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Stand der Ermittlungen Bereits um 1900 gaben führende Fenster- und Baufachleute dem Vertikalschiebefenster keine Zukunft mehr. In den zurückliegenden Jahrhun- derten bot dieser Fenstertyp eine gute Möglich- keit, schlanke hochrechteckige Öffnungen mit ei- nem Fenster mit Lüftungsschieber zu versehen, ohne die „theuren, eisernen Beschläge“ zu ver- wenden. Im späten 19. Jahrhundert wurden die- se Fenster nicht mehr den erhöhten Ansprüchen an Dichtigkeit und Funktion gerecht, da sie „ent- weder nicht dicht schließen oder, wenn sie gut schließen, sich nur schwer öffnen lassen“. So fan- den Vertikalschiebefenster in dieser Zeit nur noch an besonderen Stellen Verwendung, etwa Veran- den, Erkern und Lauben (Abb. 1). Eine kurze Renaissance erlebte das Vertikalschie- befenster in den Gebäuden der Klassischen Mo- derne des Bauhauses. Es war als Großflächenfens- ter bis 5 m 2 innovativ, orientierte sich an der anglo- amerikanischen Baukultur und wurde mit deut- scher Präzision und Bautechnik verbessert. Damals patentierten zehn deutsche Hersteller Beschlags- systeme für Vertikalschiebefenster bis hin zum in dieser Zeit wohl einzigartigen „Weltschiebefenster System Braun“ der Firma Karl Braun Augsburg, das einzige System, das mit Federspannung ein Ver- schieben der Flügel unterstützte. In der damaligen Fachliteratur wird das Vertikalschiebefenster ein- schließlich seiner Varianten wie Versenkfenster aus- reichend gewürdigt. Aktuelle Publikationen zum Thema historische Fenster behandeln das Vertikal- schiebefenster, auch Hebe- und Aufschiebfenster genannt, nur marginal (Abb. 2). Herkunft und Entwicklung Der verglaste Fensterverschluss hat sich aus den Holzläden entwickelt. Sie waren technisch und materiell einfach herzustellen und dienten zu- 88 1 Frauenfeld (Schweiz): Die offene Loggia einer Fabrikantenvilla wurde 1911 geschlossen, einge- baut wurde ein Vertikal- schiebefenster. Als Kon- struktion wählte man eine modifizierte Panzerver - glasung. Vertikalschiebefenster Schieben statt Drehen „Schieben statt Drehen“ hieß ein Artikel von Norbert Bongartz und Rolf Heke- ler, veröffentlicht in Denkmalpflege in Baden-Württemberg 1983. Dieser viel- beachtete Beitrag öffnete den Blick für die „Augen des Hauses“. Das in der Folge an historischen Gebäuden in Baden-Württemberg rekonstruierte Schie- befenster sorgte mit dafür, dass auch einer breiteren Öffentlichkeit die Vielfalt des Fensters im Baudenkmal bewusst wurde und daraufhin auch Reparatur und Restaurierung historischer Fenster verstärkt in den Fokus denkmalpflegeri- scher Belange rückten. Eine Variante zum Thema „Schieben statt Drehen“ bie- tet das historische Vertikalschiebefenster, geschaffen in einer Zeit, als schlanke, hochrechteckige Fenster einen nach oben zu schiebenden Lüftungsflügel sinn- voll machten. Im Gegensatz zu anderen historischen Fenstergrundkonstruktio- nen wurde das Vertikalschiebefenster bis heute nie ganz vom Markt verdrängt. Als Sonderfenster wird es nach wie vor in Gebäuden mit besonderer architek- tonischer Gestaltung und funktionaler Beanspruchung eingesetzt. Nach der Beschäftigung mit den Panzerfenstern im vorausgehenden Heft will dieser Bei- trag die historische Entwicklung und Erhaltung eines gleichfalls rar geworde- nen Fenstertyps herausstellen. Hermann Klos

