Volle Säle, intensiver Austausch, Sorgen wegen pauschalierter Entgelte

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DGPPN-Kongress 2012 Volle Säle, intensiver Austausch, Sorgen wegen pauschalierter Entgelte Der DGPPN-Kongress 2012, der vom 21. bis 24. November in Berlin stattfand, deckte erneut ein ungemein breites Themenspektrum ab. An den insgesamt 619 wissenschaftlichen Sitzungen haben 8.856 Besucher teilgenommen, davon 460 aus Österreich und 792 aus der Schweiz. Viele Veranstaltungen mussten wegen Überfüllung geschlossen werden. Wichtige Themen in den Sälen und auf den Gängen waren die Zukunft der Zwangsbehandlung sowie die Auswirkungen der pauschalierten Entgelte in der Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP) auf die Versorgung. Fehlversorgung und Prävention im Visier Präventionschancen besser nutzen und die Fehlversor- gung verringern – dafür wollen sich Psychiater, Psycho- therapeuten und Nervenärzte in den kommenden Jahren verstärkt einsetzen. Und dies trotz der Unbill durch das neue Entgeltsystem, das seit dem 1. Januar gilt. Im Jahr 2013 könnte es zu einer spürbaren Verschlechterung der stationären Versorgung psychisch Kranker kommen. Durch das neue Entgeltsystem, das sich an Fallpauschalen anlehnt, gebe es einen zunehmenden ökonomischen Druck, schwer psychisch Kranke früh aus der Klinik zu entlassen, sagte der neue DGPPN-Präsident Professor Wolfgang Maier, Bonn. Analog zu den „blutigen Entlassungen“ in der Chirurgie sei dann in der Psychiatrie mit der vorzeitigen Ausweisung „seelisch noch blu- tender“ Patienten aus Kliniken zu rechnen. Maier sieht es da- her als einen Schwerpunkt der DGPPN, der Fehl- und Mangel- versorgung von Patienten mit psychischen Krankheiten entge- genzuwirken. Eine eklatante Fehlversorgung sieht Maier auch im ambu- lanten Bereich. Er kritisierte, dass niedergelassene Psychiater und Nervenärzte zwar 65 % aller ambulanten Behandlungen bewältigten, dafür aber nur 23 % der ambulanten psychiatri- schen Ausgaben zur Verfügung stehen. Dagegen würden psy- chologische Psychotherapeuten für 17 % der Fälle 44 % der Aus- gaben beanspruchen. Durch ökonomische Fehlanreize sei es folglich zu einer Überversorgung von Patienten mit leichten psychischen Störungen und zu einer Mangelversorgung von sol- chen mit schweren Erkrankungen gekommen. Viele Frühberentungen Ein weiterer Schwerpunkt ist für Maier die Prävention. So ist die Zahl der jährlichen Frühberentungen aufgrund psychischer Beschwerden zwischen 2006 und 2010 dramatisch von etwa 50.000 auf 70.000 gestiegen. Eine psychiatrische Diagnose ist inzwischen bei knapp 40 % der Grund für ein vorzeitiges Aus- scheiden aus dem Berufsleben und mit großem Abstand zu an- deren Diagnosegruppen die häufigste Ursache der Frühberen- tung. Da manifeste psychische Störungen häufig chronifizieren und eine vollständige Remission erschweren, sei die Prävention umso wichtiger. Dazu gehöre etwa Haus- und Fachärzte für Be- lastungen ihrer Patienten im beruflichen Umfeld zu sensibili- sieren. Werden psychische Störungen rechtzeitig erkannt, lasse sich eine Berufsunfähigkeit oſt vermeiden. Patientenautonomie und ärztliche Verantwortung Diskussions- und Handlungsbedarf sieht Maier weiterhin bei der Stärkung der Patientenautonomie sowie bei der ärztlichen Verantwortung. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs, wonach für eine medizinische Zwangsbehandlung die rechtliche Grund- lage fehle, habe zu einer Rechtsunsicherheit geführt. Maier be- grüßte den Gesetzentwurf zur Neuregelung der Zwangsbehand- lung, den die Regierung vor kurzem vorgelegt hatte, er enthalte wesentliche Forderungen der DGPPN. Man werde die Gesetz- © DGPPN/Holger Groß (alle) 46 In|Fo|Neurologie & Psychiatrie 2013; 15 (1)

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DGPPN-Kongress 2012

Volle Säle, intensiver Austausch, Sorgen wegen pauschalierter EntgelteDer DGPPN-Kongress 2012, der vom 21. bis 24. November in Berlin stattfand, deckte erneut ein ungemein breites Themenspektrum ab. An den insgesamt 619 wissenschaftlichen Sitzungen haben 8.856 Besucher teilgenommen, davon 460 aus Österreich und 792 aus der Schweiz. Viele Veranstaltungen mussten wegen Überfüllung geschlossen werden. Wichtige Themen in den Sälen und auf den Gängen waren die Zukunft der Zwangsbehandlung sowie die Auswirkungen der pauschalierten Entgelte in der Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP) auf die Versorgung.

