Volker Krumm & Susanne Weiß - lernwelt.at · • Lehrer werden bedroht, Lehrerinnen trauen sich...

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Volker Krumm und Susanne Weiß: Was Lehrer Schülern antun WAS LEHRER SCHÜLERN ANTUN EIN TABU IN DER FORSCHUNG ÜBER „GEWALT IN DER SCHULEVolker Krumm & Susanne Weiß „Die Gewalt in den Schulen (zählte) bis Ende der 80er Jahre zu den Tabuthemen“ lautete eine These des ehemaligen Vorsitzenden der Gewaltkommission der Bundesregierung Hans-Dieter Schwind (Schwind et al. 1997, S. 81). Diese Aussage ist nur partiell zutreffend. Das Phänomen, das heute unter dem Etikett „Gewalt in der Schule“ untersucht wird, wurde immer schon registriert und diskutiert. Es war insofern nie ein Tabu. Man sprach früher nur anders davon, nämlich von Aggression, abweichendem Verhalten, Disziplinstörungen, von antisozial, verhaltensauffällig, gestört, verwahrlost, vernachlässigt, halbstark, erziehungsschwierig – oder man beschrieb und verurteilte ganz konkret, was die bösen Buben und manchmal auch die gar nicht braven Mädchen taten. Vor 3000 Jahren lautete in Ägypten eine Klage über Schüler: „[...] Affen werden leichter gezähmt, Pferde schneller abgerichtet und Löwen eher gebändigt als ein Schüler belehrt wird“ (Brunner-Traut 1974, S. 70). Im Mittelalter wird gestöhnt: „Sie geben durch Aufläufe, Geschrei, Schlägereien, Rempeleien, Spiele und Buhlschaften Ärgernis“ (Fischer 1982, S. 29) „Die Akten der Kreuzschule – (die in Dresden bis heute von so himmlisch singenden Knaben besucht wird V.K.) - haben sich über die Jahrhunderte mit Berichten über Ausschreitungen und Disziplinverstöße gefüllt. 1535 gab es für drei Wochen sogar einen regelrechten Krieg zwischen Kreuzschülern und den Dresdner Schneidergesellen“ (Gretzschel & Kossak 1992, S. 30). Und 1992 lautete eine Pressemitteilung der GEW über „Gewalt in der Schule“ (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft): Polizeistreife vor dem Schulportal ist ein gewohnter Anblick; gefährliche Waffen stecken immer häufiger in den Schultaschen; Schulen sind Drogenumschlagplätze; 14-jährige Mädchen werden zur Prostitution gezwungen; viele größere Schüler haben ihren Nigger; Erpressungen nehmen überhand; Lehrer können nicht mehr unterrichten, Unterricht wird zur Nebensache; Lehrer werden bedroht, Lehrerinnen trauen sich nicht mehr in HS-Klassen; kleinere Schüler trauen sich nur noch in Begleitung der Eltern in die Schule. 1 Unter einem zweiten Aspekt – den nicht nur Schwind übersieht – ist dessen Tabuthese allerdings richtig. Wenn über Gewalt in der Schule gesprochen und geschrieben wird, denken die meisten - wie Schwind - nur an Gewalt, die von Schülern ausgeht. Andere Schulangehörige kommen in der Diskussion fast nur als Opfer vor. Insbesondere gab es in der Forschung über Gewalt in der Schule jahrelang keine Untersuchungen darüber, ob Angehörige der zweitgrößten Gruppe in der Schule, also manche Lehrer, das Verhalten selbst praktizieren, das sie (seit ca. 1990) Gewalt nennen, wenn Schüler es zeigen (Krumm 1993, 1997a; Eder 1996). Hier darf man mit Recht von einem Tabu sprechen (Schwarz/Prange 1 Nach einer Zusammenfassung der Regierung von Schwaben 1992. 23

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Volker Krumm und Susanne Weiß: Was Lehrer Schülern antun

WAS LEHRER SCHÜLERN ANTUN EIN TABU IN DER FORSCHUNG ÜBER „GEWALT IN DER SCHULE“

Volker Krumm & Susanne Weiß

„Die Gewalt in den Schulen (zählte) bis Ende der 80er Jahre zu den Tabuthemen“ lautete eine These des ehemaligen Vorsitzenden der Gewaltkommission der Bundesregierung Hans-Dieter Schwind (Schwind et al. 1997, S. 81). Diese Aussage ist nur partiell zutreffend. Das Phänomen, das heute unter dem Etikett „Gewalt in der Schule“ untersucht wird, wurde immer schon registriert und diskutiert. Es war insofern nie ein Tabu. Man sprach früher nur anders davon, nämlich von Aggression, abweichendem Verhalten, Disziplinstörungen, von antisozial, verhaltensauffällig, gestört, verwahrlost, vernachlässigt, halbstark, erziehungsschwierig – oder man beschrieb und verurteilte ganz konkret, was die bösen Buben und manchmal auch die gar nicht braven Mädchen taten.

Vor 3000 Jahren lautete in Ägypten eine Klage über Schüler: „[...] Affen werden leichter gezähmt, Pferde schneller abgerichtet und Löwen eher gebändigt als ein Schüler belehrt wird“ (Brunner-Traut 1974, S. 70).

