Vom Wissen Zur Weisheit Fichtes Wissenschaftslehre 1811

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Vom Wissen zur Weisheit Fichtes Wissenschaftslehre 1811

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Vom Wissen zur Weisheit

Fichtes Wissenschaftslehre 1811

Fichte-Studien-Supplementa

Band 20

im Auftrage der

Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft

herausgegeben von

Helmut Girndt (Duisburg)

Wolfgang Janke (Wuppertal)

Wolfgang H. Schrader (†) (Siegen)

Hartmut Traub (Mülheim a. d. Ruhr)

Matteo Vincenzo d’Alfonso

Vom Wissen zur Weisheit

Fichtes Wissenschaftslehre 1811

Fichte-Studien-Supplementa Die Supplementa zu den Fichte-Studien präsentieren Forschungen zur Ge-schichte und Systematik der Transzendentalphilosophie. Es werden in die-sem Rahmen umfangreichere Untersuchungen veröffentlicht, z.B. Mono-graphien, Dissertationen und Habilitationsschriften, die dem Verständnis der Transzendentalphilosophie dienen oder ihre Erneuerung und Weiter-entwicklung voranbringen können. Typographie und Satz: Holger Ostwald (Duisburg) The paper on which this book is printed meets the requirements of »ISO 9706:1994, Information and documentation – Paper for documents – Re-quirements for permanence«. ISBN: 90-420-1847-X ©Editions Rodopi B.V., Amsterdam-New York, NY 2005 Printed in the Netherlands

Danksagung und Widmung Mit der Veröffentlichung dieser Arbeit, die ich als Dissertation zur Erlan-gung des Doktorgrades bei der Ludwig Maximilian-Universität im Juli 2003 vorgelegt habe, vollendet sich eine neunjährige Beschäftigung mit der Philosophie Fichtes. Bei solch’ einem Forschungsunternehmen lernt man, wie wenig ein Mensch alleine bewerkstelligen kann und wie viel der Erfolg von Anderen abhängt, von vielen anderen. Das gilt zumindest für mich. Im Jahre 1996 begann ich in Mailand unter der Leitung meines unvergesslichen Magistervaters Francesco Moiso an der »Wissenschafts-lehre 1804, zweiter Vortrag« zu arbeiten und erwarb somit meine Laurea. Zweieinhalb Jahre später durfte ich in München, dank seiner Empfehlung, bei Wilhelm G. Jacobs meine Bildung fortsetzen und vertiefen. Vier Jahre lang stand er mir als anspruchsvoller Doktorvater stets hilfsbereit zur Sei-te, und ich promovierte unter seiner Leitung über die »Wissenschaftslehre 1811«. Was ich diesen beiden Menschen schulde, ist nicht abzuschätzen. Ihnen kann ich nur meine tiefste Dankbarkeit aussprechen, was ich jetzt aus ganzem Herzen tue.

Danksagung und Widmung

Ebenso bei Erich Fuchs und Marco Ivaldo möchte ich mich zu-tiefst bedanken. Auf unterschiedliche Art und Weise haben mich beide immer wieder unterstützt und ermutigt. Erich half mir insbesondere, und neben vielem anderen, großzügig mit der Textkorrektur, einer harten Ar-beit, die er immer mit einem Lächeln vornahm. Günter Zöller und seinen Seminaren über die Spätphilosophie Fichtes sowie den Oberseminaren von Wilhelm G. Jacobs in den Jahren 1999-2002 verdanke ich die Verfei-nerung meiner Interpretation der Philosophie Fichtes und des Deutschen Idealismus überhaupt. Unter den Teilnehmern, mit denen ich weiter wach-sen konnte, möchte ich hier insbesondere an Marco Rampazzo Bazzan, Jan Seide, Alessandro Bertinetto und Karsten Thiel – der übrigens auch eine erste sprachliche Revision meiner Dissertation übernahm – erinnern. Für die allerletzte Textkorrektur und -bearbeitung bedanke ich mich herz-lich bei Christiane Henkes. Hans-Georg von Manz, Ives Raddrizzani und vor allem Peter K. Schneider verdanke ich mehrere fruchtbare, philosophi-sche Auseinandersetzungen während der unzähligen lebhaften Mittages-sen beim Stammtisch der Fichte-Kommission in der Opernkantine. Zusammen mit dem Deutschen Akademischen Austauschdienst DAAD, der mir ein zehnmonatiges Stipendium bewilligte, soll hier auch der Bayerische Staat für ein sechsmonatiges Stipendium am Ende der Promotionszeit erwähnt werden. Aber nicht nur in München wurde ich unterstützt und gefördert, auch in Mailand spielten mir liebe und wertvolle Menschen eine äußerst wichtige Rolle bei der Anfertigung dieser Arbeit: an meinen Eltern Erne-sto und Marzia d’Alfonso geht hier mein herzlichster Dank an Luigi Ferra-ri und hier insbesondere an Nella Guidi für ihren unermüdlichen Ansporn. Dem Instituto Italiano per gli Studi Filosofici von Neapel verdanke ich einen großzügigen Druckkostenzuschuß. Francesco Moiso, der 2001 unerwartet starb, ist dieses Buch gewidmet: Ich hoffe, dass diese Arbeit seine didaktischen Bemühungen nachträglich ehren kann.

München 28.07.2005

Francesco Moiso, dem unvergesslichen Meister

Inhalt

Einleitung ................................................................................................. 1 Entwurf einer allgemeinen Organisation der Vorlesungen des Jahres 1811 ................ 2 Zur Periodisierung der theoretischen Philosophie Fichtes ........................................... 5 Zur Notwendigkeit und Problematik einer Beschäftigung mit dem handschriftlichen Nachlaß beim Studium der Wissenschaftslehre ............................ 10 Die thematische Erschließung des Vorlesungstextes zur Wissen- schaftslehre ................................................................................................................ 13

1. Der Begriff der Wissenschaftslehre und ihre Methode ...................... 17 1.1. Der Standpunkt der Transzendentalphilosophie: Wissenschaftslehre versus Dinglehren ............................................................. 17 1.2. Voraussetzungen, Aufgabe und Definition der Wissenschaftslehre ................. 20 1.3. Der Hypothesencharakter des Ausgangspunkts und die Frage nach der Evidenz der Wissenschaftslehre ........................................................ 22 1.3.1. Das Wissen ist ein unentbehrliches Faktum ............................................ 22 1.3.2. Anschauung und Denken ........................................................................ 24 1.3.3. Der demonstrative Gang der Wissenschaftslehre .................................... 26 1.3.4. Die Zirkularität als die einzig mögliche wissenschaftliche Form der Wissenschaftslehre .................................................................................. 28 1.3.5. Die Wissenschaftslehre als natürliches Produkt ...................................... 35 1.4. Denken, Reflexion, Zweifel ............................................................................. 37 1.5. Der Inhalt der Wissenschaftslehre .................................................................... 43 1.5.1 Die Schwierigkeiten der Wissenschaftslehre .......................................... 45 1.5.2.1. Der Gegentrieb ........................................................................... 45 1.5.3.2. Der Hang des natürlichen Bewußtseins ..................................... 47 1.5.3.3. Die Schwierigkeit des Gedankengangs ...................................... 51 1.6. Die Selbstbewahrheitung des Wissens ............................................................. 56 1.6.1 Die Abneigung gegen das historische Wissen und jede Autorität überhaupt ................................................................................. 65

