VERSUCH'S MAL MIT SYSTEM - KGK-Kautschuk …...Kennzahlen auch für das Gesamtbild des...

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VERSUCH'S MAL MIT SYSTEM KENNZAHLEN FÜR SPRITZGIESSVERFAHREN Derzeit sind über 240 verschiedene Spritzgießverfahren im Ein- satz – eine Vielfalt, über die wohl niemand den Überblick behält. Eine Systematisierung kann helfen, bei der Ent- wicklung einer neuen Anwendung auf bestehenden Spritzgießverfahren aufzubauen und so wertvolle Zeit zu sparen. Und kennt man erst das Verfahren, dann ist es wesentlich einfacher, den passenden Spritzgießmaschi- nenhersteller zu finden. E in weiterer wichtiger Anlass, die verschiedenen Spritzgießverfahren zu systematisieren ist, das Thema Spritzgießen für Unterricht und Lehre besser aufbereiten zu können. Da der Un- terschied der verschiedenen Verfahren oft nur in einer kleinen Änderung der Maschinenausrüstung oder der Werk- zeugkonstruktion besteht, entstehen bei der Herstellung neuer Produkte auch im- mer wieder neue Verfahrensvarianten. Die Entwicklung einer allgemein gülti- gen Klassifikation verlangt insofern eine Zusammenarbeit von Forschung und Lehre sowie den Herstellern und Anwen- dern von Spritzgießmaschinen. Die hier beschriebene Systematik ist ein erster theoretischer Ansatz. Beim Spritzgießen werden Thermo- plaste, Duroplaste, Kautschukmischun- gen, Metalle und Keramik verarbeitet. Als Voraussetzung für die Definition ei- ner allgemein gültigen Kennzahl für die verschiedenen Verfahren, galt es Grund- merkmale und Kennwerte zu finden, die eine Systematisierung der unterschiedli- chen Spritzgießverfahren erlauben und diese gleichzeitig ausreichend beschrei- ben. Grundmerkmale für die Systematik Die Systematik, die schlussendlich über einen Zahlencode abgebildet werden soll, muss die wichtigsten Verfahrensparame- ter und Maschinendetails enthalten. Gleichzeitig muss aber auch das entste- hende Formteil in seinen Abmessungen und seiner Struktur beschrieben werden. Die Klassifikation der Spritzgießverfah- ren beruht daher auf einer Einteilung in sechs Hauptgruppen: Transport des Werkstoffes in die Kavitä- ten (6 Ziffern) Werkstofferstarrung (6 Ziffern) Additive (5 Ziffern) Werkzeug inkl. Zusätze (4 Ziffern) Spritzgießsystem (6 Ziffern) Formteil (5 Ziffern) Mit Hilfe dieser Einteilung kann eine Kennzahl aus 32 Ziffern zusammen- gestellt werden. Um den Werkstofffluss beim Spritzgie- ßen zu beschreiben werden sechs Merk- male verwendet: Einspritzdruck, Hohl- raumdruck, Injektorbewegung (Schne- cke oder Kolben), Anzahl der Kavitäten, in welcher Reihenfolge die Kavitäten be- füllt werden und in welcher Form diese Befüllung erfolgt. Das grundlegende Merkmal in dieser Gruppe ist der Einspritzdruck, da hier der zu verarbeitende Werkstoff seine höchste Beanspruchung erfährt. Der Einspritz- druck wird in fünf Bereiche eingeteilt: Hochdruck-Spritzgießen (> 3 001 bar), Standard-Spritzgießen (1 001 bis 3 000 bar), Mitteldruck-Spritzgießen (301 bis 1 000 bar), Niederdruck-Spritz- gießen (< 300 bar) und Unterdruck- Autoren Igor Catic und Bozo Bujanic, Universität in Zagreb, Fakultät für Maschinenwesen und Schiffbau, Zagreb/Kroatien, [email protected] Nikola Blazekovic, PAN Papirna industrija d.o.o., Zagreb/Kroatien Friedrich Johannaber , K-Johannaber, Lohmar 76 KGK März 2008 PRAXIS PRACTICE

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VERSUCH'S MAL MIT SYSTEM KENNZAHLEN FÜR SPRITZGIESSVERFAHREN Derzeit sind über 240 verschiedene Spritzgießverfahren im Ein-satz – eine Vielfalt, über die wohl niemand den Überblick behält. Eine Systematisierung kann helfen, bei der Ent-wicklung einer neuen Anwendung auf bestehenden Spritzgießverfahren aufzubauen und so wertvolle Zeit zu sparen. Und kennt man erst das Verfahren, dann ist es wesentlich einfacher, den passenden Spritzgießmaschi-nenhersteller zu finden.