Fehlversorgung und Prävention im VisierPräventionschancen besser nutzen und die Fehlversor-gung verringern – dafür wollen sich Psychiater, Psycho-therapeuten und Nervenärzte in den kommenden Jahren verstärkt einsetzen. Und dies trotz der Unbill durch das neue Entgeltsystem, das seit dem 1. Januar gilt.

Im Jahr 2013 könnte es zu einer spürbaren Verschlechterung der stationären Versorgung psychisch Kranker kommen. Durch das neue Entgeltsystem, das sich an Fallpauschalen anlehnt, gebe es einen zunehmenden ökonomischen Druck, schwer psychisch Kranke früh aus der Klinik zu entlassen, sagte der neue DGPPN-Präsident Professor Wolfgang Maier, Bonn. Analog zu den „blutigen Entlassungen“ in der Chirurgie sei dann in der Psychiatrie mit der vorzeitigen Ausweisung „seelisch noch blu-tender“ Patienten aus Kliniken zu rechnen. Maier sieht es da-her als einen Schwerpunkt der DGPPN, der Fehl- und Mangel-versorgung von Patienten mit psychischen Krankheiten entge-genzuwirken.

Eine eklatante Fehlversorgung sieht Maier auch im ambu-lanten Bereich. Er kritisierte, dass niedergelassene Psychiater und Nervenärzte zwar 65 % aller ambulanten Behandlungen bewältigten, dafür aber nur 23 % der ambulanten psychiatri-schen Ausgaben zur Verfügung stehen. Dagegen würden psy-chologische Psychotherapeuten für 17 % der Fälle 44 % der Aus-gaben beanspruchen. Durch ökonomische Fehlanreize sei es folglich zu einer Überversorgung von Patienten mit leichten

psychischen Störungen und zu einer Mangelversorgung von sol-chen mit schweren Erkrankungen gekommen.

Viele Frühberentungen Ein weiterer Schwerpunkt ist für Maier die Prävention. So ist die Zahl der jährlichen Frühberentungen aufgrund psychischer Beschwerden zwischen 2006 und 2010 dramatisch von etwa 50.000 auf 70.000 gestiegen. Eine psychiatrische Diagnose ist inzwischen bei knapp 40 % der Grund für ein vorzeitiges Aus-scheiden aus dem Berufsleben und mit großem Abstand zu an-deren Diagnosegruppen die häufigste Ursache der Frühberen-tung. Da manifeste psychische Störungen häufig chronifizieren und eine vollständige Remis sion erschweren, sei die Prävention umso wichtiger. Dazu gehöre etwa Haus- und Fachärzte für Be-lastungen ihrer Patienten im beruflichen Umfeld zu sensibili-sieren. Werden psychische Störungen rechtzeitig erkannt, lasse sich eine Berufsunfähigkeit oft vermeiden.

Patientenautonomie und ärztliche VerantwortungDiskussions- und Handlungsbedarf sieht Maier weiterhin bei der Stärkung der Patientenautonomie sowie bei der ärztlichen Verantwortung. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs, wonach für eine medizinische Zwangsbehandlung die rechtliche Grund-lage fehle, habe zu einer Rechtsunsicherheit geführt. Maier be-grüßte den Gesetzentwurf zur Neuregelung der Zwangsbehand-lung, den die Regierung vor kurzem vorgelegt hatte, er enthalte wesentliche Forderungen der DGPPN. Man werde die Gesetz-

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gebungsverfahren in diesem Feld kritisch begleiten. Letztlich so Maier, müssen die Psychiater „für ihr Fach eine Behand-lungsethik entwickeln“. Nötig seien Leitlinien sowohl für die Zwangsbehandlung als auch für eine gemeinsam mit den Pati-enten entworfene Therapiestrategie.

Defizite sieht Maier bei der Förderung der psychiatrischen Forschung. Diese Förderung hält er in Deutschland für „äußerst miserabel“. Es gebe je ein Deutsches Zentrum für Krebsfor-

schung, Neurodegenerative Erkrankungen, Diabetesforschung, Herzkreislaufforschung, Infektions- sowie Lungenforschung, aber keines zur Erforschung psychischer Krankheiten. „Wir müssen einiges tun, damit die nächste Bundesregierung in die-ser Frage eine andere Einstellung gewinnt“, sagte Maier. Thomas Müller, Springer Medizin

Eröffnungspressekonferenz des DGPPN-Kongresses, Berlin, 21.11.2012

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Adipositas als Suchtkrankheit? Sind stark übergewichtige Menschen esssüchtig? Bis auf wenige Ausnahmen lässt sich Adipositas wohl eher nicht als Suchtkrankheit deuten.