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Stand der Ermittlungen

Bereits um 1900 gaben führende Fenster- undBaufachleute dem Vertikalschiebefenster keineZukunft mehr. In den zurückliegenden Jahrhun-derten bot dieser Fenstertyp eine gute Möglich-keit, schlanke hochrechteckige Öffnungen mit ei-nem Fenster mit Lüftungsschieber zu versehen,ohne die „theuren, eisernen Beschläge“ zu ver-wenden. Im späten 19. Jahrhundert wurden die -se Fenster nicht mehr den erhöhten Ansprüchenan Dichtigkeit und Funktion gerecht, da sie „ent-weder nicht dicht schließen oder, wenn sie gut

schlie ßen, sich nur schwer öffnen lassen“. So fan-den Vertikalschiebefenster in dieser Zeit nur nochan besonderen Stellen Verwendung, etwa Veran-den, Erkern und Lauben (Abb. 1).Eine kurze Renaissance erlebte das Vertikalschie-befenster in den Gebäuden der Klassischen Mo-derne des Bauhauses. Es war als Großflächenfens-ter bis 5 m2 innovativ, orientierte sich an der anglo-amerikanischen Baukultur und wurde mit deut-scher Präzision und Bautechnik verbessert. Damalspatentierten zehn deutsche Hersteller Beschlags-systeme für Vertikalschiebefenster bis hin zum indieser Zeit wohl einzigartigen „WeltschiebefensterSystem Braun“ der Firma Karl Braun Augsburg, daseinzige System, das mit Federspannung ein Ver-schieben der Flügel unterstützte. In der damaligenFachliteratur wird das Vertikalschiebefenster ein-schließlich seiner Varianten wie Versenkfenster aus-reichend gewürdigt. Aktuelle Publikationen zumThema historische Fenster behandeln das Vertikal-schiebefenster, auch Hebe- und Aufschiebfenstergenannt, nur marginal (Abb. 2).

Herkunft und Entwicklung

Der verglaste Fensterverschluss hat sich aus denHolzläden entwickelt. Sie waren technisch undmateriell einfach herzustellen und dienten zu-

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1 Frauenfeld (Schweiz):Die offene Loggia einerFabrikantenvilla wurde1911 geschlossen, einge-baut wurde ein Vertikal-schiebefenster. Als Kon-struktion wählte man einemodifizierte Panzerver -glasung.

VertikalschiebefensterSchieben statt Drehen

„Schieben statt Drehen“ hieß ein Artikel von Norbert Bongartz und Rolf Heke-ler, veröffentlicht in Denkmalpflege in Baden-Württemberg 1983. Dieser viel-beachtete Beitrag öffnete den Blick für die „Augen des Hauses“. Das in derFolge an historischen Gebäuden in Baden-Württemberg rekonstruierte Schie-befenster sorgte mit dafür, dass auch einer breiteren Öffentlichkeit die Vielfaltdes Fensters im Baudenkmal bewusst wurde und daraufhin auch Reparaturund Restaurierung historischer Fenster verstärkt in den Fokus denkmalpflegeri-scher Belange rückten. Eine Variante zum Thema „Schieben statt Drehen“ bie-tet das historische Vertikalschiebefenster, geschaffen in einer Zeit, als schlanke,hochrechteckige Fenster einen nach oben zu schiebenden Lüftungsflügel sinn-voll machten. Im Gegensatz zu anderen historischen Fenstergrundkonstruktio-nen wurde das Vertikalschiebefenster bis heute nie ganz vom Markt verdrängt.Als Sonderfenster wird es nach wie vor in Gebäuden mit besonderer architek-tonischer Gestaltung und funktionaler Beanspruchung eingesetzt. Nach derBeschäftigung mit den Panzerfenstern im vorausgehenden Heft will dieser Bei-trag die historische Entwicklung und Erhaltung eines gleichfalls rar geworde-nen Fenstertyps herausstellen.

