handeln,ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen, triumphierte der Markt derneoliberalen Ökonomie auf der durch den Terror verursachtenTrümmerlandschaft. Denn der Markt setzt die Vereinzelung derSubjekte voraus und reduziert die menschlichen Bande auf dieKategorien des Käufers und Verkäufers.

Aber die – terrorisierte – Subjektivität der argentinischen Ge-sellschaft wurde durch die eigene Zustimmung zerstreut, getrenntund vernichtet. Die Macht war darauf angewiesen, dass das Sub-jekt sich selbst gleichzeitig als terrorisiertes undals Komplize kon-stituierte, um der Gefahr zu entgehen. »Es wird wohl einen Grundgegeben haben«, sagten sie, um sich zu rechtfertigen, denn sub-jektiv waren sie dieser Realität verhaftet und fanden sogar Gefal-len an ihr; vor allem als Ende der 80er Jahre diese Wirklichkeitihnen bestimmte materielle Vorteile zu gewähren begann und siedurch den selbstbezogenen Ritus des Konsums ihren Wünschennachkommen konnten – auch wenn das Land sich auf einen Ab-grund zu bewegte.

Anscheinend ist mit dem 19. und 20. Dezember zerbrochen,was uns voneinander getrennt hielt. Mit einem Mal ergab sichetwas Anderes: die Fähigkeit, das Gehäuse aufzubrechen, raus aufdie Straße zu gehen, sich mit den anderen zu treffen, sich im ge-teilten Leiden wiederzuerkennen und die Kräfte des eigenen Kör-pers zu spüren, indem wir entdeckten, dass wir ein mächtiges Kol-lektiv zu bilden in der Lage sind. All diese Treffen sind Momente, indenen die körperliche Anwesenheit der anderen mir die notwen-dige Kraft verleiht, um das meinem Inneren durch den Terror ein-gebrannte Kainszeichen auszulöschen, während ich meinerseits denanderen helfe, das Gleiche zu tun. Wir sind Zeugen, wie in dersozialen Wirklichkeit der Bruch mit einem unbewussten und un-terirdischen Prozess, der uns beengte, sichtbare Gestalt gewinnt.

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E s gibt Denkweisen, welche die neuen Subjektivitäten derWiderständigkeit in unveränderter Kontinuität der politischenStrategien der 70er Jahre begreifen. Aber was heute passiert, un-terscheidet sich hinsichtlich der Strategien grundlegend von dendamaligen Projekten. Es gilt zu lernen, dass die Dinge sich geän-dert haben. Es geht darum, in unserem heutigen Alltag jene Ver-gangenheit kritisch zu verarbeiten. Die einzige Weise, die Vergan-genheit zu vergegenwärtigen, besteht darin, ihre heroische Seitezu respektieren, ohne die Grenzen einer politischen Strategie zuverschweigen, die scheiterte und heute verändert werden muss.

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La Escena Contemporánea

Das Ende der menemistischen Kulturund die Ambivalenz nationaler Symbole

Viel wurde schon über den 19. und 20. Dezember gesagt undgeschrieben. Dabei werden die Meinungen, Annahmen und In-terpretationen auch weiterhin verschieden bleiben. Denn dieseEreignisse sind nicht nur von regionaler Bedeutung, sondern wer-den auch von europäischen und nordamerikanischen Theore-tikerInnen als Beispiel herangezogen, um Hypothesen über dieTransformationen des Kapitalismus sowie die Strategien der sozia-len Protestbewegungen zu formulieren. Diese Diskussionsbeiträ-ge fanden ihrerseits eine Antwort auf Seiten der hiesigen Intellek-tuellen und BasisaktivistInnen, die – ohne die Auswirkungen derglobalen Veränderungen leugnen zu wollen – die derzeitigen Kämp-fe wieder stärker im Rahmen einer besonderen Geschichte, näm-lich der Argentiniens, verorten.

Wir als Mitglieder der Zeitungsredaktion von L a E scenaContemporánea möchten einige Reflexionen über die Ereignissedes 19. und 20. Dezember und deren Auswirkungen auf die ar-gentinische Gesellschaft anstellen. Wir wollen weder soziologischeThesen aufstellen noch den rituellen Beschwörungen linker oderpopulistischer Provenienz eine weitere hinzufügen. Noch wenigersteht uns der Sinn danach, das Geschehene als Bestätigung dessenzu betrachten, was wir schon immer behauptet haben. Wir ziehenes im Gegenteil vor, im Inneren der Ereignisse zu denken und zuintervenieren sowie uns in der eigenen Unsicherheit wiederzuer-kennen – in diesem Schwanken zwischen Glück und Angst –,welche durch die Mobilisierungen im Dezember hervorgerufenwurde.

Als Ausgangsthese möchten wir formulieren, dass der 19. und20. Dezember ein Moment der Verdichtung und des kollektivenAusdrucks bisher zerstreut vorhandener Intuitionen war – wie fürandere Generationen der 17. Oktober 1945 (Peróns Befreiung ausder Haft) oder der 29. Mai 1969 (der sog. Cordobazo; vgl. dieChronologie). Die erste kollektive Ahnung war, dass sich die Rolle

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der politischen Parteien sowohl als Mittel der Organisierung so-zialer Veränderungen wie auch als stabilisierendes Element derAufrechterhaltung der herrschenden Ordnung erschöpft hat. Diezweite Intuition war, dass die Diktatur wirklich beendet war. Esging von nun an nicht mehr darum, die gegenwärtige institutio-nelle Ordnung vor einem möglichen Militärputsch zu verteidi-gen, und daher war die Terrordrohung des Militärs kein Hinder-nis mehr für die Aktion auf der Straße. Drittens kristallisierte sichdie Überzeugung heraus, dass Argentinien keine »Wüste« darstellt,in der das Nichtvorhandensein einer uruguayischen Frente Amplio,einer brasilianischen Arbeiterpartei oder eines mexikanischenZapatismus zu beklagen wäre, sondern dass hier eine andere Ernteheranreift. Und viertens war zu spüren, dass die soziale Klassen-zugehörigkeit für die Organisierung neuer Vergesellschaftungs- undLebensformen kein Hindernis mehr darstellte: Die Arbeitslosen-bewegung sowie die Stadtteilversammlungen der Mittelklasse zer-störten die klassistischen und strukturalistischen Vorurteile.

Dies waren nur einige der Intuitionen, die unsere Arbeit alsZeitungskollektiv neu beflügelt und angeregt haben. Die Weisejedoch, in der sich diese kollektive Verdichtung von Erfahrungenin der Realität vollzog, war für uns völlig unerwartet. Wie immerüberflügelten die realen Ereignisse die beschränkten Annahmenund Vorhersagen des Verstandes. Die Massen, die sich auf so be-deutsame Weise in der politischen Geschichte dieses Landes zurück-meldeten, beschritten einen noch völlig unbetretenen Pfad. DieVerbindung zwischen einer Wegstrecke, die in die geschichtlicheErfahrung Argentiniens eingeschrieben ist, und den neuen For-men und Inhalten dieses Aufbruchs, ist ein herausragendes Kenn-zeichen der aktuellen Ereignisse. Die Kleider – um mit Marx zusprechen – waren die der Nation, aber hinzu trat der ausgelasseneIdeenreichtum der Straßenumzüge sowie die kämpferische Ener-gie, wie wir sie aus den Fußballstadien und Rockkonzerten ken-nen. Die »Beflaggung« der Körper in den Nationalfarben zeigte,dass es die Praxis der Aneignung und der symbolischen Auseinan-dersetzung war, welche die nationale Erinnerung wachrief und ihreinen neuen Sinn verlieh. Es war aber nicht diese Erinnerung selbst,welche die Menschen antrieb.

Wir denken an ein aus der Geschichte überliefertes Bild, dassich auf einen unverhofften Einschnitt bezieht, in dem sich Erfah-rungen, Sehnsüchte und Intuitionen verdichten: »die aufgerissene

Erde der Nation«. Dies ist eine geologische Metaphorik, die inihrer kompakten Darstellung auf die mühsame, widerständige undunterirdische Existenz eines unterdrückten Volkes und zugleichauf einen nationalen Horizont verweist. Hier gilt es zu intervenie-ren, um der Unterdrückung ein Ende zu bereiten. Wenn wir so-wohl dieser Metapher als auch der heutigen Realität unseres Lan-des treu bleiben wollen, so ist zu sagen, dass wir uns jetzt einerErhebung der übrig gebliebenen Reste dieser Nation gegenüber-sehen. Können diese Fragmente zu einer erneuerten Nation zu-sammenfinden? Sollen sie dies überhaupt? Oder sind sie Embryo-nen einer anderen Art kollektiver Praxis, welche die Nation oderden Nationalstaat nicht mehr als Möglichkeit besitzt, obwohl siebeide noch als erstrebenswertes Ziel angibt? Es ist offensichtlich,dass die Nation bei den Massenmobilisierungen auch weiterhinals Wunsch und Horizont gegenwärtig ist, obwohl es schwierigist, die Nation weiterhin als eine relevante Dimension konkreterKonflikte zu betrachten. Unserer Meinung nach sehen wir uns indiesen Kämpfen neuen Subjekten gegenüber. Oder neuen Prakti-ken und Erfahrungen, die uns zeigen, dass die Suche nach dentraditionellen Subjekten nicht nur vergebens, sondern auch un-zeitgemäß ist.

Die jetzigen Erfahrungen können aus zwei Gründen innovativsein. Radikal gewandelt haben sich zum einen die sozialen, wirt-schaftlichen und kulturellen Bedingungen, unter denen sich dieSubjekte konstituieren und um deren Konfliktachsen sich die so-zialen Kämpfe, der Widerstand und die Kritik der herrschendenOrdnung entwickeln. Der andere Grund liegt nicht auf der Ebeneder externen Kausalität, sondern in der Suche nach sowie in derAusarbeitung von wirksamen Formen des sozialen Kampfes. Undzwar durch diejenigen Gruppen, die sich, mit mehr oder wenigerklarem Bewusstsein, entschieden haben, auf eine andere Art zuleben. Die beiden Begründungen stehen nicht im Widerspruchzueinander, sondern fließen zusammen. Wir können festhalten,dass die Straßenblockade für die 20 Prozent Arbeitslosen in derBevölkerung das darstellt, was der Streik für die Gesellschaft mitVollbeschäftigung bedeutete. Und sicherlich stellen auch wederder Streik noch die Straßenblockade bloße Techniken dar, den ei-genen Forderungen Ausdruck zu verleihen, sondern sie sind viel-mehr Kennzeichen von Kooperations- und Praxisformen, derenAuswirkungen über die bloße Tatsache des Streiks oder der Straßen-

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blockade weit hinausreichen. Die beginnenden Versuche, neuegemeinschaftliche Ausdrucksformen zu entwickeln, welche wirnormalerweise als Widerstand bezeichnen, sind keine mechani-sche und defensive Reaktion auf die Zerstörung der sozialen Bin-dungen. Manchmal beinhalten sie auch Dimensionen und Praxis-formen, die kreative Fluchtlinien darstellen, die über das bekann-te Terrain hinausweisen.

Die Nachbarn widmeten sich bis vor wenigen Monaten vor al-lem der Organisierung repressiver Maßnahmen oder ergingen sichin der hochtönenden Forderung nach mehr Sicherheit. Das hatsich grundlegend verändert. In den Asambleas der Stadtteile pas-siert zuweilen mehr als »aus der Not eine Tugend zu machen«.Der Boden des Zusammentreffens mit den anderen hat sich grund-legend verändert und macht neue Formen der Verknüpfung mög-lich. Dies öffnet die Option, radikal neue Lebensbedingungen zuschaffen. Die Nachbarschaftsbande haben sich reorganisiert.

Dies hat mit den Geschehnissen des 19. und 20. Dezember zutun. Hier geht es um das kollektive Verständnis, das den Straßen-aktionen potenziell innewohnte. Und dieses Verständnis oder die-se Intuition verwandelte die ProtagonistInnen in Subjekte einesgrößeren Netzes: das der Formen des Widerstands sowie der Neu-schaffung, welche durch die Dezemberereignisse evident wurden.

Vor diesem Moment existierten bereits zahlreiche Erfahrungen,die mit den herrschenden Werten brachen: Gruppen, die der im-mer stärker am Markt ausgerichteten Existenzweise Widerstandentgegensetzten, sowie Organisationen, die punktuelle Forderun-gen erhoben. Vielleicht war es die Bewegung der Piqueteros, inwelcher sich diese neuen Formen des Widerstands am deutlich-sten herauskristallisierten. Über Jahre hinweg waren diese Praxis-formen jedoch völlig unzureichend: Demnach gehörten sie ent-weder nicht zur richtigen Klasse; oder ihr Widerstand erschöpftesich angeblich in der Forderung nach staatlicher Unterstützung;oder aber ihre Kämpfe mündeten in kein landesweites Projekt.Was diese Urteile unterschlugen und heute mit Erstaunen wieder-entdecken, ist die Schaffung oder Herausbildung von Formen derVergesellschaftung und Kooperation, die über Marktförmigkeit undVermittlung hinausstreben, auch wenn ihnen noch von beidenetwas anhaftet.

Die gewöhnlichen Scheuklappen verhinderten dieses Verständ-nis, aber für breite Teile der Gesellschaft bestand das größte Hin-

dernis darin, nicht verstehen zu wollen, egal ob dies bewusst oderunbewusst ablief. Wenn auch die menemistische politische Kulturauf einer diskursiven Ebene starken Kritiken ausgesetzt war, soblieb sie doch, solange die Peso-Dollar-Konvertibilität aufrechter-halten werden konnte, in ihrem inneren Kern unbeschädigt. Dennsie wirkte als Kultur des Konsums und der Verschwendung sowieals Unterordnung der Gemeinschaft unter die merkantile Logikund das Ideal der individuellen Anhäufung von Reichtum. DerMenemismus war nicht mehr als der Kulminationspunkt einer inder letzten Diktatur begonnenen Anpassung der argentinischenGesellschaft an die Imperative des kapitalistischen (Welt-)Marktesund damit auch der Definition der individuellen Existenzen alsNutzerInnen von Dienstleistungen, KundInnen, VerbraucherInnenoder ZuschauerInnen. Trotz aller moralischen oder politischenKritik hatte der Menemismus daher einen so umwerfenden prak-tischen Erfolg.

Die Zerstörung der gemeinschaftsbildenden und politischenFormen, welche sich bis in die 70er Jahre hinein in der argentini-schen Gesellschaft entfaltet hatten, ist nicht nur ein Ergebnis desstaatlichen Terrors, sondern auch tiefgreifender wirtschaftlicher undkultureller Transformationen. Diese Zerstörung war die Bedingungdafür, dass die Politik als konstituierende Kraft abgeschafft wurde.Während der vergangenen 20 Jahre dominierten zielstrebig durch-geführte kollektive Simulationen gegenüber wirklicher gemein-schaftlicher Praxis. Unter diesen Bedingungen beschränkte sichder Widerstand von unten sehr stark auf die Frage einer individu-ellen Ethik und verstärkte so die Illusion eines möglichen indivi-duellen Auswegs. Erst als die ökonomischen Prozesse und dieMaßnahmen der Regierung die Möglichkeiten radikal einschränk-ten, als sich die oben skizzierte Lebensweise nicht mehr reprodu-zieren konnte und zur nostalgischen Sehnsucht wurde, konntenkollektive Praxisformen wieder sozial verständlich und deren Wertneu wahrgenommen werden. Erst jetzt wurde deutlich, dass dieseFormen oftmals weit darüber hinausgingen, punktuelle Forderun-gen zu stellen oder konkrete Bedürfnisse zu befriedigen. Zuge-spitzt ausgedrückt: Es war nicht der Corralito (die E infrierung derBankkonten), welcher den Aufstand der Mittelklasse auslöste. DieseInterpretationsweise erklärt nichts.

Denn bereits vor dem 19. und 20. Dezember war die Erschöp-fung der etablierten Lebensformen evident. Allerdings erlaubte erst

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der kollektive Aufbruch eine neue Wahrnehmung der Krise unddes Widerstands. Dabei lassen sich sowohl Kontinuitäten undÄhnlichkeiten mit bereits Vorhandenem als auch neue Räume desZusammentreffens, des Dialogs und der Kooperation ausfindigmachen. Von hier aus ergibt sich die Suche nach einer Artikulati-on der Erfahrungen sowie nach einem gemeinsamen Lernprozess.Die Losung »Piquete y cacerola – la lucha es una sola« (Piquete undCacerola – ein gemeinsamer Kampf) löst diese Frage allerdingsallzu schnell auf. Nicht alle Suchprozesse gehen auf die gleiche Artvor. Die Frage nach den Verknüpfungen zwischen den verschiede-nen Praxisformen bildet einen Teil dieses Prozesses selbst. Es gehtalso nicht darum, ein Rezept, ein Wissen oder eine Theorie anzu-wenden, um die verschiedenen Praktiken von außen her zu inter-pretieren oder zu formen. Wir glauben vielmehr, dass wir uns an-gesichts der K rise und angesichts der neuen Widerstands-erfahrungen nicht hinter schützenden Gewissheiten versteckenkönnen, die uns angeblich die Frage beantworten, was wir als In-tellektuelle, als politisch Engagierte sowie als Mitglieder eines über-greifenden sozialen Zusammenhangs, der sich offensichtlich inAuflösung befindet, zu tun und zu lassen haben.

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Colectivo Situaciones

Vielfalt und Gegenmachtin den Erfahrungen der Piqueteros

Der Piquete stellt eine gemeinsam organisierte Aktion dar, aufschnelle Art und Weise eine möglichst vielbefahrene Durchgangs-oder Landstraße abzusperren und dort so lange wie nötig zu ver-bleiben. E ine große Gruppe hält dabei zunächst mit alten Auto-und Lastwagenreifen, die als Barrikade auf dem Asphalt aufge-schichtet und danach angezündet werden, den Verkehr auf. Dannwird mitten auf der Straße ein zunächst sehr behelfsmäßiges Camperrichtet, an dem Frauen, Männer und Kinder teilnehmen. Dortwerden kollektiv Essensküchen organisiert und die verschieden-sten Aktivitäten durchgeführt, bis dass die Regierung den konkre-ten Forderungen nachkommt, aufgrund derer die Aktion begon-nen worden ist.

Natürlich kommt es während der Blockade zu Spannungen miteinigen an der Durchfahrt gehinderten FahrzeugführerInnen. DieStraßenblockaden ziehen gleichzeitig immer mehr Menschen an,die dort Umzüge mit Musik und Verkleidungen veranstalten, Tref-fen abhalten, verschiedenartige Kulturveranstaltungen durchfüh-ren, Filmaufnahmen machen usw. Anziehend wirkt die Aktion auchauf viele JournalistInnen sowie Gruppen und Initiativen, die mitder Piquetero-Bewegung zusammenarbeiten, so die Stadtteil-versammlungen, die ArbeiterInnen besetzter Fabriken, organisier-te Universitätsangehörige oder Menschenrechtsgruppen. Ohne dassman sich versieht, ist auch die Polizei am Ort des Geschehensanwesend und umkreist ihn. Wir wollen in diesem Kapitel denhistorischen und aktuellen Kontext dieser Bewegung, ihre Strö-mungen und Probleme sowie ihre Bedeutung im heutigen Argen-tinien darstellen. In einem gesonderten Kapitel kommen Mitglie-der der Arbeitslosenbewegung (MTD) in Solano in Groß-Buenos-Aires zu Wort.

Der Kampf der Piqueteros beginnt außerhalb der traditionellenpolitischen und sozialen Institutionen. Seine Autonomie und sei-ne Neuheit sind verbunden mit dem Prestigeverlust der überkom-

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menen politischen Organisationen, der auf deren Unfähigkeit zu-rückzuführen ist, die Bedingungen von Herrschaft im so genann-ten Spätkapitalismus zu verstehen bzw. Veränderungen in die Wegezu leiten, welche die Lebensbedingungen weiter Teile der Bevölke-rung zu verbessern helfen.

Die Piqueteros stellen eine Art und Weise des politischen Kamp-fes dar, die diejenigen zusammenbringt, die aus den industriellenProduktionsstätten vertrieben worden sind: Arbeitslose, welche diemit ihrer eigenen sozialen Existenz verbundenen Probleme zu lö-sen versuchen und die sich territorial überall dort organisieren, wodie härteste Auseinandersetzung gegen die Auflösung der sozialenNetze geführt wird. Aus einem strukturellen Blickwinkel betrach-tet, sind die Aktionen der Straßensperren Konsequenz der Zerstö-rung der industriellen Basis der Landes.

Derzeit wiederbeleben die Piqueteros viele Elemente und Kennt-nisse, die aus den Erfahrungen der ArbeiterInnenkämpfe vergan-gener Jahrzehnte stammen – der Begriff Piquete selbst bezieht sichauf den Streikposten vor den Fabriken. Aber diese Übernahmebestimmter Vorgehensweisen erfolgt keinesfalls mechanisch; viel-mehr transformieren sich diese unter den neuen Bedingungen ei-ner »Existenz ohne Arbeit«. Hier handelt es sich genauer um dieVerarbeitung überlieferter Aktionsformen und nicht um die passi-ve Akzeptanz des Ererbten. Es geht um die Fähigkeit der Subjek-te, neue Widerstandsformen zu erfinden, die auf die Errichtungeiner Souveränität in den konkreten Situationen selbst abzielen.

Dadurch ermöglicht die heutige Straßenblockade, von einemsingulären Ort aus zu denken. Von diesem ausgehend, besteht dieVorgehensweise der Piqueteros darin, eine komplexe Beziehung mitden Staatsapparaten einzugehen sowie neue Formen zu schaffen,das eigene Territorium – das Stadtviertel – zu bewohnen. Die Pique-teros stehen nicht in der direkten Kontinuität der Gewerkschafts-bewegung. Ihr plötzliches Auftreten im sozialen Widerstand Argen-tiniens erfordert, die Augen zu öffnen und die Besonderheit ihrerExistenz sowie die sich daraus ergebenden Folgen zu reflektieren.Sicherlich gibt es Kontinuitätslinien zwischen den beiden Formendes politischen Kampfes, aber es liegt auch auf der Hand, dass dieBedingungen und Vorgehensweisen sich in wesentlichen Punktensehr unterscheiden. Auf jeden Fall haben die bisherigen Versucheder Gewerkschaften, ihre Kontrolle und ihre Funktionsweise aufdie Straßenblockaden auszudehnen, Konflikte verursacht.

Den Piqueteros ist die Auflösung der traditionellen Gewerk-schaftsstrukturen nicht entgangen. Auch wenn die Gewerkschafts-bewegung in ihren Ursprüngen eine Form der kollektiven Assozi-ierung darstellte, welche die kulturelle Erfahrung der Arbeiterklassein ihrer Autonomie stärkte, veränderte sich später die Rolle derGewerkschaftsapparate radikal. Mit der Etablierung des Fordismusals Methode der Produktionsorganisation kam es zu einer tiefgrei-fenden Veränderung des Charakters dieser Organisationen. DieMechanisierung der Arbeit und die Institutionalisierung der Lohn-beziehungen brachten die Gewerkschaften dazu, sich gegenüberder Arbeiterklasse in einen Transmissionsriemen der Macht zu ver-wandeln, wobei sie sich in den Staat eingliederten und ihre Auto-nomie verloren. Die Piqueteros weisen eher mit der frühen Ge-werkschaftsbewegung Ähnlichkeiten auf, indem Kenntnisse undErrungenschaften geteilt und gemeinschaftliche soziale Bande ge-knüpft werden.

Bei den Übereinstimmungen sticht ein Aspekt hervor: Sowohldie Gewerkschaftsbewegung als auch die Piquetero-Bewegungmusste neue Aktionsformen erarbeiten, die in der Lage waren, dieNormalität der herrschenden Zustände umzuwerfen; beide musstenneue Wege suchen, sich Gehör zu verschaffen. Wenn Lohnarbei-terInnen auf ihre Fähigkeit bauen konnten, durch einen Streikden Produktionskreislauf zu unterbrechen, so besitzt die Piquetero-Bewegung vor allem einen auf das Territorium bezogenen Charak-ter, indem sie dazu übergeht, durch eine einfache und zugleichkühne direkte Aktion die Zirkulation von Waren zu unterbinden:durch Straßensperren.

Die Piquetes sind horizontal organisiert, ihre Vorgehensweisensowie ihre Formen der Entscheidungsfindung basieren auf der per-manenten Vollversammlung. Ihr Ursprung reicht nicht weit in dieVergangenheit zurück. Sie entstanden Mitte der 90er Jahre im Lan-desinnern und breiteten sich innerhalb eines Jahres aus. Sie habennicht nur das Wissen vergangener Arbeitskämpfe ererbt. Sie verar-beiten auch auf verschiedenen Ebenen die Erfahrungen aus Kämp-fen der jüngeren Zeit. 1993 begann in verschiedenen Provinzendes Landesinnern ein Zyklus von sozialen Aufständen und Bewe-gungen. Die Absperrung von Landstraßen bildete dabei den höch-sten Grad der Organisierung von Arbeitslosen und trug dazu bei,deren Kämpfen den Weg zu ebnen. Die Straßenblockade ist dasInstrument derjenigen, die nicht mehr Ressourcen besitzen als die

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Fähigkeit, mit ihrer körperlichen Anwesenheit ein bestimmtesTerritorium zu kontrollieren. In diesem Sinne handelt es sich hierum ein kollektives Vermögen, das den Arbeitslosen, den Indígenas,den aus ihrer Wohnung Vertriebenen sowie dem breiten Kreis der-jenigen, die der Neoliberalismus als »Ausgeschlossene« bezeich-net, zu E igen ist.

Die Straßenblockaden als neue Aktionsform förderten überalldie Teilnahme von Arbeitslosen an den sozialen Kämpfen, wobeidie Bewegung sich vom Landesinnern bis zur Provinz Buenos Airesfortpflanzte. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Straßenblockadeverbreitete, machte alle Formen der Kooptation und der staatli-chen Repression zunichte.

Die Massenmedien gaben dem Begriff Piqueteros seine höherenWeihen: Sie schufen ein Stereotyp. Später kamen dann die ver-schiedenen Interpretationen ins Spiel, und die TeilnehmerInnender Straßensperren gewannen in der Öffentlichkeit an Gestalt. Inder herrschenden Meinung ist ihr Charakter durch den Ort ge-prägt, den sie in der sozialen Struktur einnehmen. Sie sind »Aus-geschlossene«, »Arbeitslose« oder »Opfer«. Diese Positionierungentsteht, indem eine Situation des sozialen Verlassenseins mit ei-ner einzigen Methode verknüpft wird: die der Straßenblockade.

In der Weise aber, in der die Piqueteros selbst das Wort ergrif-fen, wurde deutlich, bis zu welchem Grad unter ihnen eine großeVielfalt und Heterogenität von Erfahrungen vorherrscht. Es gabsogar einfältige Versuche, die breitgespannte Bewegung zu verein-heitlichen und zu institutionalisieren. Alle diese Versuche schlu-gen fehl.

Die Straßenblockadenbewegung ist wirklich eine Bewegung von

Bewegungen. Was die kollektive Wahrnehmung der Fähigkeitenvon Basisbewegungen angeht, neue Formen der sozialen und poli-tischen Intervention ins Leben zu rufen, so hat sie eine wirklicheRevolution ausgelöst.

Strömungen, politische Ansätze und ihre

Interpretationen

Die landesweite Versammlung der Straßenblockaden (CongresoNacional Piquetero), die in der ersten Hälfte des Jahres 2001 abge-halten wurde, bildete das entscheidende Moment für die Konsti-tuierung dieser Bewegung. Dort versammelten sich VertreterInnen

von praktisch allen Straßenblockaden des Landes. Das – letztlichnur zum Teil erreichte – Ziel der Versammlung war es, eine lan-desweite Koordination zu schaffen. Der Vorschlag bestand darin,auf der Grundlage weitgehend einstimmiger Forderungen undAktionsformen die vielfältigen Erfahrungen der Straßenblockadenzu verknüpfen. Unverzüglich wurde ein gemeinsamer Aktionsplanverabschiedet, der einen doppelten Effekt besaß. Zum einen zeig-te er die durchschlagende Wirkung der Piquetes, den gerechtenCharakter ihrer Forderungen sowie den hohen Organisierungs-grad der Bewegung. Und zum anderen wurden zum ersten Maldie außerordentlich diversen Formen sichtbar, in denen der eigeneWiderstand verstanden wurde.

Die Bewegung ist von zwei unterschiedlichen politischen Denk-weisen durchzogen. Auf der einen Seite gibt es die stärker struktu-rierten Organisationen, vor allem die mit dem alternativenGewerkschaftsdachverband Central de Trabajadores A rgentinos

(CTA; Dachverband der Argentinischen Arbeiter) eng verbunde-ne F ederación Tierra y V ivienda (FTV; Föderation für Land undWohnung), dann die Corriente Clasista y Combativa (CCC; Klassen-orientierte und Kämpferische Strömung), den Polo Obrero (Samm-lung der Arbeiter) sowie die Bewegung Teresa Rodríguez (MRT).Diese alle handeln auf der Grundlage eines Denkens, das seinePrämissen aus den Konzepten »Globalität«, »sozialökonomischeStruktur« und »politische Konjunktur« ableitet. Es handelt sichum ein Denken im Begriffspaar »E ingeschlossensein / Aus-geschlossensein«. Ihre Positionen sind keinesfalls homogen. Siebilden sich entlang der traditionellen Achse »Reform oder Revolu-tion«.

Auf der anderen Seite gibt es die weniger durchstrukturiertenOrganisationen, bei denen sich das Panorama auch alles andere alseinheitlich darstellt. Unter ihnen befinden sich die Arbeitslosen-vereinigungen Coordinadora de Trabajadores Desocupados A níbal

V erón (CTD) und die »Bewegung der arbeitslosen ArbeiterInnen«(MTD) aus Solano in der Stadt Quilmes im Süden von BuenosAires. Bei diesen Gruppen artikulieren sich die Momente des so-zialen Widerstands dahingehend, dass sie die Gemeinsamkeiten,die aus der Materialität gemeinsamer Erfahrungen entstehen, alseinzige Bedingung und alleinigen Maßstab ihres Denkens akzep-tieren. Sie entziehen sich so der klassischen Debatte über »Reformoder Revolution«. Kennzeichen dieser Vorgehensweise ist die Selbst-

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bestätigung (autoafirmación) und die vielfältige Praxis von Gegen-macht.

Mit der Verallgemeinerung des Phänomens der Piqueteros grif-fen die etablierten politischen Organisationen auf die bekanntenVorgehensweisen zurück, um durch Kooptation oder direktenAngriff flexibel auf diese Herausforderung zu reagieren. Traditio-nelle oder linke Parteien, Kirchen und Gewerkschaften wiesen aufdas vermehrte Auftreten dieser Bewegung hin und näherten sichihr in der Absicht an, deren Wirkungsmacht abzuschwächen.

Die offiziellen Medien haben dazu beigetragen, die Bewegungzu interpretieren. Sie ordnen die Kämpfe der Straßenblockaden indie Koordinaten der »politischen und wirtschaftlichen Gesamtla-ge« ein. Der Widerstand der Piquetes verliert so seine E inzigartig-keit und verwandelt sich in ein weiteres E lement einer »anderen«Situation, die wichtiger ist, weil sie allgemeiner ist: die nationaleSituation. Der Kampf der Piquetes ist dann nicht mehr eine kon-krete Situation, in der man sich engagiert. Die Piqueteros werdenvielmehr zu einem Akteur, zu einem Teil, zu einem Element derallgemeinen S ituation.

Die Unausweichlichkeit des Blickwinkels des A llgemeinen zuakzeptieren heißt jedoch, eine bestimmte Situation allein als Teileiner schon konstituierten Totalität zu betrachten. Durch dieseArt zu denken bildet sich eine Subjektivität heraus, die sich phy-sisch und affektiv von der konkreten Situation trennt und diese alsObjekt betrachtet, um sich mit ihr in einer rein analytischen Wei-se in Beziehung zu setzen. Diese Rationalität spricht zu uns vonder Vorsicht, mit der jede und jeder von uns sich für bestimmteOptionen entscheiden sollte. Es gehe eben nicht allein um diePiqueteros – die vorher schon der Allgemeinheit subsumiert wor-den sind –, sondern um »uns alle«, »die Verantwortung für dieNation«, »das Allgemeinwohl« usw. Diese Betrachtungsweise über-nimmt abstrakt die Verantwortung für das Schicksal der Regie-rungen, indem sie die konkrete Verantwortlichkeit von sich weist.

Die konkreten Erfahrungen stellen die Piquetero-Bewegung stän-dig vor Entscheidungen: Von welchem Standpunkt soll ausgegan-gen werden, um die eigene Situation zu denken? Von der konkre-ten Situation, in der sich das Leben vollzieht, oder von einer hy-pothetischen – und nicht immer effektiven – nationalen Situation?Von welchem Standpunkt wird ausgegangen, um der eigenen Er-fahrung einen Sinn zu verleihen?

Wird die Prämisse eines Denkens akzeptiert, das von den kon-kreten Bedingungen der eigenen Intervention abstrahiert und des-sen Sinn sich aus einer allgemeinen Situation ableitet, so ist dasErgebnis eine durch die Zeitlichkeit sowie die Erfordernisse derpolitischen Konjunktur bestimmte Subjektivität. Auf diese Weisewird von den Piqueteros verlangt, die Gründe für ihren Wider-stand aus den Sinnpotenzialen abzuleiten, die in der sozialen Tota-lität verfügbar sind. Sie sollen eine Rationalität übernehmen, diedurch die hegemonialen Formen der Legitimität bestimmt ist.

Auf diese Weise müssen sie den »Sinn« ihres Widerstands fest-legen: entweder soziale Inklusion oder Revolution. Für die sozialeIntegration zu sein heißt, dass der Kampf legitim ist, weil in ihmnur die Gewährleistung der Rechte eingefordert wird, die darauserwachsen, Teil eines Ganzen – das heißt BürgerInnen, Arbei-terInnen, Menschen – zu sein. Der Kampf um die eigene Inklusionist gleichbedeutend mit dem Kampf um Anerkennung. Es gehtdarum, als legitimer und legaler Teil des Nationalstaats akzeptiertzu werden. Diese Form des Legitimitätsgewinns hat zwei unhinter-fragte Prämissen: dass der Nationalstaat faktisch seine Fähigkeitzur Integration beibehält und dass der politische Kampf auf denÜbergang vom A usgeschlossensein zum E ingeschlossensein abzielt.Diese Position deckt sich in etwa mit den politischen Stellungnah-men der genannten CTA sowie der FTV.

Akzeptieren die Piqueteros diese Lesart sozialer Auseinanderset-zung, geben sie zugleich die Absicht auf, ihre Inhalte bei denjeni-gen durchzusetzen, die den Rest der Gesellschaft bilden, d.h. beiden Menschen des Landes, die nicht Piqueteros sind. Es kommt zuKonflikten, Spannungen und erzwungenen Konsensen, wobei umdie Umstände einer demokratischen Einschließung gerungen wird.Die Prämisse dieser Praktiken ist die Existenz eines demokrati-schen Staates, der in der Lage ist, ausgehend von den Prinzipiendes Konsenses und der Repräsentation seine Integrationsleistungenzu vollziehen.

Das zweite Argument, die revolutionäre Position, betont die Not-wendigkeit sozialer Bündnisse mit dem Ziel, die Staatsmacht zuerobern. Die Straßenblockaden, die diese Position einnehmen, ver-stehen sich als revolutionäre A vantgarde des argentinischen V olkes.Die soziale Totalität wird demnach transformiert, indem es zu ei-nem Wechsel in den Prinzipien der sozialen Organisation kommt,welcher ausgehend von der Kontrolle des Staatsapparates vonstat-

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ten geht. Die Erwartungen konzentrieren sich hier auf die Mög-lichkeit, dass alle Teile der Gesellschaft in den Straßenblockadeneine wirkliche Vertretung des zukünftig mit sich selbst versöhntensozialen Ganzen erkennen. Die Piqueteros werden so zum neuenproletarischen Subjekt der Geschichte. Dies Position teilt mit dervorhergehenden die Prämisse, dass die sozialen Klassen ihren Sinnausgehend von ihrer ökonomischen Existenz erlangen und ihr Stre-ben nach einem sozialen Wandel auf die Machtpotenziale des Staatesgerichtet ist.

Das Denken in konkreten Situationen agiert auf der Grundla-ge anderer Prämissen. Natürlich existieren Klassen. Aber ihre öko-nomische Existenz reicht nicht aus, um den sozialen Umbruch indie Wege zu leiten. Dazu ist vor allem nötig, Sinnpotenziale in derSituation zu bestätigen, um soziale Veränderungen einzuleiten, d.h.um die Herausbildung von Werten einer anderen, nicht-kapitali-stischen Vergesellschaftung zu fördern. Auf diese Weise entziehtsich das Denken der Gegenmacht dem Allgemeinbegriff als Sinn-produzent und nimmt stattdessen einen radikalen und nichtreduzierbaren Standpunkt ein. Die Situation wird nicht als Teileines Ganzen, sondern als konkrete Totalität wahrgenommen, diesich mitnichten passiv einer abstrakten Totalität unterordnet. Die-ses »Sich-Entziehen« öffnet die Tore hin zu einem Prozess derSubjektwerdung, der einen ethischen Charakter besitzt und aufeine Wiederbegegnung mit den eigenen inhärenten Möglichkei-ten hinausläuft. Logischerweise wird auf diesem Weg die traditio-nelle Polarisierung zwischen »Reform und Revolution« zweitran-gig.

Die Repräsentation

Im Kern dieser Polemik spielt die Frage nach der »politischen Re-präsentation« eine zentrale Rolle. Die E inberufung der landeswei-ten Versammlung mit dem Ziel einer Vereinigung der Piquetero-Bewegungen führte zu einer Neuauflage der Diskussion. DieOrganisatorInnen schlugen vor, der vielfältigen Bewegung einerepräsentierbare E inheit als solche zu verleihen. Um aberrepräsentierbar zu sein, muss das E ine sich als solches konstituie-ren. Vielfalt wurde mehr als Hindernis denn als Potenzialität wahr-genommen, auf jeden Fall aber als zu kontrollierende Potenzialität.Diese Behauptung gab Antwort auf die Fragen, wie diese Mög-

lichkeit in einer allgemeinen Situation bestimmend werden könnebzw. wie diese Möglichkeit in eine »politisch-soziale« Kraft zu ver-wandeln sei, die direkt auf die nationale Situation einzuwirken inder Lage sein würde.

Diese Fragen drücken einen Willen zur Hegemonie aus, derVielfalt nur als Kräftezersplitterung wahrnehmen kann. Unverzüg-lich verwandelt sich, was als Potenzialität anerkannt wurde, in einHindernis. Stattdessen dominieren die Fragen: Wie konstituiertsich eine angemessene Repräsentation des Vielfältigen? Wie kon-stituiert sich Führung, wie formieren sich deren InhaberInnen undwie etabliert sich ein einheitlicher Diskurs?

Diejenigen an der Spitze der Bewegungen, die auf dieser Rich-tung beharrten, begaben sich in der Tat auf ein schwieriges Ter-rain. Ihre Entscheidungen wurden mehr und mehr bestimmt durchdie Komplexität der politischen Gesamtlage, durch die eigenenAnsprüche sowie durch die Notwendigkeiten, die jeweils eigeneBewegung aufrechtzuerhalten. Auf diese Art und Weise veränder-te sich allmählich die Beziehung zu ihrer Basis.

Die politische Repräsentation verurteilt diejenigen, die sich ihrverschreiben, zu einer unabänderlichen Äußerlichkeit in Bezug aufdie Kräfte, die an der Basis einer Bewegung tätig sind. Diese Äu-ßerlichkeit speist sich aus der Rolle, diese Energien zu verwalten.

Was konkret den Congreso Nacional Piquetero betrifft, so wur-den die Licht- und Schattenseiten dieser Position deutlich. Aufder einen Seite trägt die organisatorische Stärkung dazu bei, kon-krete Erfolge zu erzielen, was die gemeinsamen Forderungen ge-genüber der Bundesregierung angeht. Auf der anderen Seite je-doch schwächt diese Operation, in der sich eine Handvoll politi-scher Kader die Außenvertretung sowie die innere Führung derBewegung anmaßt, die Piquetero-Bewegung in doppelter Hinsicht.Die Vielfalt der Bewegung wird beseitigt und den Führungs-personen eine Befugnis zur Disziplinierung erteilt. Diese Berech-tigung äußert sich in der Macht zu entscheiden, wer Piquetero istund wer nicht, welche die korrekte Form der Praxis ist und welchenicht usw.

Dieser komplexe Mechanismus trat während des ersten Tagesder Protestaktionen, zu dem die Nationale Piquetero-V ersammlungaufgerufen hatte, auf den Plan. Der damalige höchste Repräsen-tant gab sein Debüt in der neuen Rolle, indem er diejenigen als»nicht zur Bewegung gehörend« bezeichnete, die für eine Radika-

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lisierung der Aktionsformen eintraten. Wenn einmal diese Trans-formation des nicht repräsentierbaren Vielfältigen in das repräsen-tierte E ine vonstatten gegangen ist, dann ist das Phänomen derPiquetes integrierbar geworden: Diese werden zu einem weiterenAkteur der politischen Konjunktur. Die Rationalität dieserWiderstandsform wird in ausschließlich ökonomischen Interessengesehen. Ihre Wirksamkeit wird am Ende von der Möglichkeiteines vielfältigen Kampfes auf die Fähigkeit der Führungs-persönlichkeiten reduziert, als »anerkannte Verhandlungs-partnerInnen« zu agieren. Die anfängliche Vielfalt verwandelt sichin einen »Akteur innerhalb der politischen Gesamtlage«, dessenTun vorhersehbar ist. Der Erfolg dieses E ingriffs hängt nun davonab, die Praxis der Bewegung in Übereinstimmung mit ihren Zie-len »im Zaume zu halten«. Die jeweiligen Logiken differenzierensich aus. Die Leitungskader denken auf einer Ebene, die Basis aufeiner anderen. Das Schicksal der Gesamtheit hängt angeblich da-von ab, ob die Bewegung sich an die Wahrnehmung der Führunganpasst oder nicht. Ob die jeweiligen Ziele, von denen der Erfolgder Bewegung abhängt, erreicht werden oder nicht, entscheidetsich auf der Ebene der Aktionen des »Überbaus«. Dies will nichtheißen, dass es keine Vollversammlungen oder Basismobilisierungenmehr gäbe. Aber diese erhalten einen neuen Sinn, der sich dennormalen Mitgliedern der Bewegung entzieht und allein von derFührungsschicht umfassend verstanden wird.

Die politische Bedeutung dieser Operation wird in der Regelunterschätzt. Aber die Folgen derselben sind äußerst konkret. Wenndie Bewegung das Bild verinnerlicht, das sich die Gesellschaft vonden Menschen an ihrer Spitze macht, dann haben diese nicht mehrlänger eine bloße SprecherInnenfunktion, als ein Gesicht untervielen, sondern handeln immer mehr im Namen des zu interpre-tierenden »Allgemeinwillens« der Piqueteros. Und dieser Prozessvollzieht sich unabhängig davon, wer konkret den Platz der Ver-tretung einnimmt. Die Ausübung der Repräsentation entmächtigtdas jeweils Repräsentierte. Sie teilt auf in das Repräsentierte unddas zu Repräsentierende. Der Repräsentant ruft das Repräsentier-te zur Ordnung. Das Repräsentierte, wenn es folgsam ist, sichführen lässt und die Repräsentanzbeziehung nicht scheitern lassenwill, sollte sich besser »vertreten lassen«. Auf diese Weise verwal-ten die VertreterInnen diese Beziehung. Sie bilden den aktivenTeil. Sie wissen, wann eine Mobilisierung ansteht und wann es

angemessener erscheint, passiv zu bleiben. Die VertreterInnen nei-gen dazu, die Souveränität der Vertretenen zu enteignen. Sie ver-gessen ihr Mandat. Es wird ihnen langsam lästig und zum Hin-dernis beim Verfolgen ihrer Taktik.

Schließlich, so das Denken der Repräsentanten, sind sie es, diean einem Ort handeln müssen, den die Repräsentierten nicht ken-nen: dem der politischen Macht. In der Tat erlangen die Repräsen-tanten eine V orstellung von der Macht. Sie lernen diese allmählichkennen, machen Lernprozesse durch. Zum »Wohle aller« wandelnsie sich zu Lehrenden der von ihnen Vertretenen. Sie erklären die-sen, was sie zu tun und zu lassen haben. Sie erlangen spezifischeFertigkeiten und erreichen Schritt für Schritt, dass die Repräsen-tierten ihre Sichtweisen übernehmen. Die Repräsentanten sind soin der Lage, sich ihr eigenes Mandat zu schaffen, wobei sie wohl-wollend den Teil berücksichtigen, den auszugestalten den von ih-nen Vertretenen überlassen bleibt: ihre jeweilige Basis zu sein. Wenndies eintritt – und es passiert zu häufig –, dann verliert der Kampfan Radikalität. Die Repräsentanten werden vernünftig, aber ihreRationalität ist unverständlich für diejenigen, die mit ihnen dieErfahrungen des Widerstands teilten: Ihr Denken strukturiert sich

nicht mehr kollektiv. Die Vertretenen denken nicht mehr gemein-sam mit denen, die sie repräsentieren. Die Vollversammlung istnicht mehr das Organ kollektiver Denkprozesse und wird von nunab zu einem Ort der Legitimation und der Reproduktion der Be-ziehungen der Repräsentation. Die Repräsentanten errichten ei-nen Mechanismus, um die Plena zu überwachen und zu lenken.Diese werden zu einem plebiszitären Ort. Bestimmte Optionenstehen zur Abstimmung, aber diese sind schon im voraus ausgear-beitet worden.

Dies alles will weder heißen, dass die Repräsentation vermeid-bar sei noch dass diese sich notwendigerweise als dominantes E le-ment absondert. Die Delegierten, die nach dem Rotationsprinzipund auf Widerruf mit einem imperativen Mandat ausgestattet sind,die in – und mit – der V ollversammlung denken, müssen sich nichtautomatisch vom Ganzen absondern. Oder wenn sie dies tun, soriskiert die Organisation nicht viel, da nichts unwiderruflich dele-giert wird und die Delegierten nur mit einem punktuellen Man-dat ausgestattet sind. Das Schlüsselelement der gesamten Frageliegt darin, zu vermeiden, dass die Repräsentation sich unabhän-gig macht. Dies tritt dann ein, wenn das Denken in den Begriffen

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der Macht verläuft, wenn es zu einer Trennung von der konkretenSituation kommt, von der Erfahrung, die den Ursprung der Refle-xion bildet.

E in Denken, dessen Prämissen auf der politischen Konjunkturberuhen, bestimmt die überdimensionale Existenzweise der Re-präsentation. Erst wenn diese Operation erfolgreich abgeschlos-sen ist, öffnen sich die Türen zu Verhandlungen, für die Inklusionder Piqueteros in den Dialog und schließlich in das Konsens-Spieldes politischen Systems. Diese Entwicklung ist Ergebnis listigerund versteckter Manöver und mit der Politik der Integration ver-knüpft.

Die Integration

der Ausgeschlossenen ... als Ausgeschlossene

Damit die beschriebene Operation der Repräsentation gelingt, istes nötig, dass sich zuvor eine gemeinsame Eigenschaft der jeweilsRepräsentierten ausfindig machen lässt, das heißt ein Attribut, vondem ausgehend man von ihnen – und in ihrem Namen – auf nach-vollziehbare, das heißt legitime Weise sprechen kann. So benötigtder von den Repräsentierenden etablierte Dialog als Bedingungdie Konstruktion einer sozialen Gruppe, die klar definiert ist undvon allen geteilte Charakteristika aufweist: die ArbeiterInnen oderdie Arbeitslosen, die Studierenden, die Ausgeschlossenen – oderwas auch immer. Es geht hier um das komplexe Problem der Iden-tität.

Die Identität kann aus einer strukturellen Eigenschaft der exis-tierenden Gesamtheit abgeleitet werden, d.h. ausgehend von ei-ner mehr oder weniger soziologischen Kategorie – wie der der Ar-beitslosen –; sie kann aber auch von der Schaffung eines neuenBegriffs ausgehen, der nicht in den schon vorhandenen Identitä-ten aufgeht. Dies ist der Fall bei der Identität der Aufständischen.Die Identität entfaltet sich durch einen Namen, der sich mit ei-nem Akt der Subjektwerdung verbindet.

Im ersten der genannten Fälle füllen der Name, die Identitätund die Repräsentationen, welche die Gesamtheit ausmachen, dieseganz aus, machen sie zum Objekt. Die soziologischen Kategorienverurteilen die Individuen dazu, wie in einem Theaterstück dendurch die Rollenverteilung auferlegten Text aufzusagen. Wie wirk-lich ein Arbeitsloser, Marginalisierter oder Mitglied einer Straßen-

blockade sein? Welches Auftreten ist das angemessene? Wie sprichtein Individuum, das seine Arbeit verloren hat?

Die Arbeitslosigkeit als Kategorie vermag keinesfalls, die Radi-kalität der Erfahrungen der Piqueteros zu erfassen. Diese Form derRepräsentation reduziert die Mannigfaltigkeit der Widerstands-erfahrungen. Der Reichtum der konkreten Situation wird bei die-ser Vorgehensweise in ein Korsett gepresst, wobei die dem Wirkli-chen, dem Lebendigen eigene Intensität verloren geht. Die Bewe-gung reduziert sich auf einen passiven Ort. Sie soll sich einemschon im Vorhinein vorhandenen Bild anpassen: E ine Arbeitsloseist eine Person, die vor allem eines sucht und anstrebt: bezahlteArbeit. Sie will arbeiten und nicht die L ohnarbeitsgesellschaft in Frage

stellen. Ihr fehlt etwas, um ein komplettes Individuum zu sein: Sieist ausgeschlossen. Ihre Anklage ist eindeutig ersichtlich: Sie kannnicht in ein reguläres Arbeitsverhältnis eintreten.