Inhalt

2. Einleitung durch Spinoza: das Sein .................................................... 69 2.1. Erster Widerspruch: das Sein und sein Begriff ................................................ 73

3. Fortsetzung mit Kant: die Erscheinung .............................................. 77 3.1. Erscheinung ...................................................................................................... 78 3.2. Sicherscheinung ............................................................................................... 80

4. Grundlage für die Ableitung des Bewußtseins ................................... 89 4.1. Zweiter Widerspruch: die Erscheinung und ihre Sicherscheinung .................. 89 4.1.1. Protestatio facto contraria ...................................................................... 95 4.1.2. Genesis des Erscheinungsbegriffs ....................................................... 100 4.1.3. Die Freiheit der Erscheinung ............................................................... 102 4.1.4. Vom Begriff des Absoluten zum lebendigen Durch der Erscheinung (Schluß vorwärts) ................................................................................ 104 4.2. Dritter Widerspruch: das Durch der Erscheinung .......................................... 107 4.2.1. Das Vermögen ..................................................................................... 109 4.2.2. Der Inhalt des Vermögens: Schema 2 .................................................. 112 4.2.3. Der Inhalt von Schema 2 ...................................................................... 117 4.3. Vierter Widerspruch: das Erscheinen des Absoluten im Schema 2 ............... 118 4.3.1. Die Frage nach dem Prinzip des Mannigfaltigen ................................. 118 4.3.2. Die Frage nach dem Erscheinen des Absoluten im Schema 2 ............. 121 4.3.3. Das Als des Schemas und das Prinzip des Soll .................................... 123 4.3.4. Die synthetische Periode ...................................................................... 126 4.3.5. Die Kritik an Locke und den Kantianern ............................................. 128 4.3.6. Gesetz und Evidenz ............................................................................. 134

5. Die Erhebung des Bewußtseins zum Bewußtsein ............................ 143 5.1. Die Erscheinung des Vermögens als solchem ............................................... 147 5.1.1. Der Reflex ........................................................................................... 152 5.1.2. Die Genesis der transzendentalen Apperzeption ................................. 155 5.1.3. Der Inhalt des Reflexes ........................................................................ 157 5.1.4. Ein Beispiel zur Erklärung ................................................................... 160 5.1.5. Schema und Sein des Vermögens ........................................................ 161 5.2. Das Sehen ...................................................................................................... 164 5.2.1. Das Bewußtsein ................................................................................... 166 5.2.2. Zum Als des Vermögens: die Attention ............................................... 171 5.2.3. Die Analyse des Bewußtseins ist vollendet ......................................... 175

Inhalt

5.3. Die Möglichkeit der Genesis: das Gesetz des Soll ......................................... 179 5.3.1. Die Disjunktion im Bewußtsein ........................................................... 189 5.3.2. Der Freiheitsakt: ideale und faktische Welt ......................................... 196 5.3.3. Der Grund der Disjunktion: das Soll und das Kann ............................. 204 5.3.4. Die Entstehung der Unendlichkeit ........................................................ 206 5.3.5. Analyse des Soll ................................................................................... 209 5.3.6. Die ›ewige Jagd‹ des Kann nach dem Soll ........................................... 211 5.3.7. Die Bedingung der Wirkung des Soll: das Bild des Soll ...................... 216 5.3.8. Vom Bild des Soll zum Soll des Soll ................................................... 221

6. Das Erscheinen der Erscheinung als solcher .................................... 225

6.0.1. Die Folge der Prinzipien: Soll, Soll, Als ............................................... 227 6.0.2. Das Bewußtsein des Bewußtseins ........................................................ 228 6.0.3. Der Reflex des Reflexes ....................................................................... 233 6.0.4. Das Faktum des Sichanhaltens ............................................................. 242 6.0.5. Reproduktive Einbildungskraft, Gedächtnis, Raum und Stoff ............. 247 6.0.6. Die Ichform .......................................................................................... 255 6.1. Die Bedingung der Möglichkeit des faktischen Ich ....................................... 264 6.1.1. Die Materie der Welt ............................................................................ 267 6.1.2. Der Grund für den Übergang von der absoluten zur sichtbaren

Erscheinung .......................................................................................... 268 6.1.3. Die Schranke und das Bild des Vermögens .......................................... 274 6.2. Die Deduktion des Faktums der Wissenschaftslehre ...................................... 278 6.2.1. Das Bild des Bildes der Erscheinung: das Schema 3 ........................... 279 6.2.2. Reflexibilität und Reflexion: Schema 4 und Schema 5 ........................ 284 6.2.3. Der Inhalt der Reflexibilität des Prinzips ............................................. 287 6.2.4. Die Welt der vielen Ichs und die Natur ................................................ 291 6.2.5. Sittlichkeit und Genie ........................................................................... 294 6.2.6. Wille und Weisheit ............................................................................... 299

Literaturverzeichnis .............................................................................. 305

Primärliteratur .......................................................................................................... 305 Allgemeine Literatur zur Philosophie Fichtes ......................................................... 306 Literatur über die erste Berliner Phase der Philosophie Fichtes (1800-1805) ......... 309 Literatur über die zweite Berliner Phase der theoretischen Philosophie Fichtes (1807-1814) ................................................................................................. 310

Sollicitamur appetitu naturae nostrae indito ad non solum scientiam, sed sapientiam seu sapidam scientiam habendum. (Nikolaus Cusanus, De Vena-

tione Sapientiae) In der ersten Aera des höheren Menschenthums gilt die Tapfer-keit als die vornehmste Tugend, in der zweiten die Gerechtig-keit, in der dritten die Mässi-gung, in der vierten die Weis-heit. In welcher Aera leben wir? In welcher lebst Du? (Friedrich Nietzsche, Der Wan-

derer und sein Schatten)

Einleitung Das Interesse an der Wissenschaftslehre von 1811 gründet sich darauf, daß mit den 38 Vorlesungen eine besonders gut artikulierte Darstellung der systematischen Begründung von Fichtes philosophischer Position in der letzten Berliner Phase seines Philosophierens vorliegt. Fichte nimmt hier gegen beide Formen des Nihilismus Stellung, den theoretischen sowie den mit diesem zusammenhängenden praktischen. Trotz der reinen Bildhaftig-keit der Welt und seiner Auflösung ins Kaleidoskop des menschlichen Bewußtseins nämlich gelten das Bewußtsein und seine Struktur der Sich-Vergegenwärtigung von Bildern bzw. Vorstellungen nicht als letzter Grund des Realen. Denn das Bewußtsein ist nichts anderes als eine Form des Wissens und das Wissen ist wiederum der Ausdruck einer ursprüngli-cheren synthetischen Tätigkeit, die auf die Freiheit des absoluten Seins oder – wie Fichte auch zu sagen pflegt – Gottes zurückzuführen ist. Die