Hermann Klos

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nächst als in Öffnungen eingestellte Brettflächenzum temporären Verschluss. Hieraus entstand derin Laufleisten horizontal geführte Schiebeladen,der ohne Beschlagstechnik herzustellen war. Neben den bekannten Klapplädenvarianten gabes bereits ab dem 15. Jahrhundert vertikal ver-schiebbare Zug-, Zieh- und Fallläden, die vorran-gig bei Doppelfenstern und Fensterbändern zumEinsatz kamen (Abb. 3).Zug- und Ziehläden findet man in Südwestdeutsch-land in Esslingen am Hafenmarkt 10, in Blaubeu renam Großen Haus, in Tübingen in der Judengasse,ebenso im Bauernhausmuseum in Wolfegg und inder Altstadt von Ulm, am Schlössle in Oberlennin-gen, in Steißlingen, Postweg 6, transloziert vonEhestetten bei Hayingen und am Hof Kleiner inBodnegg-Bach. Bei allen Fällen handelt es sich umvollständige Rekonstruktionen, die nach Befundenwie Bohrungen und Kerben im Brustriegel und/oder nach archivalischen Belegen rekons truiertwurden. Laut Johannes Gromer mussten im Jahr1808 Zug- und Ziehläden ausnahmslos und unterAndrohung hoher Strafen von den Gebäuden ent-fernt werden, da diese Konstruktionen im Brand-fall den Brandübertrag von Geschoss zu Geschossbegünstigten. Gromer schreibt weiter: „Leider istin Baden-Württemberg kein solcher Ziehladen des18. Jahrhunderts mehr komplett erhalten“. So-wohl durch diese brandschutztechnischen Belangeals auch durch Barockisierung und Modernisierungging dieses Baudetail der Renaissance vollständigverloren, bis auf eine einzige Ausnahme im süd-westdeutschen Raum (Abb. 4–6).

An der Probstei in Herrenberg, dem heutigenevangelischen Dekanat, wurde 2001 von derHolzmanufaktur Rottweil hangseitig und ge-schützt vom großen Traufüberstand des Dachesein Fensterband mit vollständig erhaltener Zieh -ladenkonstruktion entdeckt und dokumentiert.Inschriftlich auf 1577 datiert, blieb der hier einge-baute Fenstererker mit außenliegenden Ziehlä-den in allen Teilen, einschließlich der Fensterver-glasung, authentisch erhalten. Die Gesamtkonstruktion des Ziehladens bestehtaus einem analog zur Fenstergliederung geteil-ten Laufrahmen aus genuteten senkrechtenLaufleisten sowie aus einem unteren und einemoberen Querholz. In diese Rahmenkonstruktionsind die aus drei bis vier breiten Brettern zusam-mengefügten Brettflächen eingestellt, die mitHirnleisten versehen sind – eine Konstruktionzum Geradehalten der Brettflächen. Den Ziehla-den benutzt man raumseitig mittels eines Leder-riemens. Am unteren Ende der Brettfläche, in derTasche zwischen Brettladen und Hauswand,

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2 Friedrichshafen, Klufterner Straße 85: Versenk-fenster von 1964 zwischen Wohnhalle und verglas-ter Veranda. Motorisch abgesenkt ergibt sich eineschwellenlose Öffnung der Wohnhalle zur Veranda.

3 Fritzlar, Fritzlarer Domstift: Fensterladen mit eingearbeiteter Butzenscheibenverglasung.

4 Esslingen, Hafenmarkt10: Auf Grundlage derbauhistorischen Unter su-chungen wurden Fenster-öffnungen, Fenster ver-schlüsse, Ziehläden undFensterläden rekonstru-iert. Rekonstruierter Zu-stand um 1500.

5 Oberlenningen,Schlössle von 1596: DieZiehläden wurden nacheinem im Innenraum erhaltenen Be fund rekon-struiert.

6 Oberlenningen,Schlössle: Original er hal-tener Ziehladen im Ge-bäudeinneren.

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wird der Riemen befestigt und mittels einer Boh-rung durch den Brustriegel ins Rauminnere ge-führt. So ist durch Ziehen das problemlose An-heben der Brettläden möglich. Zum vollständi-gen Verschließen der Fensteröffnungen wurdendie Läden dann über eine in der Fläche vorhan-dene Griffmulde noch vollends nach oben ge-schoben und mit einem seitlich am Fensterrah-men angebrachten sichelartig gebogenen Be-schlag gehalten.