Der Name »Piqueteros« drückt hingegen etwas ganz Anderesaus. »Piqueteros« spricht von einer Handlung als Subjekt. Es han-delt sich nicht um ein Synonym für A rbeitslose. Die Arbeitslosenstellen von der Bedürftigkeit geprägte und durch einen Mangeldefinierte Subjekte dar. Piquetero ist ein Individuum, das durchdieselben Entbehrungen geprägt, aber nicht vollständig von ihnenbestimmt wird. Der Unterschied ist aber noch größer: Die einzel-nen Mitglieder haben es erreicht, unter sozial prekären Zuständenals Subjekte zu handeln. Die Piqueteros leugnen nicht die Situati-on, in der sie sich befinden, aber sie unterwerfen sich ihr auchnicht. Dieser A kt eröffnet eigenständige Möglichkeiten des Han-delns und der Subjektbildung.

»Piquetero« ist jedoch oft nur als anderer Name für die »Ar-beitslosen« gebraucht worden. Es handelt sich hier um Lesarten,die das subjektive Potenzial der Straßenblockade als Aktionsformnicht erfassen. Es sind Blickweisen von außen, selbst wenn sie vonden Arbeitslosen selbst übernommen werden. Die Straßenblockadewird als Verzweiflungsakt definiert, den die »Opfer« vollziehen,um zu überleben. E ine Charakterisierung dieser Art macht ausden Straßenblockaden eine automatische Reaktion. Sie wird alssolche entpolitisiert. Die konkreten Erfahrungen der Organisatio-nen, welche die Straßenblockaden durchführen, werden negiert.Geleugnet werden außerdem die Widerständigkeit sowie die Ent-stehung einer alternativen Vergesellschaftung. So wie die Arbei-tenden, denen der Lohn gekürzt wird, sich automatisch an die

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Gewerkschaft wenden, würden, auf einer niedrigeren Ebene, dieArbeitslosen zur Straßenblockade greifen. Weil sie nicht streikenkönnen, erfinden sie eben diese Protestform. Der Horizont er-schöpft sich in sozialen Automatismen.

Auf diese Weise gelingt es, die paradoxe Figur des Ausgeschlos-senen zu repräsentieren. Denn dieser erscheint nicht als Ausgeschlos-sener als solcher. Exklusion ist der Ort, den unsere biopolitischenGesellschaften konstruieren mit dem Ziel, Personen, Gruppen undKlassen auf untergeordnete Art und Weise zu integrieren. In Wor-ten von Agamben: Der Ausgeschlossene ist der Name des E ingeschlos-senen als A usgeschlossener.

Das derzeitige politische Denken konstituiert sich ausgehendvon den Begriffen der A usgeschlossenen und der E ingeschlossenen.Erstere nehmen nur in der Form am sozialen Leben teil, dass sieeinzig und allein Subjekte der – wirtschaftlichen, erzieherischen,medizinischen usw. – Bedürftigkeit darstellen. Ihr Handeln ist somechanisch, dass es nicht als solches angesehen werden kann. Jeg-liches Handeln ist kaum mehr als eine Illusion. Ihre eigentlicheAktivität basiert auf einer kausalen Beziehung: Die Bedürftigkeitist der Grund und die Verzweiflung die Folge.

Es gibt im eigentlichen Sinne kein Denken und auch keineEthik des Tuns. Jede Aktion der Ausgeschlossenen besitzt a priorieine Interpretation: Es handelt sich um Forderungen nach Güternund Rechten, die bei genauer Beobachtung unverzüglich erkanntwerden können. E ine ausgeschlossene Person ist ein Mangelwesen,das von Natur aus die Inklusion in die Gesellschaft fordert. Das istalles.

Die gesamte Politik der Integration gründet auf dieser Unter-scheidung zwischen ausgeschlossen und eingeschlossen. Von den Prä-missen dieser Unterscheidung aus verschreibt sie ihre Rezepte.Konstatiert wird eine Bedrohung für das System, die sich aus derSehnsucht von Millionen von Ausgeschlossenen ergibt, in die Ge-sellschaft eingeschlossen zu werden. Dieser Druck ist paradox.Denn wenn einmal verstanden wird, dass Einschließung und Aus-schließung Orte darstellen, die zu ein und derselben Gesellschaftgehören, so leitet sich daraus auch die Anerkennung ab, dass dieAusschließung die konkrete und historische Form darstellt, in dereine Gesamtheit von Personen in diese Gesellschaft integriert istund dass es sich auf keinen Fall um Menschen handelt, die sichaußerhalb derselben befinden.

Die Illusion der Inklusion, so die allgemeine Überzeugung, kannjedoch solch einen Druck ausüben, dass sie, in welcher Form auchimmer, positive Wirkungen zeigt. Dies geschieht entweder, weildie Gesellschaft zumindest übergreifende Politiken zur Förderungsozialer Integration durchführt oder weil sogar die Illusion derInklusion eine Gesellschaft in die Krise bringt.

Der erste Fall bewirkt nichts anderes als eine Stärkung der Orteder Einschließung und der Ausschließung. Beim zweiten ist dieVorgehensweise jedoch völlig verschieden: Die Einschließung wirdgenau in einem Moment verlangt, in dem solch eine Integrationunmöglich ist, so dass die Lüge des integrativen Diskurses aufzu-fliegen droht, welche die biopolitische Spaltung der Gesellschaftverdeckt. Zumindest unter den Bedingungen des Neoliberalismus,so heißt es, ist die Forderung nach wirtschaftlicher, politischerund sozialer Integration aller absurd, weil nicht umsetzbar. Vieleglauben also, es handle sich um eine sehr subtile Taktik, wenn diePolitik einer radikalen sozialen Transformation auf dieser univer-sell akzeptierten Forderung aufbaue. Ihre Vorteile leiten sich an-geblich aus drei Aspekten ab. E inerseits gehorche diese Politik desE inschlusses in Wahrheit einer Strategie des Bruchs, das heißt, siegehe viel weiter als die bloße Inklusion. Andererseits könne dieses»Darüber-hinaus-Gehen« die Legitimität des E inschließungs-diskurses für sich nutzen. Und schließlich biete diese Politikstrategieden etablierten Mächten in Zeiten des Chaos verbriefte Gesprächs-partner an, woraus sich in jedem Fall die Möglichkeit ergebe, Zu-gang zu Ressourcen zu bekommen.

Folgende Überlegung steht gegen einen Großteil dieser Argu-mentation. Was wäre, wenn die dargestellten Positionen auf einerobsolet gewordenen Grundannahme basieren? Die Ausschließungwäre demnach eben nicht Teil einer Politik zur Erlangung vonHegemonie. Es gibt überhaupt kein Versprechen für die Ausge-schlossenen. Mit der Forderung nach Integration verstärkt sichvielmehr die Position des Ausschlusses, und es kommt auch nichtim Geringsten zu einer Schwächung des Dispositivs, das die ideo-logischen Orte »Innen« und »Außen« voneinander trennt.

Innen und Außen sind somit nicht objektiv vorhandene Orteinnerhalb einer formalen Struktur, sondern eine ideologische Räum-lichkeit, die dazu dient, die heutigen Formen der Herrschaft zuetablieren, indem die Menschen auf verschiedene Orte verteiltwerden. Darüber hinaus herrscht zwischen den Eingeschlossenen

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eine gnadenlose Konkurrenz. Nicht nur gegen die anderen, son-dern auch – und vor allem – untereinander. Es geht an erster Stel-le darum, sich immer mehr an das anzugleichen, was die Normdes Integriertseins vorschreibt. Das Ausgeschlossensein ist hinge-gen nichts Anderes als die »niedrige« Form der Einschließung. Diesetopologische Struktur gehorcht jedoch nicht einer dualen, son-dern einer fraktalen Logik. Wie beim Symbol Yin-Yang breitensich beide Pole auch auf den jeweils gegenüberliegenden Raumaus: Es gibt Peripherien innerhalb der Zentren und Zentren in-nerhalb der Peripherien.

Politiken, die einen Bruch mit dieser sozialen Räumlichkeit be-absichtigen, laufen Gefahr, diese jedoch gerade damit zu reprodu-zieren. Während sie vorgeben, den sozialen Ausschluss verschwin-den zu lassen, bestätigen sie in der Praxis den Ort der Ausgeschlos-senen, indem sie dazu beitragen, die Figur des »Armen« zukonstituieren. Die konkreten Risiken der Politikstrategien, derenDenken um den Begriff der Inklusion kreist, liegen darin, dass siepermanent das Gegenüber von »Innen« und »Außen« bestätigen,während sie gleichzeitig vergessen, dass das Ausgeschlossenseinnicht mehr als eine untergeordnete Einschließung der Nicht-Inte-grierten als Subjekte darstellt, welche die eigene »Bedürftigkeit«zementieren. Hieraus leitet sich schließlich der Verlust an Radika-lität jener Bewegungen ab, deren Politik von der Ideologie der In-tegration durchzogen ist.

Die politische Illusion der Piqueteros

Wenn die Politik der Inklusion beinhaltet, eine der grundlegen-den Prämissen der heutigen Ausdrucksform von Herrschaft zu ak-zeptieren, dann belegen die Politiken des Bruchs, wie sie von denGruppen vertreten werden, welche die Eroberung der politischenMacht anstreben, wie sich im Inneren der Piquetero-Gruppen diepolitische Illusion etabliert hat. In jenen Strömungen behauptet sicheine klassisch revolutionäre Position. Sie postulieren radikalereMethoden des politischen Kampfes und treten für eine direkteund unmittelbare Konfrontation mit der Macht und derenRepressionsorganen ein.

Diese Positionen stimmen mit denen des Bloque Piquetero über-ein, der sich erst vor kurzer Zeit aus einer Allianz herausgebildethat, die innerhalb der Bewegung verschiedene linke Strömungen

vereint, darunter den schon erwähnten Polo Obrero und denMovimiento Teresa Rodríguez (MTR), außerdem den MovimientoIndependiente de Jubilados y Pensionistas (MIJP), den MovimientoTerritorial de L iberación (MTL) (Partido Comunista) und denMovimiento sin Trabajo Teresa V ive (Movimiento Socialista de losTrabajadores).

Wie weiter oben schon dargelegt wurde, teilen diese Strömun-gen mit dem Lager der »Integrationisten« die Tendenz, ihr Den-ken ausgehend von den jeweiligen politischen Konjunkturen zuentfalten. Diese Methodologie besitzt drei grundlegende Kompo-nenten: die Klasse, das Programm und die Strategie der Machter-greifung. Vor allem seit den Tagen des 19. und 20. Dezember 2001geht diese Tendenz davon aus, dass Argentinien sich in einer Si-tuation des massenhaften sozialen Aufruhrs befindet, der mit ei-ner tiefgreifenden Krise des an der Macht befindlichen sozialenBlocks einhergeht. Es handelt sich um das, was traditionell als»revolutionäre Situation« bezeichnet wird. Ausgehend von dieserLesart der Ereignisse sowie von den überlieferten Konzeptionender sozialen Transformation sind diese Strömungen der Überzeu-gung, dass der Augenblick gekommen sei, eine revolutionäre poli-tische Avantgarde zu konstituieren, deren Ziel darin liege, den so-zialen Kämpfen eine Orientierung zu geben. Konkret besteht dieVorgehensweise darin, den Anspruch der kämpferischsten Grup-pen innerhalb der Piquetero-Bewegung zu stärken, den wirklichradikalen Widerstand zu repräsentieren. Es wird davon ausgegan-gen, dass die Fähigkeit und die Gelegenheit existieren, einen »qua-litativen« Sprung zu wagen, welcher es den Kämpfen der Basis-bewegungen erlauben würde, unter der Leitung dieser Gruppenvon der Zersplitterung zur Synthese voranzuschreiten.

Die politische Illusion besteht also nicht in einer wahnwitzigenInterpretation der Wirklichkeit; vielmehr handelt es sich um eineForm des Denkens, die von allgemeinen Konzepten Anleitungenfür die konkrete politische Arbeit ableitet, sowie um einen Willenzur politischen Durchsetzung, der unfähig ist, das Konzept derRevolution kritisch zu durchleuchten. In der Tat erzeugt die Illu-sion der Eroberung der politischen Macht, von der aus sich dieZustände verändern lassen, unmittelbare Konsequenzen, was diealltägliche Praxis angeht. Die »politischen« Zeiten einer beschleu-nigten Dynamik überwältigen und desorganisieren die etablierteneigenen Zeiten. Normalerweise orientieren sich die Anstrengun-

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gen in den Reihen der politischen Militanz immer an abstraktenZielen. Die Debatten, in denen es darum geht, Prioritäten für dieeigene Praxis zu setzen, folgen immer allgemeineren Kriterien.Vernachlässigt werden die Erfahrungen, welche auf die Herstel-lung neuer sozialer Beziehungen ausgerichtet sind. Die gesamteBewegung wird nach Maßgabe der wirklich »seriösen« Aufgabenhierarchisiert.

Diese Unfähigkeit, sich den Zeitvorstellungen und Anforde-rungen der politischen Konjunktur zu entziehen, schwächt dieArbeit an der Basis. Von Mal zu Mal wird es schwieriger, Räumefür eine offene gemeinsame Reflexion zu finden. Die Konfrontati-on wird so immer weniger ein Erfordernis des Widerstands undimmer mehr ein »höheres« Moment. Die Hierarchien in der Or-ganisation werden durch die Anforderungen der politischen Kon-junktur selbst gerechtfertigt, oder es kommt sogar der Gedankeauf, dass – und diese Redeweise wird einem bekannten politischenFührer der Piqueteros zugeschrieben – »das einzige, was von untenwächst, der Rasen ist«. Auf diese Weise entfernen sich die Mitglie-der der jeweiligen Führung von den Kollektiven, die diese hervor-gebracht haben.

Die Arbeit an der Basis wird als etwas Vorübergehendes angese-hen, als eine anfängliche Erfahrung, der es an politischer Dichtemangelt. Die Arbeit vollzieht sich auf verschiedenen »Niveaus«,wobei die Professionellen der Konspiration mit Vorteilen ausge-stattet sind. Die soziale Bewegung wird oftmals ersetzt durch denEinfluss eines bürokratischen Apparats, und das gesamte Vertrau-en wird schließlich in den Advent des »Politischen« gelegt. Diepolitische Agitation verlegt sich auf die Erwartung eines messiani-schen »Sprungs«, der die Bewegung in den Endkampf um dieMacht versetzt.

Von der Vielfalt zur Gegenmacht

Die größte Schwierigkeit während der landesweiten Piquetero-Ver-sammlung bestand in den Fragen der E inheit und der Organisati-on. Von Beginn an ging es den an der Basis arbeitenden radikalenBewegungen vor allem um das grundsätzliche Thema der organi-satorischen Form. Angesichts der herausragenden Rolle, die denVollversammlungen, Kommissionen, Plena und horizontalen Or-ganisationsformen zukommt, ist die Vielfalt dieser Bewegung je-

doch keinesfalls Synonym von Desorganisation. Im Gegenteil cha-rakterisiert sie die Verknüpfung von multipler Existenz und ho-hem Organisationsgrad. Diese Prägung ist nicht auf jede einzelneder Erfahrungen dieser Bewegung beschränkt, sondern kennzeich-net auch die regionale und nationale Ebene. Es gibt übergreifendeBündnisse, die einen hohen Organisationsgrad respektieren, ohnedabei die Heterogenität der Bewegung zu vernachlässigen. Dassel-be gilt für die Führungsebene.

Die potenziellen Möglichkeiten der Straßenblockade lassen sichnur durch das Verständnis ihrer E inzigartigkeit begreifen. Diepolitische Führung dieser Aktionsform handelt wirkungsvoller,wenn sie im Innern der Vollversammlung oder des übergreifendenBündnisses agiert, als wenn sie sich von diesen E inrichtungentrennt, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. In der Taterweist sich ihr Führungstalent in der Fähigkeit, dazu beizutra-gen, dass gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der BewegungMomente der Reflexion aufrechterhalten werden. Auf diese Weisekönnen sie ihren Beitrag leisten, dass sich die volle Potenzialitätdieser politischen Erfahrung entfaltet. Für den Kampf der Piqueterossind sie jedoch außerhalb dieser konkreten Situation nicht vonInteresse.

Die Stärke der Straßenblockaden entspringt nicht ihrer Forde-rung nach Inklusion. Wie es die Mitglieder des MTD von Solanoerklären, geht es nicht mehr darum, erneut um »Eintritt« zu bit-ten. Allen ist bewusst, dass es kein wünschenswertes »Innen« gibt.Im Gegenteil heißt der bloße »Wunsch nach Eintritt« schon, dieReihen derjenigen zu stärken, welche die Gestaltung ihrer politi-schen Subjektivität danach ausrichten, ob sie einen Platz in densoziologischen Untersuchungen, den Diskursen der Macht, denArchiven des Sozialministeriums oder den Planungen der politi-schen Gruppierungen oder Nichtregierungsorganisationen ergat-tern können.

Die durchschlagende Wirkung der Piqueteros, so lautet die hiervertretene These, wurzelt in der Fähigkeit der Bewegung, sich zuSubjekten herauszubilden, welche die bloße Existenz als »Ausge-schlossene«, Arme oder Arbeitslose überschreiten. Ihre E inzigar-tigkeit speist sich aus einer Würde der Rebellion und aus der Aus-übung des Widerstands, wodurch einen neue Gesellschaftlichkeitentsteht.

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Die Radikalität des Kampfes denken

Subcomandante Marcos sagte, dass das E igentümliche desRevolutionärs der Kampf um die Macht sei, welcher mit einer ge-danklichen Vorstellung von einer zukünftigen Gesellschaft ver-knüpft ist. Demgegenüber nähre der – zapatistische – Sozialrebelljeden Tag die Rebellion im eigenen Lebensumfeld, von unten her,ohne die Annahme, die Macht sei das quasi natürliche Ziel derpolitischen Führung. Für die Zapatistas ist es klar, dass sich jedesituationsbezogene Aktion der überkommenen Achse entzieht, ander sich die »reformistischen« und »revolutionären« Lager aufspal-ten. Gleichzeitig ist deutlich geworden, dass diese beiden Lagerdas gleiche Bild der Macht und der Politik verinnerlicht haben.Beide bremsen die den Basiskämpfen innewohnende Dynamik undweisen die gleichen Schwierigkeiten auf, wenn es darum geht, inder Immanenz der Situation zu arbeiten. Der Sozialrebell Marcoshingegen entfaltet sein Denken nicht in den Begriffen der Glo-balität, sondern der Singularität. Gefordert ist eine Strategie desDenkens, das seine Reichweite auslotet, indem es die »Globalität«in Klammern setzt. Es geht hier um den philosophischen Unter-schied zwischen dem abstrakten Universellen und dem konkretenUniversellen.

Dies bedeutet nicht, naiv zu sein: Es geht nicht darum, dieaktuellen Entwicklungen zu negieren, sondern um deren Analyseals Teil der Reflexion konkreter Situationen. Dieses Verständnisnennen radikale Gruppen, wie der MTD von Solano, A utonomie:mit dem eigenen Kopf und ausgehend von der konkreten Situati-on denken. Dies beinhaltet, den fremden Dringlichkeiten, die vonden Medienzirkeln und den Politgruppen projiziert werden, keinGehör zu schenken, um sich so mit den eigenen Fähigkeiten desBegreifens und des eingreifenden Handelns neu zu entdecken.

Die Radikalität besteht so nicht in infantiler Verneinung derRealität, wie die »realistischen« Kritiker des Konzepts der Gegen-macht behaupten. Das Denken entfaltet sich vielmehr in der kon-kreten Aktion von konkret Handelnden. In den skizzierten verein-fachenden Konzepten schwelt schon die Auseinandersetzung mitder drohenden Quantifizierung und Instrumentalisierung von E r-fahrungen und Kämpfen. Die politische Radikalität liegt aber inder effektiven Fähigkeit, die Vergesellschaftungsweise zu revolu-tionieren, indem Werte geschaffen werden, welche die »Gesell-

schaft des Individuums« überwinden. Im Falle des MTD von Solanoimpliziert diese Handlungsoption auch Untersuchungen über dieOrganisationsformen der Bewegung, die Möglichkeiten, eine al-ternative Ökonomie zu praktizieren, die Praxis der Weiterbildung,die Ausgestaltung der Berührungspunkte mit den staatlichen Ver-waltungen usw.

Die beschriebene Vorgehensweise ist außerdem besonders ge-eignet, um die Weise zu verstehen, in welcher das Thema der Ge-walt in der Bewegung der Piqueteros auftaucht. Dies geschieht vorallem auf zwei Ebenen. Offensichtlich ist die Gewalt der konkre-ten Aktion der Straßenblockade. Daneben existiert aber auch dieGewalt derjenigen, die sich dafür entschieden haben, gegen diederzeitigen Formen der Herrschaft Widerstand zu leisten. Die bei-den Ebenen der Gewaltausübung haben mit den traditionellenFormen der politischen Auseinandersetzung nicht viel gemein. DieGewalt in der Absperrung eines wichtigen Straßentransportwegeswird nicht aufgefasst als eine politische Strategie, welche die Er-oberung der Macht zum Ziel hat. Es geht hier nicht um eine ge-plante Taktik, um Einfluss auf die öffentliche Meinung auszuüben,sondern um eine zweitrangige und unvermeidliche Folgewirkungeiner Form des Widerstands.

Die Straßensperren fassen so die Gewalt als ein Element derAuseinandersetzung auf, die weder jetzt noch in Zukunft im Zen-trum steht. Sie ist Teil des Vielfältigen, wenn sie als eine dezentrale

Praxis und als eine Form der Selbstverteidigung verstanden wird.

Der Fall des »Movimiento de

Trabajadores Desocupados« (MTD)

Wenn die Analyse der CTA-FTV und des Zusammenschlusses derPiqueteros geholfen hat, in diesen Gruppierungen eine bestimmteWeise des Denkens und des Handelns ausfindig zu machen, so istauch dem MTD von Solano eine spezifische Art von Praxis undTheorie zu E igen. Die Bewegung hat ihren Ursprung in einerKirchenbesetzung in Solano, einem Stadtviertel von Quilmes. Nachder vom Bischof Novak eingeleiteten Räumung gründete sich inSolana der MTD Teresa Rodríguez, der mit dem MTD von Varelain engem Zusammenhang stand (2001 spaltete sich der MTD TeresaRodríguez in die Bewegung, die weiterhin als MTD arbeitet, undden schon erwähnten Movimiento Teresa Rodríguez).

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Die Bewegung gewann an Stärke, als sie begann, erfolgreichdie staatlichen Programme der Arbeitsbeschaffung (die sog. PlanesTrabajar) selbst zu verwalten. Bald darauf gründete sie Kommis-sionen und organisierte Seminare in den Bereichen politische Bil-dung, Brotbäckerei, Schmiede, Berufsausbildung, Volksbildung,Apotheke sowie andere kollektive Arbeiten. Ihre Straßensperrenerlangten eine besondere Ausprägung: die soziale Verankerung derBewegung in den Stadtvierteln, die besondere Form der Mobili-sierung, die Benutzung von Skimützen sowie die spezifische Wei-se, in der die Blockaden ablaufen.

Die Mitglieder des MTD von Solano nahmen an der genann-ten ersten Versammlung der Straßenblockaden teil. Sie waren da-bei überzeugt von der Wichtigkeit einer landesweiten Koordinati-on des Widerstands und von der Notwendigkeit, sich gemeinsamgegenüber dem Repressionsapparat zur Wehr zu setzen. Als dieNationalgendarmerie gewaltsam gegen die Piqueteros der in dernordwestlichen Provinz Salta gelegenen Stadt Mosconi vorgingen,war der MTD von Solano unter den ersten, als es darum ging, inSolidarität die Zugangswege zur Stadt Buenos Aires zu blockieren– und dies im Moment, als die Repression in Salta noch im Gangewar. Der MTD von Solano nahm jedoch mit weniger Enthusias-mus an der darauf folgenden landesweiten Versammlung teil. Ih-nen war nur zu deutlich, wie sehr sich die politischen Einschät-zungen der drei damals zu der Versammlung aufrufenden Organi-sationen (der alternative Dachverband CTA, Corriente Clasista yCombativa, Polo Obrero) von den ihren unterschieden. Sie warendann aber von der Stärke, mit der die Delegierten aus dem Lan-desinnern auftraten, sowie von der kämpferischen Stimmung, diewährend der Versammlung vorherrschte, begeistert. Bereits imVerlauf des ersten Aktionstages beobachteten sie jedoch, wie diepolitische Mehrheitsströmung versuchte, die Struktur der Bewe-gung festzulegen.

Die folgende Episode zeigt die jeweils verschiedenen Positio-nen. Am ersten Tag des im August 2001 organisierten Aktionspro-gramms kam es zur Besetzung einer Bank durch den MTR mitdem Ziel, die ausstehenden Auszahlungen einzufordern. DieseAktion war nicht mit der Koordination der Bewegung abgespro-chen worden, wodurch die dort anwesenden Bewegungen in einDilemma gerieten. Die Mitglieder des MTD von Solano entschie-den sich in dieser Situation – aufgrund der unkoordinierten Ak-

tionen der MTR – die Zusammenarbeit mit dieser Gruppierungzu beenden. Sie blieben aber am Ort des Geschehens, um einensicheren Abzug der BesetzerInnen zu garantieren. In der verblei-benden Zeit wurden sie jedoch von der Reaktion einiger Teile derBewegung überrascht. Während alle übrigen Kräfte des Koordi-nationskreises der Aktionstage den MTR kritisierten, wendetensich die Mitglieder der Führung der Piquetero-Bewegung im Fern-sehen und in den Tageszeitungen gegen diejenigen, die währendder Aktionen Skimützen getragen hatten. Nach einer erneutenBesetzung, diesmal des Arbeitsministeriums der Provinz BuenosAires, durch den MTR wurde die gesamte Führungsebene dieserGruppierung festgenommen. Die Besetzung fand am zweiten lan-desweiten Aktionstag der Straßenblockaden statt. Der MTD vonSolano entschied daraufhin, sich nicht an der Demonstration zurPlaza de Mayo zu beteiligen, um stattdessen in der Stadt La Platadie Freilassung der Gefangenen zu fordern. Während des drittenAktionstages blieben seine Mitglieder in ihren jeweiligen Stadt-vierteln, wo sie den Prüfungskommissionen Widerstand leisteten,die von der Regierung losgeschickt worden waren. Diese Kom-missionen sollten »Regelwidrigkeiten« ausfindig machen, die esdann erlauben würden, die Sozialpläne der betroffenen Personenzu streichen.

In den darauf folgenden Versammlungen debattierten die Mit-glieder des MTD von Solano über die Geschehnisse. Die Mei-nung war einhellig, dass ihre Kraft nicht darin liege, sich in Kon-kurrenz zu den anderen Piquetero-Bewegungen im politischen Ta-gesgeschehen zu positionieren, sondern darin, dem allmählichenAufbau einer Gegenmacht Priorität zu verleihen, und zwar vonunten her und in E inklang mit den gegebenen Möglichkeiten.Die Mitglieder entschieden also, sich vor allem der Stärkung derStadtteilarbeit zu widmen, den vielen Workshops, den Kommis-sionen, den anfallenden Arbeiten und diversen Aktivitäten. Diesist nicht gleichbedeutend mit Lokalismus oder einer fehlendenAnalyse dessen, was im Land oder in der Welt passiert. Es gehtnicht um einen nutzlosen Isolationismus, sondern um ein not-wendiges Abkoppeln von der Logik der Globalität.

Die gleiche Methodologie bestimmt die Form, in welcher derMTD von Solano seine Beziehung mit den Regierungen auf Lan-des-, Provinz- und Gemeindeebene gestaltet. Die Mitglieder derOrganisation verwalten von den Regierungen finanzierte Sozial-

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pläne, ohne dass dies ein Nachgeben bei den eigenen Forderun-gen bedeuten würde. Sie begreifen einfach, dass die Selbstbehaup-tung innerhalb der Situation eine komplexe Beziehung zum Staatbeinhaltet. Und in diesem Prozess erarbeiten sie allmählich eigeneAnschauungen über die soziale Transformation und die Revoluti-on. Ausgehend von diesen selbst erworbenen Kenntnissen agierensie in der komplexen Situation, in welcher der Erhalt von offiziel-len Geldern mit einem hohen Grad an Konfrontation mit demStaat einhergeht. Diese Mischung aus Übereinkünften und Kon-frontation beschränkt sich jedoch nicht auf die Beziehungen zwi-schen dem MTD und den Staatsapparaten. Als drittes E lementkommt die Autonomie des Denkens und des Handelns hinzu,welche die Mitglieder des MTD dazu bewegt, eine alternativeÖkonomie aufzubauen, mit deren Hilfe die Bewegung überlebenkann, wenn sie von offiziellen Sozialhilfeplänen abgeschnitten wird.

Die soziale Transformation beinhaltet diese drei Taktiken derHaltung zum Staat. Jede einzelne von ihnen steht gleichzeitig inVerbindung zur Form und Funktion des heutigen Staates. Auf dereinen Seite handelt es sich um einen desartikulierten National-staat, der das Monopol der politischen Legitimität über das natio-nale Territorium verloren hat. Auf der anderen Seite steht ein durchdie Marktkräfte kooptierter Staat, wodurch es häufig zu gewaltsa-men Auseinandersetzungen mit diesem kommt. Und schließlichgeht es darum, wie die kapitalistische Hegemonie an der gesell-schaftlichen Basis repräsentiert wird. Daraus folgt, dass die Auto-nomie die einzige Garantie darstellt, im politischen Tagesgesche-hen nicht-kapitalistische Tendenzen zu entwickeln.

Währenddessen machen sich die Mitglieder des MTD vonSolana keine Illusionen über die repressiven Funktionen des Staa-tes. Autonomie bedeutet also auch eine interne Aufklärungsarbeitüber die zukünftigen Konfrontationen. In diesem Sinne lernendie autonomen Basisbewegungen – und nicht nur die Piqueteros –immer wirkungsvollere Formen der Selbstverteidigung von unten.E ine andere Weise, wie an den konkreten Situationen orientierteGruppen – immer nach Maßgabe ihrer eigenen Bedürfnisse undNotwendigkeiten – auf die übergreifende politische Entwicklungreagieren, ist die andauernde Suche nach Möglichkeiten, ange-sichts der staatlichen Repression nicht isoliert zu werden.

Die bisher skizzierten Leitlinien der politischen Arbeit des MTDzeigen sich auch bei seiner Mitwirkung in den übergreifenden

Koordinierungsräten. Die Organisation arbeitet derzeit in derCoordinadora de Trabajadores Desocupados A níbal V erón. Diese Be-gegnungen lösen die territorial verankerten Bewegungen nicht auf,sondern helfen, die eigenen Ressourcen, K enntnisse undMobilisierungsfähigkeiten zu stärken.

Die Identität als Neuschöpfung

Es ist klar geworden, dass zwei verschiedene Formen des Denkensauch jeweils verschiedene Handlungsorientierungen beinhalten.Es gibt keine Praxis ohne Theorie. Das Denken materialisiert sichbis zu einem solchen Grad in Praktiken, dass zwischen beiden nichtmehr als nur formale Unterschiede gemacht werden können. Aufder ersten Denkweise basiert die derzeitige Gesellschaftsstruktur,so wie sich diese in der Analyse des politischen Tagesgeschehensund im Diskurs der Macht widerspiegelt. Die Identitäten der Ar-beitenden, Arbeitslosen und Armen werden mechanisch aus denSozial-, Produktions- und Verteilungsstrukturen abgeleitet. JedemArbeitenden wird das Attribut – die Rolle – des Lohnabhängigenangeheftet und jeder bzw. jede Arbeitslose daran erinnert, das eroder sie »ohne Arbeit« ist. Die Vielfalt geht dabei verloren. Undmit ihr die Kraft, die den widerständigen Identitäten zu E igen ist.

Mit den Identitäten, die sich aus der Widerständigkeit und inihr herausbilden, verhält es sich umgekehrt: Sie sind nicht Aus-druck einer jämmerlichen Sozialstruktur, sondern weichen dieseStruktur selbst auf. Sie sind Benennungen, die eine Vielfalt be-zeichnen, und keine feste E igenschaften, die eine entfremdeteSubjektivität hervorbringen. Die Identität der Aufständischen be-inhaltet so stets eine Neuschöpfung, eine Erfindung neuer Bedeu-tungen. Menschen, die abhängig beschäftigt sind, streben norma-lerweise – und dies mit allem Recht – mehr Lohn bzw. Gehalt anoder wehren sich gegen deren Kürzung. Aber die A rbeiter im em-phatischen Sinne kämpfen gegen die L ohnarbeitsbeziehung als sol-che. Die Arbeitslosen fordern Beschäftigung, Arbeit und die E in-gliederung in die Produktionsstrukturen der Wirtschaft. Aber dieA rbeitslosen, von denen wir hier sprechen, d.h. die Piqueteros, kämp-fen gegen die entfremdete Arbeitsgesellschaft, gegen den Indivi-dualismus und die wechselseitige Konkurrenz.

Die Bewegung der Straßenblockaden befindet sich noch im Auf-bau. Es ist eine Bewegung des sozialen Ungehorsams, aber auch

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eine Bewegung, die neue soziale Bande entwickelt und Gegen-macht aufbaut. Die Konsistenz der Piqueteros als soziale Figur –als widerständige und sozial rebellische Männer und Frauen – istjedoch zerbrechlich. Diese Zerbrechlichkeit ist nicht bedingt durchdas junge Alter der Bewegung, sondern durch die Tatsache, dasssie von einem noch ungefestigten libertären Geist getragen ist,eben weil sie sich nicht von einem Ort der Macht aus entwickelt.Es handelt sich um eine Fragilität, die der Praxis von Gegenmachtinsgesamt inhärent ist. Diese Praxis bezieht ihre Stärke aus demeigenen Nachforschen, Denken und Fühlen sowie aus der Erar-beitung von Kenntnissen über den sich abzeichnenden neuen so-zialen Protagonismus.

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MTD Solano

Die Zeiten der Bewegung

Am 17. Dezember 2001 hatten wir mit einem Aktionsplan gegendie heraufziehende Repression begonnen: für mehr Beihilfen, fürdie Zahlung in Raten und für einen Fonds zur Sicherung von Er-nährung und Gesundheit. Im Koordinationskreis war entschiedenworden, sich den Privatsektor vorzunehmen, und aus diesem Grundbildeten wir Menschenketten, um acht große Supermärkte in derGegend von Quilmes zu blockieren, womit wir unseren Forderun-gen und Vorschlägen Nachdruck verleihen wollten. Die Aktiondauerte den ganzen Tag, und es gab eine Antwort: Zumindest dieBundes- und die Provinzregierungen reagierten, für sie war dieAktion ein Dorn im Auge.

In einem bestimmten Augenblick überschritten wir die Grenzedes Erlaubten: E inige von uns hängten sich an die Metallzäune,weil die Geschäftsführer sich nicht rührten. Die Supermärkte rück-ten nicht mehr als vierhundert Kilogramm Mate-Tee heraus. Denschwarzen Peter schoben sie der Regierung zu. »Wir befinden unsin einer angespannten Situation«, argumentierte der Geschäfts-führer eines Supermarktes.

Das Ziel der Blockaden von Supermärkten ist nicht nur, Le-bensmittel zu erlangen, sondern geht weit darüber hinaus. DieDurchführung einer solchen Aktion erlaubt uns, die Frage zu ver-tiefen, welche Bedeutung für uns die bewusste finanzielle Schädi-gung eines multinationalen Unternehmens hat. Wir vermeiden,ohne eine klares Bewusstsein Aktionen zu starten, ohne uns dar-über im Klaren zu sein, worin der Unterschied zwischen der Plün-derung eines Supermarktes und der Plünderung eines kleinen Le-bensmittelgeschäfts in einem Stadtviertel besteht. Vor und nachden Aktionen müssen wir unter uns die Frage nach deren Sinnerörtern. Die Frage lautet, warum es um viel mehr geht als umLebensmittel. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir unserenKampf dauerhaft fortführen können.

In der Woche des 19. und 20. Dezember waren wir inmitteneines Aktionsprogramms, das noch nicht abgeschlossen war. Es

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lag ein vages Versprechen über Geldauszahlungen in Raten sowieüber Lebensmittelzuteilungen auf dem Tisch, aber es gab nochkeine Zusagen. Wir hatten uns am Dienstag, dem 18. Dezember,in Gesprächsrunden mit VertreterInnen der Bundes- und derProvinzregierung zusammengesetzt, um über die Ziele der Aktionzu verhandeln. An diesem Tag wurden konkrete Vereinbarungenunterzeichnet, und wir blieben in der Zone. In der Nacht began-nen die Plünderungen in San Miguel, in Moreno und in der Pro-vinz Entre Ríos. Wir sahen voraus, dass es jetzt richtig losgehenwürde. Für den darauf folgenden Samstag hatten sie uns Lebens-mittel versprochen, und diese kamen dann schon am Donnerstag,was bei uns zu einem großen Durcheinander führte, weil die Lie-ferungen inmitten der Wirren der Plünderungen eintrafen. Inunserem Stadtviertel hatten sich am Mittwochabend schon dieStraßen gefüllt, und Gerüchte über bevorstehende Plünderungenvon Geschäften liefen um. Als unsere Leute am Donnerstag ausden Stadtvierteln ankamen, um die Lebensmittel abzuholen, gingdie Polizei hart vor und begann mit scharfer Munition zu schie-ßen. Schon am Vortag erhöhte sich mit der Ausrufung des Aus-nahmezustands das Niveau der Repression: Drohungen, in eini-gen Fällen Gummigeschosse, Festnahmen und Verfolgungen.

Am Mittwoch, dem 19. Dezember, begaben wir uns mit einerGruppe unserer Leute zur Plaza de Mayo. Der Ausnahmezustandführte zu einigen Dilemmata, da wir uns inmitten eines Aktions-programms befanden. Wir dachten in jenem Augenblick, dass derAusnahmezustand erklärt worden war, um uns und alle anderenorganisierten Basisgruppen niederzuschlagen. In der Tat meinenwir heute, dass uns die Repression ohne die Demonstrationen derMittelklasse noch viel härter getroffen hätte. Angesichts dessen,was sich in der Hauptstadt ereignete, entschieden sich einige vonuns, sich dorthin aufzumachen. Als wir dort ankamen, wütete dieRepression im Umfeld des Kongressgebäudes, wo das Bundes-parlament tagte, und es gab schon Verletzte. Wir kamen ungefährum 1.30 Uhr nachts an, und die Demonstrierenden hatten sichbereits zerstreut.

Wir fassten den Entschluss, in den Stadtteil Olivos zu gehen,denn in den Medien hieß es, dass dort etwas Interessantes laufenwürde. Aber als wir dort ankamen, war weit und breit nichts zusehen. Schließlich kehrten wir zurück und begannen, uns überdie Ereignisse auszutauschen. In den Versammlungen kam die Idee

auf, hier in Solano eine Aktion gegen die Übergriffe der Bullen zustarten. Am 20. Dezember mussten wir einige festgenommene Mit-glieder unser Organisation aus dem Knast abholen. Viele Grup-pen Jugendlicher waren verhaftet worden waren. Das heißt, dassnicht nur organisierte Leute, sondern auch die BewohnerInnendes gesamten Stadtviertels der Repression ausgesetzt waren. Zielwar es, allen einen Schreck einzujagen, die Menschen vom Verlas-sen ihrer Wohnungen abzuhalten und zu verhindern, dass es zuDemos auf der Plaza de Mayo kam. Nach der Mittagszeit began-nen wir die heraufziehende Situation zu begreifen. Daraufhin än-derten wir unsere Strategie, denn uns wurde klar, dass nicht dieStadtviertel, sondern die Plaza de Mayo für die Entwicklung derEreignisse zentral sein würde. In den Vierteln, in denen wir Ver-sammlungen abhalten konnten, zeigten wir auf, dass die Lage ziem-lich kompliziert war und dass diejenigen, die sich zur Teilnahmean den Demos entschlössen, sich auf einiges gefasst machen muss-ten. So machten wir uns schließlich mit ungefähr 70 Leuten ineinem von uns organisierten Bus auf. Die Bullen ließen uns nichtdurch, und sobald sie Menschengruppen auf der Straße sahen,nahmen sie diese fest. Wir verloren viel Zeit damit, uns zu überle-gen, wie wir das Viertel verlassen könnten. Leute aus anderenOrganisationen riefen uns an und rieten uns zur Vorsicht, da anden Brücken Fahrzeuge angehalten würden. So fuhren wir mitgeringen Erwartungen los. Als wir ankamen, war alles schon ge-laufen.

Wir kamen einen Häuserblock von der Plaza de Mayo entferntan, und es passierte etwas Unerwartetes: Als wir die Skimützenaufzogen, wurden wir sofort als Piqueteros identifiziert. Die Men-schen auf der Straße, die sich den Bullen entgegenstellten, fasstenplötzlich Mut und begannen, diese mit Pflastersteinen anzugrei-fen. Sobald wir erschienen, kam schon die Repression in Formvon Pferden und Tränengas. Wir hatten noch nicht einmal Zeitnachzudenken. Die erste Verfolgungsjagd begann, ohne dass wireine Barrikade hätten organisieren können, so schnell ging alles.Wir leisteten einige Stunden Widerstand.

Als sich bestätigte, dass die A venida 9 de Julio ziemlich in Bewe-gung geraten war, begannen sie, mit scharfer Munition auf uns zuschießen. Wir wurden eingekesselt. Wir mussten einen öffentli-chen Bus nehmen und versuchten, den Fahrer zu überzeugen, unsaus der Gefahrenzone zu fahren. Andere Gruppen blieben am Ort,

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und wir trafen uns später zu Hause. Wir kehrten alle heil zurück.Für uns war nicht vorhersehbar, dass so etwas passieren würde,

und wir waren an jenem Tag alle euphorisch. Schon am vorherge-henden Abend, als die Leute sich auf den Straßen zu sammelnanfingen, hatten wir neue Kräfte gesammelt und neuen Atem ge-schöpft. Uns war von Beginn an klar, das wir dort teilnehmenmussten, weil wir spürten: Es passiert etwas sehr Interessantes inder gesamten Bevölkerung. Wir waren alle unruhig, trafen uns aneinem Ort, diskutierten, riefen uns an. Wir blieben die ganze Zeitin den Schuppen, die als Versammlungsort dienten. Niemand ausunserer Organisation blieb zu Hause. Ununterbrochen wurdenTreffen abgehalten, und die Gespräche kreisten um die Plünde-rungen und die Geschehnissen auf der Plaza de Mayo. Wir schmie-deten unaufhörlich Pläne.

Es war eine wilde Mischung, man spürte die Euphorie unterunseren Leuten. Vor allem weil wir aus einer Situation der Be-klemmung herauskamen und wussten, dass der demnächst zu ver-abschiedende landesweite Haushalt für das kommende Jahr »An-passungen« beinhaltete. Wir stimmten darin überein, dass wenndie Menschen in Argentinien jetzt nicht alles auf eine Karte setz-ten, bald alles verloren sein würde. Wir sahen die komplizierteLage angesichts des Vormarsches von Wirtschaftsminister Cavallound seiner Wirtschaftspolitik. Wir spürten diese Ängste, sahenaber die Möglichkeit in weiter Ferne, dass eine Reaktion von un-ten – wie sie dann in der Tat eintrat – dem herrschenden Wirt-schaftsmodell den Garaus machen könnte. Was dann folgte, warwie eine plötzliche Zufuhr von Adrenalin, der Wunsch, am Aufbe-gehren teilzunehmen, denn wir waren uns klar, dass auf diese WeiseCavallo gestürzt werden konnte.

Außerdem hatten wir alle das Gefühl, »eins« zu sein. Als wir ander Plaza de Mayo ankamen, bekamen wir es mit der Angst zutun, denn die Lage war verzweifelt. Unter uns waren viele Jugend-liche, für die wir uns verantwortlich fühlten. Wir hörten die Ge-rüchte von Toten, aber wir wussten, dass wir Teil eines histori-schen Ereignisses waren. Überall war eine überschäumende Soli-darität zu spüren. Dort waren wir nicht Piqueteros, andere nichtMittelschicht: Wir alle spürten das verbindende Band der Zusam-mengehörigkeit. Von den Balkonen aus warfen uns die Leute Was-serflaschen zu. Nach heftigen Reizgasangriffen überschütteten sieuns mit Wasser und schütteten heißes Öl auf die Bullen.

Leute von uns, die auf uns zugelaufen kamen, riefen uns zu:»Lauft nicht dorthin, dort gibt es ein Polizeikommando.« Alleswar eine Sache der unbedingten Einheit, ohne Fahnen. Das heißt,die Fahnen der Gruppen und Organisationen waren nicht nötig.Das Ziel aller dort Versammelten war ein und dasselbe: Schlussmit dem verdammten Wirtschaftsmodell! Welch große Hoffnungwar damit doch verbunden! Das endgültige Ende von etwas, unddies lässt die Hoffnung auf etwas Neues sprießen. Zumindest indiesem Moment spürten dies alle in ihrem Inneren. Mit der An-kündigung des Rücktritts von Präsident de la Rúa fassten wir denEntschluss, in unser Stadtviertel zurückzukehren, denn uns wur-de von dort aus telefonisch mitgeteilt, dass Mitglieder unsererOrganisation dort festgenommen worden waren. Wir waren vollerSorge über das, was in unserem Viertel passieren könnte, denn dieAufgabe dort war nur zur Hälfte erledigt. So entschieden wir unsfür die Option der Rückkehr, um zu sehen, wie es dort aussah.

Wir analysierten, wer in den verschiedenen Szenarien eine Rol-le spielte: Wer anwesend war und die Bevölkerung stärkte und werals Verbündeter der Regierung agierte. Viele, die bis dahin demAnschein nach auf der Seite der Basisbewegungen gestanden hat-ten, optierten nun für das Lager der Regierung.

Es blieb eine wichtige Frage offen, was das Thema der Mittel-schicht und den Protest der Cacerolazos (Kochtopfdemonstrationen)angeht. Wir fragten uns, wohin sich diese Aktionsform bewegte,wer sie anführte und wie sich die an ihr Teilnehmenden koordi-nierten. Am Anfang verstanden wir es nicht, und erst im Laufeder Zeit begriffen wir, das vieles auf spontane Weise vor sich ging.Später fingen dann die Versammlungen an, die Debatten, aber dieganze Sache geschah zunächst aus dem Augenblick heraus. Zu-mindest auf uns machte dies einen starken Eindruck. Im MTDrief dies viele Reflexionen und Diskussionen hervor. Und nachdem 20. Dezember ist nichts mehr, wie es vorher war. Wir fühl-ten: Dies ist ein Einschnitt in der Geschichte des Landes.

Viele Fragen kreisten in unseren Köpfen. Die Cacerolazos zumBeispiel forderten, dass »alle abhauen sollen«, angefangen bei denParteien. Und einige der Organisationen sprechen davon, dies seider Augenblick, um die Regierung zu stürzen. Wir stimmten nichtganz mit dieser Meinung überein, da wir die Notwendigkeit sa-hen, eine langsamere Gangart einzuschlagen und unsere eigenenZeitrhythmen zu akzeptieren. Mitglieder unserer Organisation

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waren bei verschiedenen Asambleas anwesend und beteiligten sichsehr aktiv an der Versammlung im Stadtteil Avellaneda im Südenvon Buenos Aires. Wir marschierten gemeinsam, unternahmenzusammen Straßenblockaden, aber wir nahmen bei keiner AktionTransparente unserer Organisation mit. Die anderen wussten, daswir zum MTD gehörten, dass wir Piqueteros sind, aber wir begrif-fen, dass man diesem Kampf keine Fahnen anheften konnte. Un-serem Verständnis nach musste der Widerstand vereint werden,aber niemand konnte ihn vereinheitlichen. Wir alle müssen aufdie Straße und uns als eine Einheit verstehen, aber niemand istHerr dieser Bewegung. Wir als Gruppe leisten unseren Beitragdort, wo wir hingehören. Wir vertreten nicht die Meinung eini-ger, die meinen, nur weil sie Piqueteros sind, damit auch das Privi-leg zu besitzen, den Kampf zu beginnen.

Unbestritten ist, dass hier etwas auszumachen ist, das nicht mitdem 19. und 20. Dezember endete, dass es eine Kontinuität gibt.Dieses »Etwas« nimmt mit der Zeit eine deutlichere Gestalt an,was beweist, dass es sich hier um den Versuch handelt, etwas Neu-es zu schaffen. Und unbestritten ist auch, dass ausgehend vomEnde der Repräsentativität der etablierten Politiker im Keim dieGesellschaft entsteht, die wir ersehnen. Eine Gesellschaft ohneAbgeordnetenhaus, ohne SenatorInnen, und statt dessen mit Voll-versammlungen, die ohne repräsentative Mandate und den gan-zen Zirkus Entscheidungen treffen. Es kommt auch ein wenigErnüchterung auf, wenn wir sehen, dass erneut die Banner derParteien auftauchen, und wenn wir bemerken, dass auch dieAsambleas von getarnten »Basisbewegten« durchtränkt werden.

In diesen Wochen wird viel über Politik gesprochen. UnsereErwartungen dagegen kommen mehr von außen und nicht so sehraus dem Innern der Bewegung heraus. Es gibt GenossInnen, dieuns anrufen und wissen wollen, wie wir auf landesweite Aktions-aufrufe einiger Straßenblockade-Organisationen und linker Par-teien reagieren. Daran teilzunehmen erschien uns fragwürdig. ImKoordinationskreis der Piqueteros wurde über diese Aktionen dis-kutiert, und nur eine Gruppe sprach sich für eine Teilnahme aus.Die überwiegende Mehrheit war dagegen, den Aufrufen zu fol-gen, und meinte, dass wir einen eigenen Rhythmus hätten, zumAufbau der Bewegung beizutragen.

In Solano denken wir an einen langen Kampf. Das Thema Re-pression dürfte verstärkt auf die Tagesordnung kommen. Wir glau-

ben nicht an einen revolutionären Wandel zugunsten der Bevölke-rungsmehrheit. Natürlich ist es sehr interessant, dass der Wider-stand sich verallgemeinert. Und ohne Zweifel müssen wir dabeisein und uns nicht nur die ganze Geschichte von außen anschau-en. Jedoch stellen wir uns auf einen Kampf ein, der länger dauernwird, als sich das kollektive Gedächtnis vorstellt, das sich in diesenTagen aus vielen Quellen speist. Wir sollten eine langsamere Gang-art einschlagen und nicht mit dem Kopf gegen die Wand rennen,denn es bleibt noch viel zu wünschen übrig.

