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SPIEGEL WISSEN Nr. 2 / 2020 VOM ICH ZUM TEXT CAROLA KLEINSCHMIDT 16

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SPIEGEL WISSEN Nr. 2 / 2020

VOM ICH ZUM

TEXT CAROLA KLEINSCHMIDT

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WIEDERAUFBAU AktuelleStudien belegen, dassdie Belastungen ausKrisenzeiten noch langeauf den Einzelnen und die Gesellschaftnachwirken. DieErfahrungen frühererKatastrophen zeigen:Konkrete Hilfen müssenschnell einsetzen, um wieder Vertrauen zu schaffen.

WIR Ungeschminkte Wahrheit Rund 25 Millionen Deutsche verfolgten am 18. März die Ansprache von KanzlerinAngela Merkel, in der sie den Ernst der Pandemie deutlich machte. Die Lageist dramatischer für Gesellschaft undWirtschaft weltweit als die Finanzkrise2008 oder als Naturkatastrophen wieHurrikan oder Tsunami.

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Am 1. Januar 2020 schließt ein Großmarkt in der chine-sischen Metropole Wuhan. Besucher und Beschäftigte in-fizierten sich dort offenbar mit einem neuartigen Erreger,der eine schwere Lungenentzündung auslösen kann. Guteinen Monat später, am 11. Februar, bekommt das Viruseinen Namen – Sars-CoV-2. Inzwischen sind in mehrerenLändern Menschen daran erkrankt. Manche starben. DasVirus rast um die Welt: Anfang März stuft die Weltge-sundheitsorganisation die Krankheitswelle als Pandemieein, die wohl die gesamte Welt erfassen wird. Dann gehtes Schlag auf Schlag. Weltweit schließen die Schulen, dasöffentliche Leben wird runtergefahren. Mitte März ist esin Deutschland so weit. Kinder, Bürokräfte gehen zuneh-mend ins Homeoffice, Großveranstaltungen und Messenwerden abgesagt. Immer mehr Staaten verordnen ihrenBürgern Kontakt- und Ausgangssperren, rufen den soge-nannten Lockdown aus. Deutschland folgt nach Italien,Spanien und Frankreich am 23. März.

Wie einzigartig und ernst die Lage ist, wird den Letztenvermutlich am 18. März klar: Angela Merkel, Bundes-kanzlerin und sonst die Emotionslosigkeit in Person, ziehtdrastische Vergleiche für die Pandemie heran: Die Coro-nakrise sei die größte Herausforderung für unser Landund das gemeinsame Handeln der Gesellschaft seit demZweiten Weltkrieg.

Vielleicht ist es der Kriegsvergleich, vielleicht die Sorge,wie lange man noch ungehindert einkaufen darf. Oder

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Rückblick Fotograf Carlos Barria nahm 2005 ein Bild des Flutopfers Errol Morning auf, als der Hurrikan »Katrina« die Stadt New Orleans überschwemmte. Zehn Jahre danach ging er mit dem Foto an dieselbe Stelle. Manches ist noch nicht wiederaufgebaut.

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einfach nur Hilflosigkeit. Auf jeden Fall stürmen die Deut-schen in die Supermärkte. Und kaufen vor allem: Mehl.Zucker. Desinfektionsmittel. Klopapier. Andere singenauf ihren Balkonen und schaffen so Zusammenhalt ange-sichts der Aufforderung: »Bleibt daheim«. Viele klatschenallabendlich für die Ärzte und Pflegekräfte, die Covid-19-Kranke in den Kliniken versorgen. Zugleich stehlen Kri-

minelle Hunderttausende von Schutzmasken und ton-nenweise Desinfektionsmittel, um sie später zu Wucher-preisen zu veräußern. Die Bilder der ersten Krisentageerinnern rückblickend an einen Flashmob der Wahnsin-nigen.

Innerhalb nur einer Woche schien die Psyche der ge-samten Republik aus den Fugen zu geraten. Ist das nor-mal? Verlieren wir angesichts einer Krise automatischdie Nerven? Werden wir ein neues Normal finden? Oderwerden viele an den unsicheren Zeiten seelisch zerbre-chen? Viele Fragen, die wir uns derzeit stellen, habenForscher bereits ziemlich gut untersucht. Denn eine Krisehat System. Und unsere Psyche reagiert auf typische Wei-se. Dieses Wissen kann die Schäden verringern, die großeKrisen fast unweigerlich in der Seele der Menschen hin-terlassen.

