Vom Grauen ergriffen - Südkurier · 2021. 2. 22. · SAMSTAG, 14. FEBRUAR 2009 MEDIENPROJEKT...

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SAMSTAG,14. FEBRUAR 2009 SÜDKURIER NR. 37 / UE 25 MEDIENPROJEKT „KLASSE!“ Salem (shi) Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 9 an der Schule Schloss Salem haben einen Blick in das schlimmste Kapitel deutscher Ge- schichte geworfen. Sie besuchten ein ehemaliges Konzentrationslager, sprachen mit dem Sohn eines Zeitzeu- gen und beleuchteten die Schule selbst, die dank ihres damaligen Lei- ters im Dritten Reich lange Zeit ver- schont blieb von braunem Gedanken- gut. Die Ergebnisse ihrer Arbeit fass- ten die Schülerinnen und Schüler im Rahmen des Zeitungsprojekts „Klas- se!“ in verschiedenen journalistischen Darstellungsformen zusammen. Blick in die Vergangenheit Projekt der Salemer Schüler I m Rahmen des Projektes National- sozialismus unternahmen wir, die neunte Jahrgangsstufe der Schule Schloss Salem, eine Projektfahrt zum KZ Natzweiler-Struthof im französi- schen Elsass, nahe dem kleinen Dorf Rothau gelegen. Dabei wurden wir mit den historischen Grausamkeiten des Dritten Reichs konfrontiert. Das KZ Natzweiler-Struthof ist eines von vielen ehemaligen Arbeitslagern, in dem unschuldige Menschen grau- sam zu Tode kamen. Der „Grund“ (wenn man von einer Begründung hier überhaupt schreiben kann) für diese Grausamkeiten: Die Nationalso- zialisten wollten angebliche „Volks- schädlinge“ (Juden, Sinti und Roma, politische Gegner, Andersdenkende) ausschalten. Die, die nicht arbeitsfä- hig waren, wurden auf grausame Wei- se in den Gaskammern der Vernich- tungslager vergast oder erschossen. Und diejenigen, die arbeitsfähig wa- ren, dazu gehörten meist Männer, mussten, wie es in Struthof der Fall war, mindestens zwölf Stunden am Tag bei sehr wenig Nahrung und unter extremsten Bedingungen arbeiten, in Struthof in tiefen Steinbrüchen. Diese körperliche Arbeit wurde durch per- manente Schläge der Wachen und Bis- se von deren Hunden noch weiter er- schwert. Die Männer und Frauen mussten sich hier förmlich zu tode ar- beiten. Mit diesen Informationen im Hin- terkopf, machten wir uns auf den Weg zu diesem Ort des unmenschlichen Geschehens. Weil das KZ auf einem Berg der Vogesen angelegt war, muss- ten die Neuankömmlinge einen stei- len Weg zum KZ zurücklegen. Und da- mit wir uns ein ganz klein wenig in die Situation der damaligen Deportierten hinein-fühlen konnten, liefen wir ge- nau denselben Weg, den die Men- schen vor 60 Jahren hochgetrieben wurden. Als wir, nach zwei Stunden in der Kälte, oben ankamen, konnten wir uns noch etwas besser auf den Besuch der Gedenkstätte einstellen. Wir gingen, bevor wir das Lager selbst besuchten, in den so genannten Kartoffelkeller. Dies ist ein Keller, der von den KZ-Insassen gebaut werden musste, von dessen Zweck man aber heute nichts Genaues weiß. Er wurde zu einem Museum umgebaut, der die Geschichte des Zweiten Weltkriegs er- klärt. Danach erreichten wir unser ei- gentliches Ziel: das Lager selbst. Der Eingang des Lagers hatte zwei Tore hintereinander, welche, wie der restli- che Teil des Zauns, mit Stacheldraht umzäunt und unter Strom gesetzt wurden. Das Lager an sich war pyra- midenförmig angelegt, während ganz oben der Exekutions- und Appellplatz lag, waren unten das Krematorium und das Lagergefängnis. Auf dem Weg zurück, den wir eben- falls wieder zu Fuß gingen, waren alle mitgenommen von dem Grauen, das wir gesehen hatten. Auch wenn das al- les vorbei ist, sollten wir nicht verges- sen, was passiert ist. Gerade auch wie- der heute. JUNE THURMANN Der Eingang der heutigen Gedenkstätte in Natzweiler-Struthof, in dem im Dritten Reich unzählige