Im Mittelalter wird gestöhnt: „Sie geben durch Aufläufe, Geschrei, Schlägereien, Rempeleien, Spiele und Buhlschaften Ärgernis“ (Fischer 1982, S. 29)

„Die Akten der Kreuzschule – (die in Dresden bis heute von so himmlisch singenden Knaben besucht wird V.K.) - haben sich über die Jahrhunderte mit Berichten über Ausschreitungen und Disziplinverstöße gefüllt. 1535 gab es für drei Wochen sogar einen regelrechten Krieg zwischen Kreuzschülern und den Dresdner Schneidergesellen“ (Gretzschel & Kossak 1992, S. 30).

Und 1992 lautete eine Pressemitteilung der GEW über „Gewalt in der Schule“ (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft): • Polizeistreife vor dem Schulportal ist ein gewohnter Anblick; • gefährliche Waffen stecken immer häufiger in den Schultaschen; • Schulen sind Drogenumschlagplätze; • 14-jährige Mädchen werden zur Prostitution gezwungen; • viele größere Schüler haben ihren Nigger; • Erpressungen nehmen überhand; • Lehrer können nicht mehr unterrichten, Unterricht wird zur Nebensache; • Lehrer werden bedroht, Lehrerinnen trauen sich nicht mehr in HS-Klassen; • kleinere Schüler trauen sich nur noch in Begleitung der Eltern in die Schule.1

Unter einem zweiten Aspekt – den nicht nur Schwind übersieht – ist dessen Tabuthese allerdings richtig. Wenn über Gewalt in der Schule gesprochen und geschrieben wird, denken die meisten - wie Schwind - nur an Gewalt, die von Schülern ausgeht. Andere Schulangehörige kommen in der Diskussion fast nur als Opfer vor. Insbesondere gab es in der Forschung über Gewalt in der Schule jahrelang keine Untersuchungen darüber, ob Angehörige der zweitgrößten Gruppe in der Schule, also manche Lehrer, das Verhalten selbst praktizieren, das sie (seit ca. 1990) Gewalt nennen, wenn Schüler es zeigen (Krumm 1993, 1997a; Eder 1996). Hier darf man mit Recht von einem Tabu sprechen (Schwarz/Prange

1 Nach einer Zusammenfassung der Regierung von Schwaben 1992.

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1997; Rolff 1999) – denn es ist höchst unwahrscheinlich, dass in der Schule nur die grundsätzlich mächtigen Lehrer unter Schülergewalt leiden, aber nicht die im Prinzip ohnmächtigen Schüler unter verletzenden Lehrerhandlungen.

Diese Überlegungen haben uns 1996 veranlasst zu untersuchen, in welchem Ausmaß Schüler unter Verletzungen von Lehrern leiden, und dabei interessierte uns auch, wie oft das im Vergleich zu Verletzungen durch Handlungen von Mitschülern vorkommt. Im Rahmen der TIMS-Studie in Österreich haben wir 10.000 Schüler befragt, ob sie Lehrer oder Mitschüler auf (verschiedene Weise) angegriffen haben („Täterbefragung“), ob sie von Mitschülern oder Lehrern angegriffen bzw. gekränkt worden sind („Opferbefragung“) und ob sie beobachtet haben, ob Schüler oder Lehrer Schüler angegriffen bzw. gekränkt haben („Beobachterbefragung“).

Das Ergebnis dieser ersten Befragung ergab aufs Gröbste zusammengefasst: Von den 10.000 befragten Schülern der Klassen 7-12/13 gaben 17% an, in den letzten vier Wochen von Lehrern gekränkt, geärgert und/oder ungerecht behandelt worden zu sein.2 Cum grano salis schrieben ebenso viele Schüler, in diesem Zeitraum von Mitschülern angegriffen worden zu sein (Krumm et al. 1997).

Da die Items zur Gewalt zwischen Schülern anders lauteten als die Items zu Kränkungen von Schülern durch Lehrer, stellte sich die Frage, ob der zuletzt erwähnte Vergleich überhaupt zulässig ist. Mit folgender Frage versuchten wir, die Vergleichbarkeit zu prüfen. Tabelle 1: Wenn Sie in letzter Zeit von Ihren Mitschülern und von einem Ihrer Lehrer

gekränkt worden sind: Welche Kränkungen haben Ihnen mehr Kummer bereitet, haben Sie länger belastet? (In Stufe 7 und 8 wurden die Schüler mit du angesprochen.)

gesamt % Schulstufe 7 + 8 Schulstufe 10 - 12

eher die durch die Mitschüler 34,5 42 27 eher die durch Lehrer 23,0 21 25 kein Unterschied 42,5 37 48

Rund 2/3 der Befragten gaben also an, dass sie „Angriffe“ von Lehrern mindestens ebenso belastend erlebt haben wie jene durch Mitschüler. Der Vergleich zwischen Angriffen von Schülern und Lehrern dürfte somit – trotz unterschiedlicher Items - zulässig gewesen sein: Es kommt offensichtlich viel mehr darauf an, wie irgendein Verhalten eines anderen erlebt wurde, und weniger auf die spezifische Art des kränkenden Verhaltens. Jedenfalls zeigt sich, dass Mobbing3 von Schülern durch Lehrer kein zu vernachlässigendes Phänomen ist – selbst wenn es sich in seinen Erscheinungsformen von Mobbing von Schülern durch Schüler u.U. stark unterscheidet.