Es gilt nun, konkrete Aufbauarbeit von unten zu leisten. Eswäre traurig, wenn wir die Fähigkeit einbüßen würden, auch wei-terhin zusammen mit anderen Organisationen Aktionen auszu-tüfteln und uns zu verbinden, wie zum Beispiel mit der APENOCund der MOCASE in Argentinien, der MST bzw. der MTD inBrasilien oder der Campesino-Bewegung in Paraguay – das heißtmit so vielen anderen Organisationen, die konkrete Vorschläge derGesellschaftsveränderung von unten auf den Tisch gelegt haben.Es wäre ein Fehler, sich die Gelegenheit entgehen zu lassen, dieIdeen der Zusammenarbeit und Koordination weiter zu konkreti-sieren, um jetzt schon in »das ganz Andere« zu springen, was un-serer Meinung nach verfrüht auf die Welt kommen würde. Füruns wäre der Verzicht auf diese Experimente ein Rückschritt fürdie Basisbewegungen.

Diese Frage der Radikalisierung ist immer präsent. In der Tatgibt es einige GenossInnen, welche die letzten Aktionstage in Fra-ge stellten. Letztlich nahmen wir aus einer defensiven Positionheraus an ihnen teil, da die Regierung ihren politischen Kurs ge-ändert hatte, was die Basisbewegungen und ihre Autonomie an-geht. Über die Krisengremien und die Gemeinderäte werden die-se nun direkt angegriffen. Hinter der Forderung nach Transpa-renz, Demokratie und Gerechtigkeit verbirgt sich die Rückkehrzum überkommenen Modell sozialer Kontrolle, indem die Ent-wicklung jener Organisationen gehemmt wird, die sich nicht in-nerhalb des Apparats befinden.

Wir haben jedoch nie einen Zweifel daran gelassen, dass wireine feste Position einnehmen müssen, um die eigene Autonomieund all das zu verteidigen, was wir uns im vergangenen Jahr er-kämpft haben. In anderen Organisationen taucht jedoch erneutdas Thema der Avantgarde auf. Sie vertreten die Position, dass dieStrömung an der Basis nicht ihr Fließbett finde. Und von daher

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die vermeintliche Verantwortung der Revolutionäre, die Lage zudeuten und den richtigen Weg zu weisen. Wir teilen diese Ansichtauf keinen Fall. Wenn wir beispielsweise den Spruch »Que se vayantodos« nehmen, so schließen wir hier auch die linken Parteien ein.Diese tun aber so, als ob sie damit nicht gemeint wären. Sie sindaber Teil des Alten und dazu in der Lage, dieses kollektive Experi-ment zu zerstören. Wir vertrauen darauf, dass all diejenigen, die esübersatt haben, immer wieder dasselbe zu hören, die Fähigkeitbehalten, diese gemeinsame Praxis nicht ins Leere laufen zu las-sen, in der wir Keimzellen des Wandels ausmachen: in den Ver-sammlungen, in der direkten Demokratie, in der Autonomie ge-genüber jedweder gewerkschaftlichen oder politischen Vertretung.Wenn wir »Alle sollen abhauen!« rufen, dann wollen wir, dass dieParteien mit all ihren hinfälligen Formen, den Widerstandprozesszu interpretieren, an die Seite treten. Es macht uns zu schaffen,dass sogar GenossInnen, deren Rechtschaffenheit und Engagementunbestritten ist, all dies nicht verstehen und nicht ihre ein-geschliffenen Denkschemata überwinden können – und geradedies könnte den ganzen Prozess ruinieren. Wir setzten alle Hoff-nung darauf, dass hier eine Weiterentwicklung und ein Reifeprozessstattfindet.

Freudig begrüßen wir diese Initiative, diese unverfälschte Su-che nach einer Demokratie ohne Repräsentation, nichts, was nochan das Alte erinnert. In diese Richtung laufen unsere Diskussio-nen. Für uns gab es nie eine »Arbeit mit den Massen« auf dereinen Seite und eine »politische Arbeit« auf der anderen. Es gehtuns nicht darum, die Arbeitslosen die Sphäre des Politischen be-treten zu lassen. Bei uns gibt es nicht diese Unterscheidung, aberviele, die mit uns kämpfen, können nicht von ihr lassen und ver-treten die Meinung: »Gut, bisher haben wir für dies und jenesgekämpft, jetzt aber ist die Stunde der Politik gekommen.« Wirteilen diese Anschauung auf keinen Fall. Vielmehr werden wir unsweiterhin anstrengen, im Alltag dieser wichtigen Aufgabe gerechtzu werden, obwohl es einigen heldenhafter vorkommt, an der Spitzeder Avantgarde zu marschieren und alles in Schutt und Asche zulegen. Den alltäglichen Aufbau einer anderen Gesellschaft werdenwir nicht so einfach aus der Hand geben – dies ist unsere festeEntscheidung.

Wir müssen unsere Analyse vertiefen. Seit den Dezembertagenhaben wir nur wenige Tage der Ruhe gehabt, und wir brauchen

Zeit zum Nachdenken. Nicht nur wir in Solano, sondern auch alldiejenigen, die mit uns kämpfen. Es besteht das Risiko, dass unsdie »Realität« verschlingt. Wir sind sehr an der Praxis orientiert –das ist für uns zentral –, aber dies geht mit der Gefahr einher, ander Oberfläche der Dinge zu bleiben. Wir sollten die Zeit und dieUmstände finden, viele Aspekte näher zu hinterfragen.

Wir befinden uns derzeit in einer völlig neuen Situation, da dieperonistische Partei (Partido Justicialista) dank ihrer ökonomischenEinnahmequellen ihren netzartigen Machtapparat rekonstruiert.E ine der dringendsten Herausforderungen besteht heute in derkonkreten Solidarität vor Ort. Wir wissen, dass hier bald ein poli-tischer Nahkampf ausgetragen werden wird. Die gegnerische Sei-te wird ihren gesamten Apparat in Bewegung setzen. Und dieswird Auswirkungen haben: Polizeiliche Repression, Konkurrenzund andere Formen der Drohung und des Drucks werden zuneh-men. Wir dagegen wollen nicht mit ihnen um die Macht streiten,sondern unsere eigene politische Basisarbeit verteidigen. Sie hin-gegen setzen alles nur Mögliche in Bewegung, um autonomenOrganisationsansätzen das Wasser abzugraben.

Dies ist für uns die wesentlichste Herausforderung: Es gilt zuwachsen und zu reifen. Wir bereiten uns derzeit auf das Schlimm-ste vor, was hoffentlich nicht eintritt. Es ist jedoch schlecht, wennes einen überrascht und niemand auf Angriffe vorbereitet ist, dieoftmals auf dem Wege verleumderischer Gerüchte und Falsch-informationen vorbereitet werden. Oder aber sie schickenSchlägertrupps vorbei, um Versammlungen zu sprengen. Es gehtnun darum, die Anstrengungen in den Bereichen der Aufklärungund Erziehung an der Basis zu verstärken, die territoriale Arbeit,die Einheit mit den NachbarInnen über die eigentliche Bewegunghinaus. Wir folgen den GenossInnen aus Mosconi auf ihrem Weg,die Bande der sozialen Gemeinschaft neu zu knüpfen, um für dasWohl aller, die Erhaltung der Umwelt, die Gesundheit, die Kinderund vieles mehr zu kämpfen – so viele Probleme harren in denStadtvierteln immer noch auf eine Lösung.

Dass das System, welches diese Regierung repräsentiert, auf diegrundlegenden Probleme der Gesellschaft – so die Arbeitslosigkeitoder die Lage des Gesundheits- und Bildungssystems – keine Ant-worten mehr zu geben weiß, kann auch zum Vorteil für unsereautonomen Organisationen ausschlagen. Dies schafft einen Kon-text für Konflikte, denn auch wenn 100 Sozialprogramme zur Ver-

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fügung gestellt würden, stehen immer noch 100.000 weitere auf derWarteliste. Dies will nicht heißen, dass wir nur aus der Verschlimme-rung der Lage einen Umschwung erwarten. Aber es kommen uns dieJahre 1996 und 1997 in Erinnerung, als der damalige Gouverneur derProvinz Buenos Aires, Duhalde (später Präsident), auch auf die ge-ringste Forderung sofort reagierte. Heute ist das unmöglich. Aufalles können sie nicht antworten. Heute können sie uns angreifen,aber es wird schwierig sein, uns zu zerstören. Manchmal sagen wiruns, dass sie uns Piqueteros nur zerstören können, wenn diese Gesell-schaft verändert wird, denn wenn sie uns zerstören wollen, müssensie eine bessere Gesellschaft schaffen.

(Dieser Beitrag beruht auf Mitschnitten von Gesprächen, welche dasColectivo Situaciones mit Mitgliedern des MTD in Solano führte.Der Text gibt nur A ussagen des MTD wieder.)

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Colectivo Situaciones

Plünderungen und soziale Netze:Eindrücke vom 19. und 20. Dezember

Neoliberale Herrschaft und Befreiung

Der Übergang von Herrschaftsformen, die vom Staat und seinenrepressiven und disziplinierenden Apparaten geprägt sind, zurHerrschaft des Neoliberalismus und der Verselbstständigung derÖkonomie hat die naive Hoffnung auf eine unmittelbare Befrei-ung geweckt. So feiern viele das Ende der in klassischer Weisedisziplinierenden Institutionen, wie zum Beispiel der Schule.

In der Tat haben die seit den 60er und 70er Jahren anhaltendenWiderstände und Kämpfe um Befreiung dazu geführt, dassNormierungsinstanzen wie Arbeit, Schule, Universität und Mili-tär in Frage gestellt worden sind. Der freiwillige Militärdienst unddie Löcher in den öffentlichen Haushalten scheinen den überlie-ferten Formen militärischer Herrschaft ein Ende bereitet zu ha-ben. Dazu kommt der Prestigeverlust, den die Angehörigen derargentinischen Streitkräfte durch die Dokumente und Aussagenerlitten haben, die nach dem Ende der Diktatur von Menschen-rechtsgruppen zusammengetragen worden sind. Aber auch derNeoliberalismus hat die Rolle des Militärs nicht unberührt gelas-sen. Vergleichbares passiert mit der Politik. In den Augen des Neo-liberalismus ist die traditionelle Form politischer Vermittlung zuteuer und ineffizient. Es gibt weiterhin PolitikerInnen, aber ihreFunktion hat sich verändert. Natürlich bleiben auch die Universi-täten bestehen. Aber die finanzielle Krise bedingt einen Bedeutungs-verlust dieser Institution innerhalb der Gesellschaft. »Zu politi-siert«, urteilen die TechnokratInnen der internationalen Finanz-organisationen und fügen hinzu: »zu teuer«.

Familie, Arbeit und Schule, um nur drei grundlegende »Keim-zellen« der Gesellschaft zu nennen, die in den letzten Jahren inZweifel gezogen und transformiert wurden, sind angesichts derüberhand nehmenden sozialen Fragmentierung zu Fluchtstättengeworden. Sie erscheinen als Räume, in denen minimale Ressour-

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cen der eigenen Subsistenz überhaupt noch gesichert werden kön-nen. Was bleibt dabei übrig von den subversiven Ideen frühererJahrzehnte? Bleibt uns nichts anderes als die Verteidigung geradeder Institutionen, die – den nicht so weit zurückliegenden Utopi-en zufolge – radikal umgebaut, wenn nicht gar aufgelöst werdensollten?

Die neoliberale Herrschaft greift viele dieser gesellschaftlichenInstitutionen an oder überlässt sie schlicht ihrem Schicksal. Da-durch eröffnet sich, zum Beispiel in den Bereichen Gesundheitund Bildung, ein Spielraum für alternative Erfahrungen. Es gehtaber nicht darum, den Staat in denjenigen Funktionen zu erset-zen, aus denen er sich zurückzieht, oder um nostalgische Aktio-nen, welche auf die E inlösung der alten nationalstaatlichenIntegrations- und Fortschrittsversprechen pochen. Wichtig für dieZukunft sind vielmehr Gestaltungsprozesse, die sich von der herr-schenden Norm abkoppeln und neue soziale Bande zu knüpfen inder Lage sind, wo der Kapitalismus als Macht der Trennung, derTraurigkeit und der Herausbildung monadenhaft voneinander iso-lierter Individuen wirkt. Diese Experimente sind Teil des sich neuherausbildenden sozialen Protagonismus. Die Tage des 19. und20. Dezember haben aber auch in konzentrierter Form dieDilemmata aufgezeigt, in die diese neuartigen kollektiven Erfah-rungen hineingeraten.

Die Plünderungen

An den beiden Dezembertagen geriet die Stadt in bisher unge-kannter Weise in Bewegung. Die Routen der Cacerolazos began-nen in den Stadtvierteln und mündeten im Morgengrauen auf derPlaza de Mayo. Diese Demonstrationsrouten wurden in den Mo-naten nach dem Aufstand zur Routine. An jedem Freitagabendzogen von Dutzenden von Orten aus Gruppen kochtopfschlagenderProtestierender los, um die Plaza de Mayo im Stadtzentrum zubesetzen. Noch viele Monate lang füllte sich jeden Freitag dieserPlatz. Nur dass – im Vergleich zum frühen Morgen des 20. De-zember – nunmehr die Stadtteilversammlungen von ganz BuenosAires dazu aufriefen.

Freitag für Freitag wiederholte sich die ausgelassene Stimmung,die für den 19. Dezember prägend gewesen war. Weder um dasMassaker vom darauf folgenden Tag zu vergessen noch aus Naivi-

tät angesichts der Repressionsorgane, sondern weil diese Atmo-sphäre von Anfang an für den Charakter der Bewegung ausschlag-gebend gewesen war. Die Ereignisse des 19. Dezember können alsselbstbewusstes Auftreten einer überdrüssigen, spöttischen undzugleich euphorischen Menge interpretiert werden, die sich überden deklarierten Ausnahmezustand hinwegsetzte.

In der Provinz Buenos Aires besaßen die Demonstrationszügejedoch einen ganz anderen Charakter. Die widerständige Praxisder Straßenblockaden hatte schon seit mehr als einem Jahr dassoziale Klima verändert. Die Verelendung, die Arbeitslosigkeit undandere zerstörerische Auswirkungen des Neoliberalismus – wobeiganze Gebiete des Landes desintegriert und »marginalisiert« wur-den – wuchsen Jahr für Jahr an. Ein Großteil der betroffenen Be-völkerung lebt in den die Hauptstadt umgebenden, ehemals indu-striell geprägten Siedlungsgürteln.

In der Provinz Buenos Aires waren der 19. und 20. Dezembervor allem Tage der Plünderungen, der Angst, der Konfrontationund der Geheimdienstaktivitäten und Repressionsdrohungen.Norma, eine Bewohnerin von Moreno, erzählt, wie sie diese Tageerlebt hat:

»D as Härteste, was ich erlebte, geschah am 20. D ezember. D enganzen Tag weinte ich, weil ich ansehen musste, wie die L eute von derPolizei geschlagen wurden, und ich konnte kaum glauben, wie eindemokratisch gewählter Präsident es zulassen konnte, dass die L eute

in dieser A rt und Weise misshandelt wurden, ohne einzugreifen. Beiden Plünderungen sah ich die L eute, die Sachen wegtrugen, und meinSohn sah einen, der in einem E inkaufswagen mehr als 30 Kisten Spei-seöl transportierte, und als er ihn um eine Kiste bat, bekam er eine

abschlägige A ntwort. Danach hörte ich die Schüsse beim Carrefour-Supermarkt, die vielen L eute, die über die Straßen liefen und sich aufdiesen Ort zu bewegten. Mein Sohn, der 19 Jahre alt ist, ging zueinem F leischerladen hier in der Nähe. E r erzählte mir, dass aus dem

Häuschen geratene L eute auf der S traße L astwagen anhielten unddiejenigen demolierten, die keine Waren transportierten. Dann betra-ten sie eine F leischerei. Mein Sohn berichtete, dass einige von ihnensich dort zuerst über die Registrierkasse hermachten. E r warf deshalb

die Kasse auf den Boden, damit die anderen nicht an das Geld ka-men, sondern sich nur die L ebensmittel griffen, die sie brauchten. D afing ein S treit an und mein Sohn ging weg. D och vorher nahm ernoch E ssen für uns alle mit und brachte auch einen Käse.

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D ie k leinen G eschäfte des S tadtviertels waren vorbereitet. IhreBesitzerInnen warteten bewaffnet, um sich im N otfall denjenigenentgegenzustellen, die zum Plündern kamen. A m 22. Dezember sag-ten uns die L eute, dass die L astwagen voll mit L euten zum Plündern

kamen. D ie BewohnerInnen begannen, an den Straßenecken F eueranzuzünden und warteten bewaffnet. D och viele dieser A nkündigun-gen waren nur Gerüchte. D iese kamen von überall her und wieder-holten dasselbe: ›Die L astwagen kommen‹ und ›Sie greifen an‹. A ls

sich so viele gleichlautende Meldungen verbreiteten, schien es uns, dasses sich um etwas E rnstes handeln müsse, und wir begannen uns zuängstigen. Ich ging dann schlafen und mein Mann blieb an der Stra-ßenecke. Ungefähr um halb drei nachts erschien Polizei und forderte

die L eute auf, schlafen zu gehen. Sie sagten, dass alles in Ordnungund das ganze Stadtviertel ruhig sei. Sie selbst haben also die ganzeGeschichte erfunden und später dann alle L eute auf der Straße wiedernach Hause geschickt. So waren alle etwa zwei Tage lang in Panik-

stimmung.«Oscar, der sich im Zentrum des Geschehens befand, erzählt

uns seine Sicht der Dinge:»A m 19. Dezember war ich zu Hause beim A bendessen und hörte

L ärm, der vom Supermarkt Carrefour herkam. Ich wohnte zweiHäuserzeilen von dort entfernt. Weil mein Junge, der 14 Jahre alt ist,draußen war, machte ich mich auf, ihn zu suchen. Ich fand ihn ander Straßenecke, wo er zusah, wie die L eute Steine auf die Polizisten

warfen, die mit Kugeln antworteten. Ich sagte meinem Sohn, dass ernach Hause gehen solle, und ich selbst blieb dort. Ich versuchte da-nach, mit den L euten zu reden, um ihnen klar zu machen, dass dieseSituation zu nichts führte, weil zu viel Polizei beim Carrefour ver-

sammelt war. S teine gegen Gummigeschosse, scharfe Munition undTränengas, das führte zu nichts. A ber weil mir klar war, dass es inmeinem Stadtviertel viele arme L eute gab, schlug ich vor, zur Haupt-verkehrsstraße zu gehen und dort, ohne Gewalt, die durchfahrenden

L astwagen anzuhalten. E s dürften mehr als 100 Menschen gewesensein, die Steine gegen den Carrefour warfen. Im Umkreis gab es nochca. 400 mehr. Ich sprach mit mehreren Bekannten aus meinem V ier-tel und wir machten uns auf den Weg hin zu den L astwagen. Bei

denen, die wir anhielten, sprach ich zu den F ahrern und erk lärteihnen, dass die L eute vieles nötig hätten und dass die V ersicherungspäter alles bezahlen würde. Ich sagte ihnen, dass wir ihre F ahrzeugenicht beschädigen würden und dass ihnen selbst nichts passieren wür-

de. So übergaben uns viele F ahrer ihre Waren. Wir machten das miteinem L astwagen voller Speiseöl, mit zwei L KWs von der GroßmolkereiLa Serenísima sowie mit einem, der mit F leisch beladen war. Dassnicht alle L eute zusammenhielten, zeigte sich, als wir beim L astwa-

gen mit Öl waren und plötzlich ein Transporter mit 4 oder 5 L eutenerschien. Gestalten wie Rambo, die kaputte Bierflaschen in den Hän-den hielten und die alles Öl wollten, das übrig geblieben war. D ieluden das Öl in ihren Transporter und fuhren weg.

A ls wir danach den Wagen von La Serenísima anhielten, verteil-ten wir an jede Person 4-5 L iter Milch und einen Käse. Wir machtendas aus Solidarität, denn dort waren L eute, denen es wirklich dreckigging. A ber später ging das verloren, weil L eute anfingen, alle mögli-

chen F ahrzeuge anzuhalten, zum Beispiel eins der Post. Wir sagtenihnen, dass sie es fahren lassen sollten, weil damit keine Waren trans-portiert würden. Wir leiteten das F ahrzeug auf die Seitenspur um,aber später hielten es L eute an und räumten es vollständig aus (da-

nach lief alle Welt in Hemden der argentinischen Post herum). Wirließen einen Umzugslastwagen weiterfahren, aber später nahmen ihnsich einige L eute vor und trugen die ganze L adung weg. D ie L eutegingen mit Sonnenschirmen, Hängematten und Sesseln nach Hause.

Das Ganze brachte nichts mehr. D ie Sache war gekippt. Inzwischenwaren viele L eute anwesend, die nicht aus unserem V iertel stammten.E inmal hielten sie einen Transporter an, dessen F ahrer erschreckt mitdem Schlüssel davonlief. Daraufhin schlugen L eute das F ahrzeug ka-

putt. D as war nicht mehr die ursprüngliche Idee, denn eigentlichwollten wir für die verarmten L eute des S tadtviertels L ebensmittelbesorgen und weiter nichts.

V or dem Carrefour-Supermarkt gab es dann eine A useinanderset-

zung. E s hatte sich eine Schlange von F rauen gebildet, denn die V er-waltung hatte diese gebeten, sich in einer Reihe aufzustellen, um L e-bensmittel in E mpfang zu nehmen. D ie F rauen warteten aber nichtvor der E ingangstür, sondern an der Seite. E s waren mehr als 100

F rauen. Und plötzlich öffneten sie die Tür und ließen die Wartendenherein. A ber sie nahmen die F rauen als Geiseln in ihre Gewalt. D awurden wir übrigen von Wut gepackt. Ich sage dir, dass ich nicht inden Carrefour wollte, um Sachen abzugreifen. Ich wollte dort rein,

um den L aden anzuzünden und alle Polizisten umzubringen, so sau-er war ich. Wir griffen zu einem E inkaufswagen, hackten Bürgerstei-ge auf und sammelten eine Menge Pflastersteine. Wir rissen ein großesPlakat ab, das uns dann als Schild diente, und begannen, Steine auf

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die Polizisten zu werfen. Plötzlich hatten diese keine Munition mehr.Wir schnappten uns vier oder fünf von ihnen und droschen auf sieein, solch eine Wut hatten wir. E s gab V erletzte, mich traf einGummigeschoss am E llbogen und ein anderes am Rücken. A ber sie

setzten auch scharfe Munition ein. Später sahen wir die großen Werbe-plakate, in die Bleikugeln riesige L öcher geschlagen hatten. Ganz schönhart, was das ablief.

In einem Moment war ich so entrüstet, dass ich einem Polizisten

hinterherlief. Der Typ begann auf mich zu schießen. E s war wie ineinem F ilm, und ich hörte, wie die Kugeln an mir vorbeipfiffen. Klar,der Polizist war überrascht, dass er mich nicht getroffen hatte. E rblieb stehen, senkte seine Waffe, und in diesem Moment traf ihn mein

Ziegelstein, der ihm fast den Kopf zerschlug. Ich hätte ihn fast umge-bracht. In diesem Moment kam die Gendarmerie und hätte uns bei-nahe alle festgenommen.

E s waren dann die L eute von Vital, einem gegenübergelegenen

L ebensmittelgroßhandel, die uns E ssen gaben. Das war reiner Zufall,denn nach unserem Rückzug waren wir dort 200, alle mit S tein-schleudern bewaffnet, gegen nur eine Handvoll Poliz isten. Diese rie-fen den Geschäftsführer von Vital. E r versprach uns L ebensmittel, wenn

wir seinen L aden nicht angriffen. Wir hatten nicht daran gedacht,diesen anzugreifen, sondern befanden uns auf dem Rückzug vor derGendarmerie. So stellten sie uns etwa 20 E inkaufswagen mit L ebens-mitteln raus, die wir mitnahmen. D anach beruhigte sich alles.

N ach dem 1. Januar waren wir vom Großhandel Vital wirklichüberrascht. Jede Woche gingen wir mit Menschen, denen es am Nötig-sten fehlte, zu diesem Geschäft und baten um L ebensmittel. A m er-sten Tag waren wir fünf, am zweiten zehn und dann fünfzehn.

An einem Tag, es war A nfang Januar, aß ich gerade zu Mittag, alsmein Sohn mit einem ganzen Käse hereinkam. Ich fragte ihn, wo erin herhabe. E r antwortete mir, er habe ihn von einem F ahrzeug, dasmit offenen T üren vor dem G eschäft von Vital geparkt habe. Ich

schnappte mir das Fahrrad und fuhr los. Und in der Tat stand einA nhänger mit offenen Türen vor dem E ingang von Vital. E in HaufenL eute standen um ihn herum, doch keiner traute sich in den A nhän-ger. Ich stieg in den A nhänger; dort befanden sich ungefähr 3.000

Kilogramm Käse.E s hieß, dass der Sattelschlepper einen Schaden hatte und der Fah-

rer den A nhänger stehen gelassen habe, um einen anderen Schlepperzu holen, und dass ein Junge unter dem F ahrzeug einen Satz Schlüssel

gefunden habe, mit denen sich das Schloss des A nhängers öffnen ließ.A lles war ein wenig wie im F ilm.

A ls die zuschauenden L eute sahen, dass ich in den A nhänger klet-terte, folgten sie mir hinterher. D ie Käse befanden sich in Plastik-

körben. Und da tauchte mein Sohn mit einigen seiner F reunde auf,und wir brachten um die 50 Käse nach Hause. Danach verteilten wirsie unter den L euten im V iertel.

Carrefour heuerte E inheiten der Provinzpolizei sowie der Gen-

darmerie an. A lle trugen Uniform. Du siehst also den Unterschied:Vital hatte drei L eute einer privaten Wachfirma und drei angeheuertePolizisten der Provinz Buenos A ires. Das heißt sechs L eute. Demge-genüber hatte Carrefour insgesamt mehr als 150 Polizisten zur V erfü-

gung. Und Vital ist groß; das Geschäft hat mehr Waren als Carrefour,weil es sich um einen Großhandelsmarkt handelt.

In der vergangenen Woche war ich mit Maurerarbeiten beschäf-tigt. Der V ermieter der F rau, bei der ich arbeitete, sagte zu ihr: ›Ist

der da dein F reund?‹ A ls sie dies bejahte, sagte er: ›Was für F reundedu hast! D en hab ich im Fernsehen gesehen, als er L astwagen aus-raubte.‹ Und im Stadtviertel gibt es viele Bekannte, die mich nichtmehr grüßen. D ie L eute sind so, ihnen fehlt es an vielem, aber sie

mischen sich nicht ein. Sie sehen es als schlecht an, was die anderenmachen.«

In der Schule

Die Schule mit dem Namen »Gemeinsam Aufwachsen« (CreciendoJuntos) befindet sich zwei Häuserzeilen entfernt vom Carrefour-Supermarkt. Während sich dort die Plünderungen abspielten,wurde in der Schule Nachhilfeunterricht gegeben. Juan B., Ma-thematiklehrer, erzählt:

»Ich erinnere mich daran, dass ich nach Hause kam und dass aufder S traße ungewöhnlich viele L eute in Bewegung waren. U nd ob-

wohl beim Carrefour ununterbrochen geschossen wurde, war das L e-ben im Stadtviertel wie immer. E s war eine sehr komische Situation,denn wir befanden uns mit dem SchülerInnen in den R äumen, indenen der N achhilfeunterricht stattfand, und versuchten, gemeinsam

zu arbeiten. Und von hier aus hörte man vom Carrefour her Schüsseund E xplosionen. Und wir machten wie normal Unterricht. Ich den-ke jetzt im N achhinein über die S ituation nach, und es fällt mirschwer, unsere damalige H altung zu begreifen. Wir konnten ange-

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sichts der Schnelligkeit und der Größenordnung der E reignisse nichtreagieren. Denn es war wirklich nicht zu glauben, was geschah.

Ich erinnere mich daran, dass die SchülerInnen an die F enster lie-fen und sagten: ›Wir gehen zu Carrefour.‹ Doch wir L ehrenden mussten

bleiben. Wir dachten nicht daran, von den SchülerInnen zu fordern,dass sie hier in der Schule bleiben sollten, weil ansonsten Zeit zumL ernen verloren gehen würde. D ies war nicht die F rage, vielmehrreagierten wir mit einem: ›Gut, einverstanden, aber passt auf euch

auf!‹D ie SchülerInnen unterhielten sich während des Unterrichts, und

wir konnten ihnen nicht befehlen zu schweigen. Stell dir vor, sie hör-ten Schüsse und einige überlegten sich, dorthin zu gehen. Wir kamen

uns lächerlich vor, weil wir mit Sachen beschäftigt waren, die absolutnichts damit zu tun hatten, was in diesen Momenten in Wirklichkeitgeschah. D raußen spielten sich E reignisse von herausragender Wich-tigkeit ab. Und wir L ehrerInnen hier drinnen beschäftigten uns mit

anderen Sachen, um nicht daran denken zu müssen, was draußenablief. Zumindest war dies unbewusst so.«

Die Comundidad E ducativa Creciendo Juntos in der ProvinzBuenos Aires ist keine Schule wie jede andere. Seit Jahren versu-chen dort E ltern, LehrerInnen, SchülerInnen sowie das Leitungs-gremium, eine alternative Schule aufzubauen. Das Leitbild ist hierdie ethische Figur der »politisch aktiven LehrerInnen« (maestromilitante).

Sozial engagiert und Lehrende zugleich zu sein bedeutet, dersozialen Verantwortung innerhalb und außerhalb der Schule ge-recht zu werden. Darin besteht der Unterschied zu Aktivisten, diein politischen Gruppen eine vielleicht herausragende Arbeit leis-ten, aber dasselbe nicht als Lehrende tun. Das politische Engage-ment ist keine Pflichterfüllung, sondern hat mit einer Überein-stimmung zwischen dem, was wir tun, und dem, was wir denken,zu tun.

Die »politisch aktiven LehrerInnen« versuchen, diese Trennungaufzuheben und sich im sozialen, beruflichen und privaten Lebenzu engagieren, also die falsche Unterscheidung zwischen der öf-fentlichen und der privaten Sphäre aufzuheben. Diese Ethik istnicht normativ. Es ist kein »E twas-tun-müssen«, sondern es han-delt sich mehr um die Haltung des »Immer-auf-der-Suche-Seins«.

Und bei dieser Suche stellten die Ereignisse des 19. und 20.Dezember enorme Herausforderungen an uns LehrerInnen. So wie

alle anderen Schulen auch, leidet die Schule Creciendo Juntos ander umfassenden Krise des argentinischen Schul- und Ausbildungs-systems. Unsere besondere Erfahrung charakterisiert aber, das hierradikale Positionen nicht nur von ein oder zwei Lehrenden, son-dern von der gesamten Schulgemeinschaft vertreten werden.

Mit ihrer offenen Tür für die sie umgebende soziale Gemein-schaft fragt sich diese Schule, worin heute der Sinn des Lehrensund des Lernens besteht. Und dies in einer Situation, in der diegroßen Versprechen der öffentlichen Schule – Fortschritt, sozialerAufstieg und Integration – nur noch einen Scherbenhaufen dar-stellen.

Wie in einer Situation den Schulbetrieb aufrechterhalten, inder sich die Sinnpotenziale verflüchtigt haben, die sich einmal ausdem – heute hinfällig gewordenen – »Projekt der Nation« ableite-ten? Wie die Praxis des Lehrens auf der Basis von Werten fortfüh-ren, die derzeit nicht mehr anwendbar sind? Oder kann jemandnoch im Ernst behaupten, die Schulausbildung mache die Men-schen frei? Die SchülerInnen wissen ja sehr gut, mit welchen Me-thoden man in der heutigen Gesellschaft allein zu Macht und Geldkommen kann. Die Schule »weiß nicht mehr Bescheid« über diesie umgebende Welt, über die E ltern, über die SchülerInnen, aberauch nicht, wozu sie noch Wissen vermitteln soll.

Die Tage des 19. und 20. Dezember und insbesondere die Plün-derungen als ein Ausdruck der Zerstörung der sozialen Netze fühl-ten allen Angehörigen der Schule Creciendo Juntos auf den Zahn.Was mit SchülerInnen anfangen, die, während hier Unterrichtabgehalten wurde, im Carrefour waren oder die ihre E ltern mitSchusswunden von dort zurückkehren sahen? Wie mit ihnen überden Sinn von Schule und Ausbildung sprechen?

Juan B. sagt dazu: »Dieses Thema werden wir noch einmal auf-greifen, denn zur Zeit treffen wir uns, um den Stoff in den einzelnenUnterrichtsfächern zu besprechen und auch einige Workshops zu orga-

nisieren. E ine Idee, wie wir das Thema der Plünderungen behandelnkönnen, ist, die Sicht der SchülerInnen über die E reignisse jener Tagezu erfahren.«

Die Wichtigkeit dieses Vorsatzes wird deutlich, wenn man dieRadikalität der damaligen Situation in Betracht zieht. Dazu meintJuan J., Lehrer der Naturwissenschaften: »E s ist interessant, dieE rfahrungen von Silvana wiederzugeben, einem Mädchen, das in LasCantonas wohnt. D ort gab es Spaltungen zwischen denjenigen, die

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an den Plünderungen teilnahmen, und denjenigen, die das nicht ta-ten. Las Cantonas ist ein Stadtviertel mit Hochhausblöcken, das 20Häuserzeilen von hier entfernt liegt und woher einige SchülerInnenunserer Schule kommen. D iesem V iertel wird vorgeworfen, an dem

schuld zu sein, was passiert ist. Wir L ehrerInnen hören, was die E l-tern sagen, und man nimmt diese Spaltungen und diese A useinander-setzungen wahr. Wie dieses Thema zu behandeln ist, stellt eine Her-ausforderung für die Schule dar; wir müssen hören, was die anderen

sagen, und natürlich dann eine gemeinsame Haltung der Schule fin-den.

Ich habe keine klare A ntwort. Ich denke, dass es diese noch auszu-arbeiten gilt. D arum sind die E ltern hier präsent. Wir wollen eine

Schule, die weder der soz ialen Umgebung, in die sie eingebettet ist,hinterherhinkt noch dieser vorauseilt. D enn diese Schule ist keineL euchte, die voranschreitet. D ie D inge müssen gemeinsam entwickeltwerden. A uf die eine oder andere Weise werden wir das Thema auf

den monatlichen Treffen aufgreifen, mit allen E ltern oder mit denje-nigen, die kommen möchten.

Wir hatten auf dem letzten Treffen vor den Ferien über das Themader Demokratie in unserer Schule gesprochen, d.h. wer hier wirklich

E ntscheidungen trifft. Die Diskussion führte zu der E insicht, dass wirhier in Wirklichkeit keine Demokratie haben, weil klar wurde, dasswir L ehrenden E ntscheidungen treffen, die nicht das repräsentieren,was unten passiert. Das war die Schlussfolgerung, fünfzehn Tage vor

den Plünderungen. Dies zeigt, dass wir uns auf gleicher A ugenhöhebegegnen müssen. Was im D ezember geschah, finde ich erst einmalweder gut noch schlecht, aber wir müssen es gemeinsam reflektieren,uns austauschen, wie es die E inzelnen jeweils erleben. Ich zum Bei-

spiel würde auch gern in den Carrefour gehen und alles abbrennen,dieser Supermarkt ist doch Ideologie.

Wenn du mich fragst, was unsere A ntwort als Institution darstellt,ob die Plünderungen gut oder schlecht sind, kann ich nur sagen, dass

ich keine habe. D enn die Institution ist die Gemeinschaft, die sieumgibt, und die A ntwort auch.«

Oscar, der sich als Teil der Schule versteht, weil sein Sohn dort-hin geht, äußert sich auch über eine mögliche Antwort der Schu-le: »Ich denke, dass – wenn es auch die F unktion von Juan B. undJuan J. ist, zu erziehen und zu unterrichten – die Schule ihre Mei-nung äußern sollte über das, was die Massenbewegung hervorgerufenhat, wenn sie aus einem so herausragenden G rund wie dem eigenen

Hunger L äden geplündert hat. Die Schule kann eigentlich keine A r-gumente dagegen haben. Du kannst einem Jungen Mathematik oderN aturwissenschaften beibringen, aber wenn er H unger hat, kannstdu ihm nicht sagen, es sei verwerflich, einen Supermarkt zu plün-

dern. Dagegen kannst du keine A rgumente haben. Und wenn du diesvorgibst, lügst du.«

Es gibt einen Unterschied zwischen dieser Meinung und einer,die wahrscheinlich von einer herkömmlichen Schule vertretenwürde. Diese würde argumentieren, dass diejenigen, die nicht zurSchule kommen, Nichtangepasste – also SchülerInnen, die nichtdie nötigen Bedingungen aufweisen – seien, derer sich daher andereInstitutionen annehmen müssten. Sie würden das Problem an an-dere abschieben: die Stadtverwaltung, die psychiatrische Anstalt,die Polizei, eine Sonderschule oder einen Speisesaal für Kinder.Denn die traditionelle Schule zielt in ihrer Arbeit darauf ab, dieMenschen an die Norm anzupassen. Wenn sie sich daher mit ernst-haften Widerständen oder Hindernissen konfrontiert sieht, sospricht sie von »Schulversagen«.

Sobald eine Situation die Fähigkeiten der herkömmlichen Schuleübersteigt, weil die SchülerInnen auf anormalen Verhaltungsweisenbeharren, erklärt diese sich als unzuständig und schiebt das Pro-blem auf andere disziplinierende Institutionen ab. So sieht nor-malerweise die Praxis vieler Schulen aus.

Wenn die Schule also die tiefgreifenden Veränderungen nichtberücksichtigt, verliert sie die Orientierung. Aber nicht nur das:Sie gerät auch in eine Konfrontation mit den SchülerInnen, dennderen alltägliche Erfahrungen sind ja sehr real und zwar realer alsjeder abstrakte oder nostalgische »Wert«, welchen die LehrerInnenmit möglicherweise besten Absichten vermitteln möchten. DieseDinge haben weit mehr Kraft als jeder Idealismus von LehrerInnen,die alles ganz anders wollen.

(Der Text basiert auf Interviews, die mit E ltern, A ngestellten undL ehrerInnen der in Moreno / Provinz Buenos A ires gelegenen SchuleComunidad Educativa Creciendo Juntos geführt wurden.)

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entstanden neue Formen, den öffentlichen Raum zu beleben. DieStadtteilversammlung konstituierte sich als eine Einrichtung, dieeiner heterogenen Vielfalt von Menschen jenseits der gewohntenRituale der politischen Organisationen einen Raum der gemeinsa-men Diskussion und Koordination und des kollektiven Denkenszur Verfügung stellte.

Tausende Bewohnerinnen und Bewohner der Stadtviertel fan-den sich zusammen, um an diesem Prozess teilzuhaben. Die Ver-sammlungen sind Foren, wo sich die Einzelnen mit ihren Ideen,Sorgen und Kenntnissen einander annähern und ausgehend vonihren jeweils unterschiedlichen Situationen an einer gemeinsamenDebatte teilnehmen. Die Aufgabe, gemeinsame Positionen festzu-legen und die vielfältigen –nicht immer übereinstimmenden unddiversen – Erwartungen zu harmonisieren, stellt einen erfahrungs-reichen Prozess der Politisierung dar, der Tausende von Personen –und viele von ihnen zum ersten Mal – dazu bringt, die Zukunft indie eigenen Hände zu nehmen.

Die Versammlungen sind eine praktische Interpretation derEreignisse des 19. und 20. Dezember. Sie stellen eine gemeinsameIntervention dar, um einen Raum von Bedeutungen zu durchmes-sen, der sich durch den Dezemberaufstand eröffnet hat. Ausge-hend davon wird der Sinn neuer Formen der öffentlichen Beteili-gung erschlossen. Die Auswirkungen davon sind schon sichtbar.Nach Jahren des erdrückenden Voranschreitens der merkantilenLogik wurden die Straßen, Ecken und Plätze subjektiv neu konfi-guriert, indem sich neue Dimensionen des öffentlichen Raumsherausbildeten. Es veränderte sich so die Art und Weise, die Stadtzu bewohnen.

Die Asambleas verlängerten die während des Aufstands im De-zember erfundenen Formen, den städtischen Raum zu besetzen:Kneipen, Plätze und Straßenecken verwandelten sich zu Ortenvon Versammlungen, Workshops, Kommissionen und Festivals.E ine vorher als feindlich und entfremdet empfundene Form derGesellschaftlichkeit stieß auf den latenten Wunsch nach Gemein-schaft. Tägliche Aktivitäten und Zusammentreffen schufen in vie-len Stadtvierteln vorher nicht bestehende Beziehungen zwischenden BewohnerInnen.

Im Verlauf einiger Versammlungen wurden dem Staat gehören-de, nicht genutzte Gelände besetzt, um neue öffentliche Räumezu schaffen. Die BewohnerInnen der Viertels V illa Urquiza be-

Colectivo Situaciones

»Asambleas«:Die Versammlungen in den Stadtteilen

Es war in den ersten Januartagen. Der Alltag war vollständig aufden Kopf gestellt. Radikal verändert waren die Stadt, die Rhyth-men, die Formen, öffentliche Räume einzunehmen. Die atembe-raubende Aufeinanderfolge der Ereignisse rief nach der Ausarbei-tung von Ideen und Begriffen, um in einem radikal unsicherenKontext einen möglichen Sinn zu erzeugen. Die Straßen und Plät-ze waren von spontanen Kochtopfdemonstrationen besetzt. Aufdiesem unsicheren Grund konnte keine Regierung Fuß fassen.Präsidenten, Wirtschaftspläne und Minister folgten aufeinander.Die ökonomische Depression beschleunigte das Wachstum derArbeitslosenzahl. Der Rhythmus, in dem der Konsum abnahm,war schwindelerregend. Die Regierung stellte den Schuldendienstein. E ine unsichtbare Linie hat das Land endgültig geteilt. Auf dereinen Seite befanden sich diejenigen, die noch Zeit, Lust und Res-sourcen besaßen, um die Stimme des Marktes zu hören und vonBank zu Bank zu rennen, um ihre Ersparnisse zu schützen, wäh-rend der Internationale Währungsfonds und die US-Regierungentschieden hatten, Argentinien zu strafen. Und auf der anderenSeite diejenigen, die sich sonderbare Riten zu E igen machten:Basisversammlungen, Tänze mit Kochtöpfen in der Hand undgeheimnisvolle spontane Zusammenkünfte aller Art.

Die Bewegung der Stadtteilversammlungen (Asambleas) mach-te ihre ersten Schritte. Buenos Aires wurde von mehr als hundertStadtteilversammlungen bevölkert, welche die möglichen Bedeu-tungen des im Dezember stattgefundenen Bruches auszuloten undpraktisch zu interpretieren begannen. Es handelte sich um einesimultane Bewegung von Tausenden von Menschen, welche diebisher geltende Ordnung umwarfen und Schritt für Schritt neueSpielregeln entwarfen.

Durch Resonanzen entstanden – ohne dass jemand diesenProzess zu planen, geschweige denn aufzuhalten in der Lage gewe-sen wäre – Orte der Ausarbeitung von Ideen und Gedanken. Es

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Wir können die zukünftige Entwicklungsrichtung dieser Be-wegung nicht voraussehen. Uns geht es um die Reflexion ihrergesellschaftstransformierenden Macht, die in ihr schlummerndeZukunft sowie die aufscheinenden Elemente einer neuen Verge-sellschaftung.

Ein neuer Raum der Subjektivität

Eine der größten Schwierigkeiten für die Kämpfe liegt in der Fest-stellung, dass die Welt nicht so einfach zu verändern ist. Die Kom-plexität der Situation schien keinen Raum für emanzipatorischeKämpfe zu lassen. Die Ideologie der Komplexität spricht von einervöllig unverständlichen Welt, begreifbar nur für TechnikerInnenund ExpertInnen, für die sich die Welt als transparent, frei vonGeheimnissen und insofern als beherrschbar präsentiert. Die An-nahme, einige wenige Männer und Frauen würden die Schlüsselzum Verständnis dessen besitzen, was wirklich passiert, überant-wortet den Rest der ZeitgenossInnen dem postmodernen Paradoxder »Ära des Wissens«: Gerade in dem Augenblick, in dem dasWissen zur Quelle aller Produktivität wird, verbleibt die überwäl-tigende Mehrheit der Menschen in grundlegender Unkenntnis derMechanismen, die unsere Gesellschaften am Laufen halten.

Der Diskurs der Komplexität ist in seiner Wirkung ein Aufrufzur Passivität. Die Dinge scheinen zu kompliziert, um sich derenVeränderung vorzunehmen. Aber diese technizistische Fiktionkönnte nicht funktionieren, wenn sie nicht einen Aspekt von Wahr-heit beinhaltete. Technik – wie auch Ökonomie – ist eine Praxis,die auf einer Gesamtheit von Mechanismen beruht, die sich vonder Kontrolle der Institutionen unabhängig gemacht haben, diezu ihrer Regulation beauftragt worden waren. Dies mündet in ei-nen Prozess der Beherrschung »ohne Subjekt«. Niemand kontrol-liert die Absichten und Ziele dieses Prozesses.

Die Täuschung besteht nicht darin, dass diese Komplexität nichtbestehen würde, sondern vielmehr in der Form, diese zu begrei-fen. Auf der einen Seite wird von einer Gruppe von TechnikerInnen– aus der Natur- und Wirtschaftswissenschaft – gesprochen, wel-che die Komplexität der Welt kontrollieren würden, ohne ihrer-seits von dieser kontrolliert zu werden. Auf der anderen Seite ver-mittelt uns die Ideologie der Komplexität, dass die Männer undFrauen in der Wirtschaft und in den Wissenschaften an die abso-

setzten beispielsweise ein Stück Land, das vorher dem SupermarktCoto »zur Nutzung übergeben« worden war, und gründeten dortein Versammlungszentrum. Hier trifft sich heute die Stadtteil-versammlung, und es werden kulturelle Aktivitäten organisiert undüber Sinn und Formen der Öffentlichkeit diskutiert.

Die wiedereroberten Orte werden durchgängig den Bedürfnis-sen der Bevölkerung in den Bereichen Kultur und Erholung zurVerfügung gestellt. Das Gleiche gilt auch für die Zeit. Ausgehendvon den Tagen des 19. und 20. Dezember hat sich im Alltagslebenvieler Menschen ein neuer Raum eröffnet: der Abend und dieNacht. Die Versammlungen und Demonstrationen finden nachdem Ende des regulären Arbeitstags statt und sprengen den häus-lichen Rahmen.

Im Gegensatz zur gewerkschaftlichen Organisation, welche ihreAktivitäten innerhalb der Fabrik und der regulären Arbeitszeitentwickelt, entfaltet sich diese Bewegung auf Kosten des Schlafsund der Freizeit am Wochenende. Die Veränderung ist umso radi-kaler, wenn in Betracht gezogen wird, dass das Alltagsverhalten inden letzten Jahren vom Streben nach Sicherheit, Privatheit undFluchträumen geprägt war. Es wurden eine Vielzahl geschlossenerRäume geschaffen, die subjektiv von einer Ideologie der Sicher-heit geprägt waren, der Krankheit unserer in Traurigkeit und De-kadenz versunkenen postmodernen Städte.

Schon vor dem 19. und 20. Dezember hatten sich vieleBewohnerInnen zusammengefunden. Doch diente dies demZweck, die Stadtviertel vor der »äußeren« Gefahr zu schützen, laut-hals Polizisten an jeder Ecke zu fordern und zu sichern, dass dieeigenen Häuser »außer Gefahr« blieben.

Im Moment, in dem dieser Text verfasst wird, ist der Prozessder Versammlungen noch in vollem G ange. D ie A sambleainterbarrial vereint die Delegierten aller Stadtteilversammlungender Stadt Buenos Aires und ihrer Umgebung. Sie findet seit Be-ginn des Jahres 2001 jeden Sonntag in einem Park statt, dem ParqueCentenario. Wenn auch der Enthusiasmus der Anwesenden an-fänglich bemerkenswert war, so hat ihre Größe und auch die Teil-nahme an ihr abgenommen. Gleichzeitig kam es zu einer immermassiveren Beteiligung der linken Parteien. Auch die Mobi-lisierungswirkung schwankt. Andererseits war die massive Präsenzder Stadtteilversammlungen an der letzten Demonstration zumJahrestag des Staatsstreiches von 1976 bemerkenswert (März 2002).

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und der staatlichen Regulation ins Private geflüchtet. Die Figurdes Nachbarn und der Nachbarin ist bestimmt durch den Rück-zug aus der öffentlichen Sphäre, die Angst vor dem sozialenAusschluss und den Konsum im häuslichen Bereich.

Unter den Bedingungen der umfassenden Herrschaft des kapi-talistischen Marktes sind die öffentlichen Räume, die vor ein paarJahrzehnten noch Räume der Sozialisierung als BürgerInnen dar-stellten, »unsicher« geworden. Die Anwesenheit der Ausgeschlosse-

nen wird als eine permanente Gefahr empfunden. Die Selbsthilfe-bewegung des V ecinalismo steht also im Zeichen der Umwandlungvon BürgerInnen, die den öffentlichen Raum besetzen, inKonsumentInnen, welche die Sicherheit ihres privaten Wohn-bereichs verteidigen.

Angefangen von den Fernsehserien und privaten Gesundheits-diensten bis zur Verbreitung von Stadtteilbeilagen der wichtigstenPrintmedien und der Verallgemeinerung virtueller Netze – dasAnsprechen der KundInnen im direkten Wohnumfeld ist ein Sym-ptom dafür, dass sich der öffentliche auf den privaten Raum zu-sammenzieht.