Menschen ermordet wurden. Schüler der Schule Schloss Salem besuchen ehemaliges Konzentrationslager im Elsass Vom Grauen ergriffen Hubert Ledig wurde 1912 in Rothau in Elsass-Lothringen geboren, wo er auch bis zu seiner Flucht 1943 lebte. Er ar- beitete bei der Deutschen Bahn und half Menschen, aus dem von Deutschland eingenommenen Elsass-Lothringen in das besetzte Frankreich zu fliehen. Ein fiktives Gespräch mit ihm, entstanden nach einem Gespräch mit seinem Sohn. Herr Ledig, wie kamen Sie dazu, Menschen bei der Flucht nach Frankreich zu helfen? Ich wurde eines Tages von zwei Leuten angesprochen, sie fragten mich, ob ich sie, da ich mich in der Gegend gut aus- kenne, nach Frankreich schmuggeln könnte. Ich überlegte erst, dann stimmte ich zu. Wir gingen früh mor- gens los und nach einer Stecke von et- wa 14 Kilometern waren wir da. Ich führte sie dort zu einem Bauernhof der Familie Odile, die sich der Flüchtlinge annahm. Bekamen Sie für das Schmuggeln der Leute Geld? Nein, ich bekam nichts, aber es war ein gutes Gefühl, etwas für sein Vater- land tun zu können. Wer wollte flüchten? Ein großer Teil der Flüchtlinge waren Menschen, die aus Lagern ausgebro- chen waren oder Elsässer, die nicht in die Wehrmacht eintreten wollten oder dem Reichsarbeitsdienst und sons- tigen Schikanen entgehen wollten. War es gefährlich, nach Frank- reich zu gehen? Das war es allerdings, denn es war wichtig zu wissen, wo die SS patrouil- lierte, wo man über die Grenze gehen konnte. Die größte Gefahr war, dass wir einen SS-Spitzel führten, der uns verraten könnte, deswegen hat meine Frau immer, wenn sie schliefen, die Taschen der Flüchtlinge auf irgend- welche SS-Zeichen durchsucht. Wissen Sie was passiert wäre, wenn Sie gefasst worden wären? Wir wären erschossen oder ins KZ ge- schickt worden. Fiel es bei Ihrer Arbeit nicht auf, dass Sie öfter fehlten? Doch, doch, das schon, aber mein Chef übernahm dann immer meine Schichten und er sprach mich deswe- gen nie an. Ich glaube, dass er wusste, dass ich den Leuten zur Flucht verhalf und es für gut empfand. Warum flohen Sie 1943? Ich sollte, da Elsass-Lothringen ja zu Deutschland gehörte, in den deut- schen Kriegsdienst eingezogen wer- den. Da das für mich nicht in Frage kam, floh ich mit meiner Familie nach Frankreich. Später berichteten mir meine alten Nachbarn, als der Krieg vorbei war und wir wieder nach Hause gingen, dass zwei Stunden nach unse- rer Flucht die Gestapo unser Haus stürmte und durchsuchte. Wir muss- ten also verraten worden sein. FRAGEN: MATTHIAS HANDTMANN „Wir wurden verraten“ Fluchthelfer im Dritten Reich D ie Fenster sind verdunkelt. Aus dem Wohnzimmer ist Klavier- musik zu vernehmen. Inge steht auf dem ausgetretenen Flur und kaut Nägel. Man schreibt das Jahr 1939, bereits das Kriegsjahr 1939. In den Ferien hatten alle Schüler die Nachricht bekommen, dass die Schule trotz des Krieges statt findet. Das Jahr 2008. Im Wohnzimmer ist es still. Ich sitze an der Wand gelehnt. Der Boden wurde nie erneuert. Wie würde ich reagieren, wenn ich um meine Schule Angst haben müss- te? Wenn ich erst auf einen Brief war- ten müsste, in dem steht, dass auch mit dem dort eingerichteten Lazarett Salem bestehen bleibt? Es ist die Zeit nach dem Mittag- essen. Oft beschweren wir uns: Die Nudeln sind zu durchgekocht, die Kar- toffeln zu roh. 1939 wären sie wahr- scheinlich froh gewesen, etwas zu be- mängeln zu haben. In der Chronik von 1940 wird klar, welche Gedanken die Schüler sich zu machen hatten. Sie fischten Fische aus der Aach, sie muss- ten andauernd darauf achten, dass al- les verdunkelt ist und ganze Teile ihrer Schule konnten sie gar nicht benut- zen. Eine Tür öffnet sich und ich schaue