Wer Tabus verletzt, sündigt nicht nur, er kränkt auch. Die erste Untersuchung wurde deshalb heftig von Lehrern, insbesondere von ihren Vertretern, gescholten (Krumm 1997b). Diese Kritik veranlasste uns zu einer zweiten Untersuchung.

2 Es handelt sich hier um einen Durchschnittswert der drei erwähnten Items „gekränkt, geärgert und/oder

ungerecht behandelt“. 3 „Mobbing“ ist geeigneter als Oberbegriff zur Kennzeichnung von inakzeptablem Schüler- und

Lehrerverhalten als „Gewalt“. Gewalt wird vor allem mit physischer Gewalt assoziiert; „Gewalt in der Schule“ besteht aber in der Hauptsache aus psychischer Gewalt (Funk 1995; Thiel 1995; Schwind et al. 1995; Fuchs 1996); psychische Gewalt wird vor allem mit „Mobbing“ verknüpft.

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In der ersten Arbeit fehlte detaillierte qualitative Information. Diesen Mangel sollte die zweite Arbeit beheben. In ihr befragten wir daher Schulabsolventen in Österreich, Deutschland und der Schweiz, welche Lehrerverhaltensweisen sie während ihrer Schulzeit als verletzend erlebt haben und wie stark, wie oft, wie lange, mit welchen Folgen und noch einiges mehr. Wir haben in diesen Ländern knapp 3000 Studenten befragt.

Den zentralen Fragen sind wir auf zweierlei Weise nachgegangen: Mit einer geschlossenen Frage, die aus 16 Items bestand und mit einer offenen Frage, in der wir um eine - möglichst detaillierte - Fallschilderung baten.

Vor allem die Fallschilderungen interessierten uns.4 Wir erhielten von 77% der Befragten Kränkungsgeschichten - viel mehr als erwartet. Diese klassifizierten wir nach 79 Kategorien der Mobbingforschung. Hier ist es nicht möglich, auf diese Befunde einzugehen – auch nicht Beispiele der Berichten vorzutragen. Das ist kein schwerwiegender Verzicht: Jeder kennt aus seiner Schulzeit und als Mutter oder Vater schulpflichtiger Kinder solche Geschichten.5

Hier beschränken wir uns auf Antworten auf die geschlossene Frage (Tabelle 2), wobei wir lediglich die Daten der in Deutschland befragten 1374 Studenten und Studentinnen berücksichtigen. 6

Offensichtlich sind inakzeptable Lehrerverhaltensweisen auch in Deutschland keine seltenen Ereignisse.

Mit der zentralen Frage der Studie, erhielten wir von drei Viertel der Befragten einen Fall geschildert. Inwieweit handelt es sich hierbei um ein einmaliges Fehlverhalten eines Lehrers? Die Frage ist von Bedeutung, denn wenn in den Medien berichtet wird, dass ein Lehrer oder eine Lehrerin einen Schüler misshandelt, also inakzeptabel behandelt hat, tendieren die Schulverantwortlichen nicht gerade selten zu der Reaktion: „Das ist ein bedauerlicher Einzelfall“ (Singer 1998). Wie oft wurden also Einzelfälle geschildert – wie oft Kränkungen, die sich ähnlich oder anders wiederholten? Tabelle 3 informiert darüber. Die in ihr zitierte Frage, wurde im Anschluss an die Fallschilderung gestellt:

4 Die an erster Stelle genannte Frage stellten wir - primär aus methodischen Gründen - 50% der Befragten. Die Befunde erlauben uns bis zu einem gewissen Grad einen Vergleich mit einer repräsentativen Befragung in Österreich über Gewalterfahrungen im Generationenvergleich (Karazman-Morawetz & Steinert 1995) und damit eine Antwort auf die Frage, ob, wie stark und in welcher Richtung unsere Befunde von jenen einer echten Zufallsstichprobe abweichen. Wir haben die 2965 Studenten mit Hilfe von Kollegen in den drei Ländern schriftlich befragt. Ob sich hierbei ein systematischer Fehler eingeschlichen hat, ist uns nicht bekannt. Soweit uns bisher Vergleiche mit zum Teil ganz anderen Studien und „Stichproben“ möglich waren, brauchen wir nicht mit großen Differenzen zu rechnen (Krumm 1999b, 2000). 5 Wer an Fällen interessiert ist, die uns geschildert wurden, findet einige in Krumm 1999, 2000 und in Krumm & Weiß 2000. 6 Die Untersuchung, aus der wir einige Daten vorstellen, wurde vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank finanziell gefördert (Projekt Nr. 6820).