Ergänzend finden sich als gestalterische Elementean den Ziehladenkonstruktionen seitlich oben undunten angebrachte geschweifte Bretter. Ebensoaus gestalterischen Gründen wiesen die Brettflä-chen der Fensterläden oftmals dekorati ve Bema-lungen auf. Für Läden und Laufleisten wurde Na-delholz verwendet. Zunächst war die Oberflächeholzsichtig oder lasiert und wurde meist erst späterim Zuge des barocken Zeitgeschmacks farblichüberfasst. Ab dem 15. Jahrhundert gehörten dieseweniger wegen des Sichtschutzes als vielmehr zurwärmetechnischen Verbesserung in der kalten Jah-reszeit eingebauten Ziehläden zur gängigen Aus-stattung von Fensterkonstruktionen der Renais-sance. Befunde wie Bohrungen in den Brustriegelnder Fensterhölzer und vereinzelt fragmentarisch er-haltene Resthölzer dieser Konstruktionen belegendies, wie zum Beispiel im Ravensburger Humpis-quartier, in den Schlössern Köngen und Heubachund in Horb, Bußgasse 3. Eine wahre Fundgrube eröffnet sich dem Baufor-scher, wenn er die Ostschweiz, den Kanton Zürichund Teile der Innerschweiz offenen Auges erkun-det. Bereits im linksrheinischen Ermatingen exis-tieren an mindestens sechs Gebäuden noch origi-nale Ziehläden. Am Kehlhof in der Mühlstraße gibtes 47 Ziehläden, einschließlich des kompletten his-torischen Fensterbestandes von 1694 (Abb. 10).Selbst die dem Ziehladen konstruktiv ähnliche Va-riante von oben, der Fallladen, findet sich in derOstschweiz an vielen Gebäuden. Der älteste der-zeit bekannte Fallladen in der Dorfstraße in Klo-ten datiert auf 1548 (Abb. 11).Zumindest für die Zeit ab dem 16. Jahrhundertkann man von einer Kombination mit einem zu-sätzlichen verglasten Fensterverschluss ausge-hen. Die Frage, ob Zieh- und Fallläden zunächstder einzige Verschluss waren oder doch in Zu-sammenhang mit einem verglasten Fensterver-schluss zu sehen sind, lässt sich derzeit noch nichtbeantworten.

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7 Herrenberg, Schloss-berg 1, heute Evangeli-sches Dekanat. Es wurdeum 1440 als Chorherren-stift erbaut, von 1536–1749 war der Bau Resi-denz der Obervögte, an-schließend Wohnung fürden Superintendentenund die Dekane.

8 Herrenberg, Schloss-berg 1, Evangelisches Dekanat. Fensterband von1577 mit vollständig erhal-tenen Fenstern und Zieh -läden. Zusätzlich wurdenum 1920 zum Schutz derRenaissancefenster undfür die wärmetech nischeVerbesserung Vorfensteraußen in die Ebene derZiehläden eingestellt.

9 Herrenberg, Schloss-berg 1, Evangelisches Dekanat. Renaissance-fenster mit Ziehläden von1577 und Vorfenster um1920, singulärer Befundin Baden-Württemberg.