auf. Ein Junge in Sanitäteruniform tritt in das schwache Licht. Er grüßt mich freundlich mit Hallo! und geht. Sanitäter, THW, Altenheim, alles Dienste, die nützlich sind, aber wie notgedrungen war der Dienst „Ernte- helfer? Die Schüler machten sich vor- und nachmittags auf den Weg zu Bauern- höfen, deren Hilfskräfte eingezogen worden waren. Sie arbeiteten auf dem Feld, als wären sie selber Landwirte. Aber irgendetwas muss doch die Schülerschaft zusammengehalten ha- ben? Egal wen man fragt, es gibt im- mer eine Antwort: Heinrich Blendin- ger. Er muss ein großartiger Mann ge- wesen sein. Er wird bewundert. Er war eine Person, zu der man Vertrauen hatte. Er stellte sich nicht öffentlich gegen die Nazis, jedoch unterstützte er sie auch nicht. In Salem war weder Rassenlehre ein Unterrichtsfach, noch mussten die Schüler Hakenkreuze tra- gen. „Das Schönste war, dass man freundlich mit ‚Guten Tag’ grüßte und nicht mit Heil Hitler!“, gab Inge H. an und ihre Augen fingen an zu glänzen. Herr Blendinger half den Schülern durch eine schwere Zeit. Er war wie ein Fels in der Brandung, während sein Kollegium durch Einzugsbefehle ste- tig wechselte. Die Schüler waren ebenfalls unge- schont. Die Waffen-SS nahm 1940 gleich sechs HJ-Führer mit, und im Laufe des Jahres 1943 wurden alle Jun- gen des Jahrgangs 1925 zum RAD ein- gezogen. Wie anders doch alles gewe- sen ist. Doch nach dem Schlaganfall bedingten Ausfall von Blendinger soll- te sich noch mehr ändern. Ein Mann der NSDAP, Herr Schmidt, folgte. Er wollte Schuluniform, die Schulsprecher, die Helfer und das Bunte-Kleider-tragen abschaffen. Er war von den Schülern verhasst, sie begegneten ihm und seiner Partei mit Skepsis. Ich bin froh, dass es heute anders aussieht. Wie friedlich alles im Ver- gleich scheint. Ich sitze auf dem Bo- den und denke über früher nach. Inge drückt die Klinke runter. Die Schüler singen „In den Ostwind hebt die Fahnen!“ Ein Lied, das sie vor der Zeit Hitlers nie gesungen hätten. REPORTAGE VON JOHANNA OTTEN, KLASSE 9A Das Schönste war das „Guten Morgen!“ Gedanken über Heinrich Blendinger, Schulleiter der Schule Schloss Salem von 1934 bis 1943 – Kein „Heil Hitler“ Heinrich Blendinger (auf unserem Foto: links sitzend) wurde 1881 in Gollhofen/Mittelfranken geboren. Er machte Abitur in Würzburg und studierte Theologie, Jura, Deutsch, Geschichte und Erdkunde. 1914 meldete er sich freiwillig zum Militär. Kurz darauf geriet er in englische Kriegsgefangenschaft. Als er frei kam, veröffentlichte er im Zeitraum 1924-1932 zwei Bücher („Heimatgeschichte vom Ammer- see“, „Aufsätze über Vor- und Frühgeschichte“). Im Alter von 53 Jahren folgte er dem Hilferuf der Schüler und Lehrer Salems und wurde deren Rektor. Dies tat er in einer Zeit, in der die Schule unter den Wirren der Machtergreifung der Nationalsozialisten litt und drohte, im Chaos zu versinken. Er be- schützte die Schule Schloss Salem vor der Übernahme der Nationalso- zialisten und sorgte dafür, dass die Salemer Werte erhalten blieben, während die Umwelt in menschen- feindliche Tyrannei verfiel. Er erfüllte sein Amt mit Elan und Freude, bis er 1943 einen Schlaganfall erlitt, von dem er sich nie wieder erholte und schließlich an den Folgen des Schlaganfalls und Altersschwäche 1957 starb. Blendinger dient bis heute als Vorbild vieler Schüler, weil er in den Jahren unmenschlichster Tyrannei an seinen Idealen der Menschlichkeit, des Mutes und der Wahrheitsliebe festhielt. Heute gibt es für herausragende Schüler die Möglichkeit, ein Blendinger-Stipen- dium zu erhalten. LEONARD HOLZER, JAN KAUL, SEBASTIAN BOCK Heinrich Blendinger DIE BETEILIGTEN KLASSEN DER SCHULE SCHLOSS SALEM International Class Klasse 9a Klasse 9b