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Tabelle 2 : „Ist es vorgekommen, dass ein Lehrer/ eine Lehrerin...“7 (%)

gesamt weiblich männlich

Sie ungerecht beurteilt hat 79 81 79

Sie unfair behandelt hat 73 76 71 Sie beleidigt hat 58 55 46 Sie vor anderen bloßgestellt hat 57 56 53 Sie angeschrien hat 49 46 60 Sie beschimpft hat 45 40 49 Sie verspottet hat 37 33 41 Ständig an Ihnen herumgenörgelt hat 34 32 37 versucht hat, Ihnen Schuldgefühle zu machen 31 25 33 Sie schikaniert hat 31 27 33 Sie ständig nicht beachtet, übersehen hat 30 34 32 Sie für dumm befunden hat 30 30 28 Sie fertiggemacht hat 29 28 25 Sie wegen jeder Kleinigkeit bestraft hat 28 14 23 als ungeeignet für die Schule bezeichnet hat 24 24 27 Sie geschlagen hat 9 4 11

Körperlich zudringlich wurde 7 8 5

Spaltensummen 651 613 653

Tabelle 3: War das seinerzeit eine einmalige Kränkung oder hat sich dieser Lehrer/diese Lehrerin Ihnen gegenüber mehrfach in ähnlicher oder anderer Weise kränkend, unfair verhalten?

gesamt % w m Gar nichts Unangenehmes erlebt. 23 22 25 Es war ein einmaliger Vorfall. 29 30 27 Es kam ähnlich u/o anders wiederholt vor. 48 48 48

∑ 100

n=1374 100

n = 939 100

n = 417

7 Es handelt sich im folgenden um die invertierten Aussagen, dass das betreffende Verhalten „nie“ vorgekommen sei, bzw. um die (Prozent-)Summe der vorgegebenen Antworten „einmal“, „manchmal“, „oft“ und „sehr oft“. Hier und im folgenden unterscheiden wir immer zwischen den Geschlechtern. Da unter den Befragten viel mehr Studentinnen waren als Studenten - wir haben hauptsächlich Studierende an Instituten für Erziehungswissenschaft befragt - sind die geschlechtsspezifischen Spalten präziser als die Gesamtspalte. Allerdings gehen wir hier nicht auf die Differenzen der Aussagen von Studentinnen und Studenten ein.

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Etwa 30% der geschilderten Episoden waren in der Tat Einzelvorkommnisse. Die Befragten erlebten dabei meist mehrere Kränkungen von der Art, wie sie in Tabelle 1 genannt werden – fast immer vor der Klasse. Allerdings sagt die Häufigkeit einer Verletzung oder Kränkung nichts über den Schmerz oder Kummer aus und auch nichts über die Folgen. Dass die Erfahrung nicht bedeutungslos war oder ist, zeigt sich schon daran, dass der Fall auch nach Jahren noch als Kränkung erinnert wird.

Knapp 50% schreiben, das geschilderte Lehrerverhalten kam ähnlich und/oder anders wiederholt vor. Die Wiederholungen der Kränkungen hielten teils kurz, teils sehr lange an.

Nach Leymann sind mit dem Begriff Mobbing, „negative kommunikative Handlungen (gemeint), die gegen eine Person gerichtet sind [...] und die sehr oft und über einen längeren Zeitraum hinaus vorkommen [...]“ – und er operationalisiert: „ein halbes Jahr oder länger und mindestens einmal pro Woche“ (Leymann 1993, S. 21f).

Nach dieser strengsten Definition in der Literatur – mindestens einmal pro Woche, und das mindestens ½ Jahr lang - waren von den 1374 befragten deutschen Studenten 17,6% während ihrer Schulzeit von „Mobbing“ durch Lehrer betroffen. 8 Bei einzelnen währte die Leidenszeit jahrelang.

Über den Grad der erlebten Kränkung durch den geschilderten Fall informiert Tabelle 4. Tabelle 4: Wie schätzen Sie den Grad dieser Kränkung ein, die Sie damals erlebten?

gesamt weiblich männlich

Sehr, sehr leicht 3 2 5 Sehr leicht 4 3 7 Leicht 9 8 12 Mittel 25 25 24 Schwer 35 36 31 Sehr schwer 17 19 14 Sehr, sehr schwer 7 7 7

Median 5 5 5

Der Median beträgt 5. Im Durchschnitt wurden die Lehrerverhaltensweisen also „schwer kränkend“ erlebt.9

Diese Urteile spiegeln sich in den Antworten auf die Frage nach den Auswirkungen des geschilderten Lehrerverhaltens (Tab. 5):

8 Dieser Wert entspricht Befunden aus gänzlich anders angelegten Untersuchungen u.a. über Befindlichkeit

(Eder 1995) oder Belastung von Schülern (Arbeitsgruppe Schulbelastung 1999). 9 Da wir nach Kränkungserfahrungen gefragt haben, war logisch ausgeschlossen, dass ein geschildertes

Lehrerverhalten „nicht kränkend“ erlebt worden ist. Wir mussten also die Skala mit einem leichten Kränkungsgrad beginnen lassen.