Wie gesagt ist das Stadtviertel heute wieder zum Terrain derErzeugung kritischer Subjektivität geworden, wobei früher prak-tizierte Ausdrucksformen von Gemeinschaftlichkeit, wie dieStraßenumzüge und verschiedenste künstlerische und kulturelleAktivitäten, wiederbelebt worden sind. Die hier vertretene Theselautet, dass sich in den letzten Jahren in den Nachbarschaften vie-ler Stadtviertel ein Prozess vollzogen hat, in dem soziale Bandeneu geknüpft worden sind. Dieser subjektive Vorgang hat denCharakter der städtischen Wohngegenden verändert, wobei sichdie passive Anwesenheit in ein aktives und vielfältiges Bewohnendes Raums verwandelt hat. Besonders unter den Jugendlichen ha-ben sich im Zeichen der Rockkultur neue Formen der Partizipati-on und Vergesellschaftung herausgebildet.

Die nach dem 19. und 20. Dezember entstandene Bewegungder Stadtteilversammlungen wirkt als Mechanismus, in dem sichselbst bestätigende Formen des Widerstands in der Praxis herstel-len bzw. bewahrheiten und der auf die Wiederherstellung ange-messener sozialer Existenzbedingungen zielt.

In den Versammlungen treffen sich NachbarInnen allen Alters,um sich der Probleme anzunehmen, deren Relevanz allgemeinbekannt ist, so zum Beispiel die Besetzung öffentlicher Räume,

lute Grenze der Freiheit gestoßen sind. Es handelt sich um einenwahrhaften historischen Determinismus. Unsere Welt werde dem-nach ab jetzt weder verstehbar noch denkbar, also auch nicht ver-änderbar sein.

Die Komplexität erlangt so einen einzigartigen Status: Nichtnur schreibt sie die realen Herrschaftsstrukturen fest, die ihrer-seits den die Gesellschaft prägenden Wertekanon aufstellen. Siefungiert auch als Alibi eines Denkens, das für die Abdankung jeg-licher kritisch-engagierten Forschung und jedes sozialen Engage-ments eintritt. Durch diesen Mechanismus wird die Fähigkeit derMenschen, sich ihre eigenen Existenzbedingungen neu anzueig-nen blockiert. Dieser Prozess, durch den sich eine Gesamtheit vonPraktiken »ohne Subjekt« verselbstständigt – Wirtschaft, Medi-zin, Biologie und technisches Wissen –, bildet die Grundlage derKategorie der Biomacht, wie sie von Michael Foucault entwickeltworden ist.

Der Prozess der Versammlungen wird erst vollständig in seinemSinn verstanden, wenn die Intelligenz der Widerstände aus dieserPerspektive begriffen wird. In der Tat stellen die Versammlungenpraktische Versuche einer – und sei es auch noch so bruchstück-haften – Wiederaneignung der Lebensbedingungen dar.

Sicherlich können die Versammlungen nicht alle Probleme lö-sen – wer würde dies auch erwarten? –, aber sie führen in einemgrundlegenden Sinn zur Selbstveränderung der in ihnen aktivenMenschen. E ine durch die Opferhaltung gerechtfertigte Passivitätwird aufgegeben. Die Versammlung entfaltet den manifesten Wil-len, Formen der Souveränität der EinwohnerInnen eines Stadtteilsüber ihre eigenen Ressourcen und Möglichkeiten zu etablieren.

Dieser Übergang von der Machtlosigkeit zur Entfaltung der ei-genen Kraft ist ein Schlüsselelement. Die Versammlungen könnenaber auch als Versuchsfelder einer unmittelbar auf den städtischenRaum bezogenen Gegenmacht verstanden werden. Die Stadtteil-versammlungen sind zu einem Raum der Auseinandersetzung undder Bildung von Subjektivität geworden.

Der Zusammenschluss von NachbarInnen, der so genannteV ecinalismo, hatte in den letzten Jahren an Boden gewonnen, alsdie staatlich kontrollierten sozialen Bande zerstört wurden. DieseZerstörung ging mit der verstärkten Anrufung als KonsumentInnenauf der Ebene der Stadtviertel einher. Als solche haben sich dieIndividuen nach dem Ende der Herrschaft der Gesetze, der Politik

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beschränkt. In den Versammlungen herrscht ein praktisches Den-ken vor, das nicht unmittelbar sichtbar ist, das aber durch einganzes Raster fragmentierter früherer Erfahrungen und Erkennt-nisse sowie durch gleichzeitig existierende individuelle Handlun-gen und Wissensbestände gebildet wird. Die im kollektivenBewusstsein aufbewahrten Erkenntnisse vergangener Epochen sinddabei hilfreich, wenn es darum geht, alternative Wege zu den vonder Staatsmacht und den Kräften des Marktes vorgeschlagenenRichtungen ausfindig zu finden.

So führte die Suche nach vergangenen Erfahrungen städtischerWiderstandspraxis auf die Spur der Gesellschaften zur Förderungdes öffentlichen Lebens zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der öf-fentlichen Bibliotheken und anderer autonomer Formen derPopularkultur. Mit der Vorherrschaft der Lohnarbeit, des Massen-konsums und sozialstaatlicher Regulierungen wurde diese autono-me Kultur durch die institutionelle Praxis des Staates aufgesogen.In Argentinien wurde während der ersten Phase des Peronismusdie Autonomie zugunsten der Teilhabe der ArbeiterInnen an ei-nem integrativen Projekt der Nation aufgegeben. Mit der Kriseder »peronistischen Nation« Anfang der 70er Jahre kam es zu ei-ner Neuauflage interessanter Erfahrungen proletarischer Autono-mie, unter ihnen die Fabrikkommissionen im Industriegürtel vonBuenos Aires sowie in den Provinzen Córdoba und Santa Fé, wel-che sich nach einer anderen Logik entfalteten als die der staats-hörigen Gewerkschaften. Diese Praktiken weiteten sich auch aufdie Stadtviertel und Universitäten aus. Auch dort entstanden au-tonome kollektive Projekte. E in Beispiel dafür waren die Nach-barschaftskomitees (juntas vecinales) in den Stadtvierteln.

Auch auf dem Hintergrund dieser historischen Erfahrungendrückt die Strategie horizontaler und demokratischer Ausarbei-tung im nachbarschaftlichen Umfeld keine moralische Forderungaus oder stellt gar eine willkürliche Erfindung dar. Sie ist die Ant-wort auf die praktische Notwendigkeit, das gemeinsame Denkenzu stärken.

Die politische Verzweiflung

Die Versammlungen sind Orte des praktischen Forschens. In ih-nen wird gemeinsam etwas Neues ausgearbeitet. Und weil diesden eigentlichen Wert dieser Praxiserfahrung ausmacht, liegt die

die sich bis zum 20. Dezember in Händen privater Unternehmenbefunden hatten, sowie die Neueröffnung früher dem Stadtvierteldienender, danach aber geschlossener Institutionen. Ein Beispieldafür ist der Versammlungsort der Asamblea des Stadtteils V illa

Crespo von Buenos Aires, eine ehemals städtische Begegnungsstät-te, welche durch Korruption an private NutznießerInnen geratenwar. Sie wurde besetzt und in eine selbstorganisierte Volkskücheverwandelt. Anlass dieser Aktion war, dass im Stadtviertel ganzeFamilien auf der Suche nach Essbarem den Müll durchsuchten.

Andere nachbarschaftliche Aktivitäten sind gemeinsame Ein-käufe zu billigeren Preisen, Tauschringe, Info-Bulletins, Arbeits-börsen, kulturelle und künstlerische Initiativen und Freizeitein-richtungen. Es wurden Kommissionen beauftragt, über die Tarifeprivatisierter öffentlicher Dienstleistungen, die eine Monopolstel-lung innehaben, zu verhandeln.

Im Dezemberaufstand traf sich die Unzufriedenheit der Men-schen als NachbarInnen, VerbraucherInnen und SparerInnen. Letz-tere können allerdings nicht als homogene Gruppe betrachtet wer-den. E inige von ihnen verknüpfen ihre Forderungen mit demProzess der Versammlungen, andere bleiben diesen fern. DieSparerInnen, die A horristas, bilden eine aktive Bewegung der Selbst-organisation von Betroffenen, die eine große Mobilisierungs-wirkung besitzt. Aber nicht immer stimmt deren Perspektive mitder des neuen nachbarschaftlichen Protagonismus überein. So for-derten einige der A horristas während einer Demonstration vor derUS-amerikanischen Botschaft im März 2002, die US-Regierungsolle ihnen die Rückgabe ihrer in Dollar angelegten Sparguthabengarantieren. E inige Tage später kam es zu einer Unterredung zwi-schen VertreterInnen der Bewegung und dem Leiter einer Delega-tion des IWF, die sich zu der Zeit in Argentinien aufhielt. Nacheigenen Angaben der A horristas wurden dort »in einem herzlichenRahmen« Meinungen ausgetauscht. Und später erklärten einigevon ihnen, dass sie von dem Vertreter des Weltwährungsfonds »sehrfreundlich« empfangen worden seien.

Die Versammlungen haben sich dennoch zu Experimentier-feldern entwickelt, auf denen die Möglichkeiten autonomer Ver-waltung von unten ausgelotet werden. Sie befinden sich in einemProzess, in dem heute angemessene Formen der Emanzipationgemeinschaftlich ausgearbeitet werden. Es handelt sich um einDenken, das sich weder auf explizite Aussagen noch auf Reflexion

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Damit wird die Bewegung der Versammlungen instrumen-talisiert. Sie haben keine Bedeutung als solche, sondern dienenallein als Vehikel für die Umsetzung einer neuen Ordnung, dienach äußerlichen Kriterien organisiert wird und von einer weit-schweifigen Hierarchie durchzogen ist. Wenn auf diese Weise dieMehrheit gewonnen werden soll, dann besteht kein Interesse ander Vielzahl konkreter Prozesse. Zusätzlich verschließt man sichdem eigentlichen Wert der Versammlungen als spezifischer politi-scher Erfahrung. Die traditionelle politische Subjektivität torpe-diert so das Funktionieren der Versammlungen als Instanzen einereffektiven Gegenmacht in den Stadtvierteln – woraus sich Prozes-se der Veränderung und neue Alternativen ergeben – und verwan-delt sie im Namen einer abstrakten »Politisierung« zu bürokrati-schen Hindernissen.

Wenn die politische Subjektivität von einer schon totalisiertenTotalität ausgeht, so handelt dagegen der neue Protagonismus aufder Basis eines Nicht-Wissens über die Situation. Dies drückt kei-ne Ignoranz aus, sondern die tiefe Überzeugung, dass es kein uni-verselles Wissen gibt, welches auf die verschiedensten Situationenanwendbar wäre. Der neue Protagonismus handelt für die Über-windung des Bestehenden, für Selbstbestätigung und die Produk-tion von Sinn. Zu betonen, dass es keine »Linie« gibt, will nichtheißen, dass es nichts zu tun gäbe. Im Gegenteil zeigt es nur an,dass die gegenwärtige Praxis in der Lage sein muss, das Noch-nicht-Dagewesene und Unsichere dieses Suchprozesses zu akzep-tieren.

Sind einmal die klassischen Deutungsmuster überwunden, sosehen sich die Kämpfe und Erfahrungen, die neue Formen dersozialen und individuellen Existenz produzieren, jeder Zukunfts-garantie beraubt. Entledigt haben sie sich jedoch auch des ab-strakten Wissens über das, was zu tun sei, d.h. der herkömmli-chen Weise des politischen Denkens. So wird ein Untergrund ge-schaffen, auf dem Neuschöpfungen an der Tagesordnung sind.

Da sein

In der Cafetería einer Tankstelle des Stadtviertels Floresta in BuenosAires sahen drei Jugendliche im Fernsehen einen Bericht über einenächtliche Demonstration, die auf die Plaza de Mayo einmündete.Es handelte sich um den ersten massiven und spontanen Cacerolazo

größte Gefahr darin, der Illusion zu verfallen, es handle sich hierum eine alternative Form der Macht.

Wie gezeigt worden ist, folgt »die Politik« den Imperativen derIdeologie der Inklusion, ohne dabei die tief greifenden Verände-rungen der sozialen, politischen und ökonomischen Reproduktions-verhältnisse in Betracht zu ziehen. Wenn Politik sich als Vermittle-rin zwischen sozialen Kämpfen und dem sich im Staat verdichten-den System der Repräsentationen versteht und sich auf der Höhedes realen Denkens und der authentischen Befreiungskämpfe be-finden möchte, muss sie »über die Politik hinaus« gehen. Dazugilt es zu verstehen, wie die klassische politische Subjektivität ope-riert, warum sie zum Hindernis für den neuen Protagonismus derVersammlungen geworden ist und wie die Bewegung in dieserDebatte den konkreten Inhalt ihrer Losungen herausarbeitet.

Die politische Subjektitivät – Parteien, politisch Organisierte,Intellektuelle und Gruppen, die sich zur Avantgarde berufen füh-len – handelt in der insgeheimen Überzeugung, dass es der Bewe-gung der Versammlungen an einer richtigen Führung mangelt.Die konkreten Projekte, die in den nachbarschaftlichen Zusam-menhängen entstehen, werden gegenüber den strategischen Ori-entierungen sowie den politischen Programmen als zweitrangigangesehen. Die Versammlungen selbst werden aus dieser Perspek-tive weniger als einzigartige Erfahrungen betrachtet, die alle anihnen Teilnehmenden sowie das ganze Stadtviertel verändern, son-dern wie eine Basisorganisation, die eine in den revolutionärenPlänen vorgesehene Rolle zu spielen hat. In fast allen diesen Ent-würfen soll sich die gesamte Praxis der Versammlungen den An-forderungen der »Machtfrage« unterordnen, was den eigentlichenMaßstab dafür darstellt, inwieweit eine Versammlung den Interes-sen der Partei entspricht.

So wird die politische Konfrontation verabsolutiert und als höch-ster Ausdruck des Bewusstseins und der Radikalisierung angese-hen, ohne der Selbstbestätigung, die jeder politische Prozess vor-aussetzt, Aufmerksamkeit zu schenken. Letztlich werden die Ver-sammlungen nicht von innen heraus betrachtet. Ihnen wird keinGlauben geschenkt und kein Wert beigemessen. Sie gehen weiter-hin von einem generalisierenden Denken aus, das kollektive Zielenach einer – dem konkreten Ablauf der Ereignisse enthobenen –Parteirationalität beurteilt, um dann die Versammlungen diesenEinschätzungen unterzuordnen.

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Dieser Bezug auf das Innere der eigenen Situation begründetdie räumliche und zeitliche Immanenz der Versammlungen. Diedort vollzogene Denkarbeit findet ausgehend von einem Prozessstatt, in dem sich die verschiedenen Positionen ausdifferenzieren,in dem sich zwischen diesen neue Gleichgewichte herstellen, ohnejemanden auf endgültige Positionen festzulegen. Dadurch werdenunnütze Brüche vermieden, die oft durch völlig imaginärenarzisstische Differenzen herbeigeführt werden. Hingegen verwan-deln sich Versammlungen, die diese Anforderungen »erfolgreich«umgangen haben und auf Basis von billig erzielten Konsensen funk-tionieren, in bürokratisierte Räume, in denen zahlreicheInhaberInnen winziger Machtareale wie »Stadtteil-Tyrannen« re-gieren. Erneut entzündet sich die Debatte an der Frage der politi-schen Subjektivität: eine Versammlung zu dominieren heißt, sie zuannullieren.

Als Mechanismus kollektiven Denkens dehnt sich die Stadtteil-versammlung aus. Ihre Einheit ist keine abstrakte Losung, son-dern die Wirklichkeit der Vielfalt, ihre konkreten Aufgaben beste-hen darin, eigene Räume, Terrains und Zeiten zu schaffen. Dievon den Versammlungen eingeforderte Autonomie – und im All-gemeinen jede Erfahrung von Gegenmacht – ist der Weg, um diekollektive Praxis aus sich selbst heraus zu schaffen.

Versammlungen und Straßenblockaden

Eine andere Losung der Bewegung lautet: »Piquetes und Cacerolassind derselbe Kampf!« Die Kämpfe der Piqueteros begannen schonvor dem Entstehen der Versammlungen im Verlauf des Dezember-aufstands damit, städtische Straßen und Landstraßen zu besetzen.Diese Aktionen waren wegweisend für die heutigen Versammlun-gen, und diese haben unzweifelhaft von jenen Praxiserfahrungengelernt. Hierin besteht die Verbindung zwischen beiden Aktions-formen. Die Straßenblockaden zeigten, was heute die Versamm-lungen bestätigen: dass neue Formen der gesellschaftlichen Inter-vention im Kampf um Gerechtigkeit entstehen, die nicht mehrauf die Erneuerung der politischen Parteien oder der Regierungs-eliten abzielen.

Straßenblockaden und Versammlungen sind verbindende E le-mente eines diffusen Netzes. Sie erkunden über die eingeschliffenenTraditionen hinausweisende Formen öffentlicher Einmischung.

nach dem Aufstand. Auf einmal zeigte der Bildschirm, wie dieMenge einen Polizisten verprügelte. Die Jugendlichen begannendies zu feiern. Als ein anwesender Polizist das sah, zog er seineWaffe und erschoss die Jugendlichen. Am darauf folgenden Tag –es war noch im Jahr 2001 – kam es in diesem Stadtviertel zurersten Versammlung. Die versammelten NachbarInnen diskutier-ten die möglichen Vorgehensweisen: Protestschreiben, Festivals,Unterschriftensammlungen und Treffen mit VertreterInnen derRegierung. In diesem Moment fiel ihnen auf, dass sich dieFreundInnen der ermordeten Jugendlichen abseits hielten, ohneihre Meinung zu äußern. Im Stillen planten sie, das den Mörderdeckende Polizeikommissariat dem Erdboden gleich zu machen.Die besorgten NachbarInnen baten die Jugendlichen, das Wort zuergreifen und zu erklären, was die Versammlung ihrer Meinungnach unternehmen solle. In diesem Augenblick ergriff einer vonihnen das Megafon und sprach die folgenden Worte: »Was ihr inder Versammlung diskutiert, interessiert mich nicht besonders.Worum es geht, ist da zu sein. Ich weiß nicht wie, aber wir müs-sen da sein, und zwar täglich!«

Diese Geschichte spricht Bände über den Charakter der sichnach dem Aufstand des 19. und 20. Dezember abspielenden Er-eignisse. Wir beziehen uns auf den radikalen Verfall der Repräsen-tationen – als Vorbedingung eines minimalen Sinns für die kollek-tive Schaffung neuer Lebensformen. Die Forderung der Jugendli-chen ist weitgehend: da sein, schweigen, begleiten. Es geht nichtum die Absetzung der Worte, sondern um den weniger unüber-legten Gebrauch derselben als Voraussetzung für einen nicht-re-präsentativen Diskurs in der Situation. E s geht nicht darum,InterpretInnen oder politische FührerInnen herbeizurufen. Es be-darf keiner runden Tische und auch keiner Meinungsäußerung.Nur die körperliche Anwesenheit, um zu sehen, was passiert.

Diese Forderung weist auf eine ethische Bewegung hin, die neueHandlungs- und Verständnisformen nötig macht. Diese E thikimpliziert, dass die Theorie nur eines von vielen Elementen dar-stellt und weder die Situation »anführt« oder erklärt noch fertigeRepräsentationen derselben produziert. Der neue Protagonismuslässt so eine Rationalität aufscheinen, die von einer Mannigfaltig-keit ausgeht, vom Verzicht auf jedes bewusste Zentrum, jede äu-ßere Führung, jedes Zukunftsversprechen und jedes die Gegen-wart organisierende Modell.

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nutzt, um zum einen die »Mittelschicht« – die E ingeschlossenen –zu beschuldigen, weil sie sich nicht engagierten, bis es ihnen selbstan den Geldbeutel ging, und um zum anderen zu bestätigen, dassdie Ausgeschlossenen sich schon vorher bewegten, weil sie eben nichtsim Geldbeutel hatten. Es kommt zu einer Neuauflage der sozialenArbeitsteilung beim politischen Engagement zwischen Versamm-lungen und Straßenblockade: Die »gebildeten« Mittelklassen hät-ten demnach die kulturelle und ideologische Führung einer Be-wegung inne, in der die Ausgeschlossenen bloße »Stoßtruppen«oder BefehlsempfängerInnen darstellen. Eingeschlossene und Aus-geschlossene, Mittelklassen und Arbeitslose – oder Arme – werdenso zu Kategorien eines Denkens, das die Politik als eine ideologi-sche Operation der Einschließung begreift, wobei vergessen wird,das die Norm selbst immer ausschließend ist. Sie anzustreben heißtimmer schon, unsere Existenz zu verarmen.

Eingeschlossene und Ausgeschlossene stellen also täuschendeKategorien dar. Es gibt keinen anderen Platz für die Ausgeschlos-senen als genau den, den sie heute einnehmen, und zwar an denRändern der Gesellschaft. Es gibt keine gegenwärtige und auchkeine zukünftige Integration für diejenigen, die nicht mehr passivder materiellen, intellektuellen und spirituellen Verarmung deseigenen Lebens zuschauen möchten. Der Glauben an die Klassen-determiniertheit, wie er in den Wendungen »wir sind die argenti-nische Mittelklasse« oder »die ArbeiterInnen und ihre Interessen«zum Ausdruck kommt, hat zur Folge, das neu Entstandene zuverarmen und die aufscheinende Vielfältigkeit auf die ökonomi-schen Bedingungen zu reduzieren, aus der sie herstammt. DiePiqueteros und A sambleístas stehen demgegenüber in einemSuchprozess nach Formen, eine reale und nicht durch einen öko-nomischen Reduktionismus begrenzte Autonomie zu erlangen.Diese einseitige Rückführung der Mannigfaltigkeit der Bewegungauf die jeweilige Klassenzugehörigkeit ist die Methode, welche dieetablierte Macht benutzt, um jede einzelne Klasse im Spiel derPolitik – der Parteien, der KandidatInnen und Regierungsmitglieder– zu repräsentieren. Auf diese Weise riskiert die Bewegung, dassdie von ihr entfesselten Energien aufgesogen werden.

Ausgehend von den Dezembertagen nahm etwas neue Gestaltan. Wir sind Zeugen äußerst heftiger Kämpfe. In ihnen geht esvor allem darum, eine seit Jahrzehnten misshandelte Würde zurück-zuerlangen.

Darin besteht der Reichtum der gegenwärtigen Bewegung. Straßen-blockaden und Versammlungen haben ihre jeweiligen Forderun-gen, doch die Bewegung erschöpft sich nicht darin, deren Einlö-sung zu fordern. Die Piqueteros fordern nicht »nur« Arbeit, Essen,Rechte. Das Gleiche passiert mit den Versammlungen. Jenseitsdes soziologischen Diskurses – der PolitikerInnen, der »Intellektu-ellen« und der JournalistInnen – gründen sich diese auf demWunsch nach Gerechtigkeit und einem Protagonismus, der sichnicht in sichtbaren Erfolgen erschöpft.

Sind die Versammlungen und Straßenblockaden in der Lage,sich tatsächlich von dem Gewicht der traditionellen politischenDiskurse – seien sie »revolutionär«, »nationalistisch« oder »zivil-gesellschaftlich« – zu befreien, um auf direktem Weg als Achseneuer politischer Erfahrungen und als Ort radikaler Neuschaffungzu funktionieren? Worin besteht die Einheit von Straßenblockadenund Versammlungen?

Das Problem vieler, die für diese Einheit eintreten, besteht dar-in, dass sie diese als »politische Allianz« ansehen. Aber diese würdeauf einer Illusion beruhen. E ine Allianz, welche vorgäbe, der Man-nigfaltigkeit der Bewegung von oben her eine angebliche Kohä-renz zu verleihen, entspräche keinesfalls den diesem Prozess inhä-renten Potenzialen. Die Versammlungen und Straßenblockadenentwickeln sich unter je eigenen Bedingungen. Aber ohne Zweifeltreffen sie sich in vielen grundlegenden Aspekten. Obwohl sie sichin ihren Forderungen voneinander unterscheiden, so vereint siedoch die gemeinsame Erfahrung, neue Partizipationsformen insLeben gerufen zu haben, die den Keim eines tiefer gehenden Aus-tausches der Menschen untereinander in sich tragen. Warum solldann diese Einheit nur »politisch« sein? Warum sich zukünftigegemeinsame Treffen zwischen Piqueteros und Asambleístas nur inden Formen vorstellen, wie sie die traditionelle politische Reprä-sentation vorsieht?

Man spricht von einem »Klassenbündnis« zwischen Arbeitslo-sen und Mittelklasse: Piquetes und Cacerolas. Auf einmal analysie-ren die etablierten Mächte die Geschehnisse in einer pseudo-mar-xistischen Sprache. Herangezogen werden Konzepte wie sozialeKlassen, materielle Interessen und Bewusstseinslagen, die vor al-lem durch die Stellung im Produktionsprozess bestimmt werden.

Das Modell des »Klassenbündnisses« verschleiert die sich voll-ziehenden Prozesse eher als dass es sie erhellt. Es wird dazu be-

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blem besteht darin, dass ich bisher noch keine Bewegung kennengelernt habe, die es hätte verhindern können, in irgendeiner Wei-se durch die Tuchfühlung mit dem Staat »kontaminiert« zu wer-den. Auch wer sich nicht als Partei an Wahlen beteiligt, fordertdoch etwas vom Staat oder stellt Bezüge zu ihm her, indem er sichan ihn richtet oder sich ihm entgegensetzt.

Manche vergleichen die Geschehnisse des 19. und 20. Dezem-ber mit dem Santiagueñazo oder dem Cutralcazo in den Jahrenzuvor (vgl. Chronik). In Wahrheit ist alles miteinander verknüpft,denn es handelt sich um Erfahrungen, die sich in gewisser Weiseanhäufen. Wer jedoch die Parallelen zieht, ohne das Neue der ak-tuellen Situation herauszustreichen, zieht daraus wenig Nutzen.So riefen zum Beispiel alle staatlichen Organisationen zumSantiagueñazo auf. Demgegenüber handelt es sich bei den De-zembertagen um etwas ganz Anderes. Es gab hier keine Führungs-persönlichkeiten, keine Referenzpunkte, keine vorhergehende Pla-nung, keine Organisation, noch nicht einmal Mund-zu-Mund-Propaganda, keine Telefonanrufe, um sich an einer bestimmtenStraßenecke zu treffen. Nichts von alledem. Es war ein völlig spon-tanes und simultanes Ereignis. Ich bin sogar der Überzeugung,dass die Analyse beim Versuch der Konzeptualisierung der Ge-schehnisse selbst Gefahr läuft, diese zu verdinglichen. Die Her-ausforderung besteht darin, von innen her zu denken, denn Zu-hören heißt nicht, in Schweigen zu verharren.

Ich frage mich, ob im Slogan des 19. Dezember Que se vayantodos die Bevölkerung sich nicht erneut als verfassunggebendeGewalt begreift, die sich wieder in die verfasste Gewalt verwan-delt, sobald sie diese delegiert hat. Ich befinde mich zum Beispielauf der Plaza de Mayo inmitten kochtopfschlagender Menschen,und aufgrund einer in den Leuten fest verankerten politischenKultur sehen diese mich als einen Referenzpunkt oder sogar alsden zukünftigen Präsidenten. Und abgesehen davon, dass dies ingewisser Weise meinem Ego behagt, widerstrebt es mir doch zu-tiefst. Dasselbe passiert, wenn sie mich in einer Versammlung zumReden auffordern, mir zuhören, mich fragen und mich in denMittelpunkt des Treffens verwandeln. Manchmal verstecke ich michhinter dem Größten der Anwesenden, damit sie mich nicht sehen.Andere Male versuche ich zu debattieren, zu dialogisieren, demThema nicht auszuweichen und zu diskutieren, in welche Rich-tung wir weiter nachforschen müssen und worin unser Macht-

Luis Zamora

Eine paradoxe Situation: die Repräsentationvon der Repräsentation aus negieren

Wir befinden uns in einer paradoxen Situation, seit wir uns ent-schieden haben, das repräsentative System in der politischen Aus-einandersetzung zu nutzen, um die Repräsentation selbst in Fragezu stellen. Hier ist alles unerkundetes Terrain. Es handelt sich umeinen Versuch, bei dem es mehr falsche als richtige Ergebnissegibt. Aber vor allem heißt dies, in Fragen zu denken, fragend aufdem Weg zu sein sowie alle Anregungen und Hindernisse in Be-tracht zu ziehen. Seit den Tagen des 19. und 20. Dezember gibt esein Mut machendes Element: Die Bevölkerung selbst macht Poli-tik, als ein Subjekt oder Individuum, das etwas zum kollektivenGanzen beiträgt. Damit wird die Ansicht widerlegt, dass Politiknur für wenige da sei. Obwohl die Bewegung sehr heterogen ist,eröffnen sich verschiedene Perspektiven: Es gibt diejenigen, die esleid sind, weiterhin von anderen geführt zu werden, und diejeni-gen, die nach neuen Führern Ausschau halten, an denen sie sichorientieren können. E s handelt sich um eine Keimzelle desInfragestellens, etwas sehr Embryonales. Zur gleichen Zeit bestehtdie verallgemeinerte Kultur des Delegierens fort. Aber das, was bisvor kurzer Zeit noch einen abstrakten gegenkulturellen Kampfdarstellte, der oft nur in den Köpfen existierte, beginnt sich heutezu konkretisieren. Wir haben so etwas wie eine Formel entdeckt,um nicht in die Falle der klassischen Organisationen zu tappen: inden Institutionen des Staates dasselbe zu sagen, was wir auch alsNachbarn in einer Versammlung, bei einem Cacerolazo oder aufeiner Demonstration vertreten. Damit können wir die Herausbil-dung einer Gegenkultur befördern, die Anklage, radikale Kritikund eine öffentliche Reflexion über gesellschaftliche Gegenent-würfe beinhaltet. In diesem Sinne scheint mir die Nutzung derstaatlichen Instanzen von Interesse zu sein, obwohl dies immernur in der Art einer Sondierung stattfinden kann. Denn vielleichtgelangen wir in einen bestimmten Moment zu der Schluss-folgerung, dass dieser Spielraum nicht mehr existiert. Das Pro-

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werden, dass die Bevölkerung bereits ausdrücklich und allgemeindas repräsentative System in Zweifel zieht. Obwohl bei den Aktio-nen die Idee mitschwingt, etwas Neues oder zumindest etwas An-deres zu begründen.

Der Cacerolazo ist auch weiterhin mit einer Kraft ausgestattet,die von unten her entstanden ist. Obwohl nicht mehr spontan,sondern mittlerweile organisiert, hat er doch weiterhin die Bedeu-tung eines Kräfteringens. Man kann die kühne These vertreten,dass dieses »Alle sollen abhauen!« durchaus wörtlich gemeint ist,dass abhauen soll, was die Staatsmacht darstellt. Ich denke nichtetwa, dass die Machtergreifung in handgreiflicher Nähe sei, wieeinige linke Organisationen dies sehen, noch dass dies überhauptdas Ziel sein kann. Wenn man demgegenüber in Begriffen derZerstörung der Staatsgewalt denkt, auf Wegen, die es noch zu er-forschen gilt, so enthält dies etwas Neues, auch wenn es noch nichtin allzu naher Zukunft liegt. »Abhauen« oder »Bleiben« ist Teileines größeren Zusammenhangs: die Debatte darüber, wozu wirParlamentsabgeordnete dienen. Wir begannen zu tun, was wir imWahlkampf versprachen: mit Nachdruck auf die Selbstbestimmungzu pochen, das repräsentative System öffentlich zu kritisieren, dieBarbarei des Kapitalismus anzuklagen. Die Probleme entstehenbei der praktischen Umsetzung dieser Vorsätze, wenn etwa zu be-obachten ist, dass in der Versammlungen der Bewegung ein denpolitischen Parteien und deren Apparaten eigenes Taktieren vor-zufinden ist. Was sind die Versammlungen? Denn die Versamm-lungen sind ja nicht zur Klärung da, was wir im Parlament tunsollen.

Wenn die Versammlungen der Asambleas im Parque Centenario

zusammenkommen, so haben meiner Beobachtung nach geradehier die bürokratischen Apparate den größten Einfluss, weil schonwieder das Repräsentative vorhanden ist und sich die Organisati-onsform des Staatsapparates mit der Ebene der Parteien verknüpft.Welchen Weg weisen uns aber, wenn wir intuitiv urteilen, die selbst-organisierten Versammlungen? Ich denke, dass man in Richtungeines Je-diffuser-desto-besser gehen sollte, weil dies mehr Autono-mie, Stärke und interne Verknüpfungen beinhaltet. Wie Chomskysagte, als er gefragt wurde, wie die Antiglobalisierungsbewegungorganisiert werden solle: »Organisieren? Ich bin mir nicht sicher,ich denke, dass wir uns mit einem wechselseitigen Verständniszufrieden geben sollten.« Mich fasziniert der Begriff Verständnis –

potenzial besteht, um sich der staatlichen Gewalt entgegenzuset-zen: In der Suche nach einer nicht korrupten Person, die einenBezugspunkt für alle darstellt, oder in der Herausbildung einerGegenmacht, d.h. einer Politik in Händen der Bevölkerung.

Kurze Zeit nach dem Aufstand gab es eine Debatte im Kongress.Es wurde eine Untersuchungskommission über die Kapitalfluchteingerichtet, die von der Mehrheit des Abgeordnetenhauses un-terstützt wurde. Für uns stellte sich die Frage: Wie würden wir ineiner Versammlung argumentieren, wenn wir uns unter denBewohnerInnen eines Stadtviertels befinden würden? Ich versetz-te mich in die Situation, dass vor mir nicht Parlamentsabgeordne-te, sondern TeilnehmerInnen einer Stadtteilversammlung sitzenwürden. Dies war ein Hilfsmittel, zu dem man greift, um sich desenormen Drucks zu entledigen, der im Ambiente des Kongressesausgeübt wird.

Und ich begann zu den Abgeordneten zu sprechen: Besitzen sieüberhaupt die Glaubwürdigkeit, um in dieser Sache zu sprechen?Ich stellte diese Frage nach dem Sermon einer peronistischen Ab-geordneten aus Junín, dem das Wohnhaus angezündet worden war.Im Anschluss daran erhoben sich viele Abgeordnete und began-nen mich zu beschuldigen, was in all den vorangegangenen Mo-naten nicht passiert war, und es kehrte ein wenig die Zeit unterdem Präsidenten Menem zurück. Die Abgeordneten schrien michan, sie pfiffen mich aus und ließen mich nicht zu Ende reden.Hier besteht, so glaube ich, eine Parallele zwischen der in einerNachbarschaftsversammlung gemachten Aufforderung des »Allesollen abhauen!« und der Tatsache, dass ich an jenem Abend mei-ne Rede im Kongress nicht beenden konnte. Meiner Meinung nachist Letzteres ein Beispiel dafür, wie man die Repräsentation in Fra-ge stellen und die sich daraus ergebenden Debatten ausnutzen kann.Der Versuch lohnt sich in jedem Augenblick, aber besonders inMomenten, in denen der Bezug auf etwas ganz Konkretes möglichist, wie zum Beispiel eine Asamblea. Dass alle abhauen sollen, heißtfür mich, dass alle abhauen sollen, die da sind. Und dieses Mottoverteidige ich. Dies führt uns zu dem Aspekt, ob nicht nur dieMitglieder einer Institution, sondern auch die gesamte Funkti-onsweise in Frage gestellt werden sollte. Forderungen, die Korrup-ten durch Nicht-Korrupte auszutauschen, stehen auf schwachenFüßen und sind nicht in der Lage, viel Begeisterung zu wecken.Allerdings kann meines Erachtens noch nicht davon gesprochen

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etwas, was aufeinander abgestimmt ist. Und Chomsky fügte hin-zu: »Es kann einige Ziele geben, die gemeinsam entwickelt wer-den.« Dies ist schon eher dem traditionellen Denken verhaftet,aber was mich interessierte, war das mit dem Verständnis. Umsich autonom zu organisieren, benötigt es gegenseitige Abstim-mungen.

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Raúl Zibechi

Zum Produzieren braucht es keine Chefs!Besetzte Fabriken als Teil der Bewegung

Eine neue Welt entsteht auf den Trümmern der alten: ein treffen-der Satz angesichts Hunderter Fabriken, die nach dem Abzug ih-rer Besitzer, die lieber leer stehende Hallen daraus gemacht hät-ten, von den ArbeiterInnen instand besetzt wurden.

»Fabrik geschlossen, Fabrik besetzt« ist seit dem Aufstand vom19. und 20. Dezember 2001 zu einer populären Parole geworden.Nachdem sie vier Jahre Rezession ertragen haben und nachdeminzwischen die Hälfte der aktiven Bevölkerung von Arbeitslosig-keit und Unterbeschäftigung betroffen ist, erkennen immer mehrArbeiterInnen, dass sie endgültig aus der formellen Wirtschaftherausfallen, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren, und dass fürsie dann nur noch der Randbereich von prekären und schlechtbezahlten Gelegenheitsarbeiten oder das Arbeiten auf eigene Rech-nung bleibt. Tausende von ArbeiterInnen haben deshalb den Weggewählt, hartnäckig ihre Arbeitsplätze zu verteidigen, nachdemsich die Unternehmer entschieden hatten, das Schiff der Produk-tion zu verlassen und auf die Spekulation zu setzen.

Mehr als hundert Fabriken sind in Argentinien bereits von denArbeiterInnen besetzt und zum Laufen gebracht worden. Dazukommen etwa zweihundert in Brasilien – eine wirkliche Bewe-gung, die jetzt anfängt, sich mit anderen Gruppen zu koordinie-ren, die ebenfalls nach alternativen Wegen suchen. Die selbstorga-nisierte Instandsetzung von Betrieben hat Anfang der 90er Jahrebegonnen, als durch die ökonomische Öffnung des Landes vieleBetriebe auf der Strecke blieben, die nach vorheriger staatlicherProtektion nun als unrentabel galten und keinen geschützten Marktmehr hatten.

Der Anfang ist immer am schwersten. Die etwas mehr als hun-dert Arbeiterinnen der Textilfabrik Brukman, die im Stadtteil Oncein Buenos Aires Herrenanzüge hergestellt haben, waren verblüfft,als ihr Chef Ende Dezember 2001 verschwand, während das Landin Aufruhr war. Seit Monaten hatte er ihnen nur einen kleinen

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Teil des Lohns bezahlt, kaum noch einen Dollar täglich und späternur noch zwei pro Woche. Die Lohnrückstände zogen sich bereitsseit fünf Jahren hin. Als die Tage vergingen, ohne dass irgendeinGeschäftsführer aufgetaucht wäre, hielten ein paar Arbeiterinnenes für angebracht, in der Fabrik zu bleiben – Arbeiterinnen wieCelia, die vorher nicht die geringste gewerkschaftliche Erfahrunghatte und die nun auf irgendein Wunder wartete, das es ihnenermöglichen würde, weiter zu arbeiten und Lohn zu bekommen,auch wenn es nur ein Bruchteil des vorherigen wäre. In nicht we-nigen Fällen haben die Chefs das Verlassen der Betriebe von lan-ger Hand geplant. Sie schulden dem Staat und ihren ZulieferernMillionen und konnten auf Unterstützung durch die Gewerk-schaftsmafia in der staatstragenden CGT zählen.

Die Karten werden neu gemischt

In den meisten Fällen kam die Entscheidung, die Produktion wie-der aufzunehmen, erst nach einer gewissen Zeit zustande. DieEntscheidung fiel nie automatisch, sondern immer erst nach vie-len Zweifeln, Unsicherheiten und Ängsten. Manche haben mehrals ein Jahr gebraucht, um die Fabrik wieder ans Laufen zu brin-gen. E inige können auf das Material zurückgreifen, das die Unter-nehmer zurückgelassen haben, aber andere müssen erst mal Roh-stoffe besorgen; in manchen Fällen gelingt ihnen das mit Spendenund mit der Unterstützung der Bevölkerung. Kredite bekommensie fast nie, zumindest nicht in der ersten Zeit.

Abgesehen von einigen Gemeinsamkeiten, wie den rechtlichenAuseinandersetzungen, sind die Erfahrungen sehr unterschiedlich.Sie reichen von einem Bergwerk im Süden, Yacimientos CarboníferosRío Turbio mit mehr als tausend Beschäftigten, das nach drei Jah-ren Kampf wieder verstaatlicht wurde, bis zu der kleinen, abermodernen Druckerei Chilavert in Buenos Aires. Dort haben dieArbeiter verhindert, dass das Gebäude leergeräumt wurde, habenden Betrieb besetzt und mit dem Druck von Flugblättern undPlakaten für soziale Organisationen die Arbeit aufgenommen.

Solidarität ist der zentrale Ausgangspunkt, besonders am An-fang, in der so genannten ›Durchhaltephase‹ – ein Wort, das denWillen zum Kampf und zum Widerstand gegen den Druck vonPolizei und Unternehmern ausdrückt. Das zeigt sich an einemBeispiel im Norden von Buenos Aires. Im Oktober 2001 wurden

die Brotfabrik Panificadora Cinco geschlossen; die achtzigArbeiterInnen wurden ohne Entschädigung entlassen. Im Aprildiesen Jahres suchte die Nachbarschaftsversammlung des Stadt-teils, die nach den Tagen im Dezember entstanden war, nach einerMöglichkeit, billiger an Brot zu kommen, und tat sich mit einerGruppe von zwanzig Entlassenen der Panificadora Cinco zusam-men. NachbarInnen und ehemalige ArbeiterInnen besetzten ge-meinsam den Betrieb.

50 Tage lang hielten sie den Räumungsversuchen stand. DieSolidarität aus dem Stadtteil in dieser Zeit war beeindruckend:Mitglieder der Versammlung, Piqueteros und linke AktivistInnenbauten vor dem Fabriktor ein Zelt auf, um Wache zu halten, sieorganisierten drei Festivals, eine Demonstration durch den Stadt-teil, ein E scrache gegen den Unternehmer, eine Kundgebung zum1. Mai, Veranstaltungen, Diskussionen und kulturelle Aktivitä-ten.

Sie entschieden sich dafür, eine Kooperative zu bilden, und in-zwischen haben sie durchgesetzt, dass das Provinzparlament dasGebäude, die Maschinen und den Markennamen enteignet undan die Kooperative übergeben hat. Jetzt produzieren sie billigesBrot, das sie unterhalb des Marktpreises an Krankenhäuser, Volks-küchen und Leute aus dem Stadtteil verkaufen.

Staat oder Kooperativen

Durch die Bewegung zieht sich von Anfang an eine grundsätzli-che Diskussion. Welchen rechtlichen Status sollen sich die instandbesetzten Fabriken geben? Es gibt zwei Vorschläge: Staatseigen-tum unter Arbeiterkontrolle oder die Bildung selbstverwalteterKooperativen.

Der erste Vorschlag kommt von der Linken, vor allem von dentrotzkistischen Parteien Partido Obrero (Arbeiterpartei) undMovimiento Socialista de los Trabajadores (Sozialistische Arbeiter-bewegung), er wird aber auch von Teilen der KommunistischenPartei und der Sozialistischen Parteien geteilt. Die Idee gehört zurVorstellungswelt der internationalen kommunistischen und revo-lutionären Bewegung und besteht in der Verstaatlichung des Be-triebes, der dann später vom Staat subventioniert wird, wobei dieArbeiterInnen zu kommunalen oder staatlichen Angestellten wer-den, welche die Geschäftsleitung kontrollieren.

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Im Gegensatz dazu bedeutet der Kooperativenvorschlag, dassdie Führungsaufgaben nicht an Instanzen außerhalb des Arbeiter-kollektivs delegiert werden, sondern dass dieses selbst alle Verant-wortlichkeiten und Risiken übernimmt, bis hin zur Vermarktungder Produkte. Ein Merkmal der selbstverwalteten Kooperativenbesteht darin, dass sie sich in vielen Fällen vornehmen, die klas-sisch fordistische Arbeitsorganisation zu verändern, und dass siedie Vorarbeiter absetzen und manchmal auch die Rolle der Vorar-beiter an sich in Frage stellen.

Bisher hat sich die Mehrheit dafür entschieden, Kooperativenzu bilden. 2001 wurde das Movimiento N acional de E mpresasRecuperadas (MNER, Nationale Bewegung der instand besetztenBetriebe) gegründet, in der etwas über sechzig selbstverwalteteBetriebe zusammenkommen. Ihr Vorsitzender Jorge Abellí meint,»dass es nicht gerade angesagt erscheint, die Betriebe, die wir be-setzt und mit großer Anstrengung ans Laufen gebracht haben, die-sem mafiosen Staat zu übergeben«. Abellí gehört zu einer Geflü-gel-Kooperative in Rosario, die 1998 geschlossen wurde, wobeidie hundert Arbeiter auf der Straße landeten. Seit 1999 produzie-ren sie für den kleinen Binnenmarkt.

Bei den instand besetzten Betrieben sind alle Branchen der Pro-duktion vertreten: Die größten sind die Metall- und Stahlbetriebe,es gibt Zeitungen und Druckereien, aber die meisten gehören zurLebensmittelbranche. Im Durchschnitt haben sie siebzig Beschäf-tigte und sind über das ganze Land verteilt. »Es ist was anderes,einen kleinen Betrieb mit 15 ArbeiterInnen zu betreiben oder diegrößte Traktorenfabrik des Landes«, meint Abellí. E r bezieht sichauf einen beispielhaften Betrieb: auf Zanello in der Provinz Córdoba,eine große Traktorenfabrik mit 400 Arbeitern, die einzige Traktoren-produktion in Argentinien. Am 28. Dezember 2001 wurde derBetrieb per Gerichtsurteil den Beschäftigten übergeben. Im Fe-bruar brachten sie ein neues Modell auf den Markt, das die Arbei-ter gemeinsam mit den Technikern auf der Grundlage eines findi-gen Abkommens entwickelt hatten. Sie schmiedeten eine ›strate-gische Allianz‹, eine Aktiengesellschaft, die zu gleichen Teilen denzur Zeit 280 Arbeitern der Kooperative, dem technischen undLeitungspersonal, das auf diese Weise ein höheres Einkommenerzielen kann als in der Arbeiterkooperative, sowie den Konzessio-nären gehört, die das Kapital zur Wiederaufnahme der Produkti-on eingebracht haben. Im März konnten sie zwei Traktoren mon-

tieren und verkaufen, und zur Zeit produzieren und verkaufen sietrotz der Krise schon jeden Tag einen, zu einem Preis, der dreißigProzent unter dem der Traktoren von John Deere liegt. Dies ist einanderer ungewöhnlicher Weg, aber wenn es um Großbetriebe mitfortgeschrittener Technologie geht, die große Investitionen erfor-dern, gibt es anscheinend keine einfachen Lösungen.

Abgesehen von dem fehlenden Kapital für Material, stellt dieVerwaltung ein weiteres großes Problem dar. Wenn Betriebe ge-schlossen werden, sind die Verwaltungsangestellten die ersten, diesich aus dem Staub machen. »Unsere Verwaltung ist prekär, abertransparent und demokratisch«, sagt Abellí. Viele selbstverwalteteBetriebe haben sich dafür entschieden, jeden Freitag Lohn auszu-zahlen, und machen gleichzeitig einen Aushang mit den Einnah-men und Ausgaben, damit jedes Kooperativenmitglied über dieFinanzen Bescheid weiß. Die MNER hat mit der Vereinigung derKlein- und Mittelbetriebe und mit der Technischen Universitätvon Buenos Aires ein Abkommen zur Unterstützung der Ausbil-dung von Verwaltungs- und Führungspersonal geschlossen.

Solidarische Ökonomie

Bei der Vermarktung gehen die Betriebe davon aus, dass der Kon-sument der beste Verbündete ist. Deshalb appellieren sie an dieNachbarschaftsversammlungen und andere Teile der Bewegung,auf einen ›bewussten Konsum‹ umzustellen. Sie stützen sich aberauch auf die Kommunen und versuchen, Krankenhäuser und Schu-len zu beliefern.

Die Beispiele selbstverwalteter Produktion gehen über die Fa-briktore hinaus und breiten sich tendenziell in der ganzen Basis-bewegung aus, wie z.B. bei der Nachbarschaftsversammlung imStadtteil Parque Avellaneda, einem relativ zentralen Stadtteil vonBuenos Aires. Anfang Juni besetzten die organisierten Nach-barInnen die leer stehende Kneipe Alameda, renovierten sie undrichteten mit Unterstützung anderer Asambleas eine Volkskücheein, zu der inzwischen mehr als 120 Leute kommen. Sie backenselbst Brot, kochen und haben jetzt eine Kooperative gebildet, dieBrot produziert und an Volksküchen und BewohnerInnen des Stadt-teils verkauft und die gerade anfängt, Reinigungsartikel zu niedri-gen Preisen zu produzieren. In der instand besetzten Kneipe gibtes zwanzig Arbeitsgruppen, von Nachhilfeunterricht für Kinder

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bis zu ökologischem Gartenbau, Tanz, Keramik, Yoga, alternati-ven Medien und Tischlerei. Außerdem haben sich die Nach-barInnen in acht Kommissionen organisiert, die sämtliche Aufga-ben in diesem Kultur- und Produktionszentrum übernehmen.Darüber hinaus ist ein Versammlungsraum geschaffen worden, einOrt, an dem etwa dreißig Asambleas aus der Hauptstadt und derProvinz zusammenkommen, die vor ähnlichen Fragen stehen. DieNachbarschaftsversammlungen, die mit gemeinschaftlichen Ein-käufen und Erfahrungen von Tauschhandel angefangen haben,begeben sich so auf das Gebiet der Lebensmittelproduktion, ande-re trauen sich an den Versuch der Medikamentenproduktion her-an, und wieder andere begeben sich an den Eigenbau von Woh-nungen.

Auf Initiative des Zentrums haben in der ehemaligen Kneipeim Juli und August zwei Treffen zur Solidarischen Ökonomie statt-gefunden. Es waren breite Treffen, mit Beteiligung der Vertre-terInnen von Asambleas, Piqueteros, selbstverwalteten Fabriken undGruppen von StudentInnen. Insgesamt vierzig Delegationen be-schlossen, ein Unterstützungsnetz für Leute aus dem Stadtteil auf-zubauen, die von Zwangsräumung bedroht sind.