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SAMSTAG, 14. FEBRUAR 2009 SÜDKURIER NR. 37 / UE 25MEDIENPROJEKT „KLASSE!“

Salem (shi) Schülerinnen und Schülerder Jahrgangsstufe 9 an der SchuleSchloss Salem haben einen Blick indas schlimmste Kapitel deutscher Ge-schichte geworfen. Sie besuchten einehemaliges Konzentrationslager,sprachen mit dem Sohn eines Zeitzeu-gen und beleuchteten die Schuleselbst, die dank ihres damaligen Lei-ters im Dritten Reich lange Zeit ver-schont blieb von braunem Gedanken-gut. Die Ergebnisse ihrer Arbeit fass-ten die Schülerinnen und Schüler imRahmen des Zeitungsprojekts „Klas-se!“ in verschiedenen journalistischenDarstellungsformen zusammen.

Blick in dieVergangenheitProjekt der Salemer Schüler

Im Rahmen des Projektes National-sozialismus unternahmen wir, dieneunte Jahrgangsstufe der Schule

Schloss Salem, eine Projektfahrt zumKZ Natzweiler-Struthof im französi-schen Elsass, nahe dem kleinen DorfRothau gelegen. Dabei wurden wir mitden historischen Grausamkeiten desDritten Reichs konfrontiert.

Das KZ Natzweiler-Struthof ist einesvon vielen ehemaligen Arbeitslagern,in dem unschuldige Menschen grau-sam zu Tode kamen. Der „Grund“(wenn man von einer Begründunghier überhaupt schreiben kann) fürdiese Grausamkeiten: Die Nationalso-zialisten wollten angebliche „Volks-schädlinge“ (Juden, Sinti und Roma,politische Gegner, Andersdenkende)ausschalten. Die, die nicht arbeitsfä-hig waren, wurden auf grausame Wei-se in den Gaskammern der Vernich-tungslager vergast oder erschossen.Und diejenigen, die arbeitsfähig wa-ren, dazu gehörten meist Männer,mussten, wie es in Struthof der Fallwar, mindestens zwölf Stunden amTag bei sehr wenig Nahrung und unterextremsten Bedingungen arbeiten, inStruthof in tiefen Steinbrüchen. Diesekörperliche Arbeit wurde durch per-manente Schläge der Wachen und Bis-se von deren Hunden noch weiter er-schwert. Die Männer und Frauenmussten sich hier förmlich zu tode ar-beiten.