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weltliche Bildlichkeit ist folglich – mittels des Bewußtseins – als Bild des Seins zu verstehen und deshalb die Erfahrungswelt als eine Erscheinung anzuerkennen, ohne daß man sie aber dabei schlechthin entwerten dürfe. Denn nachdem man die reine Bildhaftigkeit der Welt anerkannt und sich dadurch vor seiner blinden Verehrung als eines absoluten Dings abgesi-chert hat, verdient sie als die eine Form, in der die Äußerung des Absolu-ten gesetzmäßig wahrgenommen werden kann, die ihr zukommende Ach-tung. Die andere Form ist dann das sittliche Handeln, in dem sich die menschliche Freiheit nur als solche äußern kann, wenn die Gegenstände, an denen sie sich manifestiert, bzw. die Zustände, auf die sie Einfluß hat, auch eine Erscheinung der Freiheit sind. Das sind sie aber mit Gewißheit, nachdem bewiesen wurde, daß das die faktische Welt konstituierende Bewußtsein eine Erscheinung des Absoluten ist. Um seine Position vertreten zu können, muß Fichte sich also vor allem mit Kant auseinandersetzen. Zwei Probleme stellen ihm Kant und seine Transzendentalphilosophie: erstens, wie man das Bewußtsein be-schreiben kann, wenn man sich nicht aus dem Zirkel des Bewußtseins bewegen kann, und zweitens, wie man die in dieser Beschreibung faktisch entdeckte Ursprünglichkeit der Synthesis rechtfertigen kann. Der ersten Frage kann die Wissenschaftslehre nur in ihrer Ganzheit antworten, aller-dings besteht die Bedingung der Möglichkeit der in ihr vollzogenen Ana-lyse von Bewußtsein und Selbstbewußtsein darin, daß innerhalb des Be-wußtseins eine Spaltung stattfinden kann, die sich in der Frage nach dem Seinsollen (s)eines Zustands zeigt. Die zweite Frage wird darüber hinaus gerade dadurch beantwortet, daß Fichte nach dem Seinsollen der transzen-dentalen Apperzeption fragt und dabei deren Genesis durchführt. Für Fichte hatte der Begründer der Transzendentalphilosophie, Kant, die grundlegende synthetische Tätigkeit des Bewußtseins nur noch als ein Faktum des Bewußtseins angenommen. Der Beweis ihrer Möglichkeit war letztlich nur zu führen, indem man sie auf eine Erscheinungsform der Freiheit als Inbegriff Gottes zurückführte. Diesen Beweisgang versteht Fichte als die Vervollständigung des transzendentalphilosophischen Pro-gramms und zugleich als Mittel, um aus dem Wissen in die Weisheit über-zugehen. Entwurf einer allgemeinen Organisation der Vorlesungen des Jahres 1811 In den Jahren 1810 bis 1814 präsentierte Johann Gottlieb Fichte insgesamt drei vollständige Darstellungen seines Systems. Im Februar und März

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1810 hatte er in den Räumen des Prinz-Heinrich-Palais, das ab Herbst 1810 als Universitätsgebäude dienen sollte, zum ersten Mal im Rahmen der Universitarischen Programme seine Wissenschaftslehre ausgeführt. Diese Wissenschaftslehre 1810 hat jedoch, vermutlich wegen der schwe-ren Krankheit, unter der der Philosoph in den Monaten von Mitte 1808 bis Herbst 1809 litt, einen teilweise fragmentarischen Charakter.1 In der Zeit vom 30. Januar bis 6. April 1811 hielt Fichte dann die hier betrachteten 38 Vorlesungen zur Wissenschaftslehre,2 während eine dritte vollständige Präsentation der Wissenschaftslehre von Januar bis März 1812 folgte. Die Vorlesungsreihen der Jahre 1813 und 1814 hingegen blieben unvollstän-dig: Im Februar 1813 brach Fichte wegen des gerade ausgebrochenen Krieges nach 18 Vorlesungen die Reihe ab, 1814 erkrankte er nach fünf Vorlesungen an Typhus, dem er kurz darauf erlag. Schon nach einer ersten Lektüre der Vorlesungen zur Wissen-schaftslehre im Jahre 1811 zeigt sich, daß die ersten vier als eine Art Vor-rede vom Rest der Vorlesungen getrennt werden können. Obwohl Fichte jetzt den Terminus Prolegomena nicht verwendet, bilden diese Vorlesun-gen eine Einleitung, die denen der ersten Vorlesungen über die Wissen-schaftslehre, die Fichte in den Jahren 1804 und 1807 hielt, ähneln und die er damals ausdrücklich so bezeichnete. Auch hier werden nämlich allein die Prämissen formuliert, die es ermöglichen, sich der Aufgabe der Wis-senschaftslehre überhaupt stellen zu können. Bereits diese einleitenden Vorlesungen sind allerdings sehr komplex, sie fordern den Hörer (bzw. Leser) auf, vom gewöhnlichen zum transzendentalen Standpunkt als dem einzigen Standpunkt überzugehen, von dem aus die Wissenschaftslehre nachvollziehbar bzw. von jedem Einzelnen selbst vollziehbar ist. Dazu muß Fichte vorläufig den Begriff und das Ziel der Wissenschaftslehre

1 Gleichwohl hat Fichte den Schluß der Wissenschaftslehre 1810 im März 1810 bei Hitzig in Berlin veröffentlicht: J.G. Fichte: Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umrisse. Berlin bei J.E. Hitzig, 1810. Vgl. auch: J.G. Fichte: Die späten wissenschaftlichen Vorlesungen I,

1809-1811. Hg. v. H.G. von Manz et al. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000 (frommann-holzboog

Studientexte 1.2000), 177-196. 2 Der Text der Wissenschaftslehre von 1811 (WL 1811) steht erst seit 1999, dem

Jahre seiner Publikation, im Rahmen der Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissen-schaften zur Verfügung. Von Fichtes Sohn und erstem Herausgeber seines Nachlasses, Immanuel Hermann, wurden diese Vorlesungen nicht nur nicht veröffentlicht, sondern merkwürdigerweise nicht einmal erwähnt. Vgl. J.G. Fichte: Nachgelassene Schriften 1810-1812. Hg. v. R. Lauth et al. Stuttgart-Bad Cannstadt 1999 (Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissen-

schaften Reihe II, Bd. 12), 137-299. Längere Zitate aus dieser Ausgabe werden im folgenden im Text mit der Angabe von Seite und Zeile, kürzere Zitate in Fußnoten mit dem Kürzel ›GA II 12, [Seite], [Zeile]‹ belegt. Für andere Belege aus der Gesamtausgabe wird das Kürzel ›GA [Reihe] [Band], [Seite], [Zeile]‹ benutzt.