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Verbreitung und Akzeptanz

Die ersten bekannten Schiebefenster waren hori-zontal oder vertikal verschiebbare Lüftungsflügelin einer fest eingesetzten Verglasung. Mit demArtikel von Bongartz/Hekeler begann eine inten-sive Beschäftigung mit dieser Fensterform, nichtnur als Rekonstruktion an vielen wiederherge-stellten Baudenkmalen in Baden-Württemberg.Auch Bestandsfenster mit Schiebeflügeln wurdenin der Folge dieser Veröffentlichung als historischwertvoll und erhaltenswert eingestuft. Auf Grundlage dieser frühen Schiebefensterkon-struktionen entwickelte sich ab dem 17. Jahrhun-dert das Vertikalschiebefenster als Alternativezum Drehflügelfenster. In der Regel wurde die un-tere Hälfte des Fensters nach oben geschoben. InSüdwestdeutschland waren Vertikalschiebefens-ter nur wenig verbreitet. Die ältesten Nachweisefindet man im Gebäudeinneren, z.B. in den Fürs-tenlogen der Schlosskirchen in Bartenstein und inRheinfelden-Beuggen. Am Bußturm in Horb wurden im Zuge einer Sa-nierung während der frühen neunziger Jahre inder Bohlenstube Vertikalschiebefenster nach ei-nem im Haus vorhandenen Originalbefund re-konstruiert. Dies geschah in der Absicht, dasDenkmal anschaulich, erlebbar und einer breite-ren Öffentlichkeit verständlich zu machen. Heutebetrachtet man solche Rekonstruktionen kritischund lehnt sie eher ab (Abb. 12).Aufgrund nutzungsspezifischer Nachteile sindVertikalschiebefenster noch stärker gefährdet alshistorische Fenster im Allgemeinen, sodass hierdie Befundlage vor 1900 äußerst dünn ist. Ab dem frühen 17. Jahrhundert etablierte sichdas neuzeitliche Vertikalschiebefenster in Frank-

reich und England. In Süddeutschland gibt es ausdieser Zeit keine bekannten Befunde. Aus dem frühen 17. Jahrhundert, als in Süd-deutschland noch kleinteilige bleiverglaste Fens-ter gang und gäbe waren, liegen präzise Innen-raumdarstellungen des französischen Kupferste-chers Abraham Bosse vor, die zum Teil raumhoheVertikalschiebefenster „fenêtre à coulisse“ oderdas bis zum Boden reichende „fenêtre à ban-quette“ darstellen.Mit der französischen Revolution gehen dieseschönen Begriffe verloren. Für das Vertikalschie-befenster hält sich seitdem und bis heute inFrankreich ganz selbstverständlich der Ausdruck„fenêtre à guillotine“, ein Begriff, der sich auf dieVerbreitung und Akzeptanz des Vertikalschiebe-fensters eher nachteilig auswirkt (Abb. 13).Fensterentwicklungsgeschichtlich gesehen spiel-ten Vertikalschiebefenster in Südwestdeutschlandkaum eine Rolle und konnten sich ebenso wenig

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10 Ermatingen, Kehlhof(Schweiz): Auch an demdanebenliegenden mo-dernisierten Gebäudewurden „Fensterwagen“mit horizontal laufendenSchiebeläden in moder-ner Ausführung einge-setzt.

11 Oberembrach, Ober -embracherstraße 10(Schweiz): Das schönsteHaus in Oberembrach istdas „Rothuus“, ein typi-sches Dreiässenhaus. Eswurde in der Zeit derfranzösischen Revolutionum 1797 erbaut. Die ori-ginalen Fall läden sind mitPflanzenmotiven bemalt.

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wie die anderen Öffnungsvarianten Schwingen,Klappen, Kippen, Wenden gegen den Dreh- bzw.den heutigen Dreh-Kipp-Flügel durchsetzen.