Mit diesen Informationen im Hin-terkopf, machten wir uns auf den Wegzu diesem Ort des unmenschlichenGeschehens. Weil das KZ auf einemBerg der Vogesen angelegt war, muss-ten die Neuankömmlinge einen stei-len Weg zum KZ zurücklegen. Und da-mit wir uns ein ganz klein wenig in dieSituation der damaligen Deportiertenhinein-fühlen konnten, liefen wir ge-nau denselben Weg, den die Men-schen vor 60 Jahren hochgetriebenwurden. Als wir, nach zwei Stunden inder Kälte, oben ankamen, konnten wiruns noch etwas besser auf den Besuchder Gedenkstätte einstellen.

Wir gingen, bevor wir das Lagerselbst besuchten, in den so genanntenKartoffelkeller. Dies ist ein Keller, dervon den KZ-Insassen gebaut werden

musste, von dessen Zweck man aberheute nichts Genaues weiß. Er wurdezu einem Museum umgebaut, der dieGeschichte des Zweiten Weltkriegs er-klärt. Danach erreichten wir unser ei-gentliches Ziel: das Lager selbst. DerEingang des Lagers hatte zwei Torehintereinander, welche, wie der restli-

che Teil des Zauns, mit Stacheldrahtumzäunt und unter Strom gesetztwurden. Das Lager an sich war pyra-midenförmig angelegt, während ganzoben der Exekutions- und Appellplatzlag, waren unten das Krematoriumund das Lagergefängnis.

Auf dem Weg zurück, den wir eben-

falls wieder zu Fuß gingen, waren allemitgenommen von dem Grauen, daswir gesehen hatten. Auch wenn das al-les vorbei ist, sollten wir nicht verges-sen, was passiert ist. Gerade auch wie-der heute.

J U N E T H U R M A N N

Der Eingang der heutigen Gedenkstätte in Natzweiler-Struthof, in dem im Dritten Reich unzählige Menschen ermordetwurden.

Schüler der Schule Schloss Salem besuchen ehemaliges Konzentrationslager im Elsass

Vom Grauen ergriffenHubert Ledig wurde 1912 in Rothau inElsass-Lothringen geboren, wo er auchbis zu seiner Flucht 1943 lebte. Er ar-beitete bei der Deutschen Bahn und halfMenschen, aus dem von Deutschlandeingenommenen Elsass-Lothringen indas besetzte Frankreich zu fliehen. Einfiktives Gespräch mit ihm, entstandennach einem Gespräch mit seinem Sohn.

Herr Ledig, wie kamen Sie dazu,Menschen bei der Flucht nachFrankreich zu helfen?

Ich wurde eines Tages von zwei Leutenangesprochen, sie fragten mich, ob ichsie, da ich mich in der Gegend gut aus-kenne, nach Frankreich schmuggelnkönnte. Ich überlegte erst, dannstimmte ich zu. Wir gingen früh mor-gens los und nach einer Stecke von et-wa 14 Kilometern waren wir da. Ichführte sie dort zu einem Bauernhof derFamilie Odile, die sich der Flüchtlingeannahm.

Bekamen Sie für das Schmuggelnder Leute Geld?

Nein, ich bekam nichts, aber es warein gutes Gefühl, etwas für sein Vater-land tun zu können.

Wer wollte flüchten?