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mitteilen, denn es gilt, den Zuhörern ein allgemeines Bild dessen zu ver-mitteln, was sie sich durch den ganzen Gedankengang der Wissenschafts-lehre hindurch vergegenwärtigen müssen. Die übrigen 34 Vorlesungen kann man dann in drei Abschnitte gliedern: Der erste Teil geht aus von der Formulierung des Begriffs vom absoluten Sein und schreitet durch die Untersuchung des damit verbunde-nen Erscheinungsbegriffs bis zur Deduktion eines Vermögens fort, das die Erscheinung des Seins dazu führt, sich selbst zu erscheinen. Anschließend wird der Zusammenhang zwischen dem absoluten Sein, seinem ersten Schema im Seinsbegriff und seiner weiteren freien Selbstschematisierung in einem zweiten Schema erläutert. Die sich hier stellende Frage nach der Rechtfertigung der faktischen Mannigfaltigkeit angesichts der Einheitlich-keit der Seinserscheinung und deren notwendigerweise ebenso einheitli-cher Erscheinung im Schema 2 sowie die Feststellung der Unmöglichkeit, diese Frage zu beantworten, zwingen Fichte in der elften Vorlesung dazu, das lineare Ableitungsverfahren zu unterbrechen und eine sog. ›Zwischen-arbeit‹ einzuschieben. Diese leistet der zweite Teil der Wissenschaftslehre, in dem das Prinzip gesucht wird, das die Deduktion der Mannigfaltigkeit ermöglicht und an das sich die weitere Entwicklung der Wissenschaftslehre anknüpft. Die ›Zwischenarbeit‹ besteht zunächst aus der Erörterung der Struktur des Bewußtseins und seiner zum Sehen führenden synthetischen Tätigkeit. Dabei erweist sich das Bewußtsein als Einheit der Einheit als solcher und der Mannigfaltigkeit als solcher. Sodann aber führt diese Erörterung auch zur Hinterfragung ihrer eigenen Bedingungen der Möglichkeit und zu ihrer Entdeckung im Selbstbewußtsein, das Fichte hier Bewußtsein des Bewußtseins nennt. Dabei treten das Als, das Zeichen der im Bewußtsein stattfindenden Disjunktion zwischen Bewußtsein und Selbstbewußtsein, und das Soll als Prinzip dieser Disjunktion auf, denn das Soll fordert das explizite Erscheinen des Absoluten als solchem in den Erscheinungen, wofür aber das Schematische an ihnen zuvor isoliert sein muß. Diese Zwi-schenarbeit steht zwar im Zentrum dieser Darstellung der Wissenschafts-lehre und nimmt ohnehin den erheblichen Raum von zehn Vorlesungen – von der elften bis zur 21. – ein, innerhalb der ganzen Systematik aber macht sie ausdrücklich nur einen begrenzten Teil aus. Das Bewußtsein ist also der Ort, an dem das Wissen sich als solches und dadurch als Bild des Seins manifestiert. Es ist aber wiederum auch nichts anderes als eine be-sondere Form des Wissens, so daß sich die Wissenschaftslehre, als Wissen vom Wissen überhaupt, nicht auf die Erklärung dieser einzigen Form be-schränken darf. Von nun an sollen nämlich die Bedingungen der Möglich-

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keit weiter erklärt werden, durch die alles, was im Bewußtsein gewöhnlich als unabhängiges Dasein erscheint, eigentlich als Form des Wissens eine vermittelte Erscheinung des Absoluten ist. Als die gedankliche Entwicklung des ersten Teils inspirierende Denker erscheinen zunächst Spinoza – wegen seines zu Beginn der Ethica formulierten Gottesbegriffs, in dem exemplarisch die Unentbehrlichkeit, die absolute Alleinheit des Seins zu postulieren, zum Ausdruck kommt – und Kant – dank seiner Formulierung des Erscheinungsbegriffs, der allein es erlaubt, die Existenz einer mannigfaltigen Welt neben dem absoluten Sein zu rechtfertigen. Im zweiten Teil der Wissenschaftslehre bleibt aller-dings Kant der alleinige Ansprechpartner. Denn die nähere Analyse der synthetischen Funktion des Bewußtseins und die Deduktion der transzen-dentalen Apperzeption, die von Kant nicht geleistet wurde, nehmen hier eine zentrale Stellung ein und sollen die transzendentale Bewußtseinslehre zu ihrer Vollendung bringen. Am Ende der Zwischenarbeit beginnt der dritte Teil. Fichte knüpft seine Rede dort wieder an, wo er sie am Ende des ersten Teils un-terbrochen hatte. Er erklärt zunächst, unter welchen Bedingungen das Mannigfaltige als Bewußtseinsinhalt zustande kommt, während seine weitere Gedankenführung aus der Deduktion der Möglichkeit der Wissen-schaftslehre bzw. der Transzendentalphilosophie selbst besteht. Dazu ge-hören auch die abschließenden Überlegungen zur Bedeutung der Wissen-schaftslehre als Weisheitslehre, die eine besonnene und dabei achtung-svolle Haltung angesichts einer aus reinen Bildern bestehenden Welt for-dert und erlauben sollte. Zur Periodisierung der theoretischen Philosophie Fichtes Fichtes philosophische Tätigkeit in Berlin in den Jahren von 1800 bis 1814 wird in der Fichte-Forschung oft allzu pauschal mit dem Terminus Spätphilosophie bezeichnet. Eine Analyse der in den letzten Jahren veröf-fentlichten Materialien aus dem Nachlaß des Philosophen nämlich läßt diese Bezeichnung als unpräzise und teilweise sogar irreführend erschei-nen,3 da sie kaum haltbare Annahmen suggeriert: Erstens entsteht durch

3 Gaetano Rametta hat in seinem Aufsatz L’idea di filosofia nel tardo Fichte (In: Johann Gottlieb Fichte alla luce della recente storiografia. Hg. v. M.V. d’Alfonso. In: Rivista di

Storia della Filosofia 3 [2002], 461-468), auf den problematischen Charakter dieser Bezeichnung auch schon hingewiesen.

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das Präfix Spät- der Eindruck, es handele sich um die Gedanken eines Gelehrten, der in seinen letzten Vorlesungen ganz bewußt gewissermaßen ein ›philosophisches Testament‹ verfaßt habe – was aber im Falle Fichtes, der plötzlich und unerwartet mit nicht ganz 52 Jahren verstarb, nicht an-zunehmen ist;4 zweitens schwingt im Terminus Spätphilosophie die Aus-sage mit, in ihr realisiere sich eine – in den letzten Lebensjahren erfolgte – allgemeine und radikale Wandlung Fichtes gegenüber seiner früheren Philosophie. Gegen diese Interpretation aber hatte sich schon Fichte ve-hement ausgesprochen und bis zuletzt immer wieder die Kontinuität seiner philosophischen Einsicht betont. Darüber hinaus vernachlässigt der plaka-tive Ausdruck Spätphilosophie, daß die Wissenschaftslehre auch in den Jahren 1800 bis 1814 mehrere spezifische Veränderungen erfuhr und da-her jede neue Darstellung besondere Charakteristika aufweist. Dies ist ein umso schwerwiegenderer Einwand, als Fichte sein System jedesmal nicht nur anders dargestellt, sondern immer auch von Anfang an neu gedacht hat, ohne sich dabei der vorherigen Darstellungen zu bedienen. Kontinui-tät und Neuheit können also bei der Interpretation von Fichtes Philosophie nur anhand einer genauen vergleichenden Analyse der jeweiligen Darstel-lungen der Wissenschaftslehre festgestellt werden, die jedoch noch nicht umfassend geleistet wurde.5 Da aber alle historisch-systematischen For-schungen nur innerhalb eines allgemeinen paradigmatischen Rahmens wissenschaftliche Relevanz erhalten können, wird auch in der vorliegen-den Arbeit ein Vorschlag zur Periodisierung von Fichtes systematischen Untersuchungen gemacht. Dabei werden allerdings nicht nur die Produkte seiner Tätigkeit in den Berliner Jahren berücksichtigt, sondern es wird stets im Kontext der gesamten theoretischen Philosophie Fichtes gedacht. Nach der hier vorgelegten Rekonstruktion der Entwicklung der Fichteschen Systematik gibt es eine vor-jenaische Phase, die der Zeit vor

4 Die philosophischen Materialien, die in seinen Tagebüchern der Jahre 1813 und 1814 zu finden sind, zeigen deutlich, daß Fichte sehr intensiv mit der Vorbereitung der Vorlesun-gen des laufenden Semesters beschäftigt war, ohne daß es irgendwo einen Hinweis auf eine erwartete Unterbrechung seiner Tätigkeit gäbe.