E in weiterer wichtiger Anlass, die verschiedenen Spritzgießverfahren zu systematisieren ist, das Thema

Spritzgießen für Unterricht und Lehre besser aufbereiten zu können. Da der Un-terschied der verschiedenen Verfahren

oft nur in einer kleinen Änderung der Maschinenausrüstung oder der Werk-zeugkonstruktion besteht, entstehen bei der Herstellung neuer Produkte auch im-mer wieder neue Verfahrensvarianten. Die Entwicklung einer allgemein gülti-gen Klassifikation verlangt insofern eine Zusammenarbeit von Forschung und Lehre sowie den Herstellern und Anwen-dern von Spritzgießmaschinen. Die hier beschriebene Systematik ist ein erster theoretischer Ansatz.

Beim Spritzgießen werden Thermo-plaste, Duroplaste, Kautschukmischun-

gen, Metalle und Keramik verarbeitet. Als Voraussetzung für die Definition ei-ner allgemein gültigen Kennzahl für die verschiedenen Verfahren, galt es Grund-merkmale und Kennwerte zu finden, die eine Systematisierung der unterschiedli-chen Spritzgießverfahren erlauben und diese gleichzeitig ausreichend beschrei-ben.

Grundmerkmale für die Systematik Die Systematik, die schlussendlich über einen Zahlencode abgebildet werden soll, muss die wichtigsten Verfahrensparame-ter und Maschinendetails enthalten. Gleichzeitig muss aber auch das entste-hende Formteil in seinen Abmessungen und seiner Struktur beschrieben werden. Die Klassifikation der Spritzgießverfah-ren beruht daher auf einer Einteilung in sechs Hauptgruppen:

Transport des Werkstoffes in die Kavitä-ten (6 Ziffern) Werkstofferstarrung (6 Ziffern) Additive (5 Ziffern) Werkzeug inkl. Zusätze (4 Ziffern) Spritzgießsystem (6 Ziffern) Formteil (5 Ziffern)

Mit Hilfe dieser Einteilung kann eine Kennzahl aus 32 Ziffern zusammen-gestellt werden.

Um den Werkstofffluss beim Spritzgie-ßen zu beschreiben werden sechs Merk-male verwendet: Einspritzdruck, Hohl-raumdruck, Injektorbewegung (Schne-cke oder Kolben), Anzahl der Kavitäten, in welcher Reihenfolge die Kavitäten be-füllt werden und in welcher Form diese Befüllung erfolgt.

Das grundlegende Merkmal in dieser Gruppe ist der Einspritzdruck, da hier der zu verarbeitende Werkstoff seine höchste Beanspruchung erfährt. Der Einspritz-druck wird in fünf Bereiche eingeteilt: Hochdruck-Spritzgießen (> 3 001 bar), Standard-Spritzgießen (1 001 bis 3 000 bar), Mitteldruck-Spritzgießen (301 bis 1 000 bar), Niederdruck-Spritz-gießen (< 300 bar) und Unterdruck-

Autoren Igor Catic und Bozo Bujanic, Universität in Zagreb, Fakultät für Maschinenwesen und Schiffbau, Zagreb/Kroatien, [email protected] Nikola Blazekovic, PAN Papirna industrija d.o.o., Zagreb/Kroatien Friedrich Johannaber, K-Johannaber, Lohmar

76 KGK ‚ März 2008

PRAXIS PRACTICE

Nr. KRITERIUM Im Beispiel

1 Transport des Werkstoffes oder Stoffes in dem Hohlraum

1.1 Einspritzdruck Mitteldruck Spritzgießen

1.2 Hohlraumdruck Mitteldruck im Hohlraum

1.3 Injektorbewegung axiale Einspritzung

1.4 Zahl der Transporte Doppeltransport während eines Zyklus

1.5 F olge des Transports Gleichzeitiger Transport von Werkstoff

1.6 Ablauf des Transports einmaliger Ablauf während eines Zyklus

2 Werkstoff- oder Stofferstarrung

2.1 Zeitpunkt im Formteil während des Urformens

2.2 physikalischer Zustand flüssiger Zustand des Werkstoffes (Schmelze)