Fakt ist: Krisen und Katastrophen bedrohen nicht nurdie körperliche Gesundheit, die Wirtschaft und politischeHandlungsfähigkeit eines Landes. Sie haben auch seeli-sche Folgen für die Bevölkerung. Dabei ist es gleich, obes um die Waldbrände Anfang des Jahres in Australien,eine Hungersnot in Somalia, Kriege in Syrien oder Krank-heitswellen geht, die über die Welt hinwegrollen. Wiedie Spanische Grippe, die von 1918 bis 1920 weltweit wütete, die Sars-Epidemie im Jahr 2003 in Asien, dieSchweine grippen-Pandemie 2009 oder nun das neuartigeCoronavirus Sars-CoV-2.

Krisen kennen wir aus vielen Bereichen: Scheidung,Tod, Jobverlust können Menschen an die Grenze ihrerBewältigungsmöglichkeiten bringen und so in eine per-sönliche Krise stürzen: Unsere gewohnten Lösungswegefür Probleme funktionieren nicht mehr. Gewissheitenzerbrechen. Wir müssen uns innerlich neu aufstellen, umdie Krise zu bewältigen. Krisen, die ganze Gesellschaftenoder sogar die Welt beschäftigen, bringen dagegen ganzeSysteme an den Rand ihrer Kräfte oder sogar zum Fall.

Das neuartige Coronavirus ließ die Börsenkurse ein-brechen, die Wirtschaftswelt fürchtet dramatischere Fol-

gen als nach der Finanzkrise 2008. Das Virus rüttelt anden Grundfesten der europäischen Idee, weil Grenzengeschlossen werden oder Nachbarländer nur zögerlichhelfen. Es entblößt den Blick auf ein fragiles Gesundheits-system, in dem in den vergangenen Jahren an vielenEcken gespart wurde. Es stürzt Menschen in persönlicheKrisen, weil sie um ihre Gesundheit und um ihre finan-zielle Existenz fürchten müssen – mit unüberschaubarenFolgen für die Seele.

Doch während über die wirtschaftlichen Kosten unddie Mängel im System viel geredet wird, fallen die psy-chischen Schäden durch große Krisen häufig unter denTisch.

Mit fatalen Folgen: In einer aktuellen Studie aus denUSA haben Psychiater Joshua Morganstein und RobertUrsano von der Uniformed Services University in Bethesda gezeigt: Psychologische Probleme wie Depres-sionen und Ängste sowie verhaltensbezogene Reaktionenauf die Krisenzeiten, wie erhöhter Alkohol- und Tabak-konsum, belasten die öffentliche Gesundheit nach einerKatastrophe besonders stark. Dafür hatten die ForscherStudien aus zahlreichen Umwelt- und Gesundheitskata-strophen ausgewertet. Beispiel Hurrikan »Katrina« imJahr 2005: Das Screening und das Therapieren psy-chischer Störungen bei der betroffenen Bevölkerung kos-tete fast so viel wie die Wiederherstellung des zerstörtenDeichsystems um New Orleans.

Die Katastrophenexpertin Fran Norris von der US-amerikanischen Dartmouth Medical School und langjäh-rige Leiterin des National Institute for Disaster MentalHealth Research, kam schon vor 20 Jahren zu einemvergleichbaren Ergebnis: In einer Metastudie wertetesie Studien über die psychischen Folgen von 160 Kata-strophen aus – von Flut über Terrorangriff bis Atom -unglück. Wie Morganstein stellt sie fest, dass Menschennach einer Krise vor allem an den Spätfolgen von traumatischen Erlebnissen, Depressionen und Ängstenleiden. Auch ein von chronischem Stress geprägtes Le-bensgefühl mache viele Menschen auf Dauer anfällig fürpsychische Probleme. Fran und ihre Kollegen forderndeshalb, dass ein gutes Krisenmanagement immer aucheine frühzeitige Hilfe für die Psyche der Betroffenen be-inhalten sollte.

Derzeit werden die psychischen Folgen einer Krisemeist erst nach der akuten Bedrohung in Augenscheingenommen.

Die posttraumatische Belastungsstörung, PTBS, ist da-bei die bekannteste psychische Folge von Katastrophenund Kriegen. Bekannt ist sie vor allem durch Soldaten,die in Kriegseinsätzen traumatisierende Gräuel erleben.Eine PTBS kann sich als Folge eines einzelnen traumati-sierenden Erlebnisses entwickeln, das die Psyche nichtverarbeiten kann. Nachts plagen Betroffene Albträume,tagsüber erleben sie Flashbacks und sehen im Geiste dieschrecklichen Szenen immer wieder. Sie meiden Freundeund Familie, fühlen sich erschöpft und depressiv. Der er-lebte Stress fresse sich bei ihnen regelrecht ins Gehirn,sagt der Neurobiologe Raffael Kalisch vom Leibniz Insti-tut für Resilienz in Mainz: »Bei diesen Personen hat sich

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Der erlebte Stress frisst sich bei Traumatisiertenregelrecht ins Gehirn.