5 Die Skizze einer allgemeinen Rekonstruktion des systematischen Zusammenhangs der Berliner Darstellungen der Wissenschaftslehre von 1810 bis 1814 bietet Reinhard Lauth in seinem Aufsatz: Il sistema di Fichte nelle sue tarde lezioni berlinesi (In: J.G. Fichte: Dottrina

della scienza: esposizione del 1811. Hg. v. G. Rametta. Mailand 1999 [Fichtiana 11], 11-50; deutsche Fassung in: J.G. Fichte: Die späten wissenschaftlichen Vorlesungen II Hg. v. H.G. von Manz. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003 [frommann-holzboog Studientexte 2.2003], XV-LX). Kurz vor Drucklegung der vorliegenden Arbeit ist die vielversprechende Untersuchung von Simone Furlani (L’ultimo Fichte. Il sistema della Dottrina della scienza negli anni 1810-1814. Mailand 2004 [Fichtiana 24]) erschienen, die hier leider nicht mehr berücksichtigt werden konnte.

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der Berufung an die Universität Jena entspricht. In ihr beschäftigte Fichte sich vor allem mit den Problemen der Elementarphilosophie Karl Leon-hard Reinholds. Die bedeutendsten Resultate dieser Untersuchungen be-finden sich in der Handschrift Eigne Meditationen über ElementarPhilo-sophie6 und in seinem ersten öffentlich vorgetragenen systematischen Versuch, den Fichte in Zürich einem engen Kreis von Freunden vorstell-te.7 Darauf folgt die erste Jenaer Phase seiner systematischen Philosophie, als Fichte in der Universität zu Jena 1794/95 seine erste allgemeine und vollständige Darstellung der Wissenschaftslehre las. Es handelt sich dabei um die einzige von Fichte veröffentlichte Darstellung der Wissenschafts-lehre, die bogenweise während der Vorlesungen unter dem Titel Grundla-ge der gesammten Wissenschaftslehre und mit dem bedeutsamen Zusatz als Handschrift für die Zuhörer8 erschien.9 Zu einer zweiten Jenaer Phase gehören die unmittelbar folgenden Versuche einer zweiten Darstellungs-form seines Systems, die Fichte als Wissenschaftslehre ›nova methodo‹ in den Jahren 1796 bis 1798 vortrug, aber nie veröffentlichte. Die Publika-tionen dieser Zeit sind die 1797 im Philosophischen Journal einer Gesell-schaft Teutscher Gelehrter erschienene Erste und Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre.10 Nach den dramatischen Ereignissen des Jahres 1799 – dem Atheismusstreit und den damit zusammenhängenden Vorfällen –, die den Rücktritt vom Jenaer Lehrstuhl und den Umzug des Philosophen nach Berlin zur Folge hatten, beginnt die 14 Jahre dauernde Berliner Pha-se. Zwar erweckt die Einordnung der geistigen Produktion Fichtes nach seinem jeweiligen Wohnsitz den Eindruck, nur äußerlich bedingt zu sein, doch ist zu berücksichtigen, daß die örtliche Veränderung von Jena nach Berlin mit so gewichtigen und seine Philosophie tief beeinflussenden Fak-

6 Vgl. GA II 3, 1-177. 7 Eine Nachschrift dieser Vorlesungen wurde erst 1994 von Erich Fuchs in der Zen-

tralbibliothek in Zürich gefunden und 1996 veröffentlicht: J.G. Fichte: Züricher Vorlesungen über

den Begriff der Wissenschaftslehre Februar 1794. Nachschrift Lavater. Hg. v. E. Fuchs. Neuried 1996.

8 Vgl. GA I 2, 173-463, sowie J.G. Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschafts-

lehre als Handschrift f. seine Zuhörer 1794. Hg. v. W.G. Jacobs. Hamburg 41988 (Philosophi-

sche Bibliothek 246). 9 Die enorme Resonanz, die diese Vorlesungen bei Fichtes Zeitgenossen fanden,

führte dazu, daß auch von der späteren philosophischen Tradition die Grundlage meistens als die einzige Darstellung der Wissenschaftslehre rezipiert wurde.

10 Vgl. GA I 4, 184-269. Eine präzise Rekonstruktion der Ereignisse, die zu diesen Publikationen führten, bietet Claudio Cesa in seiner Prefazione zu: J.G. Fichte: Prima e seconda

introduzione alla dottrina della scienza. Hg. v. C. Cesa. Rom 1999 (Biblioteca universale Laterza

505), VII-XXVII.

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toren einherging, daß sich die beiden Städtenamen gut zur Bezeichnung seiner jeweiligen philosophischen Grundeinstellung eignen.11 Das Werk, mit dem man traditionell Fichtes Berliner Phase be-ginnen läßt, ist die 1800 erschienene populäre Schrift Bestimmung der Menschen,12 während als Darstellung der Wissenschaftslehre, die den Übergang aus der zweiten Jenaer Phase bezeichnet, diejenige der Jahre 1801/02 zu nennen ist.13 Im Zentrum von Fichtes Überlegungen steht von nun an hauptsächlich das von Jacobi erstmals formulierte Problem der möglichen nihilistischen Folgen der Wissenschaftslehre:14 Fichte struktu-riert in Berlin sein System um und erweitert es mit der Absicht, seine Wis-senschaftslehre gegenüber Jacobis Nihilismusvorwurf zu verteidigen und dabei auch den Atheismusverdacht auszuräumen. Mit dieser Absicht wird sich Fichte von 1800 an, statt die Begründung seines Systems auf die Be-ziehung zwischen dem absoluten Ich und dem Bewußtsein zu beschrän-ken, einer breiteren Untersuchung widmen, in der das Verhältnis zwischen absolutem Wissen und Absolutem als grundlegend für das Bewußtsein und die mit ihm zusammenhängende Erfahrungswelt zu erweisen ist. Die Methode dieser Forschung besteht in einer erweiterten Anwendung des Begriffs von Genesis; ihr Leitgedanke ist, daß das Wissen als Erscheinung oder Phänomen des Absoluten zu verstehen sei. Die Wissenschaftslehre wird somit zu einer Phänomenologie des Absoluten, in der der faktisch daseienden Welt eine genetische Wurzel im Absoluten zugeschrieben wird. Da Fichte aber die Idee, daß das Wissen Erscheinung oder Bild des Absoluten sei, anhand von zwei deutlich zu unterscheidenden und sich nacheinander entwickelnden Darstellungsarten artikulierte, kann man entsprechend der äußeren systematischen Form der Wissenschaftslehre die Berliner Phase in zwei Unterphasen gliedern: eine erste von 1801 bis 1805 und eine zweite von 1807 bis 1814. Die erste Darstellungsart, die Fichte in seiner zweiten Vorlesung der Wissenschaftslehre im Jahre 1804 (Wissenschaftslehre 1804-II) als das klarste und vollkommenste Beispiel realisierte, geht bei der Erklärung der Beziehung zwischen Wissen und Absolutem vom faktischen Dasein des Wissens aus und steigt zur Intuition des absoluten Wissens als unmittelba-rem Phänomen des Absoluten – oder des Lebens in actu – auf. Von dieser

11 Es ist dabei auch daran zu erinnern, daß Fichte in diesen Jahren zweimal außer-halb von Berlin unterrichtete, und zwar 1805 in Erlangen und 1807 in Königsberg.

12 Vgl. GA I 6, 145-311. 13 Vgl. GA II 6, 184-269. 14 Vgl. Jacobi an Fichte vom 3. bis 21. März 1799; GA III 3, 224-281, bes. 245.