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Tabelle 5: An welche Auswirkungen des kränkenden Verhaltens des Lehrers erinnern Sie sich? Antworten „trifft zu“ (%)

gesamt weiblich männ-lich

Der Lehrer/die Lehrerin wurde mir unsympathischer 94 96 90 Ich war zornig und wütend auf den Lehrer/die Lehrerin 88 89 87 Ich fühlte mich vom Lehrer/von der Lehrerin abgelehnt 80 82 77 Ich musste ständig darüber nachdenken 77 80 71 Ich fühlte mich niedergeschlagen/traurig 74 79 64 Das Fach dieses Lehrers wurde mir zuwider 72 74 65 Ich hatte Herzklopfen 68 73 57 Ich wurde unsicher 67 72 57 Ich fühlte mich entmutigt 64 68 54 Ich hatte Angst vor den Stunden bei diesem/dieser Lehrerin 62 67 50

Mein Selbstvertrauen nahm ab 62 65 54 Ich konnte mich im Unterricht schlechter konzentrieren 59 61 53 Ich fühlte mich ohnmächtig 52 55 46 Ich hatte Rachegedanken gegen den Lehrer/die Lehrerin 50 48 56 Ich war gereizt / aggressiv 50 49 53 Ich schämte mich 47 49 41 Ich fühlte mich überfordert 46 49 37 Ich schlief schlechter 36 40 27 Mein Ansehen bei Mitschülern wurde geringer 19 16 26 Mir war übel 20 23 12 Ich hatte Kopfschmerzen 15 18 9

n = 1104 ∑ 1202 1253 1086

Statt Schüler für ihren Unterricht, für ihr Fach und letztlich für das Lernen allgemein zu motivieren, statt alle ihre Schüler in ihrer gesamten Persönlichkeit zu fördern, bewirken Lehrer, die Schüler kränken, das Gegenteil: Zorn und Wut auf den Lehrer, Widerwillen gegen sein Fach oder die Schule, Angst, Demotivation, Niedergeschlagenheit, Minderung des Selbstvertrauens, Entmutigung und manchmal Flucht aus der Klasse oder Schule und Zweifel am Leben.10

Die vorgestellten Befunde zeigen, dass in der Forschung über „Gewalt in der Schule“ Lehrer ungerechtfertigt als Leidensquelle für Schüler ignoriert wurden: Schüler leiden unter

10 In einigen Berichten ist von Selbstmordgedanken die Rede.

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Misshandlungen, Mobbing oder Machtmissbrauch von Lehrern ähnlich häufig und ähnlich stark wie unter Gewalt von Mitschülern.

Mit diesem Ergebnis könnten wir den Text hier enden lassen. Das wäre allerdings unbefriedigend. Aus pädagogischer Sicht drängt sich natürlich die Frage auf, was man denn nun tun kann, damit Kränkungen von Schülern – sei es durch Mitschüler oder durch Lehrer - verringert werden können. Einige Überlegungen und Befunde hierzu wollen wir deshalb zur Diskussion stellen. Was kann man gegen inakzeptables Schüler- und Lehrerverhalten tun? Eine positive Folge der intensiven Diskussion über Gewalt von Schülern in der Schule besteht darin, dass intensiv Maßnahmen gegen Schülergewalt gesucht, entwickelt und erprobt wurden. Das Repertoire an erfolgreich einsetzbaren Einzelmaßnahmen oder Handlungsprogrammen ist heute groß. Olweus hatte schon 1991 recht, als er schrieb, die Reduktion von Gewalt in der Schule „hängt nicht länger davon ab, ob wir das notwendige Wissen darüber haben, die erwünschten Veränderungen zu erreichen. Die Bewältigung des Problems hängt vor allem von der Frage ab, ob wir gewillt sind, uns selbst einzubringen und das vorhandene Wissen einzusetzen“ (Olweus 1991, S. 446). Heute, 10 Jahre später, wissen wir noch mehr darüber, wie man erfolgreich gegen antisoziales Verhalten vorgehen kann (siehe z.B. Tennstädt et al. 1987; Nolting 1992; Schwind et al. 1992; Krumm 1993, 1996 und 1999a; Gratzer 1997; Olweus 1997; Holtappels et al. 1997, S. 261-366).

Das aber heißt: Wenn wir in Zukunft Schulen wünschen, in denen es (noch) freundlicher, (noch) lebenswerter zugeht als heute, in denen das Leid geringer ist, das sich Lehrer und Schüler gegenseitig absichtlich oder unabsichtlich zufügen, dann muss die Schulgemeinschaft entschlossen und konsequent eines der Programme gegen inakzeptables Verhalten einsetzen.

An dieser Entschlossenheit mangelt es u. E. schon an Schulen, die über Gewalt von Schülern klagen. Viele haben kein explizites Programm gegen Schülergewalt, das jeden Schulangehörigen – Schulleiter, Lehrer, Eltern, Schüler, Hausmeister – genau informiert, was zu tun ist, wenn es „brennt“, wenn man mit dem, was heute Schülergewalt genannt wird, als Augen- oder Ohrenzeuge oder gar als Opfer konfrontiert wird.

Noch mehr mangelt es an der Entschlossenheit in Schulkollegien, Mobbing von Lehrern gegen Schüler zu reduzieren.