Mit ihren Beschlüssen, die in der Zeitung Alameda publiziertwurden, nehmen sie sich vor, »sich gemeinsam gegen die Angriffevon oben zu verteidigen und durch die Besetzung von verlassenenFabriken, brachliegenden Grundstücken und leer stehenden Häu-sern Wege zu Arbeit und Würde zu finden«. Sie stellen fest, »dassder Wind sich allmählich zugunsten der Kleinen dreht«, und ru-fen dazu auf, »die Kräfte zu bündeln, damit die Mächtigen unsnicht spalten«.

E in interessanter Punkt sind die Verbindungen zwischen denInitiativen. Die Asambleas produzieren in derselben Weise wie schonvorher die Piqueteros von Solano im Stadtteil Quilmes; beide tunsich mit den selbstverwalteten Fabriken zusammen in der Hoff-nung, Produkte tauschen zu können. Mit vereinten Kräften ler-nen sie aus den Erfolgen und Misserfolgen jedes Einzelnen; siesind sich einig in der Solidarität mit der Keramikfabrik Zanon, imweit entfernten Süden, die eine von den Mapuches entworfeneKachel auf den Markt gebracht haben usw. Das Netz wird von Tagzu Tag dichter, es ist ein Kommen und Gehen, es verflechtet undverknotet sich, man trennt und vereint sich wieder.

Die Welt verändern

Beispielhaft ist die Geschichte der Fabrik Industrias Metalúrgicas yPlásticas de A rgentina (IMPA), die mitten in Almagro liegt, einemnormalen Wohnviertel von Buenos Aires. Sie wurde 1918 vonDeutschen als Kupfergießerei gegründet. 1935 war sie das ersteAluminium produzierende Unternehmen, und am Ende des Zwei-ten Weltkriegs wurde sie unter der Regierung von Juan DomingoPerón verstaatlicht. Bei IMPA wurden die einzigen Düsenflugzeu-ge Lateinamerikas hergestellt und die Fahrräder, mit denen dieargentinischen Kinder spielten. 1961 machte die Regierung eini-ge Betriebsteile zu und beschloss die Umwandlung in eine Koope-rative, die aber von der Geschäftsleitung immer wie ein Privatun-ternehmen geführt wurde.

Mitte der 90er Jahre begann der Aluminiummonopolist A luareinen unlauteren Konkurrenzkampf gegen IMPA. Aluar stellt dieVorprodukte für Alufolie her, die in den letzten Jahren das Haupt-produkt von IMPA war. Ende 1997 waren von den mehr als 500Arbeitern, die in diesem Betrieb gearbeitet hatten, nur noch eineHandvoll übrig. Angesichts der unmittelbar bevorstehenden Schlie-ßung – der Strom war bereits wegen unbezahlter Rechnungenabgeschaltet – besetzten sie mit Unterstützung einiger Gewerk-schafter den Betrieb, richteten mit Hilfe von BewohnerInnen undHändlern aus dem Stadtteil eine Volksküche ein, schmissen diealte Geschäftsleitung raus und wählten einen neuen Verwaltungs-rat.

Sie beschlossen, die Produktion wieder aufzunehmen. Sie wa-ren gerade noch 15 Arbeiter (heute sind sie 136), beschafften sichRohstoffe, die sie wiederverwerten konnten, und heute sind sieein wichtiger Bezugspunkt für die ganze Bewegung. Es gab zweieinschneidende Entscheidungen: Aluminiumschrott zu kaufen, umKosten zu senken und der Konkurrenz von A luar zu entgehen,trotz der Skepsis sämtlicher Beschäftigten, die meinten, dass sienicht qualifiziert genug wären, um mit wiederverwerteten Roh-stoffen zu produzieren, was ihnen auch die Ingenieure sagten. Diezweite Entscheidung betraf die älteren Beschäftigten. »Wir hattenimmer Arbeit für 80 bis 90 Personen, aber wir beschäftigen 136,weil hier viele Alte sind, denen sie die Rente geklaut haben, unddie helfen hier mit, fegen, machen sauber, machen nach ihrenKräften mit. Das war ein Beschluss der Versammlung, die der

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Meinung war, dass es würdiger wäre, dass sie in der Fabrik blei-ben, in der sie 30 oder 40 Jahre verbracht haben, als dass manihnen eine Unterstützung zahlt und sie zu Hause bleiben«, sagtder Vorsitzende der Kooperative, Oracio Campos, ein Mann von65 Jahren mit indigenen Zügen. E r sagt das mit ergreifender Auf-richtigkeit, einfach so, ohne zu merken, dass er damit jeglicheWirtschaftstheorie und sogar das Fortbestehen des Projektes inFrage stellt, um auf einer Menschlichkeit zu bestehen, die sie›Klassensolidarität‹ nennen.

Sie halten Informationsversammlungen ab, haben die Vorar-beiter durch Abteilungs- oder Werkstattkoordinatoren ersetzt, diefür die Arbeitsverteilung zuständig sind, und sie haben einige Grup-pen gebildet, um die Arbeit zu demokratisieren. Aber sie sind nichtnaiv: »In einigen Abteilungen gibt es hierarchische Strukturen,denn der Markt erfordert schnelle Entscheidungen, da bleibt fürnichts Zeit«, erklärt Eduardo Murúa, ein ehemaliger Gewerkschaf-ter von 41 Jahren, der die Funktion eines Geschäftsführers hat.IMPA produziert heute vor allem Einweggeschirr, Zahnpastatu-ben, Keksverpackungen und Tabletts für Catering.

In Bezug auf die Arbeitsorganisation kommt es in den einzel-nen Betrieben zu unglaublichen Veränderungen. E ine Arbeiterinvon Brukman erklärt mit Nachdruck: »Jetzt herrscht größere Frei-heit bei der Arbeit, wir arbeiten kollegialer zusammen, vorher warenwir nach Stockwerken getrennt, jetzt sind wir alle zusammen undorganisieren uns selbst.« Die Arbeiterinnen haben entschieden,die Zuordnung der Maschinen zu verändern, und haben damitdas alte Kontrollsystem über den Haufen geworfen. Abellí ist da-mit einverstanden, dass die ›Laster des Kapitalismus‹ bekämpftwerden müssen, aber er schlägt den unvermeidlichen Bogen zurRealität: »Die Produktion kann kein ständiger Diskussionsprozesssein.«

Die wichtigste Initiative von IMPA, die sie von anderen unter-scheidet und auf die Dario Fo neidisch wäre, ist die Einrichtungder Stadt-Kultur-Fabrik (L a F ábrica Ciudad Cultural). Seit etwavier Jahren betreiben sie ein selbstverwaltetes Kulturzentrum, dasvon einer Gruppe von vierzig Jugendlichen geleitet wird. 35 Kurseund Workshops finden dort statt, sowie Feste, Kino- und Theater-vorstellungen und was es sonst noch an Ideen gibt.

Tatsächlich begann das Projekt, als sie angesichts der mehr alszwei Millionen US-Dollar Schulden, die sie bei der Nationalbank

haben und die zur Zwangsversteigerung führen könnten, die Soli-darität der NachbarInnen und der sozialen Bewegungen brauch-ten. »Danach haben wir begriffen, dass das eine Möglichkeit war,der Gesellschaft für die enorme Solidarität, die wir bekommenhaben, etwas zurückzugeben«, sagt Murúa. Campos lacht und er-innert an das Auftauchen der ersten Punks, mit ihren Punker-frisuren und Ringen, von denen die Arbeiter nichts wissen woll-ten. Heute essen sie alle zusammen in der Kantine, die sie nachAzucena Villaflor de Devicenti benannt haben, der verschwunde-nen Gründerin der Mütter von der Plaza de Mayo, die auch Me-tallarbeiterin gewesen war.

Wer gegen Abend in die Fabrik kommt, wenn die Produktionlangsam eingestellt wird und die Jugendlichen eintreffen, kommtaus einer lauten Werkshalle, wo verdreckte Arbeiter Maschinenbedienen, die Aluminiumtuben ausspucken, in anliegende, durcheinen kleinen Gang abgetrennte Räume, wo sich eine Gruppe vonStudenten in völliger Stille zum Aktzeichnen um ein Modell schart.Sie geben die Zeitschrift IMPActo heraus und können auf einigesstolz sein. 2001 hat hier das Internationale Filmfestival von BuenosAires stattgefunden, und 1998 kam Orlando Borrego, ein Genos-se von Che Guevara in der Sierra Maestra, um die erste Veranstal-tungsreihe zu eröffnen. Die Fabrik funktioniert weiter, und sierühmen sich damit, dass es noch nie irgendeinen Zwischenfallgegeben hat zwischen Leuten von der Universität, Anarchopunks,Jugendlichen, die nackt Modell stehen, Homosexuellen und altenArbeitern und Arbeiterinnen, die nur zwei oder drei Jahre auf derSchule waren.

Das Portugiesische Krankenhaus ist vor sechs Jahren wegenKonkurs geschlossen worden. Vor zwei Wochen haben es zweiNachbarschaftsversammlungen aus dem Stadtteil Flores in BuenosAires besetzt. Die Überraschung war groß: In den vier Stockwer-ken mit Labors, Behandlungsräumen und Bettensälen waren nochfast alle Apparate intakt, sogar die der Intensivstation.

Innerhalb weniger Tage kamen die Leute von DutzendenAsambleas und mehreren instand besetzten Fabriken zum ehema-ligen Krankenhaus. Es entstand die Idee, ein Gesundheitszentrumfür die 8.000 ArbeiterInnen der sechzig selbstverwalteten Fabri-ken einzurichten sowie ein Zentrum für Prävention für den Stadt-teil. Aus den Überschüssen der Fabriken soll ein Fonds für dasStartkapital gebildet werden. Mehrere ehemalige Angestellte der

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Klinik haben ihre Unterstützung für das Projekt erklärt. DieBrukman-Arbeiterinnen haben zugesagt, Bettwäsche herzustellen,und die Arbeiter von IMPA, Chilavert und einem halben Dutzendinstand besetzter Fabriken stellen sich gemeinsam mit Leuten ausdem Stadtteil für die Reinigungsarbeiten zur Verfügung. Laut derZeitung Página/12 haben die NachbarInnen den bezeichnendenNamen Que se vayan todos für das neue Zentrum ins Auge gefasst.

Selbstverwaltung: Ein Projekt fürs Leben

In Brasilien wurde 1991 die erste Erfahrung mit dem Instand-besetzen von bankrotten Betrieben gemacht. Die SchuhfabrikMakerli hatte den Betrieb geschlossen und 482 ArbeiterInnen aufdie Straße gesetzt. 1994 wurde die Nationale Allianz vonArbeiterInnen in selbstverwalteten Betrieben (ANTEAG) gegrün-det, um die verschiedenen Unternehmungen, die mitten in derKrise der Industrie entstanden, zu koordinieren. Sie hat in sechsProvinzen Büros, welche die Selbstverwaltungsprojekte begleitenund versuchen, sie mit Initiativen von NGOs und mit den Pro-vinz- und Stadtverwaltungen zusammenzubringen. Sie arbeitet mit160 Selbstverwaltungsprojekten zusammen, zu denen 30.000ArbeiterInnen gehören. Selbstverwaltete Betriebe gibt es in allenBranchen, vom Erzabbau über Textil bis hin zu Tourismus undHotelgewerbe. Für die ANTEAG ist die Selbstverwaltung ein Or-ganisationsmodell, welches das kollektive E igentum an denProduktionsmitteln mit der demokratischen Beteiligung an derGeschäftsführung verbindet. Aber sie bedeutet auch Autonomie,weil die Entscheidungen und die Kontrolle der Betriebe, wie auchder Spezialisten, die sie beauftragen, bei den Mitgliedern liegen.

Für die ArbeiterInnen der selbstverwalteten Betriebe bestehteine der größten Schwierigkeiten darin, ›wieder zu denken‹. DieANTEAG stellt fest, »dass die paternalistische Kultur dazu geführthat, dass die ArbeiterInnen erwarten, dass andere alles für sie ma-chen«. E inige erwarten alles vom Chef, andere von der Gewerk-schaft oder von der Regierung. Aber es bestehen auch Ängste, Ver-antwortung zu übernehmen und Risiken einzugehen, sowie Pro-bleme beim Versuch der demokratischen und transparentenGeschäftsführung, und vor allem die Schwierigkeiten, zu verste-hen, dass das wichtigste Ziel die Festigung des Kollektivs ist, vondem der Fortbestand des Betriebes abhängt.

Die Selbstverwaltung ist auch ein Lebensprojekt, das für breiteSchichten von ArbeiterInnen zum gesellschaftlichen Bezugspunktwerden kann, als Teil der Alternativen zum System, die von dersozialen Basis aus entstehen. Für einen unvermeidlichen Schritthält die ANTEAG »die Neuerziehung des Arbeiters, damit er inder Arbeit einen neuen Sinn findet, an seine Fähigkeiten glaubtund die Initiative im Prozess der Selbstverwaltung ergreifen kann,um so mit der Geschichte der Unterwerfung zu brechen«.

(Der A rtikel von Raúl Zibechi wurde von A lix A rnold aus dem Spa-nischen übersetzt und ist im Original unter www.rebelion.org/argentina/zibechi190902.htm nachlesbar.)

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hung für kapitalistische Unternehmen« – denn die Wiedereröff-nung von Firmen unter Arbeiterkontrolle würde nicht nur denArbeitern, sondern auch den Kapitalgebern helfen, da sie die Ma-schinerie vor Verfall und Vandalismus bewahre. Diese Einschät-zung haben sie sich nicht selbst ausgedacht, sie zitieren damit zweiVertreter der MNER, der »Nationalen Bewegung instand besetz-ter Betriebe«.

In der MNER sind etwa achtzig selbstverwaltete Kooperativenmit insgesamt 8.000 Beschäftigten organisiert. Die meisten be-setzten Betriebe haben sich dafür entschieden, Kooperativen zugründen. Damit konnten sie wenigstens drohende Räumungenund Zwangsversteigerungen verhindern. Bedingung für diese Le-galisierung ist aber oft, dass die ArbeiterInnen die Schulden desehemaligen Besitzers übernehmen. Entsprechend groß ist dannder Druck, produktiv und marktgerecht zu produzieren. Noch istkein selbstverwalteter Betrieb völlig gescheitert, aber viele Koope-rativen können nur geringe Löhne auszahlen und sehen sich ge-zwungen, Abstriche an Arbeitsbedingungen und Sozialleistungenzu machen oder gar ArbeiterInnen zu entlassen. Bei einigen rei-chen die Löhne kaum für das Überleben. Die BesetzerInnen kön-nen das kapitalistische Kommando innerhalb ihrer Betriebe außerKraft setzen, aber sie haben keine Kontrolle über den Markt. Dortsind sie der Konkurrenz mit anderen Unternehmen ausgesetzt, diesie nur unterbieten können, indem sie die eigene Ausbeutung er-höhen. Für die Tendenz von Kooperativen, unter dem Druck derVerhältnisse den Arbeitsdruck zu erhöhen und kapitalistische Struk-turen zu reproduzieren, gibt es in der Geschichte leider zahlreicheBeispiele.

Angesichts der Vielzahl und Hartnäckigkeit der Besetzungensind in der Hauptstadt und in der Provinz Buenos Aires Verord-nungen für Enteignungsverfahren erlassen worden, nach denenbereits mehr als dreißig Betriebe »enteignet« und den neu gegrün-deten Kooperativen überlassen worden sind. Die bisherigenEnteignungsverfahren sind jedoch ein zweischneidiger Erfolg. DasPrivateigentum an den Produktionsmitteln, das die ArbeiterInnenmit der Besetzung in Frage gestellt haben, wird dadurch letztenEndes wieder bestätigt. Den BesetzerInnen werden Gebäude undMaschinerie für einen befristeten Zeitraum überlassen (in der Re-gel für zwei Jahre, in E inzelfällen länger). Währenddessen garan-tiert der Staat den Eigentümern eine Miete. Nach Ablauf der Frist

Alix Arnold

Besetzte BetriebeKooperativen – Verstaatlichung – Arbeiterkontrolle?

Anmerkungen zum Dilemma der Selbstverwaltung imKapitalismus

Über die Hälfte der Industriekapazität in Argentinien liegt brach.In dieser dramatischen Krise entschließen sich immer mehrArbeiterInnen, Betriebe zu besetzen und in E igenregie weiterzu-führen. Die Besetzungen entstehen als Überlebensprojekte in ei-ner defensiven Situation. Aber sie werfen Fragen auf, die weit überdas unmittelbare Ziel – den Erhalt der eigenen Arbeitsplätze –hinausgehen. Mehr als zehntausend ArbeiterInnen stellen zur Zeitin Argentinien das Privateigentum praktisch in Frage, und siemüssen sich teilweise handgreiflich gegen die Staatsgewalt durch-setzen. Sie machen die Erfahrung, dass sie in der Lage sind, dieProduktion selbst zu organisieren. In einer Fabrik ohne Chefs istplötzlich nichts mehr selbstverständlich, nichts muss als gegebenhingenommen werden. Es gibt keine Vorarbeiter und Meister mehr;stattdessen wählen die ArbeiterInnen Koordinatoren, die sie jeder-zeit wieder abberufen können. Sie verändern Arbeitszeiten undArbeitsorganisation entsprechend ihrer eigenen Bedürfnisse. InVersammlungen diskutieren und entscheiden sie, was und wie pro-duziert wird. Nicht mehr Profit und Gewinnmaximierung sinddas Ziel der Produktion, sondern Einkommen für möglichst vieleMenschen und die Herstellung nützlicher Dinge unter erträgli-chen Bedingungen. Das klingt schon fast nach einem kleinenbisschen Kommunismus.

Selbstverwaltete Betriebe als Inseln im Meer der kapitalistischenKrise sind jedoch ein widersprüchlicher Versuch, der leicht in derSelbstverwaltung des Mangels stecken bleiben kann. Dass ein paartausend ArbeiterInnen in verlassenen Fabriken auf eigene Rech-nung arbeiten, muss nicht unbedingt weiter gehende Folgen ha-ben. Das Kapitalblatt The E conomist (9.11.2002) macht sich zwaretwas Sorgen wegen der »Erosion der Eigentumsrechte«, gibt sichaber ansonsten zuversichtlich: »Diese Bewegung ist keine Bedro-

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Auf den entsprechenden Antrag der Zanon-Arbeiter erfolgt seitMonaten keinerlei Reaktion, und den Antrag der Brukman-Arbei-terinnen hat der Stadtrat von Buenos Aires zurückgewiesen. Siesollen eine Kooperative bilden, was sie aber mit Hinweis auf dieschlechten Erfahrungen, die ihre KollegInnen in anderen besetz-ten Betrieben mit dieser Lösung gemacht haben, weiterhin ableh-nen.

Die ArbeiterInnen von Brukman und Zanon versuchen, diebesetzten Betriebe zum Ausgangspunkt einer breiteren Bewegungzu machen, gemeinsam mit Organisationen der Piqueteros, derorganisierten Arbeitslosen, von denen inzwischen einige bei Zanonarbeiten, sowie mit Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes, diegegen die Verschlechterung der Bedingungen kämpfen, und mitoppositionellen Betriebsräten und Gewerkschaftsgruppen aus ver-schiedenen Bereichen. Im April 2002 haben sie das erste »Treffenzur Verteidigung der besetzten Fabriken« veranstaltet, bei dem aufder Straße vor Brukman 700 ArbeiterInnen und Arbeitslose zu-sammenkamen, um Erfahrungen und Vorschläge auszutauschen.Das zweite Treffen dieser Art, bei dem der Aufbau einer gemeinsa-men Streikkasse beschlossen wurde, fand dort im September statt.Zeitgleich gab es ein Treffen der MNER in der MetallkooperativeBaskonia im Industrievorort La Matanza, das einen völlig anderenCharakter hatte. Hier traten verschiedene Parteienvertreter undFunktionäre als Redner auf, die zwar allesamt nichts anzubietenhatten, dafür aber umso mehr zu Gewaltfreiheit und Gesetzes-treue aufriefen. Sogar der Vizechef des Kabinetts der RegierungDuhalde, Eduardo Amadeo, durfte reden – was bei der allgemei-nen Ablehnung von Politikern in Argentinien ein wirklich unge-wöhnliches Ereignis ist.

Aber trotz aller Differenzen lassen sich die verschiedenen be-setzten Betriebe und Kooperativen bislang nicht gegeneinanderausspielen. Manche hatten VertreterInnen auf beiden Treffen, undalle teilen die Ansicht: »Wenn sie einen von uns angreifen, sindwir alle gemeint.« Das ist nicht nur eine Parole, sondern auchPraxis: Im September haben sie gemeinsam die Polizei daran ge-hindert, der Kooperative Lavalán ihr Rohmaterial abzunehmen.ArbeiterInnen aus legalisierten Kooperativen und aus Betrieben›unter Arbeiterkontrolle‹ blockierten gemeinsam die LKWs, diedie Wolle abtransportieren sollten. Auch Leute aus den Nach-barschaftsversammlungen und andere UnterstützerInnen beteilig-

sollen die ArbeiterInnen ein Vorkaufsrecht für ihren Betrieb be-kommen. Der verbleibt derweil unter Aufsicht eines Richters undeines Konkursverwalters, die die Interessen der Gläubiger wahren.Im Gegensatz zu den E igentümern bekommen die ArbeiterInnenkeinerlei Subventionen. Sie sollen mit ihrer Arbeit aus dem wert-losen Schrott, der in den Fabriken rumsteht, wieder Kapital ma-chen. Wenn ihnen das gelingt, dürfen sie es danach kaufen (wo-mit sich die Gläubiger ihre Arbeit wiederaneignen). In dieser Zeitsind sie keine BesitzerInnen, tragen aber das ganze Risiko undhaben keinerlei Rechte oder Lohnansprüche als ArbeiterInnen.

Die MNER fordert einen Treuhandfonds und eine Änderungdes Konkursgesetzes, um solche Enteignungsverfahren zu institu-tionalisieren. Sie wird von K irchenkreisen, von Teilen derstaatstragenden Gewerkschaftsbürokratie, von Peronisten undMitte-Links-Parteien unterstützt. Bei solchen Kräften liegt derVerdacht nahe, dass sie mit ihrer Unterstützung in erster Linieverhindern wollen, dass die Bewegung den Rahmen der Legalitätverlässt. Sie legen den ArbeiterInnen der besetzten Betriebe nahe,sich als Kooperativen zu legalisieren und sich auf ›realistische Lö-sungen‹ einzulassen.

Unter der Drohung mit Räumung und Arbeitsplatzverlust istder Spielraum für die ArbeiterInnen gering. Trotzdem weigern sicheinige wenige besetzte Betriebe, wie u.a. die ArbeiterInnen derTextilfabrik Brukman in Buenos Aires und der KeramikfabrikZanon in Neuquén, Kooperativen zu bilden und Schulden zu über-nehmen. Stattdessen fordern sie »Verstaatlichung unter Arbeiter-kontrolle«. Sie wollen weder zu Unternehmern werden noch zuStaatsangestellten. Vom Staat verlangen sie, dass er die notwendi-gen Rahmenbedingungen schafft: E r soll Gebäude, Maschinerieund Patente ohne Entschädigung und endgültig enteignen undihnen den Betrieb überlassen, damit sie dort in Selbstverwaltunggesellschaftlich nützliche Produkte herstellen können. Brukmankönnte beispielsweise Bettwäsche für Krankenhäuser oder Schul-uniformen nähen, und mit den Kacheln von Zanon könnten öf-fentliche Gebäude und Sozialwohnungen ausgestattet werden. DieArbeiter von Zanon spenden schon jetzt regelmäßig einen Teil ih-rer Produktion an Schulen, Volksküchen, Krankenhäuser oder so-ziale Projekte. Durch die Produktion von Gütern für die Allge-meinheit, die vom Staat abgenommen werden, könnte der Druckder Marktkonkurrenz zumindest verringert werden.

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der Kampf darum nicht heißen muss, einen sinnlosen Kampf zuführen. Diese Botschaft ist unabhängig davon, wie die Geschichtebei Zanon ausgeht. Dabei können die verschiedensten Dinge raus-kommen: Vielleicht kommt der Besitzer wieder, vielleicht verkaufter die Fabrik, da kann noch eine Menge passieren. Aber unser Zielist klar: Wir wollen die Fabrik in den Dienst der Allgemeinheitstellen, wir wollen so produzieren, dass es das Leben von allenverbessert. Manchmal stelle ich mir vor, wie das wäre, wenn esviele Zanons gäbe, in diesem Land und anderswo. Das wäre einevöllig andere Realität, denn wir würden alle an alle denken, egalob wir zehn Straßen voneinander entfernt wohnen, zehn Kilome-ter oder zehntausend Kilometer.«

ten sich an der stundenlangen und letztlich erfolgreichen Ausein-andersetzung.

Für die Zukunft der Bewegung ist die Rechtsform, die sich dieeinzelnen Betriebe geben, sicher weniger entscheidend als die Fra-ge, inwieweit die Ausweitung gelingt. Bleiben die selbstverwalte-ten Betriebe allein, bleiben sie Inseln oder werden sie Teil einerbreiteren (internationalen ...) Bewegung, die in der Lage ist, Pri-vateigentum und Produktionsverhältnisse grundsätzlich in Fragezu stellen? In Argentinien gibt es hoffnungsvolle Anzeichen dafür,dass alte Abgrenzungen innerhalb der Arbeiterklasse zwischen Ar-men, Arbeitslosen, FabrikarbeiterInnen und der so genanntenMittelschicht überwunden werden. E ine Arbeiterin von Brukmanberichtet: »Wenn wir früher gesehen haben, wie die Piqueteros dieStraßen blockiert haben, kam uns das wie eine Nachricht aus ei-nem anderen Land vor. Wir waren keine Piqueteros, wir hatten jaArbeit. Jetzt haben wir den Betrieb besetzt und machen selbst Blo-ckaden. Und so geht es auch den Leuten aus der Mittelschicht, diejetzt auf die Straße gehen. Wenn wir demonstrieren, dann hupensie und applaudieren uns, und vorher hätten sie uns vielleicht auchangeguckt wie Leute aus einer anderen Welt.«

Die Zukunft der Bewegungen in Argentinien ist offen. Es wirdnicht nur von der Entwicklung dort abhängen, ob die besetztenBetriebe irgendwann als schöne Episode in den Geschichtsbüchernauftauchen oder als Anfang von etwas Neuem. Aber eines habendie ArbeiterInnen sowieso schon gewonnen: Die Erfahrungen, diesie mit ihren Besetzungen machen, kann ihnen niemand mehrnehmen. In Argentinien wird gerade praktisch demonstriert, dasseine Produktion keine Chefs braucht und eine Bewegung keineAnführer. Von diesen Erfahrungen kann andernorts eine Mengegelernt werden.

Ein Arbeiter in Zanon fasst die grundlegende Perspektive ein-drucksvoll zusammen: »Ich glaube, das Wichtigste ist, dass wirdemonstriert haben, dass das hier überhaupt geht. Sie haben unsimmer diskriminiert. Sie haben uns immer gesagt, dass ein Arbei-ter überhaupt nichts kann außer arbeiten. Wir haben aber bewie-sen, dass wir alles selbst hinkriegen, wenn wir zusammenarbeiten.Das hier hat mit dem Kampf um den Erhalt unserer Arbeitsplätzeangefangen, mit dem Kampf für eine würdige Art von Arbeit stattmieser Unterstützungszahlungen. Und das soll für die anderenArbeiter rüberkommen: Dass der Verlust des Arbeitsplatzes und

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organisierten: einerseits die alternative Berufsvereinigung Red deProfesionales, deren Ziel die Förderung der beruflichen E igenin-itiative ist, und andererseits das Cyber-Austauschnetz Red deIntercambio de Saberes y Cibernética Social, das wichtige methodo-logische Beiträge zur Verbesserung des Tauschsystems leistete, in-dem es den A ustausch von Wissen als neue Tauschmodalität ein-führte und die Betonung auf die permanente Weiterbildung derTauschring-Mitglieder als Bedingung für das Wachstum des Tausch-netzes betonte.

Anfänglich vollzog sich der Austausch von Produkten durchdas Ausfüllen von Listen, in welchen das von den ProsumentInnenjeweils Produzierte und Verbrauchte aufgelistet wurde. (Der Be-griff ProsumentIn verweist auf die grundlegende Eigenschaft derje-nigen, die sich am Tausch beteiligen: Sie sind zugleich Produ-zentInnen und KonsumentInnen.) Die Listen wurden dann in eineelektronische Datenbank eingespeist, mit deren Hilfe der konkre-te Austausch reguliert wurde. Mit dem Anwachsen der Tausch-aktivitäten erwies sich diese Methode als ungenügend, nicht nurweil die tägliche Arbeit und der Umgang mit einer solchen Kom-plexität von Tauschprozessen fast unmöglich wurde, sondern auchweil sich die gesamte Information im Tauschring von Bernal kon-zentrierte, wo von Beginn an die Buchführung aller Tauschringedurchgeführt wurde.

Die ursprünglich gegründeten lokalen Tauschringe konstitu-ierten sich später als Netzwerk (Red Global del Trueque), das auszahlreichen Knotenpunkten (Clubes de Trueque) bestand. DieserProzess wurde beschleunigt durch die Erfindung eines Sozialgeldes(Créditos), das Kreditfunktion besaß und die Verbindung zwischenden verschiedenen Knotenpunkten erlaubte. Heute existiert je-doch auch die einfache oder direkte Form des Tausches fort. Sowird Englischunterricht gegen Kleidung oder hausgemachte Süß-waren gegen das Design für deren Verpackung getauscht.

Im Jahr 2001 vollzog sich ein explosionsartiges Wachstum derTauschringe: Die Knotenpunkte des Netzwerks multiplizierten sichund wuchsen bis auf 1.800 an. Allein zwischen Dezember 2001und März 2002 gründeten sich 5.000 neue »Knoten«. Das Netz-werk dehnte sich auf das ganze Land aus. Geschätzt wird, dassderzeit drei Millionen ArgentinierInnen vom Austausch von Pro-dukten und Dienstleistungen leben und dass sich ebenso viele ge-legentlich an der Tauschpraxis beteiligen.

Colectivo Situaciones

Über den Tausch zu einer neuen ÖkonomiePraxis und Probleme der Tauschnetzwerke

in Argentinien

Die Praxis des Tauschens hat sich auf ganz Argentinien ausgewei-tet; mehr als sechs Millionen Menschen beteiligen sich daran.Deshalb ist es notwendig, sich dieses komplexe und wachsendePhänomen genauer anzusehen.

Denn es handelt sich nicht um eine marginale Praxis, sondernum die spezifische Form vieler ArgentinierInnen, ihre Existenz zusichern. Gleichzeitig handelt es sich nicht nur um eine Form derÜberlebenssicherung, sondern vielmehr um eine andere Lebens-weise, mit der angestrebt wird, sich über die Allgegenwärtigkeitdes kapitalistischen Marktes und des Staates hinaus sozial zu kon-stituieren. Derzeit durchläuft die Praxis des Tausches eine tiefgrei-fende Krise, was auf dessen außergewöhnliches Anwachsen als Folgedes im Dezember 2001 ausgelösten Wirtschaftsdebakels zurück-zuführen ist.

1.

Der erste Tauschring wurde am 1. Mai 1995 in Bernal, im Südender Provinz Buenos Aires, gegründet. Die Personen, die ihn insLeben riefen, gehörten zu einer ökologischen Gruppe mit NamenPrograma de A utosuficiencia Regional (Programm regionaler Selbst-versorgung), die seit Ende der 80er Jahre in sich selbst tragendenund nachhaltigen produktiven Projekten arbeiteten. Das dortigeTauschprojekt besitzt seinen eigenen Gründungsmythos: Erzähltwird, dass alles mit einer überreichen Ernte an Kürbissen begann,die auf einer kleinen Terrasse angepflanzt worden waren. Ihr Be-sitzer – einer der drei GründerInnen des Projekts – begann damit,Kürbisse unter den NachbarInnen zu verteilen, und diese gabenihm etwas als Gegenleistung.

1996 gab es schon 17 Tauschringe, 1997 waren es 40, ein Jahrspäter bereits 83. Zwischen 1999 und 2000 stieg die Zahl derGruppen von 200 auf 400. Zwei Netzwerke gliederten sich an, dieschon vorher existierten, aber sich nun um den Tausch herum neu

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In diesem Sinne kommen die Tauschringe mit ihrem »mehrfachreziproken Tausch« – einem der vielen Konzepte, mit denen sichdie Bewegung selbst denkt – zu anderen Beziehungen zu Geld,den getauschten Produkten sowie den Instanzen der Produktion,der Zirkulation, des Austausches und des Konsums. Der alternati-ve Tausch strebt an, mit der Vorherrschaft der vom Markt aufer-legten genormten V erteilung zu brechen, und setzt auf die Heraus-bildung solidarischer Vergesellschaftungsformen. Er geht weit überdie Dimension des ökonomisch motivierten Austauschs hinaus.

Der Begriff »ProsumentInnen« beabsichtigt, die »Arbeitenden«(die Subjekte) erneut mit ihren »Erzeugnissen« (den Objekten)zusammenzubringen. Die ProsumentInnen wollen die direkte Er-fahrung aufrechterhalten, gleichzeitig ProduzentInnen dessen zusein, was sie zum Tausch anbieten, und KonsumentInnen dessen,was sie durch den Tausch erhalten. Darum zielt die erneute Ver-knüpfung zwischen Produktion und Verbrauch darauf ab, einRegulierungskriterium zu etablieren, das der Abstraktionskraft desallgemeinen Äquivalents (des Geldes) widersteht. Der organisierteTausch setzt dabei auf die Herstellung sozialer Bande, auf direkteund alltägliche zwischenmenschliche Kontakte, auf das Zusam-menbringen von Produktivkräften und persönlichen Fähigkeitensowie auf die Stärkung der Werte der Reziprozität und der Koope-ration. Diese Bewegung hat nicht die Geldakkumulation zum Ziel,sondern erscheint als ein Fluss des Gebens und Nehmens, der nichtallein durch das Streben nach Gewinn bestimmt ist. In den Räum-lichkeiten der Tauschringe werden daher in regelmäßigen Abstän-den Tauschtreffen (die auch Tauschmessen genannt werden) sowieorganisatorische Treffen abgehalten. Durchgeführt werden aberauch Aktivitäten der Weiterbildung, Freizeitgestaltung und sozia-len Betreuung sowie auch produktive Aktivitäten.

Wird an eine parallele Ökonomie gedacht, so treten eine Reihegrößerer Probleme auf den Plan: Was für einen Maßstab soll derAustausch in den Netzwerken der alternativen Ökonomie entwi-ckeln? Existieren im derzeit praktizierten Tausch genügend E le-mente, durch die sich der Warencharakter der Produktion als nureine der Dimensionen des Austausches festlegen lässt? Scheint hieretwas auf, was über den Begriff des allgemeinen Äquivalents, überden transzendenten Wert hinausgeht, der alle übrigen Werte ord-net, misst und legitimiert? Durch welche Elemente des symboli-schen A ustauschs konstituieren sich heute schon Praktiken, die über

Die argentinische Wirtschaftskrise war das auslösende Momentdieses kometenartigen Wachstums der Tauschaktivitäten. In denWochen nach der Sperrung der Bankkonten – dem so genanntenCorralito – im Dezember 2001, die mit einer sich verschärfendenRezession sowie dem Preisanstieg für Grundnahrungsmittel zu-sammenfiel, stießen jeden Tag um die 5.000 Menschen neu zuden Tauschringen.

2.

Wir gehen von der folgenden Hypothese aus, die unser Forschungs-interesse an den Tauschnetzwerken verdeutlicht: Der neue sozialeProtagonismus in seinen vielfältigen Formen steht vor einer Her-ausforderung: Diese liegt in der sozialen Produktion und Repro-duktion, das heißt in der Sozialisierung des eigenen Tuns im ma-teriellen Sinne.

Aus dieser Perspektive hängt für die Tauschnetzwerke die Ent-wicklung einer radikalen emanzipatorischen Praxis heute von ih-ren Fähigkeiten ab, alternative Netze sozialer Produktion zu knüp-fen oder sich mit diesen zu verbinden. Wenn der mit den Tagendes 19. und 20. Dezember begonnene Prozess eine radikale Ab-lehnung der existierenden Formen von Politik beinhaltet, so im-pliziert die Ausbreitung dieser Negativität – oder besser dieserPositivität – die nötige Ausarbeitung anderer sozialer Beziehun-gen, anderer Lebensformen, die nicht dem Kapital untergeordnetsind und die die vom Kapitalismus praktizierte soziale Ausschlie-ßung überwinden. Dabei müssen sie sich stets der Gefahr bewusstsein, wieder vom System eingefangen oder aufgesogen zu werden,indem ihre Energie auf gesellschaftskonforme Ideale und etablier-te Modelle umgeleitet wird, um sie der in ihr angelegten Zukunfts-perspektiven zu berauben.

Die Versuche alternativer Vergesellschaftung stehen vor der Her-ausforderung, neue Organisationsformen zu erdenken und zu er-proben, die über die – im Prozess der Stadtteilversammlungen ent-standene – kollektive und demokratische Debatte hinausgehen undPraxisformen hervorbringen, die eine materielle Sozialisierung deseigenen Tuns beinhalten. Diese neuen sozialen Formen entfaltensich auf zwei Weisen: einmal als Multiplizität, Kraft und Aktion,zum anderen als Möglichkeit der Möglichkeiten, als noch nichtverwirklichte Zukunft.

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Gegengabe erwidert wird, was auf eine längerfristige Verpflich-tung hinausläuft.

Das in Argentinien entstandene ausgedehnte Netz sozialerSelbstverwaltung von unten hat eine spezifische und neuartige Formdes politischen E ngagements nötig gemacht: E s geht um dieKoordinatorInnen der Tauschringe. Anfänglich waren diese Perso-nen beauftragt, einen neuen Knotenpunkt im Tauschnetzwerk zuorganisieren, die diesbezüglich vorhandenen Ressourcen aufzubrin-gen sowie die anstehenden Ordnungsaufgaben zu übernehmen.Bei ihrer Arbeit, die vorhandenen produktiven Potenziale zu ver-knüpfen, um so die Ohnmacht und Einsamkeit vieler Menschenzu überwinden, traten die KoordinatorInnen eine Aufgabe an, dieeinen heroischen Kampf gegen soziale Isolierung darstellt. Dabeimüssen sie gleichzeitig über unternehmerische, administrative undpolitische Kapazitäten verfügen.

Ziel eines Tauschrings ist es, die Verbindungen zwischen denvorhandenen produktiven Potenzialen und den Notwendigkeitender sozialen Gemeinschaft (neu) herzustellen. Dies geschieht durchden erwähnten organisatorischen Aufbau eines neuen Tausch-knotenpunkts als auch durch die Wiederbelebung oder Neukon-stituierung von Produktionslinien und Vermarktungswegen vonLebensmitteln und Medikamenten, wodurch KleinproduzentInnenmit sozialen Organisationen und Nachbarschaftsgemeinschaftenzusammengebracht werden. Und andererseits entsteht hier einepraktische Alternative zu den auf der gentechnologischen Modifi-zierung basierenden Produktionsnetzen der multinationalen Kon-zerne.

Die KoordinatorInnen der Tauschringe setzen auf die Selbst-regulierung der Preise. Es handelt sich um einen komplexen Prozess,der verschiedene Mechanismen umfasst. An einigen Orten ist diesdie Fähigkeit des Knotenpunktes, die nötige Menge eines Korbslebensnotwendiger Waren zu einem sehr niedrigen Preis selbst zuerwerben, um so die Preisspanne niedrig zu halten. E in andererMechanismus besteht darin, dass die Hälfte der an die jeweiligenKnotenpunkte geleisteten finanziellen Beiträge – hier handelt essich vor allem um die E intrittsgebühren zu den Tauschveran-staltungen – durch den Kauf von Materialien und Gütern, die fürdie Eigenproduktion benötigt werden, an die Mitglieder zurück-gegeben wird.

den Kapitalismus hinausweisen? Befördert das alltägliche Knüp-fen sozialer Bande im Tausch – oder zumindest die teilweise Sus-pendierung des Besitzindividualismus – diese nicht-utilitaristischeDimension? Und schließlich stellt sich – angesichts des Unter-schieds zwischen einer Gesellschaft mit Markt und einer Gesell-schaft des Marktes (Karl Polanyi) – eine Frage: Hört in den Tausch-ringen die gegenüber dem Sozialen autonome ökonomische Sphä-re zumindest teilweise auf zu existieren?

Die Möglichkeiten des Kaufs mit den Créditos (dies ist der inArgentinien verwendete Name für die Tauschwährung) umfassenpraktisch alle Bereiche der Wirtschaft und nicht, wie allgemeinangenommen wird, nur die lebensnotwendigsten Aspekte dersel-ben. Diejenigen, die am Tausch teilnehmen, finden dort eine Ant-wort auf alle Bedürfnisse, deren Befriedigung ihnen auf dem for-malen Markt versagt bleibt. Die Palette umfasst die Bereiche Klei-dung, Dekorationsartikel, psychologische Behandlung, Friseur-besuch, Musikunterricht usw. Die Vielfalt an Produkten undDienstleistungen unterscheidet sich je nach Stadtviertel und denspezifischen räumlichen Bedingungen. Es wird also mehr als deut-lich, dass der multireziproke Austausch weit über die Aspekte des»Überlebens« oder der »Subsistenz« hinausgeht. Er etabliert viel-mehr die Möglichkeit einer anderen Lebensweise.

Um mit Toni Negri zu sprechen: Die an der gesellschaftlichenBasis praktizierte Partikularisierung – oder Singularisierung – desGeldes gibt der alternativen Tauschpraxis eine Dimension vonZukünftigkeit, was auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass ineinem gegenwärtigen Produkt schon das Versprechen eines zukünf-tigen Produkts eingeschlossen ist. So werden zum BeispielE mpanadas (gefüllte Teigtaschen) gegen zweimaliges Haareschnei-den getauscht. Zumindest das zweite Haareschneiden hängtzwangsläufig vom Vertrauen in die andere Person sowie von derAndauer der Tauschverpflichtung ab. Negri beharrt darauf, dassein materieller E x odus ein Zukunftsprojekt benötigt, da diebiopolitische Sphäre an das Reale und gleichzeitig an den Versuchgeknüpft ist, Formen der Utopie zurückzugewinnen. Marcel Maussspricht in diesem Zusammenhang auch von der Bedeutung derZeit, um die Gegenleistungen festzulegen. Die Gabe, so Mauss,bezieht sich notwendigerweise auf das Konzept des »Kredits«, dader reziproke Austausch sich auf Grundlage der Sicherheit voll-zieht, dass die Gabe (das Geschenk, der Besuch usw.) mit einer

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und drohen die Tauschringe in eine bloße Ausdehnung des kapi-talistischen Marktes zu verwandeln.

Diese Entwicklung förderte die – auf dem formalen Markt üb-liche – Spekulation mit knapp gewordenen Gütern und führte zuErscheinungen wie der Fälschung des Tauschgeldes, Akkumulati-on desselben, Versuche einer politischen Kontrolle des Knoten-punktes usw. Diese Formen von Sabotage gab es schon immer. Sieblieben aber im Hintergrund und sind erst durch die akute Wirt-schaftskrise in den Mittelpunkt gerückt, was wiederum die Krisedieses politischen Projekts beschleunigte.

Die Praxis der alternativen Ökonomie ist damit jedoch nochnicht an ihr Ende gelangt. Auf der einen Seite sind die Tausch-netzwerke nicht verschwunden. Viele Knotenpunkte, die recht-zeitig für eine gewisse Zeit geschlossen wurden, haben überlebenkönnen. Auf der anderen Seite haben sich die Netzwerke als sol-che nicht aufgelöst, sondern befinden sich vielmehr in einem in-tensiven Reflexionsprozess über mögliche Schutzmechanismen, umein Wiederaufleben der Bewegung möglich zu machen.

Die vielleicht wichtigste Veränderung betrifft jedoch die Pro-zesse und Warenströme, die sich vom merkantilen Netz loslösen.Dies führt in manchen Fällen zu immer wichtigeren Übereinkünf-ten mit kommunalen staatlichen Institutionen. So wurden Veran-staltungen wie die »Mega-Tauschmessen« durchgeführt, auf de-nen sich Mitglieder von Knotenpunkten oder Tauschringen ausunterschiedlichen Teilen des Landes trafen. Dort kamen bis zu20.000 Personen zusammen, um Produkte und Dienstleistungenauszutauschen. Es beginnen sich Netzwerke des gemeinschaftlichorganisierten Einkaufs zusammenzuschließen, die ProduzentInnenvon Grundnahrungsmitteln (Reis, Speiseöl, Mehl usw.) mit Tausch-knotenpunkten oder Mega-Tauschmessen zusammenbrachten.Tauschnetzwerke versuchen, eigene Gesundheitsnetzwerke zu or-ganisieren, für die ÄrztInnen, Krankenpfleger und -schwestern,PsychologInnen usw. als ProsumentInnen gewonnen werden sol-len. Eröffnet wurde die erste Apotheke mit im Land hergestelltenGenerika, und weitere Apotheken soll es bald auch in anderenStadtteilen von Buenos Aires geben. Mittelfristig ist die Einrich-tung eines Pharmalabors beabsichtigt, in dem eigene Medikamen-te produziert werden können. Es gibt schon Vereinbarungen mitverschiedenen Städten und Gemeinden des Landes, die Gemein-desteuern in den Währungen der örtlichen Tauschnetzwerke zu

3.

Mit Recht wird davon gesprochen, dass die Tauschpraxis oft vonPhänomenen der Korruption, Spekulation und Akkumulation so-wie von Betrügereien begleitet ist. Aber diese »Verunreinigungen«– die in sozialen Phänomenen ab einer gewissen Größenordnungnicht überraschend sind, zumal wenn sie sich in einer durch dieneoliberale Politik fragmentierten Gesellschaft abspielen – liefernnicht die eigentlichen Gründe für die derzeitige Krise der größtenTauschnetzwerke des Landes.

E in entscheidender Aspekt, um die derzeitigen Probleme derTauschpraxis zu verstehen, liegt in dem, was in der Ökonomie alsdie »Sicherung« des Geldes – in diesem Falle des Tauschkredits –bezeichnet wird, das heißt die Korrespondenzbeziehung zwischendem Volumen des Produzierten bzw. Angebotenen und der im Um-lauf befindlichen Geldsumme. Um es ohne Umschweife auszu-drücken: Einer der ursächlichen Gründe dafür, dass sich die Tausch-netzwerke heute an einem Scheideweg befinden, liegt im »pro-duktiven Mangel« der Knotenpunkte.

Der massenhafte Zulauf und die dadurch verstärkte Ausgabevon Créditos war nicht mit einem dementsprechenden Anstieg derproduktiven Aktivitäten sowie einer quantitativen und qualitati-ven Verbreiterung des Tauschangebots verbunden. Bei fast allenexistierenden Knotenpunkten kam es zu einer Übersättigung derNachfrage, was dazu führte, dass ein Großteil der anfänglichenTauschdynamik austrocknete und sich im Innern zersetzte. Es ver-größerte sich die abgrundtiefe Kluft zwischen konsumtiven Be-dürfnissen und produktiven Kapazitäten.

Im Grunde ist das Problem nicht allein ein ökonomisches, son-dern – wie es oft der Fall zu sein pflegt – umfassender und zu-gleich einfacher: Die Netzwerke der Tauschringe widmen sich derHerstellung von Subjektivität, von sozialen Banden. Im Zentrumdes Netzes stehen, wie schon betont wurde, die ProsumentInnen,bei denen sich das neu vereinen soll, was der Markt normalerweisetrennt, nämlich die Produktion und der Verbrauch. Der offeneCharakter des Netzwerkes sowie der invasionsartige Anstieg vonBedürfnissen, welche große Teile der Bevölkerung in den Netz-werken alternativer Ökonomie zu befriedigen suchten, um die ei-genen Lebensgrundlagen alltäglich zu sichern, veränderten jedochdie Beschaffenheit der Figur des Prosumenten bzw. der Prosumentin

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entrichten. Die Kommunalbehörden verwenden diese Einkünfte,um Beschäftigungsprogramme aufrechtzuerhalten, Sozialpläne fürArbeitslose zu fördern und mit Produktionsprojekten der Tausch-netzwerke Zulieferverträge abzuschließen.

Die Netzwerke der Tauschringe bilden ein großartiges Beispieldafür, wie die Massen in eine alternative Ökonomie eingebundenwerden können. Die vielfältigen Projekte tragen jetzt schon Früchte.Immer mehr ist die organisierte Praxis des Tausches dabei nur einElement unter vielen. Die in den Tauschnetzwerken gemachtenErfahrungen (Kenntnisse, Kontakte usw.) multiplizieren sich.

Schließlich müssen Aktivitäten berücksichtig werden, die zwarsehr verschieden von den Tauschringen sind, aber dennoch wich-tige Gemeinsamkeiten aufweisen: So zum Beispiel die von Stadtteil-versammlungen gemeinschaftlich organisierten Einkäufe, die vonArbeitslosenbewegungen durchgeführten Projekte der E igenpro-duktion sowie die Besetzungen von Fabriken durch die Arbei-terInnen, nachdem die bisherigen BesitzerInnen die Produktions-anlagen mit dem Argument fehlender Produktivität geschlossenhatten.

Alle diese Versuche stehen vor der gemeinsamen Aufgabe, dassdie Netze alternativer Ökonomie die soziale Produktion effektivvon der Befehlsgewalt des Kapitals abkoppeln müssen.

(Das Kapitel ist ein Originalbeitrag für dieses Buch.)

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Stefan Thimmel

Tauschbörsen: Gescheitertes Experimentoder Erfahrung für die Zukunft?