SPIEGEL WISSEN Nr. 2 / 2020

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durch das Erlebnis ein Traumagedächtnis-Netzwerk imGehirn verfestigt, das durch bestimmte Reize ganz leichtgetriggert werden kann.« Ein Geräusch, ein bestimmterGeruch können ausreichen, um einen Flashback zu er -leiden.

»Wer so ein Trauma im Job erlebt, wird oft berufs -unfähig«, sagt Kalisch. Das betrifft Rettungskräfte nachKatastropheneinsätzen, Soldaten im Krieg – und vermut-lich auch einen Teil des Pflege- und Medizinpersonals,das in den Kliniken weltweit hilflos dabei zusehen musste,wie Patienten mit Covid-19 starben, weil Betten und Be-atmungsgeräte fehlten.

Während eine PTBS infolge eines schockierenden Er-lebnisses auftreten kann, sind Depressionen, Angst- undSchlafstörungen, Alkoholismus und psychosomatischeBeschwerden dem Dauerstress geschuldet, den Menschenin Krisenzeiten erleben. In einer japanischen Studie mit38 000 abstinenten Teilnehmern fing etwa jeder Zehntenach dem Tsunami und der Fukushima-Katastrophe imJahr 2011 mit regelmäßigem Alkoholkonsum an. Die Hälf-te trank auch noch zwei Jahre später.

»Andauernder Stress, noch dazu gepaart mit der Angstvor Krankheit oder dem Verlust der Existenz, kann psy-chische Erkrankungen auslösen«, erklärt Stefan Röpke,Leiter des Bereichs Persönlichkeitsstörungen an der Ber-liner Charité. Der Psychiater rechnet mit einem deutli-chen Anstieg psychischer Erkrankungen nach der akutenPhase der Coronakrise. In der Telefonseelsorge kam dieSeelennot vieler Menschen schon während des Lock-downs an. Die Berater am Sorgentelefon berichten über50 Prozent mehr Anrufer. Auch häusliche Gewalt scheintin Zeiten von Quarantäne und Anspannung zuzunehmen.

Für den Großteil der Bevölkerung bedeutet die Coro-na-Pandemie nicht nur einen Ausnahmezustand im All-tagsleben, sondern auch einen psychischen Ausnahme-zustand. »Würde man die Köpfe der Deutschen auf derHöhe der Coronakrise in den Kernspin stecken, sähe manbei vielen, dass bestimmte Hirnregionen aktiver sind alsnormalerweise«, erklärt Neurobiologe Raffael Kalisch.Die Unsicherheit aktiviert das Angst-Netzwerk in unse-rem Gehirn. »Wenn das Angst-Netzwerk aktiv ist, sindwir gleichzeitig ängstlich und hellwach«, erklärt Kalisch.Wir wittern sozusagen die Gefahr. Dieses auch als »salience network« bezeichnete Hirnnetzwerk bringt un-sere grauen Zellen dazu, sich rasch einen Überblick über

die Situation und die Handlungsoptionen zu verschaffen.Beteiligt sind daran vor allem der Amygdala, die vordereInselregion und Teile der Großhirnrinde. Sie werden im-mer dann aktiviert, wenn wir Unsicherheit oder Schmerzempfinden. Andere Denkaufgaben werden in dieser Zeitautomatisch gedimmt. »Wir überlegen mit Hochdruck,wie wir mit der Situation am besten umgehen können,und sind sehr aufmerksam für Informationen, die uns dabei helfen könnten«, erläutert Kalisch.

Unser Gehirn unterscheidet dabei sehr genau zwischeneiner akuten Gefahr und einer eher ungewissen oder weitentfernten Bedrohung. »In einer akuten Gefahr erlebenwir Furcht, die sich konkret auf den Angreifer oder dieBedrohung bezieht«, erklärt Kalisch. »Unser Stresssys-tem wird hochgefahren, und wir reagieren mit der be-kannten Fight-or-flight-Reaktion.« Doch die derzeitigeKrise können wir nicht mit einem beherzten Kampf be-enden oder indem wir weglaufen. Statt uns die Gefahraktiv vom Halse zu schaffen, sitzen wir in Habacht -stellung in unserer Wohnung fest.

»In dieser Situation stehen wir an einer Art Scheide-weg«, erklärt Kalisch. Geht man noch mehr ins Dramati-sieren, Grübeln, Sorgen-Machen? Oder gelingt es einem,einen produktiven und konstruktiven Umgang mit derBedrohung zu finden? »Katastrophisieren aktiviert dasAngstnetzwerk weiter und kann in Panik kippen«, erklärtder Neurobiologe. »Wählen wir dagegen den konstruk -tiven Weg, aktivieren wir die Hirnbereiche, die für höhereDenkaufgaben und Verhaltenskoordinierung zuständigsind.« Wenn diese im Frontalhirn liegenden Areale dieOberhand gewinnen, fangen wir im Geiste an, verschie-dene Handlungsmöglichkeiten durchzuspielen und wäh-len letztlich diejenige, die uns am sinnvollsten erscheint.Wir wechseln von der Habachtstellung in den Modus »Handeln und Bewältigen der aktuellen Situation« undwerden innerlich automatisch ruhiger.