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Erkenntnis aus erläutert die Wissenschaftslehre 1804-II, inwiefern das errungene absolute Wissen ein Bild des Absoluten sein könne und deshalb die Entfaltung des Wissens in allen seinen Formen eine Erscheinung des Absoluten sei. Diese aufeinanderfolgenden spekulativen Bewegungen werden in der Wissenschaftslehre 1804-II mit signifikanten Benennungen versehen: Die aufsteigende Gedankenreihe wird als Vernunft- und Wahr-heitslehre bezeichnet, die absteigende als Erscheinungs- und Scheinlehre oder auch Phänomenologie. Doch ab der Darstellung, die Fichte 1807 in Königsberg vortrug, ist diese doppelte Reihe nicht mehr vorhanden. Hier wird das Wissen von Anfang an als Erscheinung des Absoluten bezeichnet, wodurch die Wis-senschaftslehre im ganzen zu einer reinen Phänomenologie wird. Fichte setzt nämlich jetzt ein sich in einer Erscheinung äußerndes Leben bzw. absolutes Sein voraus. Sein System besteht infolgedessen darin, die Reihe der Bedingungen der Möglichkeit vom faktischen Sichsehen der Erschei-nung zu untersuchen, die im Wissen in der Form unterschiedlicher Seins-schemata vorkommen. Ähnlich führt Fichte in der 1810 vorgetragenen Wissenschaftslehre von Anfang an die Erscheinung als Erscheinung des Absoluten (oder als Sein außer dem Sein) ein. Und 1811 – wie im Detail zu zeigen sein wird – spricht Fichte schon nach wenigen einleitenden Vorlesungen den Satz aus: »Das Seyn ist schlechthin Eins, von sich, durch sich, aus sich«,15 um am Ende dieser Vorlesung zu schließen: »Das Seyn der Form nach geständig in sich selbst: ganz, gediegen, und gehalten. Die Erscheinung desselben ist […] das Seyn, ausser dem Seyn«.16 Durch diese Einheitlichkeit der Darlegung unterscheidet sich die zweite Berliner Phase von der ersten. Die Resultate seiner in den Jahren 1810 bis 181417 durch-geführten Spekulation fallen also in die zweite Berliner Phase – eine Pha-se, die allerdings, wie bereits gesagt, nicht erst 1810 beginnt, da ihre

15 GA II 11, 163,20f. Diese Formulierung war die Hauptdefinition des Absoluten in der Wissenschaftslehre 1804, wo sie in der XV. Vorlesung, und zwar am Ende der Vernunft- und

Wahrheitslehre begegnet. 16 GA II 11, 168,6-9. 17 Hier die Vorlesungsreihen, die Fichte vom WS 1809/10 bis zum WS 1813/14

hielt. Wintersemester 1809/10: Wissenschaftslehre (Febr. bis März 1810); Wintersemester 1810/11: Tatsachen des Bewußtseins (29. Okt. 1810 bis 14. Jan. 1811), Wissenschaftslehre (30. Jan. bis 6. Apr. 1811); Sommersemester 1811: Tatsachen des Bewußtseins (22. Apr. bis 12. Jul. 1811); Wintersemester 1811/12: Tatsachen des Bewußtseins (21. Okt. bis 20. Dez. 1811), Wissen-

schaftslehre (6. Jan. 1811 bis 20. März 1812); Sommersemester 1812: Transzendentale Logik I (20. Apr. bis 14. Aug. 1812); Wintersemester 1812/13: Transzendentale Logik II (22. Okt. bis Ende Dez. 1812), Tatsachen des Bewußtseins (4. Jan. bis 4. Febr. 1813), Wissenschaftslehre (8. bis 18. Febr. 1813); Wintersemester 1813/14: Wissenschaftslehre (10. bis 14. Feb. 1814).

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Merkmale schon in der 1807 in Königsberg vorgelesenen Wissenschafts-lehre zu erkennen sind. Zur Notwendigkeit und Problematik einer Beschäftigung mit dem hand-schriftlichen Nachlaß beim Studium der Wissenschaftslehre Eine besondere Schwierigkeit bei der Rekonstruktion der theoretischen Philosophie Fichtes liegt darin, daß sie – im Gegensatz zu den Ergebnis-sen seines moralischen und politischen Denkens – zum größten Teil nur in Manuskripten aus seinem Nachlaß überliefert ist.18 Bekanntlich hat Fichte nur die erste Darstellung der Wissenschaftslehre, die während seiner er-sten Vorlesungsreihe in Jena 1794/95 verfaßte Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, selbst veröffentlicht. 1802 genehmigte er zwar eine zweite Auflage dieser ursprünglich nur als Handschrift für die Zuhörer gedachten Publikation, er verstand sie aber keineswegs als definitive Dar-stellung seines Systems. Ganz im Gegenteil zeigt der Briefwechsel mit dem Verleger Cotta, daß Fichte mindestens bis zum Jahre 1803 an einer neuen Version der Wissenschaftslehre arbeitete, ohne sich aber jemals dafür entscheiden zu können, diese tatsächlich drucken zu lassen.19 Daß

18 Nur in zwei Fällen sind keine Handschriften Fichtes vorhanden: Die Wissen-

schaftslehre ›nova methodo‹ ist nur durch zwei von Hörern verfaßte Kollegnachschriften (eines Anonymus und K.C.F. Krauses) überliefert; die Handschrift zur zweiten Vorlesung der Wissen-schaftslehre im Jahre 1804, die Immanuel Hermann Fichte für seine Ausgabe verwendet hatte, ist nur noch in einer Abschrift vorhanden. Wir zählen dagegen dreizehn Handschriften Fichtes, in denen er seine Vorbereitungen auf die Vorlesungen über die Wissenschaftslehre der Jahre 1800, 1801/1802, 1803 (Privatissimum), 1804 (drei unterschiedliche Vorlesungsreihen), 1805, 1807, 1810, 1811, 1812, 1813 und 1814 niederschrieb.

19 Schon 1800 schreibt Fichte an Cotta, daß einer seiner Entwürfe, »deren Endigung

aber von [s]einer Laune, Lust, Geschik usw. abhängig bleiben muss« eine »neue (weit klarer und geschmeidigere) Darstellung der Wissenschaftslehre« ist, und erklärt dazu, daß das »Manuscript seit Jahren fertig [ist] und [er] darnach gelesen [hat]« (13. Januar 1800; GA III 4, 187f.). Es handelt sich offensichtlich um den Text seiner unter dem Titel Wissenschaftslehre ›nova metho-

do‹ in den Jahren 1796-1799 gehaltenen Vorlesungen. Nach kurzer Zeit erscheint bei Gabler eine zweite Auflage der Grundlage mit dem Zusatz zweite verbesserte Auflage, die von Fichte nur teilweise bearbeitet (neue Einleitung und Bearbeitung des ersten Bogens) und ohne seine aus-drückliche Genehmigung veröffentlicht wurde. Anfang November 1800, nachdem bei Cotta Der

geschlossene Handelsstaat erschienen ist und Fichte bei dem jungen Berliner Verleger G.A. Reimer den Sonnenklaren Bericht an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der

neuesten Philosophie veröffentlicht hat, schreibt er wieder an Cotta, daß er »wiederum ganz in der Wissenschaftslehre darin« ist. Als Anlage zu diesem Brief übersendet er sogar die öffentliche Ankündigung, daß die neu verfaßte Wissenschaftslehre für die Jubilatemesse im folgenden Jahr fertig sein werde, um sie durch Cotta in der Allgemeinen Zeitung abdrucken zu lassen (4. Novem-ber 1800; GA III 4, 347; vgl. auch GA I 7, 153-164). Im Februar 1801 teilt Cotta Fichte mit, daß