Ein alternatives Marktmodell durch eine veränderte Praxis zu eta-blieren, war das Ziel des Red Global de Trueques (AllgemeinesTauschnetz) in Argentinien. 1995 gründeten der Chemiker HoracioCovas, der Psychologe Carlos de Sanzo und der Ökologe RubénRavela in der ersten großen Rezession Argentiniens nach der Mili-tärdiktatur eine Tauschbörse in Bernal, einem Vorort von BuenosAires. New E conomyvon unten: Aus der akuten Not und Verzweif-lung im einst reichen Argentinien heraus entstanden, entwickel-ten die Clubes de Trueque (Tauschbörsen) eine ungeahnte Stärkeund waren für viele Menschen alternativlos bei der Bewältigungder gegenwärtigen Krise. Nahezu alles, was zum Überleben ge-braucht wird, wurde mit Créditos gehandelt: Lebensmittel, Klei-dung, Medikamente, Bücher sowie Dienstleistungen. Die Créditoskonnte man nur erwerben, in dem man ein Gut oder eine Dienst-leistung dagegen eintauschte. Ein Schlüsselwort in der Trueque-Philosophie ist Prosumición, eine Allianz von Produzieren und Kon-sumieren. Das System funktioniert auf Vertrauensbasis. Absiche-rung gibt es keine. Wenn ein Gut oder eine Dienstleistung zuteuer ist, wird sie nicht nachgefragt und der Preis in Créditos mussreduziert werden. Die Nodos (Knotenpunkte) verstehen sich nichtals reiner Markt, sondern auch als Austauschplatz von Gütern,Produkten und Kenntnissen. Dahinter steckt die Idee eines »ge-rechten Marktes«, solidarisch und in beiderseitigem Interesse. E inöffentlicher Raum, in dem und mit dem alle verdienen.

Die Tauschbörsen sind ein seit einigen Jahren bekanntes Phä-nomen. Bis zum Herbst des Jahres 2001 fand ein kontinuierli-ches, organisches Wachstum statt. Die Abwertung des argentini-schen Pesos und die euphemistisch als Corralito bezeichnete E in-frierung aller Bankguthaben im Winter 2001/Frühjahr 2002 führtejedoch zu einer dramatischen Veränderung im Land. Die Zahl derArgentinier, die unterhalb der Armutsgrenze leben, ist in den letz-ten zehn Jahren von 15 Prozent auf über 50 Prozent im Jahre 2002

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explodiert. Und das nach offiziellen Regierungszahlen. Mehr als20 Millionen der 36 Millionen ArgentinierInnen leben in Armut.Das Jahreseinkommen in Argentinien hat sich nach Zahlen desUnited Nations Program for Development (UNDP) von 8.950 Dol-lar im Jahr 1997 auf 3.100 Dollar im März 2002 innerhalb vonfünf Jahren um zwei Drittel reduziert. Anfang 2003 wurde es aufca. 2.500 Dollar geschätzt. Vor diesem Hintergrund verzehnfach-te sich innerhalb von sechs bis acht Monaten die Zahl der Trueque-TeilnehmerInnen.

Die Erfahrungen des Trueque waren für viele soziale Bewegun-gen und Stadtteilversammlungen von unschätzbarem Wert. E tli-che sind gestärkt aus dem Prozess hervorgegangen. Ein Beispielhierfür ist die A sociación Mutual del Sentimiento (»Vereinigung desgegenseitigen Mitgefühls«). In der Vereinigung, im ViertelChacarita im Herzen von Buenos Aires gelegen, funktionierte bisvor wenigen Monaten der größte Trueque-Knoten der Hauptstadt,und mehr als 5.000 Personen beteiligten sich zur Hochzeit imAugust 2002 täglich am Tauschhandel. Der Verein existiert seitvier Jahren und wurde von einer Gruppe von etwa 20 ehemaligenpolitischen Gefangenen, die während der Militärdiktatur der 70erund 80er Jahre in Argentinien inhaftiert waren, gegründet. Heutesind die GründerInnen integriert in ein funktionierendes sozialesNetz auf Stadtteilebene. Die Mutual, wie sie von den Mitgliederngenannt wird, kann dabei auch auf die Unterstützung ehemaligerpolitischer Gefangener zählen, die heute im Ausland leben. Dasdreistöckige Gebäude, in dem sich der Verein befindet, das umlie-gende Brachland, das heute zum Anbau von Gemüse genutzt wird,sowie verschiedene Werkstätten wurden der Nationalregierungabgerungen. 1998 wurde ein Vertrag mit einer Nutzungsdauer vonfünf Jahren abgeschlossen. Heute verhandelt der Verein mit sei-nen 30 permanent aktiven und über 2.000 eingeschriebenen Mit-gliedern mit der Stadtregierung von Buenos Aires über ein Gesetz,durch das die Nutzung für 20 Jahre gesichert werden soll. In derA sociación wird in einer Vielzahl von Projekten, die fast alle mittel-bar oder unmittelbar aus der Trueque-Erfahrung heraus entstan-den und Teil eines Netzwerkes der solidarischen Ökonomie undder sozialen Nachbarschaft sind, erfolgreich gearbeitet. Diese Pro-jekte und vor allem die Aktivierung von neuen, dauerhaft Betei-ligten sind der eigentliche Gewinn aus der Massenmobilisierung,die das Trueque-Phänomen hervorgebracht hat. Unter dem Dach

des Vereins arbeiten eine Volksküche, die von Arbeitslosen, diesich innerhalb des Trueque-Knotens kennen gelernt haben, betrie-ben wird, eine genossenschaftliche Apotheke, deren GründerInnenes erreicht haben, dass Generika vertrieben werden dürfen; es gibteine gemeinschaftliche Anbaufläche für biologisch-organische Pro-dukte sowie ein Kinder- und Jugendzentrum mit medizinischerund psychologischer Betreuung. In Planung sind ein lokales Basis-radio und eine Gesundheitsstation. In einer Art internem Trueque-Knoten existiert eine Anwaltspraxis, die Räume innerhalb des Zen-trums nutzt und die neben ihren »normalen« Klienten die Mit-glieder der Assoziation betreut, ohne eine Gebühr zu erheben, sowieein Architekturbüro, das nach dem gleichen Muster funktioniert.Graciela Daguricevich, eine der GründerInnen der Mutual, ist vorallem vom Erfolg der genossenschaftlichen Anbaufläche begeistert.»Als wir damit anfingen, dachten wir, es reicht für einen Kopfsalatpro Familie im Monat. Aber als wir das erste Mal ernten konnten,waren wir, Stadtbewohner mit keinerlei Erfahrung in der Land-wirtschaft, überwältigt von der Menge an Salat, Tomaten, Gurkenetc., die ein biologischer Anbau auf einer kleinen Fläche bringt.Jetzt versorgen wir einen Großteil des A sentamientos (Bezeichnungfür die Marginal- bzw. informellen Siedlungen in Argentinien) mitüber 300 Familien mit dem Gemüse.«

Wegen Erfolgs gescheitert

Der Zusammenbruch des Trueque-Systems erfolgte im Oktober/November 2002. Im März 2003 wird die Zahl der aktiv Beteilig-ten auf ca. 200.000 TeilnehmerInnen landesweit geschätzt. ImGroßraum Buenos Aires ist der Tauschhandel unter dem Dach desNetzwerkes quasi nicht mehr existent. Ursächlich für den Ende2002 erfolgten Kollaps sind viele Faktoren. Eine Mischung ausNaivität, politischer Unerfahrenheit und strategischen Fehlern undeine wenig ausgeprägte solidarische Haltung bei einer Vielzahl derbeteiligten Menschen sind als interne Ursachen zu sehen. Das unddie Gegenmittel, die der Staat ergriff, brachten das Modell zumScheitern. »Zehn Millionen Menschen machten erste Erfahrun-gen innerhalb eines alternativen Wirtschaftsmodells, und der Staathatte keinen Zugang zu diesem Bevölkerungsteil. Es gab keinenDialog, keinen Ansprechpartner, keinen Vermittler. Als uns bewusstwurde, welches Ausmaß das annahm, war klar: Das wird der Staat

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nicht hinnehmen, sie werden nicht mit verschränkten Armen dasitzen und diese gewaltige soziale Bewegung sich entwickeln las-sen«, so die Analyse von Graciela Daguricevich. Lokale einzelneNodos wurden von staatlicher Seite als illegal deklariert, und eswurde verlangt, Steuern auf die Tauschprodukte zu erheben undan den Staat abzuführen. Lebensmittel wurden als gesundheits-schädlich eingestuft, und es wurden strenge Kontrollen gefordert.

Fälschungen von Créditos waren von Beginn an ein Begleit-phänomen des Prozesses. Mitte des Jahres 2002 tauchten aber ins-gesamt 260 Millionen gefälschte Scheine auf. Die Folge war einerapide Inflation. Beweise liegen nicht vor, aber für Trueque-AktivistInnen ist die Beteiligung des Staates an diesen massenhaf-ten Fälschungen offensichtlich. Die gefälschten Créditos waren aufdem gleichen Papier gedruckt wie die Créditos der Netzwerke. Unddieses Sicherheitspapier ist nicht allgemein käuflich, nur die Ko-ordinatoren der Tauschnetzwerke und die Staatsorgane hattenZugang zu den Verkaufsstellen. Dies ist die Kehrseite des Erfolgs-kriteriums »Masse«: die typischen kleinen und größeren Betrüge-reien. Händler, die im Besitz einer großen Zahl von Créditos wa-ren, »kauften« mit den alternativen Zahlungsmitteln Produkte aufund verkauften sie einige Straßenzüge gegen offizielles Geld wei-ter.

E in weiterer Grund für die abrupte Abkehr vieler Menschenvom Trueque war die immer stärkere Nachfrage nach Lebensmit-teln. Diesem Druck konnten die Märkte nicht standhalten. FürMillionen von Menschen ist im Argentinien der Jahre 2002/2003,auch zu dieser Zeit immer noch einer der größten Lebensmittel-Produzenten der Welt, der alltägliche Kampf um Nahrung zumHauptproblem geworden.

In einer Situation, in der Kinder verhungern, sind Dienstleis-tungen wie Haare-Schneiden oder der Erwerb gebrauchter Möbelzweit- oder drittrangige Bedürfnisse. Nahrungsmittel waren aufvielen Tauschbörsen das Erste, was fehlte. Auf die Hungerkrisereagierte der Staat mit einem minimalen Notprogramm. Im Okto-ber 2002 startete das Programa Jefes de Familias, das für etwa zweiMillionen Familien eine monatliche Zuweisung von 160 Pesos (ca.55 Euro) vorsieht. E ine minimale Summe, aber dennoch für viele,die keinen Zugang mehr zu Bargeld haben, eine Unterstützung,um auf niedrigstem Niveau die Grundversorgung mit Lebensmit-teln zu sichern.

Neben diesen externen Faktoren sind strategische Fehler undFehleinschätzungen verantwortlich für den Misserfolg. Die Krisedes Trueque-Systems ist vor allem eine Krise des Red Global deTrueque; andere, allerdings bedeutend kleinere Netzwerke wie dasRed Solidaria de Trueque haben überlebt bzw. sind sogar gestärktaus dieser Krise hervorgegangen. Im Gegensatz zum Red Global,das als offenes System in allen Teilen des Landes funktionierte –d.h. jeder konnte seine z.B. in einer Stadt des Nordens erworbe-nen Créditos anderswo einlösen, ohne vor Ort eine eigene Lei-stung anbieten zu müssen –, arbeitet das Red Solidaria als geschlos-senes Netzwerk. In einer Tauschbörse erworbene Créditos müssenam gleichen Ort gegen eine andere Ware oder Dienstleistung ein-getauscht werden, sie haben nur Gültigkeit für diesen einen Kno-tenpunkt.

Dem offenen System, dem sich aus unterschiedlichen Grün-den die überwältigende Zahl der Märkte anschloss, gelang es nicht,eine Regulation des Preissystems zu etablieren. Das Marktsystemvon Angebot und Nachfrage wurde mit zunehmender Größe durchden Einfluss des kapitalistischen Marktes korrumpiert. So wurdez.B. Importzucker im Supermarkt gekauft und gegen Waren odereben Créditos eingetauscht. Diese Produkte wurden dann auf demformalen oder informellen Markt teurer verkauft, davon wiederZucker billig im Supermarkt usw. Die nationale Gültigkeit derCréditos stellte sich als strategischer Fehler heraus: So horteten z.B.in Rosario, der Millionenstadt ca. 200 km nördlich von BuenosAires, in der der Trueque-Markt noch funktionierte, die Menschendie Créditos und brachten dann ihre »gesammelten Ersparnisse« inBuenos Aires auf den Markt und erwarben eine Vielzahl von Pro-dukten, ohne dort eigene Produkte anzubieten. E in Verhalten, dasmit der ursprünglichen Idee des »Prosumierens«, also der Paralleli-tät von Produktion und Konsum unvereinbar ist, vielmehr als eineArt Spekulation mit den Gutscheinen zu bezeichnen ist. Ein wei-terer Fehler im Modell war das Handeln mit einem einzigen »Geld«,den Créditos. Obwohl sicher sehr aufwändig und auch kostspielig,wäre es von Vorteil gewesen, unterschiedliche Währungen für ver-schiedene Produkte und auch für die verschiedenen Regionen desLandes vorzusehen. So hätte die Spekulation, die durch die Unter-schiedlichkeit des Marktes in den einzelnen Landesteilen bedingtwar, verhindert werden können, und es wäre kein Monopolan-spruch auf das neue »Geld« entstanden, welcher im Argentinien

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von heute, vor allem nach den bitteren Erfahrungen der letztenJahre, wie jeder Machtanspruch mit Skepsis betrachtet wird.

Truequewar ein Reformprojekt von begrenzter politischer Trag-weite. Das Modell stellte sich nicht offensiv dem Markt, versäum-te es, seine Macht auch nach außen zu demonstrieren und denZuspruch von zeitweise mehreren Millionen von Menschen füreine dauerhafte Politisierung zu nutzen. E in Parallelprojekt mitwenig Strahlkraft in den desolaten, aber weiterhin existenten offi-ziellen Markt hinein. Die Organisatoren unternahmen zu wenigAnstrengungen, ein neues Verständnis von Solidarität und einergemeinschaftlichen Verpflichtung zu verankern. Hier wird nichtüber Politik geredet, so das Credo des Red Global del Trueque.Während der Staat weiter seine Politik exerzierte, tauschten Mil-lionen von Menschen Kopfsalat gegen Schuhe.

Ein weiterer strategischer Fehler war die mangelhafte Koopera-tion mit anderen Basisbewegungen wie vor allem den Piqueteros,die durch Straßenblockaden an neuralgischen Punkten auf sichaufmerksam machen und die zu einer politischen Macht im Landgeworden sind. Es gab keine gemeinsamen Aktionen, obwohl vie-le AktivistInnen sowohl hier als auch dort an den Kämpfen betei-ligt waren.

Letztlich ist das explosive Wachstum selbst als Hauptgrund fürdas Scheitern zu sehen. Die Menschen konnten nicht mithaltenmit dem Tempo, in dem die Trueque-Märkte anwuchsen. DasBewusstsein für ein neues solidarisches Handeln entwickelte sichnicht mit der gleichen Geschwindigkeit. So auch in der MutualSentimiento. Als sich hier mehr als 5.000 Personen am Tauschringbeteiligten, waren der Mehrheit der neuen Mitglieder die Philoso-phie und die Grundlagen des Modells nicht mehr zu vermitteln.Die Menschen verhielten sich nach den gleichen Mustern wie imtraditionellen kapitalistischen Marktsystem. Mit dem gleichenEgoismus, der gleichen individualistischen Haltung. Wurden zuBeginn des Trueque-Prozesses noch alle neuen Mitglieder durchKoordinatoren, die durch regelmäßige Kurse die Grundregeln desTrueque vermittelten, geschult, so war es nach dem explosions-artigen Wachstum nicht mehr möglich, eine persönliche Betreu-ung und Schulung durchzuführen. »Am Anfang waren es ca. 800Beteiligte. Alle kannten sich untereinander, man wusste, wer dieE mpanadas hergestellt hatte, man saß zusammen und unterhieltsich bei einem Matetee. Als es 5.000 Menschen waren, war das

nicht mehr machbar, das Klima veränderte sich absolut«, so GracielaDaguricevich.

In dieser Situation war der Trueque als massenwirksames Mo-dell zum Scheitern verurteilt. Reformversuche kamen zu spät undwaren nicht mehr vermittelbar. Im September 2002, als die Tausch-märkte sich auf ihrem Höhepunkt befanden, der Kollaps aber be-reits absehbar war, wurden neue Créditos eingeführt. Die neuenScheine sollten durch Oxidation zum »Rosten« gebracht werden,um so das Horten zu verhindern und zum sofortigen Wiederverkaufzu ermutigen. Das Experiment stieß auf völliges Unverständnis,weil keine begleitenden Erklärungen gegeben wurden. Für diemeisten Tauschwilligen war der Crédito ein Geld wie unzähligeandere Zahlungsmittel auch (gegenwärtig kursieren in Argentini-en mindestens zwölf offizielle und halboffizielle Währungen, Bons,Gutscheine etc.). Niemand wollte einsehen, dass auch das »Geld«des Trueque an Wert verliert. Die Menschen fühlten sich betrogenund Korruptionsvorwürfe wurden laut, auch der Vorwurf, dasssich die Organisatoren des Red Global bereichert hätten.

Bedingt durch die extreme Verarmung stand für viele Menschenin den letzten Monaten die Sicherung der Grundversorgung fürihre Familien im Mittelpunkt. Für einen funktionierenden Truequeist aber auch solidarisches Verhalten und das Interesse an den an-deren elementar. Nach zwei Jahrzehnten Neoliberalismus pur istdies durchaus nicht selbstverständlich. In der Mutual Sentimiento

hat man frühzeitig die Konsequenzen aus den strategischen undkonzeptionellen Fehlern gezogen und sich schon Anfang 2002 ausdem Red Global zurückgezogen. Die Vereinigung hat sich alsStadtteilversammlung konstituiert, alle sozialen Bewegungen zurMitarbeit aufgefordert und sich selbst an anderen politischen Kämp-fen beteiligt. Dies wurde deutlich bei den Protestmärschen in Er-innerung an die Jugendlichen, die bei einer Straßenblockade am24. März 2002 von der Polizei erschossen wurden. Es war die ersteMobilisierung aus einem Trueque-Markt heraus, die nicht mit demSystem selbst zu tun hatte. »Der Trueque war immer eine politi-sche Bewegung, oft jedoch ohne dass das den Beteiligten selbstbewusst war«, so Graciela Daguricevich. »Im Trueque haben dieMenschen gelernt, zu teilen und solidarisch zu sein, vor allem inBezug auf den am stärksten individualisierten Sektor des Kapita-lismus, den Handel.«

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Erfahrungen für die Zukunft

Der Trueque selbst ist gescheitert, die eigentlichen gesellschaftli-chen Gewinne sind jedoch die Erfahrungen und Diskussionen fürzukünftige Projekte und E ntwicklungen. Im individualisiertenArgentinien wird eine verlorene Nachbarschaft neu erfunden. DieSicht auf das Viertel hat sich radikal verändert, dem öffentlichenRaum, der Straße wird wieder eine soziale Funktion zugeordnet.Es gibt täglich Hunderte von Beispielen für Aktivitäten, die ohnedie Beteiligung der völlig diskreditierten staatlichen Institutionenoder das lange Zeit dominante Patronagesystem stattfinden. Dieneu entdeckte Nachbarschaft ist frei von einem vertikalen Pater-nalismus und vielerorts mischen sich soziale Klassen, die zuvorkeinen unmittelbaren Kontakt hatten. Piqueteros – Arbeitslose, Ta-gelöhner, Obdachlose – zelten teilweise wochenlang auf Straßenund blockieren im ganzen Land wichtige Straßenkreuzungen undBrücken, um damit auf ihre Notlage aufmerksam zu machen unddie Regierung zum Handeln zu zwingen. Allein im Jahr 2002 gabes mehr als 2.000 Straßenbesetzungen. Unter dem Motto »EinTag Urlaub vom Kapitalismus« wurden im Dezember 2002 Nie-derlassungen multinationaler Konzerne erfolgreich bestreikt undblockiert. Vor allem im Großraum Buenos Aires, wo die Arbeitslo-sigkeit am stärksten ist, bestimmen die Stadtteilversammlungenmit einer weitgehend autonomen Verwaltung immer stärker dastägliche Leben. Die Aktivitäten werden dabei immer vielfältiger.In Buenos Aires wurden mehr als 40 Gebäude – darunter geschlos-sene Banken, aufgegebene Kliniken und verlassene Lokale – über-nommen und in Eigenregie Volksküchen, Essensausgaben für Kin-der, Gesundheitszentren, Bäckereien und gemeinschaftliche Ge-müsegärten eingerichtet. Mehr als drei Millionen Menschen lebenmittlerweile von dem, was sie in den Städten auf den huertascomunitarios, ehemaligen Brachflächen, selbst anbauen. Sie begin-nen sich zu vernetzen und ihre neuen Erfahrungen untereinanderauszutauschen.

Dennoch ist offensichtlich, dass weder durch die Trueque-Märkteoder die Stadtteilversammlungen noch durch die Straßenblockadender Piqueteros eine politisch tragfähige, gesamtgesellschaftlicheAlternative entwickelt worden ist. Immer noch steht das Que sevayan todos ohne eine konstruktive Antwort alleine für sich. We-der in der Politik noch in der Wirtschaft wurden nachhaltige und

glaubwürdige K onzepte entwickelt. Aber das herrschendeGesellschaftsmodell wird in Frage gestellt. Suchbewegungen nacheinem anderen Konzept gibt es überall. Die Bewegungen konsti-tuieren sich von unten nach oben, es wird nicht am Aufbau von(Partei-)Apparaten gearbeitet. Die Diskreditierung der Politik istumfassend, schließt auch linke Parteien und ihre PolitikerInnenmit ein. Vielmehr geht es darum, wie sich soziale Bewegungenformieren und wie Entscheidungen gefällt werden. Und in Bezugauf partizipative und dezentrale Entscheidungs- und Mitbestim-mungsstrukturen hat Argentinien im Vergleich zu anderen Län-dern, z.B. zum Nachbarland Brasilien, einen riesigen Nachholbe-darf. Der Staat hat auch in Bezug auf seine Institutionen und sei-ne Exekutivorgane an Respekt verloren. So werden Parlamentarierauf offener Straße beschimpft und tätlich angegriffen. Oder vorlokalen Polizeistationen wird demonstriert, und nicht selten wirddas Lokal gestürmt und teilweise verwüstet. Dazu reichen heuteschon vergleichsweise marginale Anlässe, so die Verhaftung einesDemonstranten. Und es sind nicht die politisch Organisierten, essind die Señoras, die Mütter und Großmütter, die ihre Kochtöpfeden Behörden im wahrsten Sinne des Wortes um die Ohren schla-gen, um z.B. ihr Recht auf Nahrung einzufordern nach dem ver-zweifelten Motto: »Meine Familie hat ein Recht auf Nahrung, wennwir sie nicht mehr auf den Tauschmärkten finden und der Staatuns weiterhin verhungern lässt, plündern wir eben den Super-markt.«

Die Menschen, die sich aus dem Trueque zurückgezogen ha-ben, nehmen viel mit. So u.a. viele Kontakte und eine andere Sichtauf ihre Mitmenschen; der sprichwörtliche argentinische Egois-mus und die Arroganz sind gebrochen worden. Subjektive Verän-derungen, die zu einem anderen Alltagshandeln führen. Sicher,die noch unberührte Oberschicht führt auch heute ihr Leben inHochsicherheits-Wohnanlagen. Die Arbeit machen weiterhin diePutzfrauen aus Bolivien und die Gärtner aus Paraguay oder Peru.Aber die traditionell starke und große Mittelschicht in Argentini-en, die innerhalb von anderthalb Jahren zusammengebrochen ist,hat sich den Realitäten gestellt.

Gerade in Bezug auf die BolivianerInnen gab (und gibt es) inArgentinien einen ausgeprägten Rassismus. Die Traditionen einerweniger vertikal als vielmehr horizontal organisierten Dorfstruktur,die natürliche Solidarität und Unterstützung von Familienmitglie-

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dern, die spezifische Kultur des solidarischen Handelns ist für vie-le ArgentinierInnen etwas absolut Neues und war bis vor kurzemetwas Rückständiges und nur des Spottes wert, eben etwas Latein-amerikanisches. Gerade Bolivien war für die meisten Menschenimmer das Land der Putzfrauen und fremden Indígenas und keinReferenzpunkt für das moderne Argentinien. Bei den Protestmär-schen, den Cacerolazas, den Blockaden von wichtigen Straßenkreu-zungen und eben auch bei den Trueque-Märkten im Jahr 2002waren auch viele ImmigrantInnen aus Bolivien, Peru, Paraguayund anderen Ländern Lateinamerikas beteiligt. Der durch die exis-tenzielle Not erzwungene Kontakt mit L a Boliviana und E l Negrohat bei vielen – gerade aus der ehemaligen Mittelschicht – dazugeführt, dass sie als Flora und Jaime, als Individuen, die die glei-chen Kämpfe führen, die gleichen Sorgen haben, als Subjekte imgemeinsamen Kampf gegen das korrupte und zerstörerische Re-gime anerkannt und wahrgenommen werden. Und es hat auchdazu geführt, dass viele ArgentinierInnen sich zum ersten Mal überihr Verwurzeltsein in Lateinamerika klar geworden sind. Früherwollten die ArgentinierInnen wie EuropäerInnen sein, heute ha-ben sie erfahren und akzeptiert, dass sie LateinamerikanerInnensind. Der Rassismus hat natürlich trotzdem in den wenigen, for-mal abgesicherten Arbeitsplätzen und in den nach wie vor abge-schirmten Lebensbereichen der Oberschicht überlebt. Diejenigen,die ihre egoistische Gesellschaftssicht bewahrt haben, sind nichtverschwunden, aber sie sind in der Defensive.

Andere ökonomische Alternativen

Für einen Moment in der aktuellen Geschichte Argentiniens spielteder Trueque sowohl als politisch-gesellschaftliches Phänomen miteinem starken Zukunftspotenzial hinsichtlich nachhaltiger gesell-schaftlicher Veränderungen als auch als paralleles Wirtschaftssy-stem eine herausragende Rolle. Aber das eigentlich Revolutionäresind die Mikro-Projekte, die nach dem Niedergang des Trueque anvielen Orten aus dem bestellten Boden sprießen (und im Falle derhuertas, der kollektiven Stadtgärten, ist das wörtlich zu nehmen).Zumindest im »Verein des gegenseitigen Mitgefühls« existiert derTrueque noch. E inmal die Woche treffen sich ca. 100 Menschenund tauschen ihre Produkte direkt, ohne das Hilfsmittel derCréditos. Und trotz der bitteren Erfahrung des Kollapses des Trueque

beginnt sich wieder etwas zu entwickeln, und die positiven Erfah-rungen aus dem langen und schmerzhaften Prozess gewinnen anBedeutung. Eine Alternative für zukünftige Trueque-Projekte könn-te ein finanzielles Mischsystem sein, also das Wirtschaften auf Basiseines Geldanteils und eines Anteils von Créditos, um so den Prozessweniger anfällig zu machen für Spekulationen, Fälschungen etc.Das wird in der Apotheke der Mutual realisiert, in der Genossen-schaftsmitglieder Generika-Medikamente gegen einen finanziel-len Anteil und Créditos erhalten. »Für uns war der Trueque eineganz wichtige Erfahrung, aber wir müssen jetzt etwas Neues erfin-den, mit einer realistischeren Sicht und weniger schematisch«, sagtGraciela Daguricevich. Etwas Neues wie die Apotheke. Mit mehrals 5.000 potentiellen Beteiligten im Rücken gelang es ihrenGründerInnen, mit multinationalen Pharmakonzernen Abkommenzu schließen und Medikamente wesentlich günstiger zu erhalten.Etwas, was ohne das Massenphänomen Trueque nie möglich ge-wesen wäre. Heute werden an die 800 eingeschriebenen Mitglie-der der kollektiven Apotheke Medikamente zu sozialen Preisenverkauft, die zum Teil 600 Prozent unter den marktüblichen Prei-sen liegen. Darüber hinaus werden auch Kurse in alternativerHeilkunde angeboten, um so die Abhängigkeit zu verringern undein anderes Verständnis von Gesundheit herauszubilden. Ein wei-terer Effekt: Es geht nicht mehr um die Marke eines Produktes,sondern um seinen Gebrauchswert. Der Trueque hat auch dazugeführt, dass die Menschen begriffen haben, was den Wert einesProduktes ausmacht.

Insgesamt sind die Trueque-Ansätze auf ein Niveau zurück-geworfen, welches sich mit der Situation Ende der 90er Jahre ver-gleichen lässt. Allerdings ist bei vielen Menschen der bittere Bei-geschmack zurückgeblieben, dass ein hoffnungsvoll und mit ei-nem bedeutenden Veränderungspotenzial gestartetes alternativesMarkt-System gescheitert ist. Zumindest in Bezug auf eine realeVeränderung des kapitalistischen Marktsystems hat der Truequenicht nichts, aber wenig erreicht. Für Myriam Pelazas, wissenschaft-liche Mitarbeiterin eines »Piquetero«-Abgeordneten im Stadtpar-lament von Buenos Aires, liegt denn auch der wahre Wert derTrueque-Erfahrungen einer so großen Zahl von Menschen nichtim Ausprobieren einer Alternativökonomie als neuem Wirtschafts-modell, sondern im Wiederaufleben und Wiederfinden von Wer-ten wie Solidarität, Nachbarschaft und gemeinsamer Stärke. »Die

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argentinische Gesellschaft, die durch den Neoliberalismus zerstörtwurde, hat sich zumindest auf lokaler Ebene zum Teil wieder neukonstituiert. Und dies auf der Basis einer gegenseitigen Anerken-nung und dem Gefühl, nicht mehr isoliert und hilflos dem Sys-tem ausgeliefert zu sein. Wo der Kapitalismus nicht mehr funktio-niert, entwickelt sich eine neue, veränderte Subjektivität der Men-schen. Die konkreten Projekte – und dabei waren der Trueque undseine Weiterentwicklungen elementare Bausteine – haben die all-tägliche Sicht und das lokale Handeln vieler Menschen radikalverändert.« Durch das Sich-Einlassen auf das System des Truequehaben viele Menschen ihre Würde wiedergefunden und letztlichdamit auch ihr eigenes Selbstbewusstsein gestärkt. Etwas was beivielen ArgentinierInnen, bedingt durch die Krise der letzten bei-den Jahre, in der mehr als zehn Millionen von einem bescheide-nen Wohlstand in die Armut stürzten, völlig verloren gegangenschien.

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Alix Arnold

H.I.J.O.S. – den Tätern keine Ruhe lassen

Als erste gingen die Mütter auf die Straße, um die Freilassungihrer Kinder zu verlangen, die von den Militärs in Argentinienentführt worden waren. Am 30. April 1977, mitten in der Dikta-tur, trafen sich die Madres zum ersten Mal auf der Plaza de Mayoin Buenos Aires. Sie demonstrieren dort weiterhin jeden Donners-tag vor dem Regierungspalast, um Aufklärung über das Schicksalder 30.000 Verschwundenen der Diktatur und die Bestrafung derTäter zu fordern. Als nächste organisierten sich die Abuelas, dieGroßmütter, und machten sich auf die Suche nach ihren ver-schwundenen Enkeln. Mehr als 500 Kinder von Verschwunde-nen, die mit verhaftet oder während der Haft geboren wordenwurden, sind ihren Familien geraubt und Militärs oder anderenHelfershelfern der Diktatur zur Adoption übergeben worden. Diemeisten kennen ihre wahre Identität bis heute nicht. Seit 1995organisieren sich nun auch die Hijos, die Nachkommen, um ge-gen die staatlich verordnete Straffreiheit vorzugehen.

Escrache!

Sie nennen sich H.I.J.O.S. – »Nachkommen für die Identität unddie Gerechtigkeit, gegen das Vergessen und Verschweigen« (Hijos

por la identidad y la justicia contra el olvido y el silencio) – undhaben einer neuen Aktionsform den Weg gebahnt, den E scraches.Dieses Wort stammt aus dem Lunfardo, dem Dialekt der Immi-grantInnen, der Unterklassen und des Tango am Río de la Plata.E scrache bedeutet »ans Licht bringen«. Solange sie nicht von ei-nem E scrache heimgesucht werden, können die meisten Mörder inUniform unerkannt, unbehelligt und angenehm in Argentinienleben. Die anfängliche Strafverfolgung der Diktaturverbrechen nach1983 wurde bereits Mitte der 80er Jahre auf Druck der Militärsmit dem sog. »Schlusspunktgesetz« und dem »Gesetz über denBefehlsnotstand« schnell wieder beendet. Fast zwanzig Jahre nachdem Ende der Diktatur müssen Militärs und andere Verantwortli-

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che nun aber damit rechnen, doch noch für ihre Taten zur Re-chenschaft gezogen zu werden.

Die E scraches finden dort statt, wo der Täter lebt. E ine Demon-stration zieht durch den Stadtteil bis vor sein Haus, das mit rotenFarbbeuteln markiert wird – als Symbol für die begangenen Blut-taten. Mit einer Rede wird sein persönlicher Beitrag zur Unter-drückung bekannt gegeben. Dann zieht die Demo weiter und be-endet die Aktion mit Musik und Tanz auf der Straße. Zurück blei-ben Hinweise auf dem Bürgersteig oder an der Haustür: »Hierwohnt ein Völkermörder / Folterer«.

Das erste E scrache von H.I.J.O.S. richtete sich gegen den ArztJorge Magnaco, der während der Diktatur in dem geheimen Folter-zentrum E SMA (E scuela de Mecánica de la A rmada) in BuenosAires für Geburten zuständig war. Als eine ehemalige Gefangenezur Behandlung ins Krankenhaus Mitre ging, musste sie feststel-len, dass derselbe Arzt dort wieder als Geburtshelfer arbeitete. Sieteilte dies H.I.J.O.S. mit, die den Skandal an die Öffentlichkeitbrachten, indem sie vier Wochen lang jeden Freitag von dem Kran-kenhaus zur Wohnung des Diktaturarztes demonstrierten. MitErfolg: Magnaco wurde entlassen, und die Wohnungsbaugesell-schaft legte ihm nahe, sich eine andere Wohnung zu suchen.

In der ersten Zeit Mitte der 90er Jahre folgten die E scrachesSchlag auf Schlag. Etwa alle zwei Wochen zogen die H.I.J.O.S.aus, um einen Völkermörder oder Kindesentführer öffentlich zuverurteilen. Inzwischen finden weniger Aktionen statt, dennH.I.J.O.S. legen mehr Wert auf die Vorbereitung im Stadtteil. Oftvergehen Monate zwischen der ersten Kontaktaufnahme und demeigentlichen E scrache, das gemeinsam mit Gruppen und Organisa-tionen aus dem Stadtteil vorbereitet wird. Flugblätter und Wand-parolen informieren vorab über den enttarnten Täter, sodass amTag des E scrache schon allgemein bekannt ist, worum es geht. Esist Ziel der E scraches, dass die NachbarInnen selbst die Aktion auf-greifen und die soziale Ächtung der Täter im Alltag weitertreiben:dass die Bäckerin ihm keine Brötchen mehr verkauft und er imKiosk nicht mehr bedient wird, dass in Fenstern und Läden Plaka-te mit seinem Bild aufgehängt werden und dass er sich nicht mehrunbehelligt auf der Straße bewegen kann, weil plötzlich alle wis-sen, welche finstere Vergangenheit dieser ›nette Nachbar‹ hat. Andie Stelle der juristischen Verurteilung tritt die moralische undsoziale. Da der Staat sich weigert, die Mörder in Uniform in den

Knast zu stecken, machen ihnen nun die Leute das Leben »drau-ßen« denkbar unmöglich.

Für die E scraches werden immer wieder neue Ideen entwickelt,je nach der Situation im Stadtteil und den Vorschlägen derNachbarInnen. Eine Gruppe von Künstlerinnen weist mit verfrem-deten Straßenschildern auf Wohnorte von Tätern hin und auf ehe-malige Folterzentren in der Stadt, die sich z.B. hinter den Fassa-den von Autowerkstätten verbargen. Theater-, Straßenkunst- undMusikgruppen sorgen dafür, dass die E scraches nie zu Latschdemoswerden. Und am Ende wird jeweils auf der Straße gefeiert: »DieStraße gehört uns, nicht den Völkermördern, die haben hier nichtsmehr verloren, die gehören in den Knast, wir wollen sie nicht mehrauf der Straße rumlaufen sehen.«

Nicht nur bekannte und bislang unbekannte Militärs, die ›klei-nen Rädchen‹ der Diktatur, werden mit E scraches geoutet, sondernauch zivile Helfershelfer und Nutznießer: Ärzte, die an Kindes-entführungen beteiligt waren; Anwälte, die Papiere gefälscht, undHändler, die sich an den Sachen der Verschwundenen bereicherthaben; Kirchenvertreter, die den Verbrechen ihren Segen gaben,oder Politiker, die unter dem Schutz der Militärs die heutige Wirt-schaftspolitik gegen die Arbeiterkämpfe der 70er Jahre durchge-setzt haben. Unter der Diktatur wurden neoliberale Politiken inArgentinien durchgesetzt, mit Privatisierungen und Entlassungen,einer immensen Zunahme der Auslandsverschuldung, mit derBereicherung von wenigen und einer Verarmung der Mehrheit,die inzwischen dramatische Ausmaße angenommen hat.

30.000 Gründe, weiter zu kämpfen

Die Geschichte von H.I.J.O.S. beginnt Ostern 1995 mit einemZeltlager, bei dem sich siebzig Nachkommen von Verschwunde-nen treffen. Im Oktober desselben Jahres findet das erste landes-weite Treffen von H.I.J.O.S. statt, mit 350 TeilnehmerInnen aus14 Provinzen. Die neu gegründete Organisation wächst schnellund stößt sofort auf großes Medieninteresse, denn durch die öf-fentlichen Aussagen des pensionierten Militärs Scilingo ist das The-ma der 30.000 Verschwundenen gerade wieder aktuell. Scilingohat nicht nur die systematische Folter und Ermordung von Lin-ken während der Diktatur zugegeben, sondern auch die Praxis derTodesflüge beschrieben. Die Gefangenen wurden betäubt in Flug-

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zeuge verfrachtet und von dort aus lebendig über dem Río de laPlata ins Meer abgeworfen.

Im folgenden Jahr, am 24. März 1996, jährt sich zum zwanzig-sten Mal der Militärputsch. H.I.J.O.S. rufen für 3.10 Uhr mor-gens, dem exakten Zeitpunkt des Putsches, zu einem Fackelmarschvon der Plaza de Mayo zum Justizpalast auf. Zehntausend Men-schen folgen dem Aufruf. Mit einer so großen Beteiligung hatteniemand gerechnet. Nach dieser Kundgebung bekommen mehre-re Mitglieder der Organisation anonyme telefonische Drohungen,werden von Autos ohne Nummernschilder verfolgt und bedroht.Nachdem sie sich offiziell beschwert haben, kommt es zu einemTreffen mit dem Innenminister. Sein Angebot, ihnen Polizeischutzzu geben, lehnen H.I.J.O.S. ab, denn sie sind sich sicher, dass dieDrohungen genau von dorther kommen, aus dem Polizeiapparat,der immer noch derselbe ist, der ihre E ltern umgebracht hat.

Mehr als eine Menschenrechtsorganisation

Die GründerInnen von H.I.J.O.S. sind im Schnitt zwanzig Jahrealt. Sie sind Nachkommen von Verschwundenen, Gefangenen undExilierten. Auch in anderen Ländern, in Barcelona, Madrid, Paris,Montevideo, Mexico-City und Caracas bilden sich H.I.J.O.S.-Gruppen. Die Suche nach den damals geraubten Kindern und dieAufdeckung der wahren Identitäten sind wichtige Ziele der Orga-nisation. Aber persönliche ›Betroffenheit‹ ist keine Bedingung, umMitglied zu werden. Mitmachen können alle, die sich mit den»Neun Punkten« einverstanden erklären (siehe Kasten), unabhän-gig von ihrem Alter oder familiären Beziehungen zu Opfern derDiktatur.

H.I.J.O.S. sind mehr als eine Menschenrechtsorganisation. Fürsie sind die Verschwundenen nicht nur Opfer, sondern in ersterLinie linke AktivistInnen und Revolutionäre. Sie beziehen sichauf die Kämpfe ihrer E ltern, auf die antikapitalistischen Kämpfeder 70er Jahre und wollen diesen Faden wieder aufnehmen. E ineDiskussion darüber wird in Argentinien durch die verbreitete Theo-rie von den zwei D ämonen blockiert. Danach hat damals ein›Schmutziger Krieg‹ zwischen Militärs und Guerilla stattgefunden,mit ›Fehlern und Exzessen‹ auf beiden Seiten. Der Widerstand derLinken wird so auf eine Stufe mit dem Terrorismus des Staatesgestellt. Und mit dem Nunca más! (Nie wieder!) zur Diktatur kann

der Antikapitalismus dann praktischerweise gleich mit entsorgtwerden. Denn »Nie wieder Militärs« bedeutet nach dieser Sicht-weise ja auch: Versucht nie wieder, die Gesellschaft grundlegendzu verändern.

Nie wieder »Halt dich raus«

Um solchen Geschichtsfälschungen und dem verbreiteten Nicht-wissen etwas entgegenzusetzen, organisieren H.I.J.O.S. Diskus-sionen an Schulen. Durch ihre direkten Aktionen sind sie zu ei-nem Bezugspunkt für Jugendliche geworden. Sie zeigen praktisch,dass man nicht auf die Institutionen warten muss, sondern selbstwas machen kann. Die Hij@ s gehen in die Stadtteile, um die Ge-rechtigkeit mit den Leuten selbst in die Hand zu nehmen.H.I.J.O.S. lehnen Abhängigkeiten und Hierarchien ab. Sie finan-zieren sich selbst (am liebsten mit Fiestas), und die basis-demokratische, horizontale Organisierung ist für sie nicht irgend-eine Methode, sondern politisches Prinzip. In Buenos Aires teilensie ihre Räumlichkeiten mit der Motorradkurier-GewerkschaftSIMeCa (Sindicato Independiente de Mensajeros y Cadetes – Unab-hängige Gewerkschaft der Kuriere und Boten), der derzeit einzi-gen unabhängigen Gewerkschaft in Argentinien, die ohne Vorsit-zende, Funktionäre und Bürokraten funktioniert. E ingeweihtwurde dieses Lokal Ende 2000 mit einem Straßenfest, bei demManu Chao unangekündigt auftauchte und spielte.

Die Motoqueros, die Motorradkuriere, sind durch ihre besonde-re Rolle beim Aufstand vom 19./20. Dezember bekannt gewor-den. Sie wurden zum Info- und Kurierdienst der Bewegung, ha-ben Wasser, Zitronen und Steine verteilt, Verletzte aus Gefahren-zonen weggebracht und gemeinsam die Polizei angegriffen. Zweivon ihnen wurden erschossen. Seitdem organisieren H.I.J.O.S. undSIMeCa am 20. jeden Monats eine Demonstration zu den fünfOrten im Zentrum von Buenos Aires, an denen DemonstrantInnenerschossen wurden.

Für manche Jugendliche waren die Aktionen von H.I.J.O.S.Anstoß, selbst in der Schule, im Stadtteil oder bei der Arbeit aktivzu werden. Genau das wollen H.I.J.O.S. erreichen: dass die Leutesich selbst einmischen. E ine der Überlebensweisheiten währendder Diktatur, die bis heute nachwirkt, hieß »Halt dich raus«. So-ziale und solidarische Zusammenhänge wurden gewaltsam zerschla-

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gen – an ihre Stelle traten Vereinzelung und Schweigen. Bei denE scraches geht es auch darum, diese solidarischen Zusammenhän-ge wiederherzustellen. Die Treffen in den Stadtteilen im Vorfeldder E scraches können dazu dienen, das zerrissene soziale Netz neuzu knüpfen.

H.I.J.O.S. haben sich 1995 gegründet, in demselben Jahr, indem die Arbeitslosen in Argentinien angefangen haben, sich alsPiqueteros zu organisieren und mit Straßenblockaden auf sich undihre Forderungen aufmerksam zu machen. Seitdem haben sich dieLebensbedingungen für die meisten ArgentinierInnen drastischverschlechtert. Aber seit dem Aufstand am 19./20. Dezember letz-ten Jahres haben auch die basisdemokratischen Organisierungs-prozesse eine unvorhergesehene Beschleunigung erfahren. Über-all sind Stadtteilversammlungen entstanden, und die Aktionsformenvon Piqueteros und H.I.J.O.S. haben sich flächendeckend verbrei-tet. Straßenblockaden und E scraches sind zum Volkssport gewor-den. Que se vayan todos! heißt die Hauptparole, die Politiker sollenalle abhauen, und kein Politiker kann sich mehr vor spontanenE scraches sicher fühlen. Auf der Straße, in der Bank, im Restaurant– wo auch immer sie erkannt werden, werden sie beschimpft undangegriffen. Sogar im Ausland: Der damalige Außenminister Car-los Ruckauf wurde im Februar 2002 wüst beschimpft, als er vonMadrid nach Buenos Aires fliegen wollte. Die übrigen Passagierewollten ihn nicht im Flugzeug dulden. Der Mann hat es verdient,auch im traditionellen Sinn der E scraches. 1975 hat er als Ministerdas »Dekret zur Vernichtung der Subversion« unterzeichnet, dendamaligen Freibrief für die Militärs, gegen Gewerkschaften undBasisbewegungen vorzugehen, was er bis heute nicht bereut, trotzaller bekannten Folgen. Noch vor kurzem hat er sich stolz daraufbezogen und erklärt, dass er einen solchen Schritt jederzeit wiedertun würde ...

(Dieser A rtikel erschien zuerst in der ila, Nr. 259, Oktober 2002.)

Neun Punkte:Grundsätze von H.I.J.O.S.

• Die Völkermörder, ihre Komplizen, Nutznießerund Anstifter müssen vor Gericht gestellt und be-straft werden.

• Tatsächliche Außerkraftsetzung der Straffrei-heitsgesetze und Auflösung des Repressionsappa-rates.

• Aufklärung der Identität unserer geraubten Ge-schwister.

• Unabhängigkeit von allen Institutionen oder po-litischen Parteien.

• Horizontale Organisierung und Bereitschaft zumKonsens.

• Wiederherstellung der sozialen und solidari-schen Zusammenhänge, die die Diktatur zerstörthat.

• Nein zur so genannten »Theorie von den zweiDämonen«, die den Widerstand mit dem Staats-terrorismus gleichsetzt.

• Wir beziehen uns auf den Kampf unserer Elternund ihrer GenossInnen für ein gerechtes und soli-darisches Land, für ein Land ohne Elend undAusschluss, und wollen diesen Kampf weiterfüh-ren.

• Freiheit für die politischen Gefangenen; Schlussmit der Verfolgung von sozialen KämpferInnen.

• Wir vergessen nichts, wir verzeihen nichts, wirversöhnen uns nicht!

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Die Repräsentation als solche ist ein Verhältnis von Verhältnis-sen. Die Besonderheit der »Gesellschaft des Spektakels« (Debord)liegt darin, dass die Repräsentation allgegenwärtig wird und ande-re Ausdrucksverhältnisse »vergessen« gemacht werden. Dies be-inhaltet, dass die Herausforderungen, denen sich die Menschenjeder Epoche gegenübergestellt sehen, negiert und – in derselbenBewegung – virtualisiert werden. Stattdessen werden Bilder ver-breitet, die jeden möglichen Lebenssinn durch eine Illusion erset-zen. Diese täuscht Selbstverwirklichung und Ganzheit vor, wasdie für den Kapitalismus konstitutive Trennung sicherstellt. Tiefeingelassen in die Kategorie des Individuums ist die vom post-modernen Kapitalismus perfektionierte Virtualisierung, die alleNotwendigkeiten des Lebens umfasst und sich auf alle E lementeder Wirklichkeit bezieht.

E ine Vielzahl von E rfahrungen erzeugen demgegenüber –unbewusst und enträumlicht – Werte einer neuen Vergesellschaf-tung. Diese Erfahrungen beteiligen sich an der Herstellung vonSinnpotenzialen, die in keinster Weise bewusst oder freiwillig ko-ordiniert werden.

In der Tat besitzt jede Erfahrung, jede Situation eine radikaleEinzigartigkeit. Dies stellt auf keinen Fall in Frage, dass die vielenSituationen, jede auf ihre Art, die Sinnprobleme einer Epocheangehen. Gemeinsame Probleme existieren nur in der konkretenSituation. Und sie existieren ausgehend von hegemonialen E le-menten – der Kapitalismus gehört dazu –, an denen sich sehr ver-schiedene Situationen abzuarbeiten haben.

Aber im Unterschied zur Logik der Repräsentation bilden dieeine Epoche begründenden Probleme und die eine jeweilige Kon-junktur bedingenden dominanten Elemente keine repräsentativeEinheit, welche die radikale E inzigartigkeit jeder Situation aus-löscht. Das Globale erlangt, selbst wenn es den Anschein habenmag, keine eigenständige Konsistenz.

Soziale Veränderungen können über die Repräsentation hinausals eine Dynamik begriffen werden, die sich nicht mehr in dendominanten Koordinaten der Modernität vollzieht. Die Produkti-on von Welt ist nicht mehr das Werk eines in sich konsistentenund wirksamen Subjekts, das in der Lage wäre, aus eigenem Wil-len und aus der wissenschaftlichen Erkenntnis historischer Geset-ze heraus die Geschichte zu lenken. Nur wenn im Gegenteil dieIdee eines geschichtsübergreifenden Subjekts und alle Fortschritts-

Colectivo Situaciones

Diffuse Netze: Von der politischen Illusionzu neuen Formen der Gegenmacht

In diesem abschließenden Kapitel sollen einige theoretische Über-legungen weiterentwickelt werden, die im Buch nur am Randeoder noch gar nicht angesprochen wurden. Es handelt sich umeine Kritik der Repräsentation sowie um Fragen der Vernetzung.