Für und Wider

Das Vertikalschiebefenster war und ist im Rah-men des Fensterbaus eine Sonderkonstruktion,die unbestreitbar etliche Vorteile bietet, ohne dieder dominante Einsatz solcher Fenster in Englandund Amerika nicht vorstellbar wäre. Da dieseFenster in einer Ebene zu benutzen sind, bleibendie Flächen vor und hinter dem Fenster unbe-rührt. Kein in den Raum stehender Flügel störtdie Aktivitäten im Rauminneren. Mögliche Ver-letzungsgefahren durch in den Raum stehendeFlügel entfallen ebenso wie Feststeller gegen un-kontrollierte Bewegungen und Zuschlagen. Je nach Bauart der Vertikalschiebefenster gibt eseine Vielzahl von optimalen, exakt dosierbarenEinstellungen zur Stoß- und Dauerlüftung. Hinzukommt, dass ergänzende Ausstattungen wie In-nen- oder Außenläden, Verschattungssysteme,Sicht- und Blendschutz problemlos installiert wer-den können. Trotz allem setzte sich das Vertikalschiebefensternur im anglo-amerikanischen Raum nahezumarktbeherrschend durch, heute in aller Regelaus Aluminium oder Kuststoff gefertigt, elek-trisch zu bedienen mit Öffnungsbegrenzer undauch im Hochhaus einsetzbar. Vertikalschiebe-fenster gehören zu den technisch aufwendigerenSystemen, sowohl in der Konstruktion als auch imEinsatz ergänzender Vorrichtungen für die Ge-gengewichte oder Motoren. Damit sind sie in Un-terhalt, Pflege, Wartung, Reparatur und Instand-haltung anspruchsvoller und gelten in Deutsch-land als Sonderkonstruktionen.

Auch die Reinigung der feststehenden oberenVerglasungen gelingt nur unter erschwerten Be-dingungen. Nur mithilfe von sehr aufwendigenBeschlagssystemen war es möglich, Flügel belie-big in der Vertikalen zu schieben und bei Bedarfdiese auch wie ein Drehflügelfenster nach innenzu öffnen – optimal für Reinigung und Pflege.Zudem neigen Vertikalschiebefenster bei ent-sprechendem Winddruck zu erhöhter Undichtig-keit. In Deutschland ist das Vertikalschiebefenster„das“ Fenster der Klassischen Moderne und desBauhauses. Erst der starke architektonisch inno-vative Gestaltungswille der Kunst-, Design- undArchitekturschule Bauhaus verschaffte diesemFenstertyp von 1920 bis 1935 eine kurze Blüte,die durch die nationalsozialistischen Repressionenzwar nicht ganz zum Erliegen kam, jedoch wie-derum in eine Nische abgedrängt wurde.Im Neubau kommen heute in Einzelfällen untervorrangig formalen oder funktionalen Gesichts-punkten Vertikalschiebefenster zum Einsatz, ak-tuell verstärkt im schulischen Bereich, da hier dieVorteile einer dosierten Lüftung ohne Raumein-schränkung auf der Hand liegen (Abb. 16).

Aktuelle Anwendungen

Millionenfache Anwendung finden Vertikalschie-befenster bei uns nach wie vor im Fahrzeug- undWaggonbau. In nahezu allen Autos sind heuteelektrisch bedienbare Fenster in Gebrauch. Undauch im Waggonbau, zumindest da, wo es nochdie Notwendigkeit einer manuell zu betätigendenFensteröffnung zur Lüftungsregulierung gibt,sind sie zu finden. Ein weiterer Einsatz des Fenstertyps erfolgt imRahmen von Gebäudereparatur und -restaurie-

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12 Horb am Neckar, Bußgasse 3, Bußturm:Alemannisches Fachwerk-haus 1438. Über demmittelalterlichen Wohn-turmstumpf in massiverBruchsteinmauerungwurde 1438/39 ein zwei-geschossiger Fachwerk-bau errichtet, der in derfür den süddeutschenRaum so typischen ale-mannischen Fachwerkkon-struktion ausgebildet ist.

13 Vertikalschiebefenster(„fenêtre à coulisse“) mitgroßzügiger Rechteck -verglasung. Bis ins aus -gehende 17. Jahrhundertwurden in Süddeutsch-land noch runde, in Bleigefasste Scheiben einge-baut.

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rung. Am Haus auf der Alb in Bad Urach hat manbei der Sanierung in den 1980er Jahren die alsnicht erhaltensfähig eingestuften bauzeitlichenVertikalschiebefenster durch neue ersetzt. Eben -so verfuhr man nach Kriegsschäden in der Stutt-garter Weissenhofsiedlung.Heute gibt es in Deutschland keinen Beschlags-hersteller mehr für das Vertikalschiebefenster. Le-diglich ein Lieferant aus der Schweiz hat dieseSpezialbeschläge noch im Angebot.