Allerdings springt diese natürliche Krisenkompetenznur an, wenn uns die Gefahr auf die Pelle rückt. Solangedas Virus vor allem in Italien grassierte, blieben die meis-ten Deutschen recht kühle Beobachter. Erst als die Er-krankung nach den Karnevalstagen verstärkt in NRWauftauchte, wachten auch in Deutschland die Leyute auf.Völlig normal, sagt Kalisch. »Unser Gehirn ist darauf ge-prägt, nur Dinge in den Fokus zu nehmen, die uns ganzdirekt betreffen.« Ständiges Denken und Abwägen wäre

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emotionaleHöhen

heroischePhase

vor derKatastrophe

Warnung Bedrohungreale

Gefahr

Rekonstruktion

Honeymoon-Phase

Phase derDesillusion

Rückschläge

Jahrestags-Tief

bis zu einem Jahr nach dem JahrestagemotionaleTiefen

Quelle: SAMHSA

P H A S E N E I N E R K R I S E

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einfach viel zu energieaufwendig und würde uns im Alltagzu stark ausbremsen. »Deshalb ist es auch so schwierig,Gesundheitsprävention oder Veränderungen in Bezugauf den Klimawandel in breiter Bevölkerung oder Wirt-schaft zu etablieren«, weiß Kalisch.

Doch wenn wir erst mal aufgewacht sind, fangen wiran zu handeln. Weil Unsicherheit ein großer Stressfaktorist, sind wir bemüht, schnell Sicherheit zu schaffen. Dafürmüssen wir mehr über die Situation wissen. »Das Bedürf-nis, Informationen einzuholen, steigt jetzt enorm«, erklärtRaffael Kalisch. Denn um die Tragweite einer Gefahr ab-zusehen, ist es wichtig, sie möglichst genau zu kennen.

Die Stresshormone lassen uns nach jeder neuen Pod-castfolge mit dem Virologen der Nation gieren, wir ak-tualisieren ständig den »Tagesschau«-Ticker, und nahezujedes Gespräch dreht sich um das neue Coronavirus.

»Das Aufsaugen von Informationen rund um die Ge-fahr kann sich allerdings auch negativ auswirken«, warntKalisch. Zum einen seien wir im Rausch unserer Suchenach Orientierung überdurchschnittlich anfällig für FakeNews, Verschwörungstheorien oder Stimmen, die die Kri-se gänzlich leugnen. Zudem könne es passieren, dass wirunser Angstnetzwerk im Gehirn durch zu viele negativeNews zusätzlich belasten. »Man sollte daher bewusst seinen Medienkonsum zügeln«, rät Kalisch. Vor allemdie Flut an Bildern von sterbenden Menschen und Särgen,die sich stapeln, können Ängste verstärken. »Vermutlichspielt aber gerade das Stresshormon Cortisol eine ent-scheidende Rolle dabei, ob in einer Bedrohungssituationdas Angstnetzwerk oder das regulatorische Denknetz-werk Oberhand gewinnt«, erklärt Kalisch.

Solange das Angstnetzwerk agiert, passiert das, waswir in den ersten Tagen der Coronakrise erlebt haben:Das Krisengefühl jagte Tausende in Supermärkte zumHamsterkauf. Es ließ andere Unsummen für Schutz -

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Leben mit Risiko Eine Messstation in der Nähe einer Schule in Fukushima zeigt die Radioaktivität an.

Statt uns die Gefahr aktiv vomHalse zu schaffen, sitzen wir inHabachtstellung zu Hause fest.

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masken im Internet bezahlen. Manche reagierten auchparadox euphorisch, posteten schon in den ersten Tagender Krise die Chancen, die in der Not stecken würden. »Gerade zu Beginn einer Krise tun viele Menschen Dinge,die man nicht erwartet«, sagt der Neurobiologe GerhardRoth. Die Menschen zeigten allerdings kein völlig neuesVerhalten. Sondern eher im Gegenteil. Wir werden imersten Moment einer Krise ganz wir selbst. »Die Stress-situation, die eine Krise auslöst, wirft uns auf unsere ganzursprünglichen Persönlichkeitsanlagen zurück«, sagtRoth.