R epräsentation funktioniert ausgehend von konstruiertenSubjektivitäten. Repräsentiert wird angeblich etwas bereits Vor-handenes. E ine Anwältin, ein Politiker oder eine Delegierte han-deln demnach ausgehend von der Konstruktion einer Gruppe, diedann von ihnen vertreten werden soll: KundInnen, die Wahl-bevölkerung, die BürgerInnen eines Landes, die Gesamtheit derLohnarbeitenden oder Studierenden usw. Diese Präexistenz ist insInnere der Repräsentationsbeziehung eingelassen und liegt nichtzeitlich davor. Der vertretene Teil der Gesellschaft konstituiert sichnicht unabhängig von der Beziehung der Repräsentation. ErnestoLaclau betont, dass der Repräsentant – in der Konstitution dieserBeziehung – die repräsentierte Gruppe durch das Repräsentations-verhältnis »schließt«. Auf diese Weise ist die Repräsentation nichtvon dem Repräsentierten getrennt. Sie ist die spezifische Form derVerknüpfung zwischen den Menschen und daher keinesfalls harm-los oder neutral.

Die Marktgesellschaften, so die zentrale These von Guy Debord,sind Gesellschaften der Repräsentation. Das Repräsentations-verhältnis dringt überall ein und trennt die Repräsentanten vonden Repräsentierten. Die grundsätzlichen Kategorien in Gesell-schaften der Repräsentation sind »Konsens«, »Meinung«, »Artiku-lation«, »explizite Netze«, »Kommunikation« und »Vereinbarung«.Es sind Kategorien der Trennung, des Kapitalismus. Es handeltsich um Gesellschaften, in denen das Bild, das Fragmentierte, derKonsum und das Individuum dominieren. In ihnen erklärt sichdas Verhältnis der Menschen zueinander durch die Erzeugung ei-nes Bildes, welches als »vereint« darstellt bzw. erscheinen lässt, was»getrennt« fortexistiert.

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te ziviler Mittäterschaft bloßzulegen – sprich die gesamte Logikdes Genozids, der Zermalmung der Revolution, der Folter- undVernichtungszentren als extremster Ausdruck der mörderischenLogik des Kapitals.

Wenn dieses erste Moment des Einsatzes für die Menschen-rechte dazu diente, die innerste Funktionsweise unserer Gesell-schaften zu entschlüsseln, so sind die E scraches der OrganisationH.I.J.O.S. ein konkreter Ansatz, um Gerechtigkeit von unten her-zustellen. Diese Praxis nimmt vom repräsentativen JustizapparatAbschied und greift auf die Nachbarn, das Gedächtnis der Überle-benden und auf die Jugendlichen zurück, welche die Komplizen-schaft mit den Völkermördern anklagen.

Ähnliches lässt sich vom Kampf der indigenen Bevölkerung inChiapas sagen. Ausgehend von einer nichtkapitalistischen undindigenen Subjektivität, die in der Lage ist, die Formen des über-lieferten, in die Dorfgemeinschaften eingelassenen Gedächtnisseszu bewahren, und auf der Grundlage konkreter E lemente vonSubsistenzökonomie und Praktiken kollektiver Entscheidungsfin-dung sowie im Zusammentreffen mit der Geschichte der Befrei-ungskämpfe in Lateinamerika haben die Neozapatistas das Wortergriffen, um alle Diskurse abzulösen, die Regierungen und Nicht-regierungsorganisationen der metropolitanen Länder »über« sieverbreiteten. Der Neozapatismus orientiert sich an einem Den-ken, das alle E lemente der aus vergangenen Kämpfen überliefer-ten Traditionsbestände neu organisiert.

Als eine Bewegung der nationalen Befreiung verteidigt er vollund ganz seine Zugehörigkeit zur mexikanischen Nation. Zur glei-chen Zeit ist sich diese Bewegung aber bewusst, dass es weder eineeinheitliche Norm gibt, die eigene Nation zu »leben«, noch dassdiese Norm anderen übergestülpt werden kann. Die Fähigkeit, fürsich selbst zu sprechen, bringt diese Indigenen in die außerge-wöhnliche Lage, zu erklären, wer sie sind bzw. wie sie leben. Sieteilen der Welt das Wissen einer negierten Kultur mit, was in unsdie Überzeugung bestärkt, dass es die Mannigfaltigkeit von Le-bensformen in der Welt zu akzeptieren gilt.

Diese Haltung unterscheidet sich sehr von der modernen Auf-fassung, die definieren will, wie die Welt zu sein hat. Gleichzeitigverteidigen die Zapatistas ihre eigene Situation mit der Waffe inder Hand. Dieses »Bewaffnetsein« hat allerdings keine Beziehungmehr zu traditionellen Guerilla-Strategien der Machteroberung.

mythen überwunden werden, wird der Weg offen zu einer Kon-zeption, von der aus sich Werte entwickeln lassen, welche die Exis-tenz neu deuten.

Westliche Frauenbewegung, Madres und Zapatistas

Die Frauenbewegung im Westen, die Menschenrechtsgruppen inArgentinien oder der indigene Widerstand in Mexiko, um nur ei-nige bekannte Beispiele zu nennen, zeigen, wie der Kampf fürWerte der Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit über die Kon-zeption eines einheitlichen Geschichtssubjekts hinausweist. In derkonkreten Situation werden hier neue Diskurse geschaffen. In-dem diese Bewegungen von sich selbst sprechen und so den domi-nanten Diskurs in Frage stellen, mit dem im Rahmen der gelten-den Normen über sie gesprochen wird, teilen sie sich der ganzenWelt mit.

Auf diese Weise hat sich der von den Frauen eingenommeneOrt im Laufe einer Generation radikal verändert. Aber auch – undaufgrund dessen – der Ort der Männer. Diese Transformation hat-te jedoch ihren Ursprung und ihre Wirkungsmacht nicht in denStaatsapparaten. Dies will nicht heißen, das all diese Kämpfe sichnicht in eine spezifische Gesetzgebung eingeschrieben hätten. Aberdiese Gesetze hätten von sich allein aus nicht die Wandlungspro-zesse auslösen können, welche die Kämpfe der Frauen bewirkthaben.

Das Gleiche lässt sich vom Engagement für die Menschenrech-te in Südamerika, und hier vor allem in Argentinien, sagen. Zu-erst waren es die Mütter der Plaza de Mayo, dann die OrganisationH.I.J.O.S., welche das Wort ergriffen haben, um in eigener Per-son klarzumachen, was für sie Gerechtigkeit bedeutet. Die Madresforderten das Wiedererscheinen ihrer verschwundenen Angehöri-gen als Lebendige (»aparición con vida«) und verhinderten dadurch,dass diese zu Toten erklärt und mit einem Schlag alle Konsequen-zen ausgelöscht wurden, die sich aus dem »Verschwindenlassen«(desaparición) ergaben.

Wenn die Verschwundenen verschwunden bleiben, dann – sodie Forderung der Mütter und Großmütter – »wollen wir wissen,warum dies geschah«. Und diese Erklärung führte dazu, die Ge-samtheit der vom Terrorstaat angewandten Methoden, die Mit-wirkung der mächtigsten Staaten des Westens und eine lange Ket-

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Politik: Dieses obskure Objekt der Begierde

Die politische Illusion besteht in der sich wiederholenden Behaup-tung, dass die Politik nicht von anderen Faktoren bestimmt wird,sondern dass sie selbst bestimmendes Moment ist. Demnach wäredas Politische – der Staat – das, was der Kopf – das Bewusstsein –für den Körper darstellt: ein Denken, das der Gesamtheit der Kör-perteile Leben einhaucht und ihnen Sinn, Aufgaben und Funktio-nen zuteilt. Das Politische erscheint so als Instanz, in der die an-sonsten zerstreuten Fragmente des Sozialen koordiniert und ver-knüpft werden. Auf die eine oder andere Weise ist so das Politischeder Ort der Befehlsgewalt, die Schaltzentrale sowie das Zentrumder Philosophie. Politik zu machen heißt nicht, sich zu fragen,wie mit dem, was passiert, umzugehen sei, sondern wie zu bewir-ken ist, dass das passiert, was wir wünschen. In dieser Vision derKontrolle des Realen stehen »Machtfragen« an allererster Stelle.

Die politische Illusion konstituiert sich an der Nahtstelle zwi-schen der Politik – als Kampf um Gerechtigkeit – und dem Politi-schen – als Arena staatlichen Handelns. Sie will aber nicht nurdiesen Unterschied verwischen, sondern auch die Begriffe vertau-schen und so die politischen Kämpfe als vom Politischen durch-drungen und verstanden darstellen. Diese Nahtstelle als Schlüssel-element jeder politischen Subjektivität gab den Rahmen für diepolitischen Auseinandersetzungen der 70er Jahre ab. In jenemKontext existierte jedoch zumindest noch ein Raster, in dem so-wohl der Staat als auch der soziale Widerstand von unten prak-tisch diese Subjektivität unterstützten. Dies hat sich heute radikalverändert; der Versuch einer revolutionären Umgestaltung überden Staat ist zur Karikatur geworden. Dennoch begegnen wir im-mer noch dem Argument: Da das Politische weiterhin als privile-gierter Ort des Sozialen zu betrachten sei und sich die Politik aufdiese Funktionen reduziere, sei auch heute eine soziale Transfor-mation undenkbar, die nicht der Frage der zentralen Macht Prio-rität verleihe.

Dieser Standpunkt hält uns in einem traurigen Missverständnisgefangen. E r leugnet den epistemologischen und damit auch poli-tischen Bruch der Gegenwart und mündet in einen absurden Au-tismus, was die Wahrnehmung heute stattfindender radikaler Er-fahrungen angeht.

Nach einem Jahrzehnt unangefochtener neoliberaler Herrschaft

Im Mittelpunkt steht nach Worten der zapatistischen Befreiungs-armee EZLN, was in den indigenen Gemeinden passiert, und –ausgehend davon – die Demokratisierung der Zivilgesellschaft vonunten. Dies schließt nicht aus, dass die Indigenen als mexikani-sche StaatsbürgerInnen von der Zentralregierung die Anerkennungihrer Rechte verlangen.

All diese Formen des Protagonismus haben es nicht nötig, sichaus der konkreten Situation »zu entfernen«, um sich gemeinsammit den übrigen Teilen der Gesellschaft »zu artikulieren«. Jedesdieser Experimente wirkt auf einer Ebene, die als das »konkreteUniverselle« bezeichnet werden kann. Es handelt sich um eineArbeit an universellen Problemen im Inneren der eigenen Situati-on.

Dabei scheint eines deutlich zu werden: Wo die dominantepolitische Subjektivität nicht mehr sieht als Zerstreutheit, produ-ziert der neue Protagonismus ausgehend von vielfältigen FormenSinn. Die fundamentale Annahme der politischen Subjektivität,die besagt, dass die Menschen sich von der Welt abspalten müs-sen, um diese begreifen und kontrollieren zu können, sieht sich soernsthaft in Frage gestellt. So wird nicht mehr gelebt. Es geht nichtmehr um den Menschen im Angesicht der Geschichte, der in ihrseinen Sinn zu bestimmen trachtet, sondern um die Einbeziehungdes konkreten Menschen in seine konkrete Situation, um eine vonder Situation ausgehende Weise, die Welt zu bewohnen und nachden sich öffnenden Möglichkeiten zu fragen.

Der Mythos des Globalen bricht in sich zusammen: Die Weltexistiert seit jeher auf sehr konkrete Art und Weise. Und die Ver-antwortung über das, was mit ihr geschieht, ist ganz und gar nichtexklusiv in den Händen der Personen, die in den »globalen Insti-tutionen« arbeiten.

Der neue Protagonismus kann alle ansprechen, ohne dabei dieGrenzen der eigenen Situation überschreiten zu müssen. Diesunterscheidet ihn von der Ideologie der Kommunikation. Politi-sche Radikalität beinhaltet also eine Wiederbegegnung mit »dem,was passiert«. Ihre Kraft besteht nicht zuletzt darin, sich nicht vonden Anforderungen, die eine Zeit der eigenen Existenz auferlegt,trennen zu lassen. Es handelt sich um eine erneute Suche danach,wie die Probleme der Existenz zu lösen sind, nachdem sich diepolitische Subjektivität ein für alle Mal erschöpft hat.

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Zepter der Tyrannei ab. Keine Pädagogik der Macht ist so wir-kungsvoll, als dass sie solche Repräsentationen kontrollieren, ver-ändern und manipulieren könnte.

Die Phantasie der A bkürzung besteht im Glauben an die Mög-lichkeit, in der direkten Auseinandersetzung Repräsentationendurch andere ersetzen zu können. Der Staat könnte, so die An-nahme, durchaus durch andere Gruppen geführt werden. Jede ein-zelne von ihnen wird als Träger einer Gesamtheit von eigenständi-gen Repräsentationen wahrgenommen, die von oben her in derGesellschaft durchgesetzt werden. Es formt sich so eine Ansamm-lung von Begriffen, die vorgeben, Ausdruck von Kenntnissen überdie politischen Räume und den Kampf um ihre Besetzung zu sein.Diese Phantasiewelt einer politischen Physik gehört zu den Wissens-beständen der politischen Subjektivität. Ihre Diskurse sind, wiewir schon gesehen haben – und wie es einer übersättigten Vorstel-lungswelt zu E igen ist –, darauf aus, die letzten Spuren der Wirk-lichkeit zu tilgen.

Nur wenn die bisher geäußerten Gedanken über die Grenzender politischen Subjektivität und die Herausbildung eines neuensozialen Protagonismus Gültigkeit besitzen, macht die Frage Sinn,inwiefern die Spannung zwischen »Politik« – d.h. den alltäglichenKämpfen, den Werten der Gerechtigkeit Gestalt zu verleihen –und staatsbezogenem Handeln ebenso unvermeidlich wie notwen-dig ist. Immer vorausgesetzt, dass diejenigen, die jeweils die bei-den Pole der Beziehung besetzen, die Natur derselben begreifen.

Wenn die Politik glaubt, administrative Akte zur Gänze erset-zen zu können, wird sie einem elementaren Idealismus verfallen.Wenn umgekehrt staatliches Verwaltungshandeln an die Stelle derPolitik tritt, wird daraus ein Vulgärmaterialismus folgen, der dierevolutionäre Theorie und Praxis unter sich begräbt. Es gibt keinerevolutionäre Verwaltung an sich. Die staatliche Verwaltung alseine Gesamtheit von Beziehungen, Gesetzen und verschiedenenElementen zur Organisation einer Gesellschaft kann – zu einembestimmten Zeitpunkt – die Losung, das historische und konjunk-turelle Ziel der Politik darstellen. Gleichzeitig sollte die Verwal-tung aber auf keinen Fall anstreben, die Politik als solche zu elimi-nieren. Dies gilt vice versa auch für jede Versuchung, die sozialeWirklichkeit mit Politik zu übersättigen, weil eine Gesellschaft ohnejede »Verwaltung« zu verschwinden droht.

Diese Reflexion ist insofern von entscheidender Bedeutung, als

sprießen heute überall neue Kämpfe hervor. Die politische Sub-jektivität lässt uns diese Auseinandersetzungen aber nicht ange-messen begreifen. Sie führt uns in Dilemmata, die nur sehr schweraufzulösen sind. Sich zu fragen, ob das Politische – der Staats-fetischismus – noch in der Lage ist, das alles zu begleiten, was aufder Ebene des neuen sozialen Protagonismus vor sich geht, machteine tief greifende Reflexion über all unsere bisherigen politischenArgumentations- und Verhaltensweisen nötig.

Abkürzungen

Die Aufforderung, »sich des Staatsapparats zu bemächtigen«, be-legt, wie der umfassende Charakter des Politischen in Vergessen-heit geraten ist. Was dabei vergessen wird, ist nicht weniger be-deutsam und trifft das Herz der politischen Illusion. Wenn das,was der Nationalstaat repräsentiert, die Resultante von Tendenzendarstellt, die an der gesellschaftlichen Basis entstehen bzw. sichdort organisieren, so ist der demokratische Staat niemals etwasanderes als ein mehr oder weniger gelungener Reflex – eben eineResultante von Tendenzen und keine autonome Tendenz. Und dieshat den Preis, dass jedweder Verzicht das Staates, in dieser Formzu agieren, diesen selbst in seinen Funktionen als Souverän in Fra-ge stellt – und gerade dies tritt heute in weiten Teilen ein.

John Holloway hat jüngst daran erinnert, dass die Repräsenta-tion nicht neutral ist, sondern sich im Gegenteil unter der kapita-listischen Hegemonie konstituiert. Dass der Staat verschiedene Ten-denzen ausdrückt, repräsentiert oder reflektiert, lässt ihn nicht überdie vorherrschende Hegemonie hinauswachsen. Diese Beobach-tung hilft unser zentrales Argument noch genauer zu fassen. Es istdemnach illusorisch zu glauben, dass die Staaten, welche dieseHegemonie repräsentieren, sich in Instrumente verwandeln könn-ten, um auf der Grundlage einer konsistenten Entscheidung gera-de die Hegemonie umzustoßen, die ihnen erst ihren spezifischenCharakter verleiht.

Die Verfasstheit der sich herausbildenden und im Staatsapparatorganisierten Repräsentationen besitzt einen Status von Realität,der für diejenigen, die sie zu modellieren beabsichtigen, struktu-rell unbeweglich erscheint. Wer Repräsentationen durch anderezu ersetzen sucht, um auf dem Weg zur Machtergreifung eineAbkürzung einzuschlagen, gibt schon einen Kandidaten für das

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Das diffuse Netz agiert ausgehend von Resonanzen. Die Proble-me einer Epoche, d.h. bestimmte für alle existierende Hindernis-se, werden mit anderen geteilt und so wird – in der Situation – dieVermittlung von Wissen, Sinn und Aussagen ermöglicht. Dabeigibt es keine Imitation oder direkte Übersetzung, welche die Wirk-samkeit dieses Wissens verallgemeinern und ihm sofortige allum-fassende Geltung verleihen könnte.

Diese Begegnungen und Verbindungen implizieren nicht dieHerstellung eines neuen globalen Raums. E in explizites Netz kanndie verschiedenen Situationen nur verknüpfen, wenn sie diese alsKnotenpunkte des Netzes begreift. Dies gelingt nur, wenn ein vir-tueller Raum der Kommunikation zwischen homogenisierten Er-fahrungen auf der Basis gemeinsamer Eigenschaften vorausgesetztwird. Die E inzigartigkeit der Situation wird so beeinträchtigt. Derkonkreten Erfahrung droht ein Kontrolldispositiv übergestülpt zuwerden.

Diffuses Netz und explizites Netz sind also zwei Begriffe, mitdenen aus der Perspektive des neuen Protagonismus heraus diemöglichen Verbindungen zwischen den Erfahrungen von Gegen-macht unterschieden werden können. Das explizite Netz wird hierdefiniert durch die aktiven Verknüpfungen zwischen Knotenpunk-ten, die durch einen gegenwärtigen Sinn organisiert werden. Dasdiffuse Netz besteht demgegenüber aus dem Umfeld einer Situati-on bzw. den sie umgebenden Situationen, mit denen sich dieseSituation durch Resonanzen austauscht.

Das diffuse Netz ist die Wahrnehmung des globalen Netzes ausder Sicht der Situation. Während das globale Netz dadurch funk-tioniert, dass es die gesamte Spannbreite möglicher Knotenpunk-te unter dem virtualisierenden Band der Kommunikation zusam-menfügt, operiert das diffuse Netz als Gesamtheit des Widerstandsgegen den abstrakten Standpunkt des globalen Netzes. Um es an-ders auszudrücken: Das globale Netz kann als eine der biopoli-tischen Herrschaft eigene Strategie der Zerstreuung angesehen wer-den, während das diffuse Netz die Fähigkeit darstellt, sich dieserStrategie zu entziehen bzw. eine reale Autonomie gegenüber demglobalen Netz zu erreichen.

Das diffuse Netz ist die Sichtweise, die uns erlaubt, von einemgemeinsamen Fundament aus die Verbindung zweier Situationenzu denken. Das diffuse Netz bestätigt die Unmöglichkeit, das glo-bale Netz im expliziten Sinne zu organisieren. Ein Zusammen-

sie angesichts der Erfahrung des Scheiterns des Realsozialismusversucht Bilanz zu ziehen und aus diesem Scheitern zu lernen.Auch wenn der Staat nicht den privilegierten Ort sozialer Trans-formation darstellt, so ist er doch als Ort in der Gesellschaft nichteinfach zu unterdrücken oder als Realität zu verleugnen. Es han-delt sich in der Tat um einen Ort, der in jeder komplexen Gesell-schaft bestehen bleiben wird, und gleichzeitig um einen mögli-chen Bezugspunkt, der zu einem Element sehr verschiedenartigerkonkreter Situationen werden kann.

Es gibt daher »situationistische« Eckpunkte, um das Verhältniszur »Politik des Staates« zu denken. E inerseits die Selbstverge-wisserung einer A utonomie der konkreten Situationen, die nichtdarin besteht, sich abzukoppeln, sondern darin, ausgehend voneigenen Dimensionen der Zeit und des Raums sowie selbst-definierten Kriterien diese Beziehung anzunehmen. Andererseitsgilt es, die verschiedenen Möglichkeiten des Verhältnisses zum Staat– Vereinnahmung, Repression und die Fähigkeit, in punktuellenAspekten mit seinen Institutionen zusammenzuarbeiten – richtigzu deuten und in der Lage zu sein, diese angemessen zu gestalten.

Globale, explizite und diffuse Netze

Wenn die Kritik an der Illusion der Repräsentation zutrifft, dannfolgern daraus weit reichende Fragen für die AlternativbewegungArgentiniens: Stellt ihre Vielfalt ein Problem dar, welches durchFormen strengerer Organisation überwunden werden muss, umden sozialen Kämpfen Wirksamkeit zu verleihen? Oder könnensich die Erfahrungen des neuen Protagonismus auf andere Weisemiteinander vernetzen?

Ein Netz, das diese Erfahrungen verknüpft, kann nur ein diffu-ses Netz sein. Deren Einzigartigkeit besteht gerade darin, dass dieeigene Praxis impliziert, das globale Netzwerk – die Norm, dasPanoptikum – zu verlassen und in diesem Überschreiten Wissenüber sich selbst und über die eigene Situation zu erlangen.

Das explizite Netz kann über die Voraussetzungen, auf denen esberuht, nicht wirklich hinausgehen. Diese bestätigen die eigenenFormen des Austauschs. Sie isolieren sich nicht, sondern ziehenneue Grenzen gegenüber dem, was außerhalb liegt. Oder sie eig-nen sich dieses »Außen« an, indem sie in der Beziehung zu ihmsouverän werden.

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blick zur Totalität wird. Das Konzept des diffusen Netzes will die-se Möglichkeit in dem Sinn ausloten, dass dieses Netz nie wirklichals solches existiert. Wir sähen uns insofern nicht Teilen oder Frag-menten, die es zu verknüpfen gilt, sondern im radikalen SinneSingularitäten gegenüber, die dazu fähig sind, Resonanzen ande-rer Universalitäten zu empfangen, und dies aus dem einfachenGrund, weil diese Singularitäten dazu berufen sind, die Welt – dasNetz – in ihre eigene konkrete Universalität zu integrieren.

Die Zerstreuung erlangt so einen anderen Status. Sie steht nichtmehr für den Mangel einer »Politik«, die sich willentlich am Staatausrichtet, und ihr Ziel ist nicht mehr die Zentralität. Die Zer-streuung ist die spontane Ausdrucksform der heutigen vom kapi-talistischen Markt dominierten Gesellschaft. Sie wird nur aktivund produktiv, wenn sie Mannigfaltigkeit (multiplicidad) wird.

Vom Standpunkt des äußeren Beobachters wird das Handelnin der Mannigfaltigkeit als Fehlen eines Zentrums und einer Ko-ordination zwischen den einzelnen Teilen wahrgenommen, wobeidie Mannigfaltigkeit häufig mit Zerstreuung verwechselt wird.Bedingt durch ihre politische Subjektivität als Universitätsan-gehörige, Mitglieder politischer Organisationen und NGOs sowieals »global« engagierte Personen widersetzen sich viele einem Den-ken, das Prozesse aus dem Inneren der Vielfalt heraus zu verstehenversucht.

Das Multiple und das Fragmentierte gehen von der gleichenGrundlage aus. Zwischen ihnen gibt es aber auch einen wesentli-chen Unterschied: Während das Fragmentierte sich auf einen vor-herigen oder zukünftigen einheitlichen Sinn bezieht, findet dasMultiple seinen Sinn in sich und besteht nur aus sich selbst. DieZerstreuung ist so das Multiple, das jede Konsistenz, also jedenSinn, verloren hat. Der neue Protagonismus ist demgegenüber dasMultiple, das sich selbst als solches entdeckt. Von außen her be-trachtet kann er nur als reine Zerstreuung erscheinen, wobei voneiner fehlenden Ausgestaltung im Inneren des Multiplen selbst aus-gegangen wird. Ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen kanndie Situation – als ein Multiples unter Multiplen – zur Welt spre-chen, ohne dabei von »der« äußeren Welt zu sprechen. Dies be-zeichnen wir als konkrete Universalität.

Im Unterschied zur Zerstreuung befindet sich hier das Ganzein jedem seiner Teile. Jedes E lement des Multiplen, als extremeSingularität, bestätigt eine Universalität, die es erlaubt, dass wir

hang zwischen zwei Situationen ergibt sich nur ausgehend voneiner Reflexion in der Situation, die in der Lage ist, in sich selbstdie jeweils andere Situation als ein Element zu entdecken, welchesan der eigenen Konstitution teilhat.

Diese verschiedenen Erfahrungen sind keiner dominanten ge-meinsamen Eigenschaft untergeordnet, die sie eingruppiert undihre Praxis normiert, aber sie befinden sich auch nicht in einemZustand völliger Unverbundenheit. Die Situationen existieren alskonkrete Totalitäten. Es gibt nichts, was sie außerhalb von ihnenselbst suchen müssten. Es gibt keine globale »Umwelt«, aus derInformationen zu beziehen wären. Und weniger noch handelt essich um eine die Situationen regierende »globale Logik«. Vielmehrist jede einzelne der vielfältigen Situationen in ihrer Konkretheituniversal und in sich konsistent. Sie reproduziert die Welt in ih-rem Inneren. Alle anderen Situationen sind in ihr als Element ent-halten und können sich aktivieren, können ihr etwas mitteilenoder auch nicht. Es handelt sich um Resonanzen, das heißt um dieEffekte der Praxis im Innern einer Situation. Indem sie sich derProbleme einer Epoche annimmt, inspiriert sie aktive Prozesse derWiederaneignung in anderen Situationen.

Jede Situation arbeitet gleichzeitig als explizites Netz und alsdiffuses Netz, als Ausschnitt gegenüber einem globalen Netz undals diffuses Netz in Bezug auf die übrigen Situationen. Diese Re-sonanzen eröffnen Möglichkeiten des Verständnisses, was als»Wechsel von Hegemonien« bezeichnet werden kann: das Entste-hen neuer E lemente einer Epoche, die sich in jeder Situation ver-gegenwärtigen. Die Resonanzen sind die Formen, in denen dieNeuheiten, die Entdeckungen und das neue Wissen Widerhall fin-den.

Die Absicht, ein explizites Netz zu organisieren, läuft parado-xerweise ständig Gefahr, sich erneut zu zentralisieren. Was ist dasKriterium für die Zugehörigkeit zum Netz? Wie kann kontrolliertwerden, ob dieses Kriterium erfüllt wird? Wie kann vermiedenwerden, dass es im Innern des Netzes erneut Ausgeschlossene undEingeschlossene gibt?

Es gibt genügend Erfahrungen, wie alternative Gruppierungen,wenn sie sich als solche herauskristallisieren, dazu übergehen, ihreeigenen Kriterien der Zugehörigkeit und Identität festzulegen, wasparadoxerweise auf ein anderes Ziel als das gewünschte hinaus-läuft. Es könnte aber auch sein, dass ein Netz in keinem Augen-

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Denn aus all diesen Erfahrungen ergibt sich meistens die Frage,wie die ungerechten und selbstzerstörerischen Tendenzen dermenschlichen Gesellschaft umzukehren sind, wenn das Denkenin einem globalen Rahmen abgelehnt wird.

Die AnhängerInnen der Konstruktion expliziter Netze behaup-ten, dass die Globalität der Herrschaft auch einen globalen Wider-stand nötig mache. Horizontalität, Pluralismus, globale Koordina-tion, Verbreitung von Information und direkte Aktion sind Prinzi-pien, welche die Versuche leiten, unter der Losung »Lokal handelnund global denken!« antikapitalistische Bewegungen zu stärken.

Die Mannigfaltigkeit der Bewegung hingegen lässt die Etablie-rung führender oder intelligenter Zentren nicht zu, die beabsich-tigen, Orte zu sein, von denen aus gesellschaftliche Alternativenorganisiert oder gedacht werden. In der globalisierungskritischenBewegung lassen sich zwei Tendenzen erkennen. Auf der einenSeite stehen diejenigen, die sich an der Konstituierung alternati-ver Zentren orientieren und so – mit der Absicht, der derzeitigenungerechten Globalisierung eine gerechtere Globalisierung entge-genzustellen – die Zerstreuung organisieren möchten. Auf deranderen Seite befinden sich diejenigen, die auf die Mannigfaltig-keit setzen und argumentieren, dass wenn die Globalisierung eineEigenschaft des Kapitalismus ist, es dem Widerstand zukomme,die Welt zu »entglobalisieren«.

Von der alternativ-globalisierenden Position aus gesehen wirdVielfalt als ein zu organisierendes Zerstreutes angesehen, wobeiLetzteres als Mangel interpretiert wird. Dabei kommen alle Aporiender klassischen politischen Subjektivität zur Anwendung. Bei die-ser Position kommt es zu einer Neuauflage der klassischen Tren-nung zwischen dem Ökonomischen, dem Sozialen und dem Poli-tischen. Das Politische pocht auf seine Rolle als Rettungsankergegenüber der Zerstreuung der Widerstände, wobei sich die viel-fältigen Erfahrungen unterzuordnen haben. Die derzeitige Gegen-offensive von unten kann allerdings nicht auf diese Haltung redu-ziert werden.

Das Auftreten der EZLN in Chiapas stellt ein lehrreiches Bei-spiel dar, das für die Selbstwahrnehmung des neuen Protagonismuswichtig ist. Der Zapatismus gibt in der Praxis konkrete Impulse,um zu vermeiden, dass die Netze sich zu Zentren kristallisieren.Indem sie Konzepte in der Tradition von Foucault und Deleuzewiederbeleben und verbreiten, schlagen die Zapatistas das Netz

uns als Teil eines Gleichen denken können, gewissermaßen als»SchöpferInnen von Welten«. In paradoxer Weise existiert diesesNetz nicht außerhalb jedes einzelnen Knotens, sondern in jedemKnoten selbst. Jede Situation als explizites Netz arbeitet zugleichals diffuses Netz, ohne die Absicht zu haben, dieses Netz bewusstzu organisieren.

Es ist nicht erforderlich, dieses Netz zu ordnen. Es gilt, sichnicht in ihm zu verfangen. Darum dient es nur als diffuses Netz.Das Konzept des expliziten oder politischen Netzes bezeichnet denÜbergang von der Zerstreuung und Fragmentierung zur – staatli-chen – Totalität. Das diffuse Netz impliziert hingegen nicht denWechsel von einem Zustand zum anderen, sondern vielmehr dieUmwandlung der Zerstreuung in Mannigfaltigkeit.

Das diffuse Netz ist das Bild von einzigartigen Situationen so-wie schöpferischen und konkreten Formen, sich die Welt anzueig-nen, sie zu erschaffen – im Wissen, dass jede gelebte Erfahrung ineiner konkreten Situation ihre je eigenen Praxisformen, Existenz-weisen und Standpunkte hervorbringt. Das diffuse Netz besteht ausder Gesamtheit möglicher Resonanzen zwischen diesen S ituationen.Das diffuse Netz hat keinen kommunikativen Charakter: Es über-trägt keine Information.

Es wird vom Prinzip ausgegangen, dass jedes Wissen – und des-sen Wert – nur in der Situation zu begreifen ist und auf der Ge-samtheit axiomatischer Prämissen fußt, welche ihr die nötige Kon-sistenz verleihen. Die Übertragung eines Wissens von einem Sy-stem von Prämissen auf ein anderes bedeutet, die Praxis in einerSituation auf reine Informationen, d.h. auf Daten zu reduzieren.Die Informationen über eine Praxis erhalten jedoch ihren Wertnicht unabhängig vom jeweiligen Kontext der Aneignung, d.h.von der Gesamtheit von Bezugspunkten, in denen dieser Kontexterforscht wird.

Globalisierungskritik

In den letzten Jahren haben sich die Kämpfe der sozialen Eman-zipationsbewegungen weltweit verstärkt. Aber diese Gegenmachtwird nicht immer als ein diffuses Netz des neuen Protagonismusverstanden. Viele derjenigen, die an dieser neuen Radikalität teil-haben, begreifen sich selbst als Teil eines globalen Kampfes. IhreAbsicht ist, den Widerstand in expliziten Netzen zu organisieren.

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Außerhalb unserer westlichen Kultur des Individuums ist es schwie-rig, sich einen Standpunkt vorzustellen, von dem aus die Welt alsganze beobachtet werden könnte.

Situationistisches Wissen (die Escraches)

Nach Ansicht von Horacio González sind die E scraches die spezifi-schen Waffen der nach dem 19. und 20. November entstandenenVersammlungen. Während einige plündern und andere die Stra-ßen blockieren, widmen sich die Versammlungen den E scraches.Das in der Bewegung der Stadtteilversammlungen vorherrschende»Alle sollen abhauen, keiner soll bleiben!« nimmt demnach in Wor-ten vorweg, was sich dann in Form von E scraches materialisiert:»Keiner soll ohne E scrache bleiben!«

Die E scraches der letzten Jahre sind von der OrganisationH.I.J.O.S. neu erfunden worden. Die Arbeit der Wiederaneignungsowie der Schaffung neuer Aktionsformen, um ihren ForderungenAusdruck zu verleihen, ermöglicht es den heutigen Versammlun-gen, sich eine Protestform anzueignen, die dank jener Vorleistungnun allen zur Verfügung steht. Die Praxis der E scraches hat sichohne Zweifel enorm ausgebreitet. Könnte dies ein Beweis dafürsein, dass das Netz, von dem wir gesprochen haben, funktioniert?Haben die E scraches – in ihrer generalisierten Form – noch diegleiche Bedeutung wie die damals von der Organisation H.I.J.O.S.durchgeführten? Ist dies überhaupt wichtig?

Die E scraches der Organisation H.I.J.O.S. können in erster Li-nie als praktische Vorgehensweise zur Herstellung von Gerechtig-keit verstanden werden. Als solche richten sich die Mitglieder die-ser Organisation in ihren Protesten gegen Schuldige des Genozidsder Militärdiktatur, die durch Gerichte verurteilt worden sind, ihreStrafe aber nicht verbüßt haben. Die von ihnen begangenen Ver-brechen sind also straffrei geblieben.

Die E scraches sind eine Form der Selbstbestätigung. Statt aufdie Justiz des repräsentativen Systems zu hoffen, kommen direkteFormen, Gerechtigkeit zu schaffen, zur Anwendung, ohne dabeiauf irgendwelche Vermittlungen zu warten. Hier geht es nicht nurum ein institutionelles Defizit, sondern um etwas Wichtigeres.Die E scraches richten sich nur sekundär gegen die Wirkungslosig-keit der Justiz. Es geht nicht um den Druck auf RichterInnen,auch wenn es in einigen Fällen dazu kommt. Die bleibende Wir-

als eine Welt vor, »in die viele Welten passen«. Diese Welten sindkeine zerstreuten Fragmente, keine organisierten Knoten einesNetzes, sondern bilden eine Vielfalt ohne Führung.

Der Verzicht auf die Eroberung der Macht seitens der ELZNführte zu einer Neuverortung des Staates – und zwar im Innerender Vielfältigkeit. Der Staat wäre demnach nicht mehr das Dispo-sitiv, welches den Teilen Einheit und Sinn verleiht, sondern dieInstitution, welche die Ressourcen der mexikanischen Nation re-guliert und verwaltet. Gebildet würde diese im Idealfall aus Ge-meinschaften verschiedener Berufszweige, der Universitäten, derBäuerInnen, der ArbeiterInnen, der Frauen usw., ohne dass sichdie einen den anderen unterzuordnen haben. Die Bewegung füreine umfassende Demokratisierung wird verstanden als die Auf-forderung, in jeder Situation auf ethische Weise vorzugehen. Aufkeinen Fall geht es um einen mechanischen Beitritt zumZapatismus. Die zapatistische Konzeption ist die eines diffuses

Netzes, als eine Praxis, die Koordination, Solidarität und weltweiteTreffen zulässt, ohne dabei ihre eigene konkrete Universalität zuvergessen. Es ist interessant zu beobachten, wie gerade dieses Den-ken aus dem Inneren der Situation die Zapatistas befähigt, gegendie globalen Kräfte des Kapitalismus zu kämpfen. Weit entferntdavon, sich zu isolieren, gelingt es der EZLN und den indigenenGemeinschaften im Süden von Chiapas, sich all das anzueignen,was ihnen nützlich erscheint, um ihre eigene Erfahrung zu entfal-ten.

Der Neozapatismus lässt sich auf die Auseinandersetzungen ein,denen er ausgesetzt ist. Die indigenen Gemeinschaften wollen ihreeigenen Lebensformen und ihr Verhältnis zu Natur retten, welchedurch die Interessen der großen multinationalen Konzerne bedrohtsind, deren Ambitionen auf die Biodiversität des LakandonischenUrwalds gerichtet sind. Die Zapatistas haben es geschafft, diesenKampf aufzunehmen, indem sie sich dabei mit anderen Indigenen,Intellektuellen, NGOs und politisch Engagierten aus allen Teilender Welt koordinieren. Gleichzeitig impliziert diese Praxis jedochkein »globales Bewusstsein der Welt«. Die Indigenen haben es nichtnötig, moralische Urteile mit universellem Geltungsanspruch aus-zusprechen, um daraus den Sinn ihrer Aktionen abzuleiten. Nurder Kapitalismus beabsichtigt, wirklich über die ganze Welt Be-scheid zu wissen. Für diejenigen Kulturen, die es erreichen, sichauf anderen Grundlagen zu behaupten, gibt es nur Situationen.

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E scraches in einer Zeit aus, in der sich das Potenzial der klassischenFormen der Politik zur Veränderung der Gesellschaft sowie zurGarantierung von Gerechtigkeit erschöpft hat und in denen dieangebliche politische Repräsentation sowie die merkantile undmediale Virtualisierung die sozialen Beziehungen in einem Maßeumgeformt hat, wie es bis vor kurzem noch undenkbar schien.Die E scraches waren anfänglich auf einsamer Flur, und unzähligeMale wurde auf sie mit Polizeirepression geantwortet. Das sozialeKlima, in dem sie entstanden, unterschied sich sehr von dem heu-te vorherrschenden, weit weniger repressiven.

Die Bedeutung der E scraches setzt sich aus all diesen Elementenzusammen. Wie könnte also eine andere Praxis, die der heutigenAsambleas, diese Aktionsform benutzen und dabei vorgeben, siehätte für sie selbst die gleiche Bedeutung? Es sind zwar andereE scraches möglich, jene der Organisation H.I.J.O.S. können abernicht verallgemeinert werden. Diejenigen, die die E scraches für einewirksame und medienorientierte Technik halten, d.h. für eine bloßeMitteilungsform, verraten den Sinn dieser Praxisform. Auf deranderen Seite wird sich der ursprüngliche Sinn der E scraches ver-ändern, zumal deren Bedeutung sich nicht von den praktischenUmständen trennen lässt, die sie in ihrer E inzigartigkeit habenentstehen lassen.

Die Forderung wird laut, den E scraches als Aktionsform einenneuen politischen Sinn zu geben. Dies impliziert, diese nicht inihrer äußeren Form zu reproduzieren, sondern sie zu einer neuenSingularität zu machen, welche sich aus einer eigenständigen kol-lektiven Erfahrung ergibt, die sich die E scraches aneignet und ih-nen eine eigenständige und neue Bedeutung verleiht. So betonendie Versammlungen, dass die E scraches keine generelle Wirksam-keit besitzen, sondern erst ausgehend von der spezifischen Vorge-hensweise in einer Situation effektiv werden.

E scraches, Cacerolas, Piquetes sowie A sambleas sind Aktions-formen, deren Wert darin liegt, dass Bedeutungen erst in der Si-tuation entstehen. Ihre Verallgemeinerung ist also nur scheinbar.Als jeweils explizite Netze haben sie eine Grenze. Diese verläuftdort, wo die Verbreitung einer Aktionsform in ihrer ursprüngli-chen Bedeutung – so zum Beispiel die E scraches der OrganisationH.I.J.O.S. – an konkrete Bedingungen ihrer praktischen Ausübunggeknüpft ist. Außerhalb dieser – ihnen erst Sinn gebenden – Be-dingungen lässt sich die Bedeutung der E scraches nicht länger auf-

kung der E scraches auf die Gesellschaft ist tiefgreifender und beun-ruhigender. Sie zeigen die gesamte Kette von Mittäterschaften auf,durch die der Genozid der Militärdiktatur möglich wurde. Umendlich der Gerechtigkeit Genüge zu tun, werden Tausende Per-sonen angesprochen – vor allem die NachbarInnen der ehemali-gen Täter, die dazu ermutigt werden, den Vollzug der Strafe inihre eigenen Hände nehmen. Die von den E scraches Betroffenenwerden niemals mehr NachbarInnen wie alle anderen sein. Ab jetztist bekannt, für was sie verantwortlich waren. Die Strafe wird durchden symbolischen Akt des E scrache zu einer Angelegenheit aller.

Entgegen der Ansicht vieler angeblicher SpezialistInnen – vorallem allzu schnell urteilender Intellektueller – sind die E scraches

der Organisation H.I.J.O.S. kein Medienereignis. F ür dieAnalytikerInnen der postmodernen Gesellschaft handelt es sichaußerdem um unvorhergesehene bandenförmige Keimformen desFaschismus. Die Reaktion der Töchter und Söhne gegenüber den-jenigen, die ihre Mütter und Väter ermordeten, besitzt eine völligandere Qualität. Ohne jede Macht, ohne Waffen und gewaltfreirufen die OrganisatorInnen der E scraches zu einer Aktivität auf,deren Dauer weder durch die Logik des mafiosen Drucks der Partei-apparate noch durch die Logik der Fernsehnachrichten bestimmtwird. Zunehmend stehen die E scraches am Ende eines lange vor-hergehenden Diskussionsprozesses, in dem mit den im Stadtvier-tel ansässigen Organisationen und Nachbarschaftsgruppen überden Sinn des geplanten Vorgehens debattiert wird, was den Fernseh-zuschauerInnen natürlich völlig entgeht.

Die Zeit der E scraches ist das genaue Gegenteil des Abwartens.Die direkte Aktion, die Aufforderung an die NachbarInnen desStadtviertels, selbst eine permanente Bestrafung der TäterInnenzu vollziehen, die Bande, welche die Organisation H.I.J.O.S. mitden BewohnerInnen knüpft, sowie die Praxis einer Reaktivierungbzw. Aktualisierung des Bewusstseins über vergangene sozialeKämpfe – ohne Nostalgie und ohne sich selbst als Opfer zu stili-sieren – kennzeichnen auf signifikante Art und Weise den Sinnder Aktionen. Ist es andererseits weniger bedeutsam, wenn stattden Töchtern und Söhnen der Verschwundenen Hunderte oderTausende Jugendliche einer Generation, die sich weigert, den Ge-nozid und das neoliberale Gesellschaftsmodell als Vergesell-schaftungsform zu akzeptieren, auf die soziale Verurteilung derTäterInnen drängen? Nicht ohne Grund weitet sich die Praxis der

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te zu vergessen. Wenn die Linke auf ihre Erfolge pocht, um sichan ihnen zu begeistern, und die Lehren aus dem Scheitern unterden Teppich kehrt, so ist das vorhersehbare Resultat die Unter-schätzung der Kämpfe an den Rändern der Gesellschaft sowie derdaraus gewonnenen Erkenntnisse. Auch die gescheiterten Kämpfe(und ihre Weisheit) sprechen zu uns. Und gerade in der Niederla-ge bergen sie bedeutsame historische Einsichten. Die Geschichtedes modernen Argentiniens ist eine Ansammlung von Niederla-gen, deren Erinnerung – mit ihren aus verschiedenen Gründenvergessenen Biografien und Kämpfen – nur schwer tolerierbar er-scheint. Weil sie ihr Versprechen nicht eingelöst haben oder weildie erreichten Teilerfolge diejenigen unbefriedigt ließen, die einefertige Vision davon besaßen, wie sich die Geschichte zu entfaltenhabe.

Doch das Vergessen ist eine variable Position in einem Feld ent-gegengesetzter Positionen. Was gestern noch vergessen schien,sprießt heute in ungewöhnlicher Kraft erneut hervor. Die Schich-ten aus Diskursen, Solidaritäten, E rkenntnissen und Sinn-potenzialen, die in den vergangenen Auseinandersetzungen auf demSpiel standen und für Momente in den Hintergrund geraten wa-ren, aktivieren sich im Verborgenen. Plötzlich organisieren sie sichneu und gehen zum Gegenangriff über, indem sie, wie die Glutunter der Asche, erneut das Feuer entzünden und einen Flächen-brand auslösen.

Auf die Frage, warum es gerade an den Tagen des 19. und 20.Dezember und nicht früher zum Aufstand kam, lassen sich vorallem zwei Antworten finden. Zum einen die Intensität der Ereig-nisse. Die enorme Konzentration von Forderungen sowie die Ent-scheidungen, die massenhaft von den EinwohnerInnen getroffenwurden, welche bisher mehr oder weniger unverbunden neben-einanderher lebten. Diese Intensität war bedingt durch die ange-häuften Niederlagen, die niemals ganz akzeptiert worden waren.Walter Benjamin würde sagen: Diese Niederlagen schienen eineZeit lang keinen zu belästigen, bis diese Zeit selbst plötzlich ab-rupt unterbrochen wurde. Dieses E inbrechen wird nicht ent-historisiert; es handelt sich vielmehr um die einzig wirksameHistorisierung.

Die andere Erklärung ist die Sichtbarkeit. Die Tage des 19. und20. Dezember erregten wirkungsvoll die Aufmerksamkeit. Es war,als ob jemand an jenem Morgengrauen des 20. Dezember ein Licht

rechterhalten. Dies bedeutet, dass die ausdrucksvollsten politischenAktionsformen nichts mehr sagen, wenn sie der Gesamtheit vonPrämissen beraubt werden, welche ihnen einst Sinn verliehen hat-ten.

Die Übernahme einer spezifischen politischen Praxis macht ei-nen Prozess der Neubestimmung notwendig, der darüber entschei-det, ob jener in dem neuen Sinnkontext eine Bedeutung verliehenwerden kann oder nicht. Die Übertragung einer bestimmten Pra-xis sowie deren Sinn von einer politischen Erfahrung auf die ande-re ist unwahrscheinlich. Die Ideologie der Kommunikation trach-tet danach, die ganze Welt auf das Bild und die Meinung zu redu-zieren, wodurch die Subjektivitäten des globalen Netzwerks desMarktes erzeugt werden. Durch Quantifizierung wird jeder Sinnzerstört.

Das Bewusstsein der Grenzen, die notwendigerweise jeder Si-tuation innewohnen, zeigt die Differenz auf zwischen den unter-schiedlichen Funktionsweisen des expliziten und des diffusen Net-zes. Das erstere funktioniert im Innern einer Gesamtheit gemein-samer Prämissen, das zweite dagegen in der K omplexitätverschiedener Situationen, weshalb jeder »Übergang« eine tiefgrei-fende Neuzuschreibung von Sinn erfordert. Der Traum einer Welt»ohne Grenzen« kann nicht der einer homogenen und abstraktenWelt sein, die nur einen, oder besser gesagt: keinen Sinn besitzt.

Gescheiterte Kämpfe, Gegenmacht und neue Räume

Die Linke hat, wie León Rozitchner ausführt, ihre Dogmen undModelle aus den siegreichen Revolutionen bezogen. In ihnen ma-nifestierten sich angeblich die historischen Gesetzmäßigkeiten. DieLinke spricht von der Möglichkeit, diese zu erkennen und anzu-wenden. Sie möchten die Menschen mit einem rationalen Glau-ben an die Zukunft erfüllen. Dieser Fortschrittsglauben verbirgt,dass die gleichen historischen Gesetze, die in den revolutionärenTriumphen zum Ausdruck kommen, auch zur Anwendung kom-men müssten, wenn es darum geht, die gescheiterten Revolutio-nen zu interpretieren.

Wenn es das Schicksal der erfolgreichen Revolutionen ist, zuRezepten verallgemeinert und zu Modellen mystifiziert zu wer-den, so sollten die gescheiterten Revolutionen uns lehren, ange-sichts der Erfolge nicht leichtfertig die Wendungen der Geschich-

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Erfahrungen. Andere Kämpfen reihen sich in die Landschaft desschon bestehenden Widerstands ein. Zu nennen sind hier dieUnternehmen, Fleischfabriken und andere Firmen, die bankrottgegangen und von den ArbeiterInnen übernommen worden sind.Diese halten die Aktivitäten aufrecht, verändern jedoch die Arbeits-und Produktionsformen und verbinden sie mit einer kulturellen,künstlerischen und radikalen politischen Praxis. Dies alles sindneue Formen, Gegenmacht zu praktizieren. Dieses ausgedehnteund diffuse alternative Netz ist nicht neu, aber es wird jetzt alssolches sichtbar. Unleugbar ist, dass dies alles die soziale Strukturdes Landes verändert und neue Möglichkeiten, Erfahrungen undWerte produziert, die über das hinausgehen, was sich jede einzel-ne Praxis bewusst vorgenommen haben mag. In der Tat besitztjedes politische Engagement, für sich allein genommen, keine an-deres Schicksal als das eigene Ende. Alles Lebendige muss einmalsterben. Daran ist nichts verwunderlich, und daher bedeutet dasEnde einer bestimmten Praxis auch keinen Verlust im eigentli-chen Sinn. Im Gegenteil kommt derjenigen Haltung Wert zu, dieweiß, wie mit dem Ende bestimmter Praxen umzugehen ist. DieUnsterblichkeit ist kein Ziel an sich, sondern die Wirkung derIntensität dessen, was jede – individuelle oder kollektive – Praxis-erfahrung in der ihr eigenen Zeit vollbringt. E in erfüllte Erfah-rung verändert die Lebenschancen aller, multipliziert sie und wei-tet sie aus. Nur in diesem Sinne überdauert jede radikale Praxisihr eigenes Dasein. Darin besteht der unumkehrbare Charakterder Aufstände, die dem zeitgenössischen Argentinien ihren Stem-pel aufprägten.