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der Zustand der Überlegungen Fichtes zur Wissenschaftslehre 1802 nicht mehr demjenigen der Grundlage entsprach, kann man der Lektüre der Darstellungen der Wissenschaftslehre aus den Jahren 1796-1802 leicht entnehmen, die bei allen Unterschieden eines gemein haben: sie differie-ren deutlich von der 1802 nachgedruckten Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre. Fraglich bleibt, bei welchen der zahlreichen zur mündlichen Darstellung der Wissenschaftslehre verfaßten Texten Fichte ihre Publikation ins Auge faßte. 1800 erwähnte er gegenüber Cotta ein

er »wegen der Wissenschaftslehre es für rätlicher [hält,] bis nach Ostern zu warten« (3. Februar 1801; GA III 4, 11). Diese Nachricht wird von Fichte mit Wohlwollen aufgenommen (14. Februar 1801; GA III 5, 14). Im Mai 1801 kündigt Fichte Cotta eine völlig neue Version der Wissen-schaftslehre an, die sich grundlegend von dem erst kurz zuvor erschienenen Nachdruck der Grundlage unterscheide, diese aber teilweise zitiere und sich mit ihr auseinandersetze. Die Frist für die Anfertigung wird aber bis zur Michaelismesse verschoben (4. Mai 1801; GA III 5, 32). Dies bestätigt ein Brief an Schelling von Ende Mai (der aber erst am 7. August abgeschickt wird; Fichte an Schelling, 31. Mai/7. August 1801; GA III 5, 51), in dem Fichte Schelling bittet, nicht vor der Veröffentlichung dieser neuen Darstellung der Wissenschaftslehre öffentlich gegen ihn zu polemisieren. Allerdings kündigt Fichte Cotta am 8. August eine weitere Verzögerung an, ver-spricht aber gleichzeitig, daß die neue Darstellung »gegen Ende des Jahrs gewiß erscheinen [wird]«. Im selben Brief schlägt er Cotta, um das Erscheinen ungenehmigter Auflagen seines vergriffenen Werks zu vermeiden, eine zweite Auflage der Grundlage vor, die er zusammen mit dem Grundriß, jedoch ohne den Untertitel Als Handschrift für die Zuhörer und mit der Hinzufü-gung Zweite unveränderte Auflage veröffentlichen solle. Er wiederholt dabei, daß »keiner, der die

Wissenschaftslehre aus der neuen Darstellung wirklich studiren wollen wird, diese erste Darstel-

lung, die auch allenthalben citirt werden wird, füglich wird entbehren können« und fragt den Verleger, wie viele Subskribenten er für die neue Darstellung der WL habe (GA III 5, 59). Ende November 1801 kündigt Fichte eine weitere Verzögerung an; jetzt solle »die neue Bearbeitung der Wissenschaftslehre bis zur OsterMesse ohnfehlbar abgedruckt seyn« (28. November 1801; GA III 5, 95). 1802 schreibt er dann zwar: »Der Druk der neuen Darstellung der Wissenschafts-lehre wird im März angehoben, und das Buch nicht über 8-12. Bogen stark werden« (Januar 1802; GA III 5, 114), zeigt Cotta aber nach zweieinhalb Monaten eine weitere Verzögerung bis nach den Osterfeiertagen an, denn er habe »Vorlesungen darüber gehalten« und sei »dadurch verhindert worden, die Handschrift für den Druck zu redigiren« (2. April 1802; GA III 5, 126). Dies wird auch in einem Brief an Niethammer erwähnt, in dem Fichte erklärt, daß sich die Veröf-fentlichung der Wissenschaftslehre zwar verzögere, »doch sie diesen Sommer sicher erscheinen [soll]« (3. Juni 1802; GA III 5, 134). Noch einmal aber werden diese Hoffnungen enttäuscht, als Fichte an Cotta im August schreibt, daß, »nachdem [er] 2. Jahre dieser wissenschaftlichen Ange-legenheit aufgeopfert« habe, er »auch ferner keine Zeit schonen« wolle, »um diese Arbeit für die Ewigkeit sogar in ihrer ganzen Vollkommenheit erscheinen zu lassen«, und daß er trotzdem noch hoffe, »daß es zur Michaelis Messe erscheinen soll« (17. August 1802; GA III 5, 139). Fast ein Jahr später, im Juli 1803, bittet Fichte Cotta dann um einen Kredit von 300 Talern und erklärt dabei, »festerer Hofnung, als je« zu sein, »daß [bis Michaelis] die neue Wissenschaftslehre geen-det seyn wird« (1. Juli 1803; GA III 5, 173). Schließlich ist es ein weiteres Jahr später Cotta, der sich über das Schicksal der neuen Wissenschaftslehre in einem Postskriptum zu einem Beiblatt einer Rechnung erkundigt: »Haben wir nicht bald Hofnung zur neuen Wissenschaftslehre[?]« (3. August 1804; GA III 5, 259). Eine Antwort hierauf erhält Cotta nicht, die neue Wissenschaftsleh-re wird nie erscheinen.

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schon seit längerem angefertigtes Manuskript,20 das uns aber nicht überlie-fert ist – es handelt sich dabei vermutlich um die Hefte der schon erwähn-ten Wissenschaftslehre ›nova methodo‹. Als Fichtes Sohn Immanuel Her-mann 1834 die Handschrift der zweiten 1804 gehaltenen Vorlesung der Wissenschaftslehre veröffentlichte, erklärte er in der Einleitung, daß er das Manuskript »wörtlich abdrucken lassen« konnte, da er es »in vollständiger Ausarbeitung vorgefunden« habe.21 Und tatsächlich ist dieser Text, ebenso wie die 1805 in Erlangen vorgelesene Wissenschaftslehre, sehr einheitlich und vollständig. Dennoch wissen wir aus einem im März 1804 an Jacobi gerichteten Brief, in dem Fichte sich über seine soeben vollendete Wissen-schaftslehre äußert, daß er jegliche Veröffentlichung der nun »auch in der äußeren Form vollendet[en]« Wissenschaftslehre vollkommen aus-schloß.22 Gleiches hatte er übrigens in der Ankündigung seiner Vorlesun-gen23 sowie in dem an das königliche Kabinett geschickte Promemoria zum Ausdruck gebracht.24 Hingegen ist das Manuskript der 1807 in Kö-nigsberg vorgelesenen Wissenschaftslehre, das inhaltlich für das Ver-ständnis der systematischen Entwicklung seiner Philosophie sehr wichtig ist, nur quasi stichwortartig verfaßt, und ist auch das Manuskript der Ber-liner Vorlesungen des Winters 1810 nur teilweise ausformuliert. Vor dem Hintergrund der entschiedenen Weigerung Fichtes, Materialien, die seine systematische Position erklären könnten, zu veröffentlichen, stellt die 1810 erschienene, knapp zehn Seiten lange Publikation Die Wissenschafts-lehre in ihrem allgemeinen Umrisse25 einen Sonderfall dar. Aber auch diese Schrift ist wieder nichts anderes als eine ›Handschrift für die Zuhö-rer‹, da sie allein den Inhalt der letzten Vorlesung der 1810 gelesenen Wissenschaftslehre wiedergibt, und sie ist damit ein letzter Beweis dafür, daß Fichte Veröffentlichungen zur Wissenschaftslehre nur als Beilage zu ihrer vorherigen mündlichen Darstellung einen Wert beimaß. Die Fichte-Forschung muß also einerseits alle diese nachgelasse-nen Versionen der Wissenschaftslehre als authentische Darstellungen des

20 Vgl. Fichte an Cotta, 13. Januar 1800; GA III 4, 187f. 21 Vgl. Johann Gottlieb Fichte’s nachgelassene Werke. Hg. v. I.H. Fichte. Bd. II.