Jeder Mensch kommt mit einer gewissen Grundaus-stattung seines Temperaments auf die Welt. Manche sindvon klein auf verträglich und emotional robust, anderesind sensibler. In den ersten drei Jahren unseres Lebensverändere die Erziehung diese Anlagen, sagt Roth. ImIdealfall im positiven Sinne: Der Ängstliche lernt, mehrMut zu fassen, weil ihn seine Bezugspersonen fürsorglichlieben. Die Neugierig-Offene lernt, ihrer Neugier zu fol-gen und dennoch Gefahren zu erkennen.

Doch es geht auch in die ungünstige Richtung. Dannwerden die Ängstlichen zu sehr Ängstlichen und die Neu-gierigen zu Draufgängern, die keine Gefahr ernst neh-men. »Die Prägung bis zum dritten Lebensjahr gräbtsich tief ins Gehirn, in unser limbisches System ein«, sagtNeurobiologe Roth. »Danach stehen 50 bis 60 Prozentunserer Persönlichkeit fest.« In den folgenden Lebens-jahren bauen wir unsere Vernunft und unser Einsichts-vermögen zwar immer weiter aus. »Doch das ist eine

recht dünne Schicht unseres Wesens«, betont der Neuro -biologe Roth.

Der Beginn der Coronakrise setzte viele Menschen unter Stress – und damit ihr Frontalhirn ein Stück weitaußer Gefecht, in dem die Gehirnareale für Vernunft undsorgfältiges Abwägen ihren Hauptsitz haben. »Dann fälltman durch die Hülle der Erziehung durch auf die unterenStufen des Temperaments«, erklärt Roth. Die von Naturaus Ängstlichen fallen in ihre sorgsam verdrängten Ängstezurück – und prügeln sich um Klopapier. Oder sie sehendie möglichen Gefahren überdeutlich und schreiben aufTwitter und in den Medien über Katastrophenszenarien.Die von Natur aus Sozialen klatschen und musizierenauf Balkonen, kaufen für die Nachbarn ein oder habenandere Ideen, wie sie in der Krise Gutes tun können. Unddie besonders Optimistischen sehen sofort, wie man ausder Not eine Tugend machen könnte, und trainieren fürpersönliche Joggingrekorde.

Egal, wie man es dreht und wendet: Vernünftiges Han-deln war in den ersten Krisentagen nicht besonders aus-geprägt. Darum wirkten Appelle auch wenig. »Unser Ge-hirn ist im ersten Stress nicht offen für Vernunft«, weißRoth. Auch die Bundesregierung musste feststellen, dassdie pure Bitte, zu Hause zu bleiben, nur bei wenigenfruchtete. Schnell folgte die klare Anordnung zur Kon-taktsperre. Ein wichtiger Schritt in dieser Phase der Krise,denn klare Vorgaben geben Orientierung – und das be-sänftigt unser aufgewühltes Gehirn, sogar wenn wir denVorgaben nur mit Widerwillen folgen. Deshalb sei es

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auch richtig und wichtig, dass Unvernunft Folgenhabe, erklärt Roth, zumindest in der Anfangszeit. »Auf kurze Sicht sind Strafandrohungen das Ein-zige, mit dem man schnelle Verhaltensveränderun-gen erreichen kann.« Langfristig müssten allerdingsauf positive Ziele ausgerichtete Maßnahmen folgen.

Diese Erfahrungen sind keine Neuheitaus der Coronakrise. Im Gegenteil.Krisen folgen einem recht festenDrehbuch – und unsere Psyche folgtauch. Die Phase der Appelle an dieBevölkerung, gefolgt von Anordnun-gen, die den Schaden eindämmensollen, gehört dabei in die erste Stufeeiner Krisenwelle. Aus wissenschaft-

licher Sicht beginnt die Ausnahmesituation bereitsvor dem Eintreffen der Katastrophe und entwickeltsich in bis zu sechs Phasen. Zunächst erreichen unserste Warnungen: In China, dann in Italien gras-siert das Virus, fordert Todesopfer. Spätestens jetzt laufenim eigenen Land Maßnahmen an, um eine Katastrophezu verhindern. Der Stresspegel steigt bei Bürgern ebensowie bei Politikern, im Gesundheitswesen, bei Polizei undMilitär. Die allgemeine Unsicherheit sorgt für hohen In-formationsbedarf. Nachrichten werden so viel geklickt,gehört, gesehen wie sonst nur selten.