Das liegt nicht daran, dass in Kollegien nicht wahrgenommen wird, dass manche Lehrer Schüler mobben oder dass Kollegien uneins darüber sind, was unter inakzeptablem Lehrerverhalten zu verstehen ist. Wir haben in Zusatzuntersuchungen Lehrer und Eltern beurteilen lassen, ob das von den befragten Studenten konkret berichtete Lehrerverhalten „pädagogisch gerade noch akzeptabel“ oder in abgestuften Graden „inakzeptabel“ ist: Lehrer beurteilten das geschilderte Lehrerverhalten (mit 6,8) als noch inakzeptabler als Eltern (mit 6,7). 11

Auf die Fragen an die Lehrer, ob sie selbst während ihrer Schulzeit und ob ihre Kinder in der Schule Kränkungen durch Lehrer erlebt haben, berichteten 73% selbst erfahrene Kränkungen durch ihre Lehrer. 55% berichten von Kränkungserfahrungen ihrer Kinder.12

11 Die Befragten konnten an Hand einer siebenstufigen Skala urteilen. Sie begann mit der Stufe „gerade noch

akzeptabel“. Das negativste Urteil, das Lehrer und Eltern abgeben konnten lautete „völlig inakzeptabel“ (= 7).

12 Bei der Interpretation der Differenzen ist zu beachten, dass sich die selbst erlebten Kränkungen auf die gesamte Schulzeit beziehen, die Kränkungserfahrungen der Kinder, aber nur auf die Jahre, die sie bereits zur Schule gehen.

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Wir haben Lehrer auch gefragt, ob sie an ihrer Schule Kollegen kennen, die sich gegenüber Schülern kränkendes Verhalten erlauben: 81% sagten „ja“. Die Frage, ob sie selbst sich gegenüber Schülern schon einmal kränkend, unfair oder ungerecht verhalten hätten, bejahten 84%.

Warum also gehen Eltern, Lehrer, Schulleitung und Schulaufsicht nicht entschieden gegen den Machtmissbrauch mancher Lehrer vor? Sie wissen doch alle, dass das vorkommt.

Die Zurückhaltung dürfte viele Gründe haben. Einer dürfte darin bestehen, dass Machtmissbrauch von Lehrern öffentlich weitaus seltener diskutiert wird als Gewalt von Schülern. An der öffentlichen Diskussion über inakzeptables Schülerverhalten haben Lehrer und ihre Vertretungen Interesse und sie sorgen dafür, dass die Medien über ihre Erfahrungen und Probleme mit Schülergewalt berichten. Die Diskussion darüber zeigt dann auch, wie schwer Lehrersein heute ist. Sie weckt Mitgefühl und mobilisiert Hilfen: Sozialstunden, Fortbildungsmaßnahmen, Sozialarbeiter, Beratungslehrer an den Schulen. Ferner rechtfertigt sie den Wunsch nach Verkleinerung der Klassen und nach weniger Stunden.13

Es ist nicht anzunehmen, dass je eine Lehrergewerkschaft eine Pressekonferenz über Machtmissbrauch von Lehrern initiiert hat. Das ist verständlich. Aber das Schweigen – vor allem auch vieler Eltern – und das Fehlen der öffentlichen Diskussion über Schülermisshandlung hat schlimme Folgen: Die Auswirkungen der Kränkungen von Schülern durch Lehrer bleiben jahrelang gelegentlich schon der Schulleitung, häufiger vermutlich der Schulaufsicht, unbekannt. Wenn mobbende Lehrer es nicht zu schlimm treiben, z.B. „nur“ psychisch verletzen - sich ungerecht verhalten, Schüler vor der Klasse bloßstellen, beleidigen, lächerlich machen, demütigen, anbrüllen, ignorieren, vernachlässigen - dann können sie sich auch auf die Angst vieler Eltern verlassen: Aus berechtigter oder unberechtigter Angst vor negativen Konsequenzen für ihr Kind trauen sich zu viele Eltern nicht, mit dem Lehrer zu sprechen (Ulich 1993, S. 79). Manche gehen zwar noch zur Schulleitung, weigern sich aber dann, als Zeuge aufzutreten.

Ist die Hypothese unwahrscheinlich, dass Lehrer, die Schüler mobben, kaum mit herben Konsequenzen rechnen müssen, weil zu viele Eltern Angst haben zu intervenieren, die Kollegen schweigen und die Schulaufsicht zu wenig weiß? Woher sollte die Schulaufsicht denn wissen, wie hinter den verschlossenen Klassenzimmertüren die Lehrerinnen oder die Lehrer mit ihren missliebigen Schülern interagieren?

Wir haben in vergangenen Semestern, Vorstellungen von Lehrern und Eltern über mögliche Maßnahmen gegen kränkendes Lehrerverhalten erhoben und sie – in einer zweiten Arbeit, dem Vortest einer ‚Maßnahmeskala’ - um Urteile über durchführbare Maßnahmen gebeten. Aus der Vortesterhebung stellen wir abschließend einige erste vorläufige Befunde vor:

Wir fragten: „Welchen der folgenden Vorschläge über mögliche Maßnahmen gegen kränkendes Lehrerverhalten stimmen Sie zu, welche lehnen Sie ab?“ Die Befragten haben ihre Urteile über die 21 Maßnahmen dem Interviewer anhand einer siebenstufigen Skala mitgeteilt.14

13 Unter den Bedingungen, die Lehrer im Schulalltag belasten, stehen „verhaltensauffällige Schüler“, „die

Klassengröße“ und die „Stundenverpflichtung“ mit Abstand vor anderen deutlich an den ersten drei Stellen (Schaarschmidt & Fischer 2000, dazu auch Veenmann 1982). Schaarschmidt & Fischer weisen nach, dass die Belastung von Lehrern durch verhaltensauffällige Schüler für Lehrer, die mit dieser Herausforderung gut fertig werden, fast ebenso groß ist, wie für jene Lehrer, die sie nicht bewältigen und deshalb leiden u.a. unter „Burnout“.