Reparatur und Restaurierung

Auch Vertikalschiebefenster liegen mittlerweileals historische Sonderfensterkonstruktionen ver-stärkt im Fokus denkmalpflegerischer Betrach-tungen. Bis auf wenige Ausnahmen sind dieseFenster an Gebäuden der Bauhauszeit zu findenbzw. an Gebäuden, die in dieser Zeit verändertoder erweitert wurden. Häufig stellt man Verti-kalschiebefenster in Frage. Zum einen ist ihre Ak-zeptanz generell nicht sehr groß. Zum anderen erfordern ihre technischen und konstruktiven Details intensivere Pflege und Unterhalt. Re gelmä-ßige Wartungsintervalle müssen eingehalten wer-den, vor allen Dingen auch im Bereich der ver-deckt liegenden Gegengewichte, Seilführungenund Umlenkrollen. Im Falle unkontrollierter Mate-rialer müdung oder sich lösenden Verschraubun-gen und Verbindungen besteht durch herunter-fallende Schiebeflügel Unfallgefahr.Ein weiteres Problem stellen die funktionstechni-schen Verbesserungen dar. In aller Regel wurdenVertikalschiebefenster als einfachverglaste Fens-ter ohne Dichtungsebene gefertigt, sodass heuteunzureichende und oft nicht akzeptierte Funkti-onswerte vorliegen. Herkömmliche Fenstersys-teme mit Dreh-, Schwing-, Kipp- und Wendeflü-

geln lassen sich meist problemlos funktionstech-nisch durch additive und substituierende Maß -nahmen verbessern, beispielsweise, indem maneine zweite Fensterebene als Innen- oder Vor-fenster einbaut. Auch Veränderungen am Be-stand selbst durch Aufdoppeln mit einem zusätz-lichen Flügel oder Einbauen spezieller Isolierver-glasungen sind möglich. Nicht ohne Weitereskönnen die bei Reparatur und Restaurierung his-torischer Fenster bewährten Methoden auf Verti-kalschiebefenster übertragen werden. Ein zusätz-liches Fenster innen oder außen scheidet unternutzungsspezifischen Gesichtspunkten in allerRegel aus (Abb. 17).Veränderungen am Bestand wie der Einbau vonIsolierglasscheiben oder Aufdoppeln des Bestan-des erhöhen das Gewicht der Schiebeflügel. Ge-gengewichte, Seilführungen und Befestigungs -systeme müssen dann aufwendig verstärkt wer-den. In intensiv genutzten Räumen wie Res taurantsoder Büros werden einfachverglaste Vertikal -schiebefenster meist funktionstechnisch verbes-sert. Da vertikale Schiebefenster häufig in weniggenutzten Räumen wie Veranden, Loggien oderWintergärten eingebaut sind, sollte man unterBerücksichtigung aller Gesichtspunkte von Denk-malpflege, Bauphysik, Baukosten und Baukon-struktion abwägen, ob der Bestand nicht unver-ändert gehalten werden kann. Sinnvoll ist danneine entsprechende Abstimmung der Nutzung,wie es zum Beispiel im Foyer der Trinkhalle in BadWildbad geschah.

Drehen versus Schieben

Vorrangig scheinen der Einsatz und die Verbreitungvon Vertikalschiebefenstern ein kultur- und menta-litätsspezifisches Phänomen zu sein. Derzeit gibt es

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14 Rottweil, Oberndorf-straße 73. Villa um 1920mit Vertikalschiebefens-tern im Erker.