Dann wird die Bedrohung zur realen Gefahr. Sars-CoV-2 ist da. Es gibt erste Erkrankte, dann erste Tote.Kliniken und Gesellschaft befinden sich in der zweitenPhase der Krise: im Stresstest. Im besten Falle fühlensich die Menschen trotz der Bedrohung von Politik undHilfesystemen unterstützt. Krisenexperten nennen diesdie »Heroische Phase«. Alle stehen zusammen gegen dieGefahr. Die Stimmung der Menschen verbessert sich häu-fig sogar rasant. Fast könnte man meinen, jetzt sei dasSchlimmste überstanden. Experten bezeichnen die nächs-te Stufe der Krise deshalb auch als »Honeymoon-Phase«.Geschichten über kleine Wunder wie die Gesundung ei-nes Hundertjährigen oder überbordende Nachbarschafts-hilfe verbreiten sich. Es gibt schnelle Hilfe für diejenigen,die schwer betroffen sind.

Doch schon kurz nach dieser Hochphase kommt es inder Regel zu einem krassen Tief in der Stimmung derMenschen: die Phase der Desillusion. Nun erst realisiertman die Verluste, erholt sich vielleicht weniger schnellals erhofft von den Geschehnissen, benötigt mehr Un-terstützung, als es gibt. Vor allem bei Pandemien undanderen Krisen, die sich über längere Zeit hinziehen undin denen Menschen Kontaktsperren einhalten sollen(zum Beispiel auch bei einem Atomunglück), beobachtenForscher, dass die Honeymoon-Phase gar nicht eintritt,sondern die Stimmung in der Bevölkerung bereits in der

heroischen Phase stetig ab-nimmt.

Die nächste Phase der Rekon-struktion hat also oftmals kei-nen sehr guten Start. Und siedauert in der Regel längere Zeit.Hier zeigt sich, wie gut die Ge-sellschaft eine Krise langfristigmeistert. Ein gutes Krisenma-nagement führt dazu, dass mög-lichst viele Menschen die neuenUmstände akzeptieren können,ihr Leben wieder aufbauen.Dass sie die Verluste betrauernkönnen, ohne daran zu verzwei-feln. Das setzt voraus, dass esangemessene Unterstützungvon öffentlicher Hand gibt, diefair verteilt wird. Besonders ge-fährdet für langfristige Not sinddabei immer die Ärmsten unddie Jüngsten, zeigen die Studien.

Aber auch wenn alles objektiv Mögliche geleistet wird,gelingt die seelische Erholung nie allen: Ein gewisser Teilfokussiert sich auf seinen Ärger oder erlebt sich als Opferder Krise. Entscheidend für die Gesundung der Gesell-schaft ist, diesen Anteil möglichst kleinzuhalten.

Wie schnell und wie gut das gelingt, hängt sowohl vonder Art der Krise als auch von den äußeren Umständenab. Pandemien, die mit Quarantäne und Kontaktsperreeinhergehen, sind für die Psyche der Menschen besondersschwer zu ertragen. Denn: »Bindung und Miteinandersind der stärkste Schutzfaktor im Stress«, sagt Neurobio-loge Roth. »Wenn wir spüren, dass sich andere Menschenum uns kümmern, schüttet die Hypophyse das Bindungs-hormon Oxytocin aus. Das bremst wiederum Cortisol.«Das Gefühl von Verbundenheit senkt also den Stresslevel.Und es lässt unser heilsames Denknetzwerk im Gehirnanspringen. Aus kollektiver Sicht ebnet ein gutes Gemein-schaftsgefühl also den Weg zu konstruktiven Lösungen.

Ganz anders, wenn sich das Stressgefühl in den Men-schen verschärft. Zum Beispiel, weil die Unsicherheitnicht endet. Oder weil sich ständig neue Bedrohungenankündigen. Denn viele Menschen können sich an chro-nischen Stress nicht gewöhnen, wie Studien zeigen – undDauerstress ist extrem gesundheitsschädlich. Die anhal-tende Flut von Stresshormonen im Blut schädigt den Or-ganismus. Körper und Geist stehen unter Dauerstrom.Die Muskeln sind ständig angespannt, der Stoffwechselstets auf Kampfniveau, der Geist kommt nicht zur Ruhe.Muskelverspannungen, Immunschwäche, Herz-Kreislauf-Probleme und psychische Erkrankungen sind die Folge. »Wenn die Ausnahmesituation Monate andauert, dannkann es für viele Menschen zu Problemen kommen«, er-klärt Psychiater Röpke von der Berliner Charité. »Dasfühlt sich irgendwann an wie ein Winter, der nie endet.«

Der Psychologe Stevan Hobfoll von der Rush Univer-sity Medical Center in Chicago, Illinois, und seine Kolle-ginnen untersuchten, was Gesellschaften tun können, um

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Existenznot Griechische Rentner fordern 2015 von einemBankangestellten die Auszahlung ihrer Bezüge.