Der Dezemberaufstand ist eine Öffnung hin zur Zukunft, diees zu leben und mit Bedeutung zu erfüllen gilt. E ine neue Radika-lität beginnt diesen offenen Raum zu besetzen.

angezündet hätte. Der Hinweis war klar: »Hier passiert etwas; hierkann man nicht mehr weiterschlafen, als ob nichts geschehen wäre!«Die allgemeine Sicht auf die Dinge, mit anderen Worten die Selbst-wahrnehmung des Landes, veränderte sich, und damit struktu-rierte sich das Diskursfeld des Öffentlichen neu. Es war, als obsich ein Patient der Realität seines Leidens vergegenwärtigte. DasEnde einer trügerischen Illusion.

Der 19. und 20. Dezember waren Tage der Verschmelzung, derNeuschaffung, der Unumkehrbarkeit, der Sichtbarkeit, der Inten-sität, der Neuanpassung, der Rückkehr und der Erfindung. KeinDiskurs wird die gesamte Bedeutung dieser Tage ausloten kön-nen. E in Aufstand neuen Typs, ohne AutorInnen, ohneEigentümerInnen, welcher durch die Verschmelzung vieler Ge-schichten möglich wurde. Perplex blieben diejenigen zurück, diesich als seine ProtagonistInnen angesehen hatten, die sich seit Jah-ren auf ihn vorbereitet hatten und die von sich behaupteten, sehrgut zu wissen, was in wichtigen Momenten der Entscheidung zutun sei. Die erträumten Aufstände sind immer (im)perfekter undunmöglicher als die realen, die sich nicht an die karikaturhaftenReste einer verschlissenen Avantgarde anpassen. Ohne ein organi-satorisches Zentrum erzeugte die Masse selbst die praktischen undwirkungsvollen Maßnahmen, gemeinsam alle vorhandenen Frag-mente der Vergangenheit und der Gegenwart zu potenzieren undzu koordinieren. So kommt es zur Aktualisierung von Erkenntnis-sen, Erinnerungen und Forderungen, die länger als vorgesehendie Zeit überdauerten. Die Masse handelte als Mannigfaltigkeitohne Zentrum.

Wer wäre in der Lage, die Urheberschaft dieser Tage ausfindigzu machen, Menschen, die sie erdachten, die sie voraussagten?Wer könnte die komplexe Aneinanderreihung von Cacerolas,Piquetes, Demonstrationen und Forderungen einer einzigen Lo-gik, einer einzigen Vernunft unterordnen? Selbst das Netz der Ver-sammlungen, das sich in der Folge des Dezemberaufstands her-ausbildete, kann sich wohl kaum die Urheberschaft der Ereignissezuschreiben. Wenn es so viele mögliche Geschichten, Chronikenund HistorikerInnen gibt, wird verständlich, dass die Geschichtevielfältig und perspektivisch ist, das diese Erzählung kein einheit-liches und konsistentes Subjekt besitzt.

In der derzeitigen Lage kommt es zu einer Neuanpassung derWiderstandspraxis an die E inzigartigkeit der jeweiligen lokalen

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Herrschaft – Krise – Widerstand

Chronologie der jüngsten Geschichte Argentiniens

Bis 1976:In Argentinien hatte sich Anfang der 70er Jahre eine Gegenmachtvon unten herausgebildet, die aus einem breiten Spektrum vonlinken Gewerkschaften, Stadtteilorganisationen, SchülerInnen- undStudentInnengruppen, autonomen ArbeiterInnen-Vertretungen,KünstlerInnen- und Intellektuellenkreisen sowie bewaffneten Or-ganisationen bestand.

Ihrem Selbstverständnis nach sahen sich große Teile dieser ge-sellschaftlichen Opposition in der Tradition des sozialen Wider-stands nach dem Staatsstreich gegen die Regierung unter Präsi-dent Juan Domingo Perón im Jahre 1955 sowie einer Reihe vonVolksaufständen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre. Derbedeutsamste war sicher der Aufstand in der Provinz Córdoba, deram 19. Mai 1969 begann und sich über mehrere Tage hinzog.Beim sog. Cordobazoübernahmen ArbeiterInnen und StudentInnendie Kontrolle über die Hauptstadt der Provinz, bis der Aufstandblutig niedergeschlagen wurde.

1974 gewann Perón erneut die Präsidentschaftswahlen – dies-mal gestützt auf eine äußerst heterogene peronistische Bewegung,die einen faschistischen rechten Flügel mit bewaffneten Banden,aber auch einen revolutionären linken Flügel aufwies, aus dem dieGuerilla-Organisation Montoneros hervorging.

Als Perón 1974 starb, übernahm dessen Ehegattin, María EstelaMartínez de Perón, sein Amt. Schon unter ihrer Regierung kam eszu blutigen Verfolgungen der linken Opposition durch die Todes-schwadronen. Im März 1976 putschten die Militärs.

1976–1983:Die sieben Jahre dauernde Militärdiktatur war Teil einer Strategie›antisubversiver‹ Kriegsführung im Süden des lateinamerikanischenKontinents, die länderübergreifend in der sog. Operación Condorkoordiniert wurde. Ultima Ratio des Staatsterrorismus, der Zehn-tausende sozial und politisch engagierter Menschen illegal gefan-gen nehmen und verschwinden ließ, war die Zerschlagung jegli-

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cher linker Opposition und ihrer Widerstandpotenziale. Die Dik-tatur kann als Beginn einer blutigen neoliberalen Umstrukturie-rung des Landes angesehen werden, welche zusammen mit derChiles – dort hatte der Putsch zweieinhalb Jahre zuvor stattgefun-den – weltweit gesehen eine Vorläuferfunktion besaß. Massenmordeund ›Verschwindenlassen‹ fanden ihre Entsprechung in der Verei-nigung des dominanten Klassenblocks unter neoliberaler Hege-monie.

Von diesem Moment an begann ein kontinuierlicher Prozessder Reichtumskonzentration sowie der Zerstörung nationaler Pro-duktionskapazitäten, die das Ergebnis einer dreißigjährigen Stra-tegie sog. importsubstituierender industrieller Entwicklung gewe-sen waren. Neoliberale Wirtschaftsrezepturen nach Vorlage der sog.Chicago Boys und die Propagierung einer Vaterlandsideologie gin-gen Hand in Hand mit einer »Kultur« der Straffreiheit (impunidad),unter deren Deckmantel – und mit Hilfe der einströmendenFinanzkredite, welche die Auslandsschulden Argentiniens verviel-fachten – die illegale persönliche Bereicherung und der Luxus-konsum einiger weniger grassierten.

Trotz der enormen Niederlage, die durch das ›Verschwinden-lassen‹, die tausendfachen äußeren und inneren Exile sowie diealltägliche Unterdrückung der Linken zufügt worden war, begannsich in den letzten Jahren der Diktatur ein aktiver Widerstandgegen die Militärherrschaft zu formieren. Dieser gewann vor al-lem nach der desaströsen Niederlage des gegen die englischen Streit-kräfte geführten Malvinen-Kriegs (April – Juni 1982) an Stärke,hatte jedoch seinen Ursprung im mutigen Engagement der Madresde Plaza de Mayo, die bereits 1977 begonnen hatten, mit ihrenweißen Kopftüchern auf dem Platz vor dem Regierungspalast inBuenos Aires zu protestieren. Es waren die Forderungen der Müt-ter nach dem »Wiedererscheinen der Verschwundenen als Leben-dige« und nach der »Bestrafung aller Schuldigen«, welche neueWege eröffneten, um die Vorherrschaft des Schweigens aufzubre-chen und die Legitimität des Mörderregimes öffentlich in Fragezu stellen.

1983–1989:Dieser Zeitraum wird gemeinhin als Periode der »Rückkehr zurDemokratie« bezeichnet, in der es zur Wiedereinrichtung formal-demokratischer Institutionen kam. Nach den verheerenden Aus-

wirkungen der Militärdiktatur war dieser Prozess mit der Hoff-nung verbunden, dass durch die erneute Abhaltung freier Wahlensowie die Stärkung demokratisch-parlamentarischer Mechanismendie Möglichkeit eröffnet würde, die Verantwortlichen des Geno-zids vor Gericht zu stellen und zu bestrafen. E ine zweite Zielrich-tung war die Rekonstruktion einer demokratischen Bewegung vonunten, um die unter der Diktatur praktizierte Wirtschaftspolitikumzukehren, indem es zu einer Neuverteilung des Reichtums so-wie zur Wiederlangung des verloren gegangenen Lebensstandardsder Bevölkerungsmehrheit kommt.

Die Unión Cívica Radical (UCR), parteipolitischer Ausdruckdes sog. Radikalismus – neben dem Peronismus die zweite tradi-tionelle politische Kraft des Landes –, gewann zum ersten Mal inder Geschichte eine Präsidentschaftswahl gegen ihren historischenGegenspieler (vor Entstehung des Peronismus in den 40er Jahrenhatte die 1890 gegründete UCR, die ihrerseits als liberale Opposi-tion gegen die Konservativen entstanden war, mehrere Präsiden-ten gestellt; dasselbe war während des Verbots des Peronismus inden 50er und 60er Jahren der Fall). Präsident Raúl Alfonsín zähltezum Sektor der mit der europäischen Sozialdemokratie verbunde-nen UCR. Kurz nach seinem Amtsantritt annullierte er die vonden Militärs vor deren Abtreten ausgearbeiteten Straffreiheitser-lasse und verfasste an deren Stelle zwei neue: einen über die straf-gerichtliche Verfolgung der Militarjuntas und einen anderen überdie Einleitung von Gerichtsverfahren gegen die Mitglieder politi-scher Organisationen, die den bewaffneten Kampf geführt hatten.

Auf diese Weise begann sich eine Lesart der jüngeren Geschichtedurchzusetzen, die mit der Totalitarismustheorie vergleichbar warund in Argentinien als »Theorie der zwei Dämonen« bezeichnetwurde. Diese bestand darin, sowohl den Terror der Militärs alsauch die (bewaffnete) Gewalt linker revolutionärer Organisatio-nen zu verdammen, weil sie beide außerhalb der verfassungsmäßi-gen Legalität gehandelt hätten. Die beiden Kontrahenten wurdenunter der Annahme gleichgesetzt, dass die Geschichte der 70erJahre Folge der Irrationalität auf beiden Seiten war, während dieGesellschaftsmehrheit »unschuldig« gewesen sei.

Gegründet wurde auch die offizielle Kommission über dasVerschwindenlassen von Personen (Comisión N acional deDesaparición de Personas, CONADEP), welche beauftragt war, Fälledes Verschwindenlassens aufzudecken (der weltweit Aufsehen er-

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regende Bericht der Wahrheitskommission unter dem NamenNunca Más [Nie wieder] ist vom Hamburger Institut für Sozial-forschung ins Deutsche übersetzt worden).

1984 bestätigte die Regierung, dass die weitaus überwiegendeZahl der unter der Militärdiktatur arbeitenden RichterInnen auchweiterhin im Amt bleiben dürfe; gleichzeitig fuhr die ersteParlamentskammer (Congreso de la Nación) fort, Mitglieder derStreitkräfte zu befördern, die direkt am Genozid beteiligt gewesenwaren. 1985 wurde ein Erlass verabschiedet, laut dem RichterInnennur Militärs der oberen Ränge verurteilen durften, wodurch siedie Straffreiheit der Uniformierten bestätigten. Nur zehn Prozentaller Angehörigen der argentinischen Streitkräfte konnten so we-gen unter der Militärdiktatur begangener Verbrechen gegen dieMenschlichkeit vor Gericht gestellt werden.

In der Regierungszeit von Alfonsín nahm auch die argentini-sche katholische Kirche die Massenmörder in Uniform in Schutz.Hohe Amtsinhaber forderten wiederholt eine generelle Amnestieund nahmen eine permanente Oppositionshaltung gegen die de-mokratisch gewählte Regierung ein. Gestützt wurden sie dabei voneinigen Sektoren der peronistischen Partido Justicialista. Speerspitzedieser Strategie der Konfrontation mit der UCR-Regierung warendie Massenmobilisierungen und Streiks der mit dem Peronismusverbundenen Gewerkschaften.

Im Dezember 1986 wurde das »Schlusspunktgesetz« (L ey delPunto F inal) verabschiedet, das eine 60-Tage-Frist für alle richter-lichen Vernehmungen derjenigen Angehörigen der Streitkräfte fest-legte, die der Mitwirkung am Genozid unter der Diktatur ver-dächtig waren.

Im April 1987 kam es zu einer bewaffneten Erhebung einesSektors der Streitkräfte. Den Carapintadas – den »geschwärztenGesichtern«, so der Name der Aufständischen – ging es um dieWahrung korporativer Interessen sowie – zur Aufrechterhaltungder »Würde des militärischen Stands« – die Forderung nach einerkompletten Straffreiheit für alle uniformierten »Verteidiger des Va-terlands«.

Als Reaktion auf die Militärrebellion versammelten sich Millio-nen von Menschen auf öffentlichen Plätzen und vor den Kaser-nen, um gegen den Aufstand und für die Verteidigung der Demo-kratie zu protestieren. Die Regierung verhandelte daraufhin mitden Aufständischen und erreichte, dass diese sich ergaben. Als

opportunistische »Gegenleistung« verabschiedete sie das »Befehls-notstandsgesetz« (L ey de Obediencia Debida). Dies beinhaltete, dassalle untergebenen Angehörigen der Streitkräfte, der Polizei sowiedes Gefängnispersonals, die wegen ihrer Teilnahme an Aktionendes Verschwindenlassens von Personen verurteilt worden waren,freigesprochen wurden, weil sie nur den von ranghöheren Stellenausgegeben Befehlen gehorcht hätten. Am Ende der Amtszeit derRegierung Alfonsín im Jahr 1989 befanden sich nur noch 18 an-geklagte Militärs vor Gericht.

In dieser Periode verstärkten sich die Konzentrationsprozesse inder Wirtschaft, die Auslandsschulden stiegen in Schwindel erre-gende Höhen. Ständig neu aufgelegte Wirtschaftspläne, 13 Gene-ralstreiks und der Ausbruch einer Hyperinflation hatten zur Kon-sequenz, dass sich das soziale Konfliktniveau immer mehr erhöh-te. 1989 kam es zu Plünderungen von Supermärkten, die dazuführten, dass die Regierung vorzeitig zurücktrat.

1989–1999:Mit Carlos Menem als neuem Präsidenten setzte sich 1989 poli-tisch erneut die peronistische Partido Justicialista durch. DerenWahlversprechen waren eine Neuauflage des traditionellen popu-listischen Diskurses des Peronismus. Im Mittelpunkt standen da-bei die angestrebte Umverteilung des Volkseinkommens in Formeiner Angleichung der Löhne abhängig Beschäftigter nach oben(salariazo) sowie eines gleichzeitigen »revolutionären« Produkti-vitätsanstiegs in der Wirtschaft (revolución productiva). Zu den ers-ten Maßnahmen der neu gewählten Regierung gehörte die Begna-digung aller bisher wegen Menschrechtsverbrechen gerichtlichverurteilten Angehörigen der Streitkräfte, wodurch das System derStraffreiheit endgültig zementiert werden sollte. Dieser Schrittkonnte jedoch nur gegen eine massive gesellschaftliche Oppositi-on durchgesetzt werden.

Die Eckpunkte der neoliberalen ›menemistischen‹ Wirtschafts-strategie waren die völlige Außenöffnung der Ökonomie, die wirt-schaftliche Deregulierung, die Wechselkursparität zwischen demargentinischen Peso und dem US-Dollar sowie die Privatisierungder staatlichen Unternehmen (Telekommunikation, Eisenbahnen,Landstraßen und Autobahnen, Fluglinien, Häfen, Strom-, Gas-und Wasserversorgung, Bergbau, Ölsektor usw.), wobei die zuvorstaatliche Altersversorgung in die Hände von Joint V entures zwi-

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schen transnationalen und einheimischen Kapitalgruppen geriet.In wenigen Jahren kam es zu einer enormen sozialen und öko-

nomischen Spaltung im Inneren der Gesellschaft, die bisher imVergleich zum übrigen Lateinamerika noch einen relativ hohenGrad interner Integration aufgewiesen hatte. Die radikal sozial-darwinistisch geprägte Umstrukturierung der sozialen Verhältnis-se war nur möglich, weil der Peronismus sich in dieses Trans-formationsprojekt einbinden ließ. Die diesen von jeher auszeich-nende Korruption wurde zum strukturellen Element des argen-tinischen Neoliberalismus. Die wachsende Unfähigkeit des Staates,die herkömmlichen Integrationsleistungen zu vollbringen, förder-te eine Logik mafioser Strukturen in Politik und Wirtschaft, wel-che sich um die institutionellen Reste des Nationalstaats herumgruppierten.

Von Anfang an regte sich wachsender sozialer Widerstand ge-gen dieses ökonomische, soziale und kulturelle Modell, das in ab-rupter Weise immer größere Armut und Arbeitslosigkeit hervor-rief. Die neu entstandenen Kämpfe verorteten sich dabei mehrund mehr außerhalb des traditionellen politischen Bezugsrahmens.Immer weniger war der Peronismus in der Lage, über die Einbin-dung oppositioneller Kräfte in seine Klientelstrukturen das sozialeAufbegehren einzudämmen und dessen ProtagonistInnen zu »re-präsentieren«.

Ende 1992 gründete sich die Central de Trabajadores A rgentinos(CTA). Diese hatte sich von der peronistischen Gewerkschaftsbe-wegung abgespalten und konstituierte sich im Wesentlichen umdie Gewerkschaften der Staatsangestellten sowie der LehrerInnenstaatlicher Schulen. Zu den Gründungsprinzipien der CTA ge-hörte die Unabhängigkeit vom Staat, von den Unternehmerver-bänden sowie von den politischen Parteien.

Im Jahr 1993 kam es in der Provinz Santiago del Estero zumersten massiven Ausbruch der bei der Bevölkerungsmehrheit an-gestauten Wut und Verzweiflung, dem sog. Santiagueñazo. DerVolksaufstand richtete sich gegen alle Symbole der staatlichenMacht. Die Kluft zwischen den repräsentativen institutionellenFormen und den sich ausbreitenden Kämpfen von unten wurdeimmer größer.

1994 organisierte sich der landesweite »Marsch in die Haupt-stadt«, zu dem die CTA sowie die maoistisch orientierte CorrienteClasista y Combativa (CCC) aufriefen und an der viele soziale und

studentische Organisationen sowie Menschenrechtsgruppen teil-nahmen. Die aus verschiedenen Landesteilen kommenden Marsch-routen endeten auf der Plaza de Mayo im Zentrum von BuenosAires.

1994 war auch das Jahr, in dem aufgrund der E inigung zwi-schen den beiden traditionellen politischen Parteien die Wieder-wahl des Staatspräsidenten über eine Verfassungsreform ermög-licht wurde (gleichzeitig wurde die Amtszeit des Präsidenten vonsechs auf vier Jahre reduziert). Zuvor hatte sich das oppositionelleWahlbündnis Frente Grande formiert, das sich später Frente paraun País Solidario (Frepaso – »Einheitsfront für ein solidarischesLand«) nennen sollte und politisch in der linken Mitte verortetwar. Diesem Bündnis gelang es, Teile der sozialen Unzufrieden-heit angesichts des Zerfalls des etablierten politischen Systems zukanalisieren. Im Mai 1995 wurde Carlos Menem wiedergewählt;das Bündnis Frepaso wurde noch vor der »Radikalen Partei« zurzweitstärksten politischen Kraft des Landes.

Mitte der 90er Jahre begann eine Reihe von sozialen Kämpfen,die außerhalb der klassischen Formen der politischen Interventionentstanden und in denen sich schon Elemente eines neuen sozialenProtagonismus herausbildeten. 1996 kam es zu einer Massende-monstration aus Anlass des 20. Jahrestages des Staatsstreiches von1976. Aus ihr entstand die Organisation H.I.J.O.S., eine Vereini-gung von Jugendlichen, die sich in die Tradition der Madres dePlaza de Mayo und ihres Kampfes um »Gerichtsprozess und Be-strafung« für die Schuldigen des Genozids stellten und jene aufkreative Art und Weise neu interpretierten. Kurze Zeit später brach-ten die Mitglieder von H.I.J.O.S. die E scraches hervor, eine einzig-artige neue Form der Justiz von unten.

Vorhanden waren auch schon Erfahrungen bei der Organisie-rung der Stadtteile sowie der Bauernschaft (so in der Campesino-Bewegung von Santiago del Estero, die seit Mitte der 90er Jahreentstand) sowie ein breites Spektrum von autonomen studenti-schen Vereinigungen, alternativen Projekten in den Bereichen Bil-dung und Gesundheit, autonomen Kulturinitiativen, Tauschringensowie selbstorganisierten Volksküchen.

Im Juni 1996 erblickte eine neue Widerstandsform das Lichtder Welt, die später im ganzen Land als Piquetero-Bewegung be-kannt werden sollte. In der Stadt Cutral-Co (Provinz Neuquén)kam es zur ersten großen permanenten Straßenblockade, einer

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neuen Form des sozialen Kampfes der Arbeitslosen. Die Straßen-blockaden oder Piquetes entstanden im Landesinnern und schufensich allmählich neue organisatorische Formen. Diese Widerstands-praxis unterschied sich deutlich von den ersten spontanen Massen-aufständen gegen die Umsetzung des neoliberalen Programms.Schnell weiteten sich diese neuen Kampfformen auf das ganze Landaus. E in kollektiver Lernprozess von unten veränderte die gesell-schaftliche Szenerie. Zu ihm gehörten lokale Streiks, Massen-mobilisierungen, E scraches, Besetzungen von Universitäten undweiterführenden Schulen usw.

1997 errichteten Mitglieder der LehrerInnengewerkschaft vordem Parlamentsgebäude in Buenos Aires das »Weiße Zelt«. Mitdieser Initiative schlug die Gewerkschaft den Weg zeitlich befri-steter Hungerstreiks von LehrerInnen ein, um gegen die finanziel-le Krise und die Umstrukturierungspläne des öffentlichen Schul-systems zu protestieren. In der ganzen Gesellschaft wuchs die Viel-falt von Aktionsformen proportional zur Durchsetzung immerunsicherer und entregulierterer Arbeits- und Lebensbedingungen.

1997 traten F repaso und UCR in eine Parteienkoalition mitNamen L a Alianza ein. Wenn diese auch nicht die zentralen Aspektedes herrschenden Modells in Frage stellte, so versprach sie doch,im Namen einer Politik der Transparenz gegen die Korruption vor-zugehen und einen größeren sozialen Ausgleich anzustreben. BeiParlamentswahlen im Oktober diesen Jahres fügte die A lianza demPeronismus eine Niederlage zu, als sie in der Provinz Buenos Aires,die als wichtigste Hochburg der PJ galt, die Mehrheit gewann. Inder Endphase des Menemismus vervielfachten sich die sozialenKonflikte. Auch in dem die Hauptstadt umgebenden städtischenGürtel begannen sich Piquetero-Organisationen herauszubilden.

1999 wurden Präsidentschaftswahlen abgehalten. Der Kandi-dat der Oppositionsallianz und UCR-Chef Fernando de la Rúabesiegte seinen Gegenspieler, den Peronisten Eduardo Duhalde.Die Wahlfront Frepaso stellte mit Chacho Álvarez den Vizepräsi-denten des Landes.

1999 – 2001:Kurz nach dem Amtsantritt der neuen Regierung blockierten Staats-angestellte und LehrerInnen, die schon mehrere Monate auf ihrenLohn warteten, die Brücke zwischen den Provinzen Corrientes undChaco. Der neue Innenminister, der dem als fortschrittlich be-

trachteten Flügel der Regierungskoalition angehörte, ordnete diegewaltsame Räumung der Brücke durch die Polizei an, bei wel-cher diese zwei Demonstrierende umbrachte. Trotz ihrer Wahlver-sprechen setzte die Regierung der A lianza die Politik der Härtegegenüber den sozialen Bewegungen fort. In der Folgezeit verlo-ren mehr als ein Dutzend soziale AktivistInnen durch Polizeige-walt ihr Leben.

Im April 2000 brachte die Regierung gegen massiven Wider-stand den Entwurf einer Arbeitsrechtsreform ins Parlament ein,welche die vom Menemismus verfolgte Politik der Entrechtlichungund Deregulierung der Lohnarbeit fortschrieb. Kurz danach, imAugust desselben Jahres, wurde bekannt, dass die Mitglieder desSenats Bestechungsgelder erhalten hatten, damit sie der neuenArbeitsrechtsgesetzgebung zustimmten. Als Reaktion darauf, dassdie übrige Regierung nur wenig Bereitschaft zeigte, gegen die Ver-antwortlichen des Skandals vorzugehen, trat Vizepräsident Álvarezim Oktober 2000 von seinem Posten zurück. Dieser Amtsverzichtließ den Bruch innerhalb der Regierungskoalition deutlich wer-den.

Der Rücktritt des Vizepräsidenten wurde auch von den Vermö-genden und Konzernen als Schwäche interpretiert. Sie brachtenihr Kapital verstärkt im Ausland »in Sicherheit«. Die Destabi-lisierung der Wirtschaft und die drohende Zahlungsunfähigkeitnötigte den Internationalen Weltwährungsfonds (IWF) im darauffolgenden Februar 2001 dazu, ein außergewöhnliches Hilfspaketvon mehr als 20.000 Mio. US-Dollar Kreditzusagen zu schnüren,damit die argentinische Regierung den anstehenden internationa-len Kreditverpflichtungen nachkommen konnte.

Offiziell wurde geschätzt, dass die Hälfte der E rwerbs-bevölkerung ohne Arbeit war oder sich als Unterbeschäftigte inzeitlich befristeten oder prekären Arbeitsverhältnissen befand. Dieökonomisch-soziale Krise beschleunigte die politische und umge-kehrt. Im März 2001 trat auf Druck der wirtschaftlichen Macht-eliten ein neuer Wirtschaftsminister sein Amt an, der strukturelleAnpassungsmaßnahmen von über fünf Milliarden US-Dollar vor-schlug, was Haushaltskürzungen und sogar die Schließung öffent-licher Universitäten zur Folge gehabt hätte. In der Gesellschaftkam es zu einem derartigen Aufbegehren gegen die geplantenMaßnahmen, dass der frischgebackene Minister sogleich seinenHut nehmen musste. Um das »Vertrauen der Märkte« in die Re-

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gierungspolitik zurückzugewinnen, trat Domingo Cavallo auf denPlan, der schon einmal während der ersten Präsidentschaft Menemsdie Wirtschaftspolitik der Regierung geleitet hatte und als Schöp-fer der Peso-Dollar-Parität galt. In den sechs Monaten seiner Amts-zeit versuchte Cavallo mit – scheinbar unvermeidlich erscheinen-den – Maßnahmen, den ökonomischen Zusammenbruch sowiedie innere und äußere Zahlungsunfähigkeit des argentinischenStaates zu verzögern.

Im Mai 2001 kam es zu einem Ereignis, das eine ungeahnteGrößenordnung annahm. Es ging um die drohende Schließungder argentinischen Fluggesellschaft A erolíneas A rgentinas. Die Pri-vatunternehmen, in deren Händen sich die ehemals staatlicheGesellschaft befand – unter ihnen die privatisierte spanische Iberia–, hatten diese vollständig ausgeplündert und ließen sie auf denBankrott zusteuern. Was anfänglich einen Konflikt mit den Ge-werkschaften darstellte, wurde zu einem Skandal, der die gesamteGesellschaft erschütterte. Die Schließung der argentinischen Flug-linie wurde zum Symbol für den neoliberalen Ausverkauf des Lan-des.

Parallel dazu erreichten die sozialen Konflikte immer größereAusmaße. Im Juni kam es zu einer Straßenblockade bei GeneralMosconi, einer der größten Ölraffinerien Argentiniens im Nordendes Landes. Die Piqueteros besetzten die Zugangsstraße zum Un-ternehmen, um ihrer Forderung nach staatlich finanziertenArbeitsbeschaffungsmaßnahmen, den sog. Planes Trabajar, Nach-druck zu verleihen. Bei der brutalen Niederschlagung der Blocka-de-Aktion durch private Sicherheitskräfte verloren einige Menschendas Leben.

Im Sommer 2001 kommt die erste landesweite Piquetero-Ver-sammlung (Primer Congreso Nacional Piquetero) zusammen, umdie Erfahrungen mit dieser Widerstandsform auf Landesebene zukoordinieren. Es wurde ein Aktionsplan verabschiedet, der die zeit-weilige Blockade wichtiger Landstraßen sowie der Zugangsstraßenzur Hauptstadt beinhaltete. Die auf dem Kongress erreichte E in-heit währte jedoch nicht lange.

Die politische, soziale und ökonomische Krise war inzwischenmehr als offensichtlich. In allen Provinzen des Landes wurdenumfangreiche Protesttage veranstaltet, aber es multiplizierten sichauch die Erfahrungen von Gegenmacht, die noch nicht vollstän-dig sichtbar waren. Im Oktober 2001 standen zwei Drittel der

Sitze des Kongresses zur Wahl an. Der Urnengang vollzog sich ineinem Klima verstärkter sozialer Konflikte, in denen aber aucheine tiefgehende Abneigung gegen das politische System zum Aus-druck kam. Wahlsieger wurde der Peronismus mit 31 Prozent derabgegebenen Stimmen, die A lianza bekam zehn Prozentpunkteweniger. Das Bemerkenswerteste dieses Urnengangs war aber, dass40 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung ihren Wahlzettelungültig ausfüllten – das sog. voto bronca (Wahlzettel der Wut) –oder nicht zur Wahl gingen, obwohl in Argentinien Wahlpflichtbesteht.

Die aus den Wahlen hervorgegangene Regierung kann ihreSchwäche zu keinem Zeitpunkt bemänteln. Am 3. Dezember 2000beseitigt sie per Dekret die feste Anbindung des Peso an den Dol-lar und beschließt, die deponierten Sparfonds des Landes einzu-frieren – zu einem Zeitpunkt, zu dem die InhaberInnen größererKapitalguthaben schon längst ihre »Schäfchen ins Trockene«, sprichins Ausland, gebracht hatten. Die »E infriedung« der Finanzen(corralito financiero) war nötig geworden, weil die Banken die klei-nen und mittleren SparerInnen nicht mehr bedienen konnte, wel-che die Hauptleidtragenden der Regierungsmaßnahme waren. Ausohnmächtiger Wut entstand eine breite Bewegung von Klein-sparerInnen (Movimiento de A horristas).

Die durch den Corralito bedingte drastische Einschränkung desGeldumlaufs und die damit einhergehende Unsicherheit brachtedie wirtschaftlichen Tätigkeiten fast vollständig zum Erliegen. Am15. Dezember kommt es zu den ersten Plünderungen von Super-märkten. Am 19. Dezember wird der Ausnahmezustand verkün-det. Noch am selben Abend sowie am darauf folgenden 20. De-zember beginnt der Aufstand.

Dezember 2001 – Januar 2002:Die Massendemonstrationen des 20. Dezember auf den Straßenvon Buenos Aires hinterließen mehr als ein Dutzend Tote. Auchin anderen Städten, wie zum Beispiel Rosario, gab es gewaltsameAuseinandersetzungen und Ermordete. Durch den Druck desVolksaufstands trat um 20 Uhr Staatspräsident de la Rúa zurück,der angesichts der E inkreisung des Regierungspalasts, der CasaRosada, durch die Demonstrierenden vom Dach des Gebäudes ausmit einem Hubschrauber ausgeflogen werden musste. Mit zumAmtsverzicht beigetragen hatte die Weigerung des Peronismus, in

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eine Regierungskoalition mit der A lianza einzutreten. Erst in denAbendstunden leerten sich langsam die Straßen.

Zu dieser Zeit tauchten in der Nähe des Obelisken – der einenzentralen Platz der Innenstadt von Buenos Aires ziert – in Zivilgekleidete Kommandos der staatlichen Geheimdienste auf. Wiezu Zeiten der letzten Diktatur stiegen sie aus ihren Fahrzeugenohne Kennzeichen und schossen mit Schnellfeuergewehren in dieMenschmenge, die sich ermüdet auf dem Heimweg befand. NeunDemonstrantInnen wurden dabei ermordet.

Alle Fernseher waren eingeschaltet. Die Regierung existiertenicht mehr. Ein Blick ins Stadtzentrum: ramponierte Autos undeingeschlagene Schaufensterscheiben.

Bekannt wurde die Zahl von 40 Toten im ganzen Land. Es blei-ben viele Zweifel sowohl über die Zahl als auch die Umständedieser Ereignisse. Denn obwohl viele Morde von JournalistInnen,FotografInnen und anderen AugenzeugInnen sowie in einigenFällen sogar GerichtsbeamtInnen dokumentiert worden sind, istbisher noch kein einziger der Verantwortlichen verhaftet oder ver-urteilt worden.

Die Tage nach dem Aufstand waren vom Abwarten geprägt.Die Bevölkerung widmete sich der kollektiven Debatte der Ereig-nisse. In einer von beiden Kammern des argentinischen Kongres-ses – dem Abgeordnetenhaus und dem Senat – gebildeten außer-ordentlichen gesetzgebenden Versammlung ging es um diePräsidentschaftsnachfolge. Die Lage war in der Tat komplex: Mitdem Rücktritt von Fernando de la Rúa hätte eigentlich der Vize-präsident seine Stelle einnehmen müssen. Der zu Beginn der Le-gislaturperiode in dieses Amt gewählte Carlos »Chacho« Álvarezwar jedoch vor mehr als einem Jahr zurückgetreten, obwohl seinePartei auch weiterhin eine gewisse Anzahl von MinisterInnen stellte.So fiel die provisorische Präsidentschaftsnachfolge an den amtie-renden Senatspräsidenten, den Peronisten und Gouverneur derProvinz Misiones, Ramón Puerta. Dieser musste allerdings inner-halb weniger Stunden zurücktreten, weil er – als Folge einer Spal-tung der PJ in der Frage der zukünftigen Präsidentschaft – nichtdie Unterstützung der von seiner Partei geführten Provinzen er-hielt.

Der politische Hintergrund dieses Tauziehens war heikel. So-wohl die bisher regierende A lianza als auch der Peronismus hattenjedes Prestige verloren. So war die peronistische Regierung am Ende

der Amtszeit von Carlos Menem vollständig diskreditiert. Und auchder Gegenspieler Menems, der peronistische Senator – und heuti-ge Staatspräsident – Eduardo Duhalde, der acht Jahre lang diewichtige Provinz Buenos Aires regiert hatte, unterlag 1999 bei denPräsidentschaftswahlen gegen Fernando de la Rúa. Nach Einschät-zung vieler ParteipolitikerInnen hätten jedoch sofortige Neuwah-len das Ende des bisherigen Parteiensystems bedeutet, weil durchdie enorme Wahlenthaltung sowie die Wahl kleinerer oder neuerParteien die Strukturen, auf der die »Regierungsfähigkeit« beruh-te, zerstört worden wären.

Obwohl die peronistische Partido Justicialista nicht in der Lagewar, zu einheitlichen Kriterien zu gelangen, was die Ernennungeines neuen Präsidenten aus ihren Reihen anging, beschloss diegesetzgebende Versammlung: erstens dass der neue Präsident ausdem Peronismus kommen solle; zweitens dass unmittelbare Neu-wahlen eine ernsthafte Gefahr darstellten und deshalb eine Über-gangsregierung ernannt werden sollte, die in einigen MonatenNeuwahlen organisieren würde; drittens dass die neu ernannteRegierung die Unterstützung des Parlaments genießen solle. Un-ter dem Versprechen, das soziale Klima zu beruhigen, nur einigeMonate im Amt zu bleiben und danach Neuwahlen auszuschrei-ben, trat inmitten fieberhafter Verhandlungen überraschend derperonistische Gouverneur der Provinz San Luís, Adolfo RodríguezSaá, das oberste Staatsamt an.

In den wenigen Tage seiner Übergangsregierung schaffte er es,das Misstrauen aller politischen Akteure auf sich zu ziehen. Durchdie Einstellung der staatlichen Schuldendienstzahlungen an priva-te Gläubiger machte er sich die gesamte nationale und internatio-nale Wirtschafts- und Finanzwelt zum Feind. Sodann traf er sichmit allen – so mit den Madres de Plaza de Mayo, mit Piqueteros,aber auch mit hohen Militärs – und versprach ihnen die Einlö-sung ihrer jeweiligen Forderungen. Und schließlich kündigte erdie Abschaffung der Peso-Dollar-Konvertibilität an, was die Angstvor einer möglichen Hyperinflation schürte. Zudem begingRodríguez Saá einen unverzeihlichen Fehler: In der E ile der Re-gierungsbildung – so seine spätere Ausrede – ernannte erMinisterInnen und oberste StaatsbeamtInnen, die sich schon un-ter Menem aufgrund ihrer Korruptheit und faschistischen Ein-stellungen einen wenig schmeichelhaften Ruf erworben hatten.Zeitgleich zur gesetzgebenden Versammlung entstand die Bewe-

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gung der Stadtteilversammlungen (Asambleas), die dem Aufbegeh-ren der Menschen auf den Straßen immer wieder neuen Ausdruckverlieh. So bereitete ein Cacerolazo – das unermüdliche und tau-sendfache Klopfen auf Kochtöpfe – der empörten Massen der neuenRegierung ein Ende. Erneut wiederholte sich das gleiche Spiel.Diesmal versuchte sich Eduardo Caamaño, Präsident des Abge-ordnetenhauses, mit der Regierungsbildung – nur mit demUnterschied, dass Caamaño, als treuer Vasall von Eduardo Duhalde,diesem den Weg zu Präsidentschaftswürden ebnen sollte. In derTat wird Anfang Januar Duhalde zum neuen Staatschef gekürt. Erbekommt die Verpflichtung auf den Weg, die reguläre Amtszeitdes (damaligen) Regierungsbündnisses unter de la Rúa auszuschöp-fen.

Januar – Juli 2002:Hier handelte es sich um die Periode des ökonomischen Desas-ters. Die Duhalde-Regierung schaffte die fast zehnjährigeWährungsparität ab – der argentinische Peso ist heute, Anfang2003, nur noch ein Drittel eines US-Dollars wert – und wandeltedie in Dollar angelegten Bankguthaben in Peso um. Das gleichegalt für das Eigentum von Firmen und Privatpersonen. Währenddie entstandenen Verluste der Banken und Großunternehmen kom-pensiert wurden, begannen die leer ausgehenden KleinsparerInnen,die A horristas, sich zu einer spontanen Bewegung zu formieren,welche die Konfiszierung ihrer Guthaben nicht akzeptieren wollteund direkte Aktionen gegen Zweigstellen und Büros der Bankendurchzuführen begann.

Die Preise für importierte Waren – und auch der Produkte mit»exportierbaren« Komponenten – stiegen im Rhythmus der Dollar-aufwertung. Die Armut im Land wuchs mit unvorstellbarer Ge-schwindigkeit. Angesichts einer Verdreifachung der Grund-nahrungsmittelpreise in wenigen Monaten, einer Entlassungswel-le sondergleichen und eines Reallohnverfalls von 300 Prozent, ohnedass es dabei zu Erhöhungen der Nominallöhne kam, gerieten 60Prozent der Bevölkerung in ihren Sog.

Die Wirtschaft schlitterte in einen rezessiven Strudel, der einenGroßteil der ökonomischen Tätigkeiten im Land erlahmen ließ.Die Einfuhr nahm rapide ab und auf dem Markt wurden Warenrar. In diesem Kontext wird der Boom der wie Pilze aus dem Bo-den wachsenden Tauschringe verständlich. Es bildeten sich die

ersten autonomen Formen der Produktion in von ArbeiterInnenbesetzten Fabriken und Werkstätten. Bei den unzähligen Straßen-blockaden und Stadtteilversammlungen machten (und machen)die Menschen intensive Erfahrungen der Selbstregierung.

Die politischen Parteien waren nicht in der Lage, die Krisen-prozesse zu lindern, geschweige denn zu steuern. Gerüchte gingenum, dass Menem, der auf eine Rückkehr zu den Trögen der Machthoffte, auf die politische Rechte, die Hyperinflation, das Schei-tern der Regierung und das »rettende« E ingreifen der Militärs set-zen würde. Sein Programm: die vollständige Dollarisierung desLandes, die Unterstützung des unter Federführung der USA ge-gen Kolumbien gerichteten Plan Colombia sowie eine stabileperonistische Staatsführung.

Zwei wichtige Ereignisse kennzeichnen das Ende dieser Peri-ode im Sommer 2002. E inerseits schaffte es die Regierung, eineHyperinflation zu vermeiden und erfand – dank der Hilfsgelderinternationaler Finanzinstitutionen – ein neues soziales Hilfspro-gramm: die Planes Trabajar. Sie sind von internationalen Kredit-institutionen der nationalen Regierung zur Verfügung gestellte undvon Städten und Gemeinden verteilte Hilfsgelder. Für heute – nachder Umstellung auf einen flottierenden Wechselkurs – umgerech-net 50 Dollar leisten Arbeitslose dafür Arbeiten für die lokalenBehörden. Diese Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gaben den lo-kalen peronistischen Parteiverantwortlichen ein Instrument kor-porativer E inbindung an die Hand, um gegen die Piqueterosmit ihrer enormen Anziehungskraft zu konkurrieren. (Inzwischenverwalten die Piqueteros viele dieser Maßnahmen autonom undentscheiden dabei auch, welche Arbeiten zu verrichten sind.) An-dererseits kam eine Repressionsstrategie zur Anwendung, die auchvor Attentaten auf BasisaktivistInnen nicht zurückschreckte.

Ab August 2002:Die bis in die Gegenwart reichende Zeitspanne ist auf der parla-mentarisch-politischen Ebene durch die abgrundtiefe Krise allerParteien sowie durch die Debatte über die – schließlich auf den27. April 2003 festgelegten – landesweiten Neuwahlen geprägt.Die Parteilinke ist ebenfalls in hohem Maße diskreditiert und fälltfür viele als Wahloption aus, was auch auf ihr sektiererisches Ver-halten in den Stadtteilversammlungen und in den sozialen Bewe-gungen insgesamt zurückzuführen ist.

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Die Regierungsparteien der Zeit nach der Militärdiktatur – PJ,UCR und Frepaso– sind innerlich zerspalten. Der Peronismus bietetgleich drei Kandidaten gleichzeitig für die Wahlen am 27. April2003 auf: Menem, Rodríguez Saá sowie den Kandidaten der der-zeitigen Regierung, Néstor Kirschner, Gouverneur der im Südendes Landes gelegenen Provinz Río Negro. Die Unión Cívica Radicalweist einen »Mitte-Links«-Flügel – mit der in der Öffentlichkeitbekannten und geschätzten Kandidatin Elisa Carrió – sowie einen»rechten« und offen neoliberalen Flügel auf. Angeführt wird die-ser von López Murphy, einem liberalen »rationalen« Ökonomen,der programmatisch Menem nahe steht, aber auch der A lianza alsWirtschaftminister diente.

Nicht zu den Wahlen präsentieren sich hingegen der freie Ab-geordnete Luis Zamora (siehe dessen Beitrag in diesem Band) so-wie die Basisgewerkschaft CTA mit ihrem Vorsitzenden Victor deGennaro. Diese und andere Kräfte wollen so etwas wie eine argen-tinische PT (die brasilianische »Arbeiterpartei«, die mit dem Prä-sidenten Lula seit kurzem die Regierung stellt). Während aberZamora, zusammen mit Versammlungen und autonomen Organi-sationen, die Aprilwahlen boykottieren will, wird die CTA sicher-lich punktuelle Vereinbarungen mit »progressiven« VertreterInnenanderer Parteien eingehen, während sie für die darauf folgendenWahlen eigene Kandidaturen vorbereitet.

In ökonomischer Hinsicht hat der Erfolg der örtlichen Arbeits-beschaffungsprogramme sowie die bewusste Abstufung inflations-fördernder Maßnahmen den freien Fall in den ökonomisch-sozia-len Abgrund verhindern können. Allerdings kommt es weder zueinem wirtschaftlichen Wachstum, noch können die für die meis-ten Menschen fatalen alltäglichen Auswirkungen der Krise aufge-fangen werden. Die Regierung hat es erreicht, bedeutende Teileder Piquetero-Bewegung zu kooptieren, die Zahl der Cacerolazoseinzuschränken und – in einer Atmosphäre relativer, aber prekärer»Stabilität« – zu landesweiten Neuwahlen aufrufen zu können. DerDollarkurs hat sich anscheinend auf der Höhe von 3,30:1 stabili-siert.

Entscheidend in diesem Zusammenhang war die Vereinbarungmit dem Internationalen Währungsfonds (IWF), durch den Ar-gentinien erneut Zugang zu auswärtigen Krediten bekommen hatund die Zahlungseinstellung bei den bisher eingegangenen inter-nationalen Kreditverpflichtungen verhindert (bzw. aufgeschoben)

wurde. Die Regierung hat sich dabei auf die Privatisierung deröffentlichen Banken sowie auf die Erzielung eines Haushaltsüber-schusses festgelegt, der durch extrem schmerzhafte Budget-kürzungen erreicht werden soll, um den auswärtigen Schulden-dienst bewerkstelligen zu können.

Das Lager der sozialen Basisbewegungen ist von vielfältigenDebatten und Trennungen durchzogen sowie von einer enormenVielfalt an Initiativen geprägt. Dabei sind auch weiterhin drei gro-be Richtungen bestimmend, die sich schon zu Beginn der Kriseherauskristallisiert hatten: ein traditionell marxistisch-leninistischorientierter Sektor, der auf die Machteroberung, die Linkspartei-en und die von ihr beeinflussten Piquetero-Organisationen setzt;zweitens ein am Modell der brasilianischen PT ausgerichteter Sek-tor, der die CTA, die weniger »harten« Piquetero-Organisationenumfasst und die Mitte-Links-Parteien stützen will. Der dritte Sek-tor besteht aus Piqueteros und Versammlungen, die keiner der bei-den anderen Strömungen vertrauen, sondern die vielmehr in prak-tischen Experimenten am Aufbau einer Gegenmacht von untenarbeiten und über Formen nicht-zentralisierter Organisationsfor-men debattieren. Sie beziehen ihre Inspiration eher von der mexi-kanischen EZLN oder von den neuen radikalen Bewegungen La-teinamerikas wie der brasilianischen Landlosenbewegung MST.

(D ie Chronologie basiert auf einem Text des Colectivo S ituacionesund wurde von Stefan A rmborst bearbeitet.)

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Zu den AutorInnen

Stefan A rmborst, Romanist und Politikwissenschaftler, war in den90er Jahren u.a. in der Bundeskoordination Internationalismus(BUKO) aktiv und lebt heute als Übersetzer in Olba, Spanien.

A lix A rnold lebt und arbeitet im SSK, der Sozialistischen Selbsthil-fe Köln, erkundet zum Zeitpunkt der Entstehung des Buches dieGeheimnisse der Kachelproduktion und der Arbeiterkontrolle inder besetzten Fabrik Zanon in Neuquén und empfiehlt zu diesenund ähnlichen Fragen www.wildcat-www.de.

Ulrich Brand ist Mitglied im Arbeitsschwerpunkt Weltwirtschaftder BUKO und arbeitet an der Universität Kassel. Mitherausgebervon Reflexionen einer Rebellion. »Chiapas« und ein anderes Politik-verständnis (2. Auflage 2002) und Mitautor eines politischen Reise-buches zu Argentinien und Uruguay (1999).

Colectivo Situaciones ist Edgardo Fontana, Natalia Fontana, VerónicaGago, Fabio Romanella, Mario Santucho, Sebastián Scolnik, DiegoSztulwark; sie haben Soziologie, Politikwissenschaft oder Philoso-phie studiert, reproduzieren sich durch verschiedene nicht-akade-mische Tätigkeiten und leben alle in Buenos Aires.

E scena Contemporánea ist eine seit 1998 bestehende Halbjahres-zeitschrift für Kultur und Politik, die von jüngeren Akademi-kerInnen gemacht wird und zum Ziel hat, politische, kulturelleund akademische Diskussionen Argentiniens zu beeinflussen.

Horacio González, Soziologe, Professor an der Universität vonBuenos Aires, ist spezialisiert auf argentinische Literatur und Poli-tik, Direktor der Zeitschrift E l Ojo Mocho und Autor u.a. von Restospampeanos (1999) und L a crisálida (2001).

L eón Rozitchner, Philosoph, Professor an der Universität von BuenosAires, arbeitet insbesondere zu Fragen der Subjektivität, Autor unteranderem von F reud y los límites del individualismo burgués (1972),

Perón, entre la sangre y el tiempo. L o inconciente y la política (1979)und L a cosa y la cruz. Cristinanismo y capitalismo. E n torno a lasconfesiones de San A gustín (1997).

Stefan Thimmel, Architekt und Mitautor eines politischen Reise-buches zu Argentinien und Uruguay (Frankfurt/M. 1999), lebt alsGutachter und freier Autor in Berlin.

L uis Zamora, Rechtsanwalt, Menschenrechtsaktivist, zeitweise Vor-sitzender der trotzkistischen Partei Movimiento al Socialismo, 1989Abgeordneter im argentinischen Parlament. Ende der 90er bracher mit der traditionellen Linken und ist derzeit unabhängiges Mit-glied des argentinischen Abgeordnetenhauses. Er verzichtete Ende2002 auf eine Kandidatur für das Präsidentschaftsamt, obwohl erin Meinungsumfragen gute Ergebnisse aufweisen konnte.

Raúl Zibechi, Journalist und Wissenschaftler mit SchwerpunktLateinamerika. Derzeit Redakteur des internationalen Teils der lin-ken uruguayischen Zeitung Brecha; Autor u.a. von L a mirada ho-rizontal (1997) und Genealogía del argentinazo (2003, im Erschei-nen).