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kaum plausible Antworten auf die Frage, warum imanglo-amerikanischen Bereich Vertikalschiebefens-ter nach wie vor den Markt beherrschen. Besonders in Deutschland stellt man an Fenstersehr hohe Anforderungen, weniger was Dauer-haftigkeit und Nachhaltigkeit anbelangt, sondernvorrangig hinsichtlich ihrer Funktionswerte. Aktu-elle Standards und Funktionswerte werden stän-dig in Frage gestellt bzw. verbessert. Ein vor zehnJahren eingebautes normgerechtes Fenster miteinem U-Wert von 2,8 W/m²×k gilt inzwischenals Wegwerfbauteil, da Fenster heute bereits ei-nen U-Wert von ca. 1,2 aufweisen. Mit Abstandhat Deutschland den weltweit prosperierendstenFenstermarkt und steht derzeit mit 15 Millionenjährlich gefertigten Fenstereinheiten ungeschla-gen an der Spitze. In Ländern wie Amerika oder England, wo dasVertikalschiebefenster traditionell und auch nachwie vor das gängigste Fenstersystem darstellt,stellt man völlig andere Ansprüche an ein Fenster.Die Masse der hier eingesetzten Vertikalschiebe-fenster ist ohne aufwendige Beschlagstechnik ge fertigt. Gegengewicht und verdeckt liegendeHilfskonstruktionen sind kaum verbreitet. Rein ma-nuell schiebt man die Fenster nach oben, was ge-wichtsmäßig auch möglich ist, da diese Fenster we-der Isolierglas oder Doppelverglasungen noch kräf-tige Holzquerschnitte aufweisen. Auch wurdendiese Fenster nicht auf den Millimeter passgenaugefertigt, was einer leichteren Handhabung zugutekommt. Meist sorgen Klimaanlagen für das Raum-klima und weniger die Funktionswerte der Fenster.1934 schreibt der Däne Sten Eiler Rasmussen in„LONDON – the unique city“ hierzu die folgen-den amüsanten Sätze: „Ausländische Architekten

wunderten sich, wie es möglich sei, Schiebe -fenster – welche die Londoner benutzen – zu kon-struieren, die auch passen. Die Antwort ist: siepassen nicht. Das ist der Grund, warum sie be-nutzt werden. Der Engländer findet es absolutnotwendig, dass seine Wohnräume ständig durch-lüftet werden; darum benutzt er offene Kamineund schlecht angepasste Fenster – unterwegs imAusland wird er sich zurücksehnen nach seinem inLeichtbauweise konstruierten Haus, in dem diefeuchte Winterluft durch das Dach fegt, währendTüren und Fenster klappern.“Hierzulande wäre so etwas nicht vorstellbar. Diebei uns sprichwörtliche Präzision und Gründlich-keit führte zur Dominanz des Drehflügelfensters.Es ist insgesamt pflegeleichter, besser zu hand -haben, kostengünstiger in der Herstellung undwartungsfreier.

Literatur

Norbert Bongartz/Rolf Hekeler: Historische Fenster-formen in Baden- Württemberg. Schieben statt Dre-hen und Kippen, in: Denkmalpflege in Baden-Würt-temberg, Nachrichtenblatt des Landesdenkmalam-tes Juli bis September 1983.Daniel Westenberger: Untersuchungen zu Vertikal-schiebefenstern als Komponenten im Bereich vonFassadenöffnungen. TU München, Fakultät für Ar-chitektur (hg.), München 2005.

Hermann KlosHolzmanufaktur Rottweil GmbHNeckartal 15978628 Rottweil

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15 Rottweil, Berufsschul-zentrum. Die kompletteVerglasung besteht ausVertikalschiebefenstern.

16 Bad Wildbad, Trink-halle: Vertikalschiebe fens-ter. Systemzeichnung fürwärmetechnische Verbes-serung durch Einbaueneines dünnen Sonderiso-lierglases, 15 mm, U-Wert1,2W/m²×k (links).Systemzeichnung fürfunk tionstechnische Verbesserung. Durchraumseitige Aufsatz-flügel wird das einfachverglaste Fens ter zumVerbundfenster ergänzt,U-Wert der Verglasung0,8 W/m²×k (rechts).

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