ZUM WEITERLESEN

Raffael Kalisch: »Derresiliente Mensch.Wie wir Krisen erlebenund bewältigen«. PiperTaschenbuch, 2020; 12 Euro. Georg Pieper:»Wenn unsere Welt aus den Fugen gerät«.Btb, 2014; 9,99 Euro.Gerhard Roth, NicoleStrüber: »Wie dasGehirn die Seelemacht«. Klett-Cotta,2018; 15 Euro. MirriamPrieß: »Resilienz«.Südwest-VerlagTaschen buch, 2019; 10 Euro.

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die psychischen Folgen von Krisen zu reduzieren. In dieStudien flossen Erkenntnisse aus Erfahrungen mit Terror-anschlägen, Epidemien, Naturkatastrophen mit ein. FünfFaktoren spielen den Wissenschaftlern zufolge eine zen-trale Rolle, um psychische Dauerbelastung in einer Kri-sengesellschaft zu lindern: das Gefühl von Sicherheit, Beruhigung, das Gefühl von Selbst- und Gemeinschafts-wirksamkeit, Verbundenheit und Hoffnung.

Wenn man sich diese Punkte anschaut,hat die Politik vieles richtig gemacht: Inruhigen Ansprachen haben Politikerund Politikerinnen betont, dass die Kon-taktsperre dem Schutz der Risikopatien-ten und dem gesamten Kliniksystemdient – aber nicht jeder um sein Lebenfürchten muss. Die täglichen Briefingsdurch das Robert Koch-Institut klären

sachlich auf, die Hotlines und finanziellen Hilfen stärkenVerbundenheit und Selbstwirksamkeit. Die Bundeskanz-lerin lobt die Bürger und Bürgerinnen dafür, die Regelnzu berücksichtigen und durchzuhalten. Es gibt das Ver-sprechen, in der Not niemanden alleinzulassen.

Der Psychologe und Traumaexperte Georg Pieper be-tont die Bedeutung guter Kommunikation für das See-lenheil der Gesellschaft: »Wenn die Bürger der Politikein Stück weit vertrauen können, entlastet sie das in Kri-senzeiten.« Denn dann können wir unsere Kräfte auf dieHerausforderungen fokussieren, die der Alltag in der Kri-se mit sich bringt. »Dabei ist Transparenz enorm wichtig«,betont der Spezialist für Krisenintervention. »Politikerund Verantwortliche müssen klar sagen, was die Realitätist. Auch wenn sie wehtut.« Statt Allmacht und Allwissenzu demonstrieren, hilft es, die einzelnen Schritte zu er-klären und Schwierigkeiten klar zu benennen. Bekun-dungen, man hätte alles im Griff, wie sie beispielsweiseUS-Präsident Donald Trump häufig äußert, seien dagegenkontraproduktiv, so Pieper.

Was passiert, wenn in Zeiten der Krise auch noch dasVertrauen in den Staat und die Gemeinschaft zerbricht,kann man im krisengeschüttelten Griechenland sehen. »Dort haben die Menschen sehr wenig Vertrauen in diePolitiker. Die Leute sind von der Finanzkrise derart ge-stresst, dass jeder nur panisch auf sich selbst schaut. Eskann kein konstruktives Miteinander entstehen«, sagtPieper. Der Traumaexperte hat mit Menschen viele ihrerKrisen durchlebt. Persönliche und kollektive. Er betreutedie Kumpel und ihre Familien 1988 beim großen Gru-benunglück in Borken, Rettungskräfte und Angehörigezehn Jahre später beim ICE-Unglück in Eschede genausowie die Opfer von Amokläufen. Er kennt auch eigeneAusnahmezustände: 2004 verlor er seine Nichte in derTsunami-Katastrophe.

Gerade für die westlichen Länder sei der Umgang mitdem Kontrollverlust, der mit einer Krise einhergehe, einebesondere Herausforderung, sagt Pieper. »Wir sind es gewohnt, die Kontrolle über unser Leben und Wirken zu

haben.« Dass eine Krankheitswelle alles über den Haufenwirft, Urlaubspläne ebenso wie berufliche Existenzen er-schüttert, das sei für viele eine Aufgabe, bei der sie Un-terstützung brauchten, sagt Pieper. Er plädiert für einebreit angelegte Informationsoffensive, wie man mit demFrust, den Verlusten und auch den täglichen Einschrän-kungen in Quarantäne oder kontaktarmen Zeiten zu-rechtkommt. »Nach der Aufklärung über Hygiene solltenun die Psychohygiene in den Fokus rücken.«

So geschehen auf Island. In der Finanzkrise 2008 ver-loren die 320000 Einwohner viele Milliarden Euro. Hun-derte mussten ihre Häuser verlassen, weil sie die Kreditenicht mehr zurückzahlen konnten. Banken hatten dasLand an den Rande des Konkurses spekuliert. Doch dieRegierung machte schnell klar: Das Problem ist lösbar,auch wenn die Lösung wehtun wird.