Ein großer Teil der Flüchtlinge warenMenschen, die aus Lagern ausgebro-chen waren oder Elsässer, die nicht indie Wehrmacht eintreten wollten oderdem Reichsarbeitsdienst und sons-tigen Schikanen entgehen wollten.

War es gefährlich, nach Frank-reich zu gehen?

Das war es allerdings, denn es warwichtig zu wissen, wo die SS patrouil-lierte, wo man über die Grenze gehenkonnte. Die größte Gefahr war, dasswir einen SS-Spitzel führten, der unsverraten könnte, deswegen hat meineFrau immer, wenn sie schliefen, dieTaschen der Flüchtlinge auf irgend-welche SS-Zeichen durchsucht.

Wissen Sie was passiert wäre,wenn Sie gefasst worden wären?

Wir wären erschossen oder ins KZ ge-schickt worden.

Fiel es bei Ihrer Arbeit nicht auf,dass Sie öfter fehlten?

Doch, doch, das schon, aber meinChef übernahm dann immer meineSchichten und er sprach mich deswe-gen nie an. Ich glaube, dass er wusste,dass ich den Leuten zur Flucht verhalfund es für gut empfand.

Warum flohen Sie 1943?

Ich sollte, da Elsass-Lothringen ja zuDeutschland gehörte, in den deut-schen Kriegsdienst eingezogen wer-den. Da das für mich nicht in Fragekam, floh ich mit meiner Familie nachFrankreich. Später berichteten mirmeine alten Nachbarn, als der Kriegvorbei war und wir wieder nach Hausegingen, dass zwei Stunden nach unse-rer Flucht die Gestapo unser Hausstürmte und durchsuchte. Wir muss-ten also verraten worden sein.

FRAGEN: MATTHIAS HANDTMANN

„Wir wurdenverraten“

Fluchthelfer im Dritten Reich

Die Fenster sind verdunkelt. Ausdem Wohnzimmer ist Klavier-musik zu vernehmen. Inge

steht auf dem ausgetretenen Flur undkaut Nägel. Man schreibt das Jahr1939, bereits das Kriegsjahr 1939. Inden Ferien hatten alle Schüler dieNachricht bekommen, dass die Schuletrotz des Krieges statt findet.

Das Jahr 2008. Im Wohnzimmer istes still. Ich sitze an der Wand gelehnt.Der Boden wurde nie erneuert.

Wie würde ich reagieren, wenn ichum meine Schule Angst haben müss-te? Wenn ich erst auf einen Brief war-ten müsste, in dem steht, dass auchmit dem dort eingerichteten LazarettSalem bestehen bleibt?

Es ist die Zeit nach dem Mittag-essen. Oft beschweren wir uns: DieNudeln sind zu durchgekocht, die Kar-toffeln zu roh. 1939 wären sie wahr-scheinlich froh gewesen, etwas zu be-

mängeln zu haben. In der Chronik von1940 wird klar, welche Gedanken dieSchüler sich zu machen hatten. Siefischten Fische aus der Aach, sie muss-ten andauernd darauf achten, dass al-les verdunkelt ist und ganze Teile ihrerSchule konnten sie gar nicht benut-zen.

Eine Tür öffnet sich und ich schaueauf. Ein Junge in Sanitäteruniform trittin das schwache Licht. Er grüßt michfreundlich mit Hallo! und geht.

Sanitäter, THW, Altenheim, allesDienste, die nützlich sind, aber wienotgedrungen war der Dienst „Ernte-helfer?

Die Schüler machten sich vor- undnachmittags auf den Weg zu Bauern-höfen, deren Hilfskräfte eingezogenworden waren. Sie arbeiteten auf demFeld, als wären sie selber Landwirte.