14 Die Skala reichte von „stimme voll und ganz zu“, „stimme überwiegend zu“, „stimme eher zu“ bis zum letzten von drei analogen ‚Ablehnungsstufen’: „lehne voll und ganz ab“.

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An einigen Items sei dargestellt, wie stark die 44 Lehrer und die 53 Eltern den Vorschlägen im Vortest zustimmten oder sie ablehnten.15

Wir geben im folgenden den Grad der Zustimmung mit Hilfe des Medians an. Je niedriger er ist, desto höher die Zustimmung.16 Die Zahl in der runden Klammer zeigt die Position der Maßnahme unter den 21 Vorschlägen an. „Welchen der folgenden Vorschläge über mögliche Maßnahmen gegen kränkendes Lehrerverhalten stimmen Sie zu, welche lehnen Sie ab?“

Median A L E

(15) Lehrern17 intensiver helfen, wie sie mit schwierigen, unangenehmen, störenden Schülern pädagogisch erfolgreicher umgehen können. 1 1

Keine der weiteren 20 Maßnahmen findet so viel Zustimmung bei Lehrern und Eltern wie Nr. 15. Auch anderen Items, die sich auf Aus- und Fortbildung beziehen, wird stark zugestimmt. Im Blick auf antisoziales Schülerverhalten ist das naheliegend und notwendig. Hier geht es aber um Maßnahmen gegen pädagogisch inakzeptables Lehrerverhalten. Dieses ist nicht in erster Linie durch mangelhaftes Wissen und fehlende Kompetenz bedingt. Die Lehrer wissen, was pädagogisch nicht akzeptabel bzw. pädagogisch geboten ist, und können sich prinzipiell auch steuern: Sie erlauben sich Verhalten, das Schüler kränkt, nicht, wenn Schulaufsichtsvertreter im Unterricht anwesend sind – auch dann nicht, denn Schülerverhalten sie in Anwesenheit der Schulaufsicht frustriert hat.

Inakzeptables Lehrerverhalten gegenüber Schülern dürfte also in beträchtlichem Ausmaß durch einen situationsspezifischen Mangel an Selbstkontrolle bedingt sein (Yates 1985). Trifft das zu, dann liegt kein Qualifikationsdefizit vor, sondern ein Defizit an Kontrolle von außen, an Fremdkontrolle. Diese ist so lange erforderlich, bis sie durch Selbstkontrolle ersetzt ist. Allerdings gelingt die Selbstkontrolle um so besser, je besser ein Lehrer gelernt hat, mit Belastungen oder Stress durch Schüler umzugehen.

Diese Maßnahmen, denen wiederum die Mehrheit zustimmt, sind leicht einzusetzen und kosten fast nichts. Sie tragen dazu bei, dass das fragliche Lehrerverhalten schnell bekannt, erörtert und bei gutem Willen schnell aus der Welt geschafft werden kann. Die Maßnahmen 4 und 20 zielen auf die Verminderung der Angst von Eltern, mit dem betreffenden Lehrer und der Schulleitung zu sprechen. Immer mehr Wirtschaftsbetriebe haben ein explizites Beschwerdemanagement. Sie bitten ihre Kunden, ihnen zu sagen, wenn etwas Unerfreuliches passiert ist, damit sie in Zukunft den Fehler vermeiden können. In wie vielen Schulen werden Schüler und Eltern heute nachhaltig gebeten, Kritik zu äußern? Wie viele Schulen weisen nachhaltig auf die Namen und Telefonnummern von Personen hin, bei denen Schüler oder Eltern ihren Kummer, Ärger oder ihre Empörung über das Verhalten eines Lehrers angstfrei los werden können? Dergleichen ist uns bisher nur aus der Schweiz bekannt.

Die Interviewer notierten nicht nur die Urteile, sondern zusätzlich auch die verbalen und nonverbalen

Reaktionen der Befragten. 15 Die Haupterhebung ist z.Z. bei je 500 Eltern und Lehrern im Gange. Die folgenden vorläufigen Daten

stammen aus dem – inzwischen überarbeiteten Vortest. 16 Die Gruppierung der Daten kann sich derzeit noch nicht auf statistische Analysen (z.B. Faktoren- oder

Clusteranalysen) gründen. Dazu sind die methodischen Voraussetzungen noch nicht erfüllt. Wir geben den hypothetischen (ungeprüften) Gruppen A-F deshalb auch keine Namen.

17 In der Erhebung haben wir in den Vorschlägen immer von Lehrer und Lehrerinnen gesprochen. Hier schreiben wir der Einfachheit halber nur von „Lehrern“.