Liest man die Medienberichte, welche Fastfood-Konsum mit dem Rauchen vergleichen, oder die Versuche in den USA, die Lebensmittelindustrie für die Adipositas-Welle verantwortlich zu machen, dann sehen offenbar viele in ihren stark übergewich-tigen Mitbürgern die Opfer einer Suchterkrankung. Professor Johannes Hebebrand, Essen-Duisburg, betrachtet diese Sicht-weise jedoch eher kritisch. Man müsse sich zunächst fragen, ob bei Adipositas überhaupt eine Substanzgebrauchsstörung vor-liegen könne, wie es beim übermäßigen Konsum von Alkohol, Nikotin oder anderen Drogen der Fall ist, oder ob es konkrete Hinweise auf eine Verhaltensstörung gebe, vergleichbar mit der bei einer Spiel- oder Onlinesucht, sagte Hebebrand.

Leptin-Mangel lässt Gewicht explodierenHinweise, dass Substanzen von Bedeutung sein können, liefere etwa das Hormon Leptin. Es wird unter anderem von Adipozy-ten ausgeschüttet und meldet dem Gehirn die aufgenommene Energiemenge zurück – als Folge wird das Hungergefühl ge-dämpft. Bei einer seltenen, genetisch bedingten Leptin-Defizi-enz erfüllen die Betroffenen tatsächlich die sonst üblichen Kri-terien für eine Suchterkrankung: Sie essen länger und in größe-ren Mengen als geplant – haben ihren Konsum also nicht unter Kontrolle. Sie essen viel zu viel trotz schwerer sozialer und zwi-schenmenschlicher Probleme, überessen sich, obwohl sie wis-sen, dass dies körperliche und psychische Folgen nach sich zieht. Sie haben zwar den Wunsch, weniger zu konsumieren, schaffen

dies aber nicht und leiden unter starkem Craving – einem un-bändigen Drang, ständig zu essen. Die Folgen sind gravierend: Beschrieben werden extrem fettleibige dreijährige Kinder mit einem Gewicht von über 40 kg. Gleicht man den Leptin-Mangel aus, normalisieren sich Essverhalten und Gewicht. Allerdings lasse sich dieses Modell nicht auf Adipöse ohne Gendefekt über-tragen: Zusätzliches Leptin führe hier nur zu einer vorüberge-henden Gewichtsreduktion um drei bis vier Kilo, Leptin-Man-gel ist daher wohl bei den wenigsten Menschen mit starkem Übergewicht ein Grund für ihren übermäßigen Konsum.

Haben stattdessen Zucker und Fett Suchtpotenzial? Fastfood und Süßes könnten dazu verführen, noch mehr Nahrung mit hohem Fett- und Kohlenhydratgehalt zu konsumieren. Aber auch dafür gibt es nach Auffassung von Hebebrand keine be-lastbaren Belege. „Es ist bisher nicht gelungen, einen bestimm-ten Anteil an Zucker oder Fett in der Nahrung zu definieren, ab dem eine Sucht entstehen könnte, ebenso wenig ist es gelungen, Lebensmittelzusatzstoffe zu identifizieren, die eine Sucht erzeu-gen.“ Auch Tierversuche sprechen eher dagegen: Mäuse bevor-zugen zwar, wenn sie die Wahl haben, stark zuckerhaltige Nah-rung, konsumieren dafür aber insgesamt weniger vom übrigen Futter und halten ihr Körpergewicht konstant. Dick werden sie nur, wenn man ihnen ausschließlich Nahrung mit einem hohen Fett- und Zuckergehalt serviert, erläuterte Hebebrand.

Nahrung im Überfluss, aber kein StoppsignalVielleicht liegt darin auch ein Schlüssel zum Verständnis der Adipositas. Professor Martina de Zwaan, Hannover, sieht die Epidemie der Adipösen als Folge davon, dass wir überall von stark zucker- und fetthaltigem Essen umgeben sind. „Überge-wicht ist eine normale Reaktion auf eine unnormale Umge-

Professor Wolfgang Maier (Mitte) folgt Professor Peter Falkai (ganz rechts) als DGPPN-Präsident nach. „President Elect“ Dr. Iris Hauth (ganz links) wird den Staffelstab in zwei Jahren übernehmen.