Aber irgendetwas muss doch dieSchülerschaft zusammengehalten ha-

ben? Egal wen man fragt, es gibt im-mer eine Antwort: Heinrich Blendin-ger. Er muss ein großartiger Mann ge-wesen sein. Er wird bewundert. Er wareine Person, zu der man Vertrauenhatte. Er stellte sich nicht öffentlichgegen die Nazis, jedoch unterstützteer sie auch nicht. In Salem war wederRassenlehre ein Unterrichtsfach, nochmussten die Schüler Hakenkreuze tra-gen. „Das Schönste war, dass manfreundlich mit ‚Guten Tag’ grüßte undnicht mit Heil Hitler!“, gab Inge H. anund ihre Augen fingen an zu glänzen.

Herr Blendinger half den Schülerndurch eine schwere Zeit. Er war wie einFels in der Brandung, während seinKollegium durch Einzugsbefehle ste-tig wechselte.

Die Schüler waren ebenfalls unge-schont. Die Waffen-SS nahm 1940gleich sechs HJ-Führer mit, und imLaufe des Jahres 1943 wurden alle Jun-

gen des Jahrgangs 1925 zum RAD ein-gezogen. Wie anders doch alles gewe-sen ist. Doch nach dem Schlaganfallbedingten Ausfall von Blendinger soll-te sich noch mehr ändern.

Ein Mann der NSDAP, Herr Schmidt,folgte. Er wollte Schuluniform, dieSchulsprecher, die Helfer und dasBunte-Kleider-tragen abschaffen.

Er war von den Schülern verhasst,sie begegneten ihm und seiner Parteimit Skepsis.

Ich bin froh, dass es heute andersaussieht. Wie friedlich alles im Ver-gleich scheint. Ich sitze auf dem Bo-den und denke über früher nach.

Inge drückt die Klinke runter. DieSchüler singen „In den Ostwind hebtdie Fahnen!“ Ein Lied, das sie vor derZeit Hitlers nie gesungen hätten.

R E P O R TA G E V O N J O H A N N A O T T E N , K L A S S E 9 A

Das Schönste war das „Guten Morgen!“Gedanken über Heinrich Blendinger, Schulleiter der Schule Schloss Salem von 1934 bis 1943 – Kein „Heil Hitler“

Heinrich Blendinger (auf unseremFoto: links sitzend) wurde 1881 inGollhofen/Mittelfranken geboren. Ermachte Abitur in Würzburg undstudierte Theologie, Jura, Deutsch,Geschichte und Erdkunde. 1914meldete er sich freiwillig zumMilitär. Kurz darauf geriet er inenglische Kriegsgefangenschaft. Alser frei kam, veröffentlichte er imZeitraum 1924-1932 zwei Bücher(„Heimatgeschichte vom Ammer-see“, „Aufsätze über Vor- undFrühgeschichte“). Im Alter von 53Jahren folgte er dem Hilferuf derSchüler und Lehrer Salems undwurde deren Rektor. Dies tat er ineiner Zeit, in der die Schule unterden Wirren der Machtergreifung derNationalsozialisten litt und drohte,im Chaos zu versinken. Er be-schützte die Schule Schloss Salemvor der Übernahme der Nationalso-zialisten und sorgte dafür, dass dieSalemer Werte erhalten blieben,während die Umwelt in menschen-feindliche Tyrannei verfiel. Er erfülltesein Amt mit Elan und Freude, biser 1943 einen Schlaganfall erlitt,von dem er sich nie wieder erholteund schließlich an den Folgen desSchlaganfalls und Altersschwäche1957 starb. Blendinger dient bisheute als Vorbild vieler Schüler, weiler in den Jahren unmenschlichsterTyrannei an seinen Idealen derMenschlichkeit, des Mutes und derWahrheitsliebe festhielt. Heute gibtes für herausragende Schüler dieMöglichkeit, ein Blendinger-Stipen-dium zu erhalten.

L E O N A R D H O L Z E R , J A NK A U L , S E B A S T I A N B O C K

Heinrich Blendinger

D I E B E T E I L I G T E N K L A S S E N D E R S C H U L E S C H L O S S S A L E M

International Class Klasse 9a Klasse 9b