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B Median

L E (12) Schülern immer wieder sagen, an wen sie sich vertrauensvoll wenden

können, wenn sie sich von einem Lehrer gekränkt, verletzt, misshandelt fühlen.

2 1

(4) Eltern ermutigen, sofort mit dem Lehrer zu sprechen, wenn sie glauben,

dass ein Lehrer mit ihrem Kind inakzeptabel umgeht. 2 2

(5) Eltern auffordern, mit dem Kind täglich über die Schule, den Unterricht

und den Lehrer zu sprechen, um rechtzeitig zu entdecken, wenn es unter einem seiner Lehrer leidet.

2 2

(20) Eltern auffordern, sich an die Schulleitung zu wenden, wenn sie

annehmen, dass ein Lehrer ihr Kind kränkt, misshandelt oder verletzt. 3 3

Median C

L E (11) Alle Lehrer, die in einer Klasse unterrichten, dafür verantwortlich

machen, dass pädagogisch fragwürdiges Verhalten eines Kollegen im Team besprochen wird.

2 2

(6) Lehrerkollegium dafür sensibilisieren, dass Lehrer, die Schüler mobben,

nicht akzeptiert werden. 3 2

(7) Schulleitung und Schulaufsicht stärker für pädagogisch inakzeptables

Verhalten verantwortlich machen. 3 2

Das Überwiegen der Zustimmung bei den Lehrern stimmt besonders hoffnungsvoll. Wenn es dergleichen Praktiken in manchen Schulen nicht gibt, dann fehlt es offensichtlich nur an dem oben erwähnten Entschluss sie nachhaltig einzuführen.

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Volker Krumm und Susanne Weiß: Was Lehrer Schülern antun

Median D L E

(19) Lehrern praktikable Verfahren anbieten, die ihnen helfen festzustellen, welche ihrer Schüler sich von ihnen gemobbt oder schikaniert erleben. 2 2

(9) Lehrer verpflichten, sich regelmäßig von Schülern schriftlich anonym

Rückmeldung geben zu lassen, was ihnen an ihm gefällt und was nicht. 2 2

Die Zustimmungen zu diesen Items zeigt, dass die Mehrheit der Lehrer „selbstverständlich“ an Rückmeldungen interessiert ist. Ein effektives und leicht handhabbares Verfahren liegt längst vor: schriftliche systematische Unterrichts- und Lehrerevaluation durch Schüler und - bei jüngeren Schülern – auch durch Eltern. Vor allem in angelsächsischen Ländern sind solche Verfahren seit vielen Jahren in Schulen aller Art Pflicht.

Die Qualität solcher Rückmeldungen von Schülern und Eltern ist vielen Untersuchungen zufolge sehr groß und sie ist im Prinzip eher gültiger als die Qualität bisheriger Lehrerbeurteilungen durch die Schulaufsicht; bei den Lehrern, die damit Erfahrung haben, sind sie auch geschätzter als Beurteilungen durch die Schulaufsicht (Peterson 1995; Krumm 1999 und 1999c; Rolff 1999).

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L E (17) An jeder Schule einen Ausschuss einrichten, der darüber wacht, dass

weder Gewalt von Schülern noch Machtmissbrauch von Lehrern an der Schule geduldet wird.

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(16) Mitwirkungsrechte der Eltern bei der Bestellung und Entlassung von

Lehrern verstärken. 5 4

Alle Maßnahmen, mit denen weitere Verpflichtungen, eine Stärkung der Schulaufsicht, eine Verschärfung des Disziplinarrechts, ein rigoroseres Vorgehen gegen inakzeptables Lehrverhalten vorgeschlagen wird, werden von Lehrern mehrheitlich abgelehnt – das ist verständlich – ebenso, dass die Eltern einer Verstärkung von Kontrollmaßnahmen etwas mehr zustimmen. Es überrascht auch nicht, dass sich die Mehrheit der Lehrer deutlich gegen eine Stärkung der Mitwirkungsrechte von Eltern ausspricht. Hingegen hat uns sehr überrascht, dass auch die Mehrheit der Eltern, Item 16 ablehnt. Eltern scheinen mehrheitlich immer noch zu akzeptieren, dass sie in wesentlichen Angelegenheiten der Staatsschule nicht mitbestimmen dürfen. Vermutlich haben sie auch die in der Staatsschule verbreitete Vorstellung akzeptiert, sie - die Eltern - seien als Pädagogen Laien, die Lehrer hingegen Experten.

Insgesamt zeigen die vorläufigen Befunde, dass Eltern den Vorschlägen etwas stärker zustimmen als Lehrer. Eltern sind natürlicherweise daran interessiert, dass etwas gegen Lehrer unternommen wird, die sich pädagogisch inakzeptabel verhalten – scheinen jedoch Item 16 zufolge selbst wenig unternehmen zu wollen. Es ist aber ermutigend, dass die Differenzen nicht groß sind, und dass die meisten Vorschläge sehr ähnliche Zustimmung von Eltern und Lehrern finden. Die relativ häufige Zustimmung der Lehrer zu Maßnahmen gegen inakzeptables Lehrerverhalten, bestätigt unsere zitierten Befunde in der Lehrerbefragung: Die überwiegende Lehrermehrheit billigt Kränkungen von Schülern durch Lehrer nicht.

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