Die Isländer zogen an einem Strang. Privatpersonenschafften teure Autos ab und akzeptierten Kürzungenstaatlicher Budgets. Die maroden Privatbanken wurdenabgewickelt, das Bankensystem neu aufgestellt. Seit 2011wächst das Bruttoinlandsprodukt wieder. Die Krise istüberwunden. Und die Insulaner haben dazugelernt. Kon-sumkritik und politische Mitbestimmung, ebenso wie dasSelbstbewusstsein der Bürger und Bürgerinnen erlebenein nie da gewesenes Hoch.

Dass in jeder Krise eine Chance liege, betont auch dieHamburger Medizinerin, Psychotherapeutin und Burn-out-Spezialistin Mirriam Prieß. »Eine Krise trifft immerunsere Schwachstellen«, sagt Prieß. Deshalb sollte manals Person genauso wie als Gesellschaft reflektieren, wasdem Verhängnis die Tür öffnete. »Die Notlage wird erstüberstanden sein, wenn wir die Bedingungen veränderthaben, die dazu geführt haben«, sagt Prieß.

In der Coronakrise verschärfte beispielsweise das vomSparzwang gebeutelte Gesundheitssystem die Situation. »Lernen aus der Krise würde bedeuten, diese Schwach-stellen zu beheben«, erklärt Prieß. Und damit sollte manam besten noch anfangen, solange die Problemzonen

schmerzen und notwendige Veränderungen deutlich er-kennbar sind.

Risikoexperten wie Frank Roselieb tun genau das. Sieanalysieren während der akuten Notphase jene Schwach-punkte, die von der Politik neu zu justieren sind. Der geschäftsführende Direktor des Instituts für Krisenfor-schung in Kiel und sein Team dokumentieren rückwir-

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»Politiker und Verantwortlichemüssen klar sagen, was die Realitätist. Auch wenn sie wehtut.«

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kend seit 1984 Krisen in Deutschland und beraten Lan-des- und Bundesbehörden.

Drei Themenfelder, mit denen die Politik sich nun be-schäftigen sollte, stehen aus seiner Sicht schon fest. BeimThema Ausgangsbeschränkungen oder Handyortungmüssten wir »darüber diskutieren, wo wir am ehestenbereit sind, Grundrechte in Krisenzeiten einzuschrän-ken«. Zweitens werde man den Dialog zwischen Politikund Bürgern in Notzeiten überdenken: »Die Menschengingen trotz der Aufforderung, Kontakte zu meiden, insFitnessstudio und zum Spielplatz. In einer ähnlichen Situation wird man die Leute zukünftig deutlich stärkeran die Hand nehmen und die Leine früher kürzen müs-sen.« Roselieb sieht drittens aber auch die Chance, vielebisher kontroverse Ideen leich-ter durchzusetzen, wie eine ArtZivildienst für alle jungen Leuteoder die Digitalisierung der Bil-dung. Natürlich sei all dies nochim politischen Diskurs zu er -örtern, sagt Roselieb. Doch dasErgebnis sei bereits absehbar.

Die Rufe nach einer dauerhaft besseren Welt nach derCoronakrise, in der die Menschen mehr auf den sozialenZusammenhalt achten, mehr Umweltschutz leben undmehr Solidarität mit Kassiererinnen und Pflegekräften,sieht er dagegen skeptisch. »Das sind jetzt zwar wichtige›weiche‹ Durchhaltebotschaften«, sagt der Risikoforscher. »Nach der Krise verlieren sie aber sehr schnell an Gewichtund Gehör.« Die meisten Menschen tendierten dazu,wenn die Not vorbei ist, so bald wie möglich wieder ihrenAlltag zurückzuerobern.

Dann wären keine zwei Wochen nach Ende des Lock-downs Venedigs Gewässer wieder trüb, der Flugverkehrstärker als zuvor, die Straßen verstopft mit Pendlern, undim Gesundheitssystem wird wieder gespart, und alle

schauen weg. Wenn wirdas nicht wollen, müsstenwir schon jetzt die Zeitund das neue Gemein-schaftsgefühl nutzen, umunsere Welt auf langeSicht ein Stückchen bes-ser zu machen.

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Carola Kleinschmidt ist erstaunt, wie jedesWackeln der Regierung in ihren Aussagen gleich zu einer Welle von Zweifeln und Diskussionen in der Bevölkerung führt – genau wie in den Modellenzum Verlauf einer Krise beschrieben.

Armut Aufgrund der Finanzkrise brachen 2008 die drei isländischen Großbanken zusammen. Die Folgen für die Bevölkerung waren drastisch.Rezession, Inflation, Arbeitslosigkeit brachten manche in solche Existenznot, dass sie Mülleimer nach Wertstoffen durchsuchten.