2.3 – 2.5 Typ Thermoplast

2.6 Verwendungszweck Oberfläche

3 Additive zu Werkstoffen oder Stoffen

3.1 Verstärkungsstoffe ohne

3.2 Füllstoffe ohne

3.3 Farbstoffe ja

3.4 anderes ohne

3.5 Treibmittel ohne

4 Zusätze im Werkzeug

4.1 Kern (Schale) ohne

4.2 – 4.3 Teile zum Zusammenfügen ohne Einlegeteil, ohne Outsertteil

4.4 Dekoration ohne Dekoration

5 Spritzgießsystem

5.1 Kriterien für Aufbereitung der Stoffe oder Werkstoffe für die Verarbeitung

Schmelzen und Einspritzen mit zwei Einspritzeinheiten

5.2 Kriterien für das Formen und das Strukturieren anderes

5.3 – 5.4 Kriterien der Werkzeugtemperierung ohne Temperiermittel, Temperieren mit Heizelement (Elektrowiderstand)

5.5. – 5.6 Kriterien für zusätzliche und andere Funktionen

ohne

6 Art des Gebildes

6.1 Abmessungen von Formteilen Makroformteil mit mittlerer Wand- dicke (0,5–3,0 mm)

6.2 Zusammensetzung der Formteile Verbundwerkstoff

6.3 Querschnitt des Formteiles kompakt

6.4 Zahl der Komponenten im Formteil zwei

6.5 Zielsetzung der Komponente Oberfläche

Spritzgießen (< 1 bar). Ebenso wird der Druck im Hohlraum in ähnliche Druck-bereiche eingeteilt. Dieser Wert wieder-um ist ein Maß für die Beanspruchung des verarbeiteten Werkstoffs. Das Ein-spritzelement, der Injektor, kann nach seiner Form – Schnecke (vorwiegend) oder Kolben – und seiner Bewegungs-richtung unterschieden werden.

Wichtige Kriterien sind außerdem die Anzahl und die Reihenfolge der Werk-stofftransporte beziehungsweise des Ma-terialflusses während eines Spritzzyklus. Hier wird unterschieden in Einzel- oder Mehrfachtransport. Letzterer teilt sich nochmals auf in einen synchronen, se-quenziellen und intermittierenden Ab-lauf.

Wann und wie erstarrt der Werkstoff? Die nächste Hauptgruppe charakterisiert die Erstarrung des Werkstoffs mit sechs Ziffern. An erster Stelle steht hier der Zeitpunkt der Erstarrung. Im Spritzgieß-verfahren werden Werkstoffe als Ther-moplast- und Kautschukmischungen, Metallschmelzen (auch als thixotrope Mischungen) eingesetzt, während im Re-aktionsspritzgießverfahren beispielswei-se Schmelzen aus Duroplast-Vorpolyme-ren und Kautschukmischungen sowie Duroplast-, Kautschuk- und Thermo-plastdispersionen verarbeitet werden. Ein Beispiel für einen eher seltenen Er-starrungszeitpunkt: Während des Spritz-gießens bildet sich ein Rohling, der später außerhalb der Spritzgießmaschine er-starrt. Dies wird als Erstarrung nach dem Urformen bezeichnet.

Als nächstes Merkmal werden – in Ab-hängigkeit des Werkstoffes – drei ver-schiedene Arten der Produkterstarrung unterschieden. Durch Reaktionserstar-rung entstehen beispielsweise beim Ur-formen Formteile in einer der Polymerre-aktionen und das Werkzeug dient als Chargenreaktor. Bei der nachträglichen Erstarrung außerhalb des Werkzeugs können Bindemittel reaktionslos oder re-aktionsartig entfernt werden. Im Falle der Reaktionsentfernung ist die Reaktion exotherm, begleitet von der entspre-chenden Wärmeentwicklung.

Ebenso wichtig ist es, den physika-lischen Zustand der Werkstoffe beim Spritzgießprozess selbst zu beschreiben: So gibt es Schmelzen (flüssig), Dispersio-nen (flüssig), thixotropische Legierun-gen, Teilchen (fest). Die Kennzahl be-schreibt in diesem Zusammenhang ver-schiedene Hauptgruppen: Thermoplaste, thermoplastische Elastomere, Duroplas-

Erklärung der Merkmale am Beispiel eines beliebigen Spritzgießverfahrens

PRAXIS PRACTICE

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te, Kautschuk/Gummi, Holz, Metalle, Si-likate (Keramik und Glas), andere anor-ganische Nichtmetalle. Auch können die verwendeten Werkstoffe zum Urformen der Wand oder der Oberfläche verwendet werden. Hier wird unterschieden in Nor-malwand des Formteils, Sandwich und Oberfläche.

Additive spielen bei der Klassifizie-rung der Verfahren eine Rolle Die Herstellung einiger Formteile ver-langt Additive zu den Werkstoffen und/ oder Detailänderungen im beziehungs-weise am Werkzeug. Zur Definition der Kennzahl unterscheidet man sieben Ad-ditivgruppen:

Modifikatoren für mechanische Eigen-schaften (Weichmacher), Modifikatoren für Oberflächeneigen-schaften (Antistatika), Modifikatoren optischer Eigenschaften (Pigmente), Additive zur Verlängerung der Haltbar-keit und/oder Beständigkeit (Lichtsta-bilisatoren), Reaktionsstoffe (Schaumbildner, Ver-netzungsmittel), Additive zur Verbesserung der Ver-arbeitbarkeit (Schmiermittel, Füllmit-tel) und diverse Additive (Deodorants).

Auf Grund ihrer Bedeutung werden die Treibmittel in eine gesonderte Kriterien-gruppe eingegliedert und dort in che-mische und physikalische Treibmittel un-terschieden. Ebenso bilden die Ergän-

zungen für das Werkzeug selbst eine ei-gene Gruppe und werden untergliedert in Ausführungsänderungen am Kern (Schale), an den Metallteilen und der De-koration.

Kennzahlen auch für das Gesamtbild des Spritzgießverfahrens Auch kann das gesamte Spritzgießver-fahren anhand verschiedener Kriterien charakterisiert werden. Beschrieben werden durch die folgenden Kriterien der Injektor, das Werkzeug und die Art der Temperierung. Die Kennzahlen ste-hen für:

die Aufbereitung der Werkstoffe für die Verarbeitung, das Formen und Strukturieren, die Werkzeugtemperierung sowie für zusätzliche Funktionen.

So gibt es beispielsweise Spritzgießver-fahren, bei denen der Werkstoff erst im System für die weitere Verarbeitung auf-bereitet wird. Bei einigen Verfahren hat die Werkzeugkonstruktion oder die Art der Werkzeugtemperierung entschei-denden Einfluss. Bei wieder anderen Ver-fahren kann sich nach der Phase des Ur-formens im Spritzgießverfahren ein Um-formprozess beispielsweise durch Blasen anschließen. Dies muss sich in der Zu-sammensetzung der Kennzahl wider-spiegeln.

Die Kennzahlen für das Formteil be-schreiben zunächst die Größe des pro-duzierten Teils als wichtigstes Merkmal (makrotechnische oder mikrotechnische

Produkte beziehungsweise makrotechni-sche Produkte mit Mikro- oder Nano -strukturen). Auch die Wanddicke ist ein wichtiges Unterscheidungskriterium für die verschiedenen Formteile. Daneben wird die Zusammensetzung des Form-teils charakterisiert (homogen oder Ver-bundwerkstoff) sowie sein Aussehen durch den einen Querschnitt als kom-pakt (massiv), geschäumt (zellenartig) oder gesintert beschrieben. Zusätzlich kann die Zahl der Komponenten im Formteil und ihre Zielsetzung in die Kennzahl einfließen.

Siebenstellige Kennzahl für die praktische Anwendung Die nach dieser Systematik zusammen-gesetzte Kennzahl besteht aus 32 Ziffern. Für den alltäglichen Gebrauch ist diese Kennzahl zu lang und damit nicht ver-wendbar. In einer Kurzform kann ein Spritzgießverfahren auch mit sieben Merkmalen grob charakterisiert werden:

Einspritzdruck Erstarrungszeit Grundlegender Werkstoff Grundlegender Zusatzstoff zum Werk-stoff Grundlegende Zusätze zum Werkzeug Aufbereitung des Werkstoffes Größe des Formteils

Für jedes dieser Merkmal gibt es einen Zahlencode, so dass die verkürzte Kenn-zahl für die Praxis aus maximal sieben Ziffern zusammengesetzt und so ein-facher zu handhaben ist.

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