Bonn 1834, VI. 22 Fichte an Jacobi, 31. März 1803; GA III 5, 235. 23 In der Berliner Zeitung vom 3./5. und 10./12. Januar 1804 erklärte Fichte, daß »er

das Resultat seiner neuen vieljährigen Untersuchungen nicht durch den Druck bekannt zu machen gedenkt«. (GA I 8, 17).

24 Fichte an das Königliche Kabinett in Berlin am 3. Januar 1804; GA III 5, 222. 25 Diese Publikation und der 1800 veröffentlichte Sonnenklare Bericht über die Wis-

senschaftslehre (GA I 7, 165-274) sind die beiden einzigen systematischen Schriften, die Fichte nach der Jenaer Zeit publizierte.

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Systems annehmen, andererseits aber mit ihnen dennoch besonders sorg-fältig umgehen. Denn obwohl diese Handschriften für ein Verständnis der Entwicklung der theoretischen Gedanken Fichtes absolut unentbehrlich und unersetzbar sind, handelt es sich um Materialien, die gemäß der Inten-tion ihres Autors für sich genommen, d.h. ohne die begleitenden mündli-chen Vorlesungen schwerlich einen Zugang zu seinem System eröffnen können. Es ist im übrigen nicht bekannt, ob Fichte seine teilweise sehr ausführlichen Notizen wörtlich vorlas oder sie nur als Stütze für den freien Vortrag benutzte, sie also eher für sich selbst als für seine Zuhörer verfaß-te. Zwar kann man in einigen Fällen aus dem Vergleich der fichteschen Manuskripte mit den Kollegnachschriften folgern, daß er teilweise sehr nah am vorbereiteten Wortlaut blieb,26 doch finden sich in den Kolleg-nachschriften auch mehrere Stellen, die in Fichtes Manuskript fehlen, so daß sich vermuten läßt, daß er auch frei zu reden und zu argumentieren verstand.27 Gerade von der Wissenschaftslehre 1811 ist jedenfalls keine Kollegnachschrift überliefert.28

Die thematische Erschließung des Vorlesungstextes zur Wissenschaftsleh-re 1811 Das Verständnis der jeweils auf uns gekommenen Darstellungen der Wis-senschaftslehre und der Versuch einer möglichst getreuen Wiedergabe ihres systematischen Inhalts setzen eine hermeneutische Leistung voraus, die ein persönliches Nachvollziehen und eine tiefe Verinnerlichung des Systems sowohl in seiner Allgemeinheit als auch in seinen einzelnen Schritten erfordert. Hierzu will schon Fichte – gemäß seinem Anspruch, nicht eine Philosophie mitzuteilen, sondern überhaupt das Philosophieren lehren zu wollen – seine Zuhörer animieren, und bis heute muß sich – aufgrund des Fehlens einer kanonischen Formulierung des fichteschen Systems – jeder dieser Aufgabe stellen, der sich mit den überlieferten Vorlesungen über die Wissenschaftslehre beschäftigen möchte. Eine besondere Schwierigkeit beim Studium dieser Texte aus dem Nachlaß gründet darin, daß in ihnen nur selten eine thematische Gliede-

26 Dies gilt beispielsweise für die Wissenschaftslehre von 1812. 27 Bei den Kollegnachschriften weiß man freilich nicht genau, ob sie während der

Vorlesung oder später allein aus der Erinnerung ihrer jeweiligen Verfasser geschrieben wurden. 28 Die vor dem Zweiten Weltkrieg in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrte, von

August Twesten geschriebene Nachschrift ist seit Kriegsende verschollen; vgl. GA IV 4, VI.

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rung vorkommt. Ein positives Beispiel ist die im Sommersemester 1812 vorgetragene Wissenschaftslehre, deren Manuskript von Fichte in Ab-schnitte gegliedert wurde. Im Falle der Wissenschaftslehre 1811 fehlt dagegen eine Gliederung, es finden sich nur einige Angaben zum Datum der entsprechenden Vorlesung. Zwar konnten die Herausgeber der kriti-schen Edition diese lückenhafte Datierung Fichtes ergänzen und alle An-fangsstellen der Vorlesungsstunden rekonstruieren, doch bleibt dies eine rein äußerliche Einteilung, die zwar gelegentlich sehr nützlich ist – denn Fichte beachtete bei der Organisation der vorzutragenden Materialien die Wochen- und Tageseinteilung meist genau –, die aber angesichts der komplexen Artikulierung des fichteschen Gedankengangs für die Durch-dringung des ihn wiedergebenden Textes keine Hilfe sein kann. Um dage-gen den Gedankengang nachvollziehen zu können, muß ein Orientie-rungsgerüst aus der Folge der eingeführten Begriffe gewonnen werden, die sich als Etappen der systematischen Entwicklung erweisen. Dies ist eine Aufgabe, die freilich den Kommentatoren, nicht den Editoren, zuzu-weisen ist und die mit einer Textgliederung zusammenfällt, die eine Er-schließung des Textes nach den in ihm behandelten Themen ermöglichen sollte. Die erste Aufgabe der vorliegenden Arbeit wird also die Bestim-mung einer Gliederung, eine thematische Erschließung des Textes sein, die nach dessen philologischen Erschließung unentbehrlich ist, um eine Exegese der Wissenschaftslehre 1811 überhaupt unternehmen zu können. Diese Erschließung läßt sich aber nur anhand der Analyse des Inhalts und der Struktur der Wissenschaftslehre vornehmen und greift zunächst zurück auf die Kenntnis der Art und Weise, wie Fichte bei der Formulierung der Wissenschaftslehre gewöhnlich vorging und wie er ihre Präsentation zu organisieren pflegte. Fichte entwickelt sein System bekanntermaßen sehr rigoros durch aufeinanderfolgende genetische Schritte, die in der Regel durch einen neuen Terminus (wie z.B. Erscheinung, Als, Reflex) oder durch die Ver-wendung von komplexeren technischen Formulierungen (wie z.B. Er-scheinung der Erscheinung oder Soll des Als) eingeführt werden. Diese Termini fungieren als Marksteine des Gedankengangs, denn um sie wird sich die Darstellung des Systems artikulieren. Außerdem stellt Fichte einer Argumentation häufig deren Ziel in einer skizzenhaften Zusammenstel-lung voran und gibt listenförmige Zusammenfassungen der bereits errun-genen Resultate. Gerne weist er auch während der Darstellung auf seine Absichten hin oder hebt die Vollendung eines besonders wichtigen Ge-dankens hervor. Und endlich finden sich in seinem Text häufig Umformu-

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lierungen der gerade eingeführten Begriffe sowie kurze historische Erläu-terungen und Umwege, in denen er vermutlich auf Reaktionen seiner Zu-hörer einging. Die thematische Erschließung ist also in erster Linie eine Rekon-struktion und Explikation der inneren Artikulierung des Systems in seinen Hauptschritten und seiner Untergliederung, die an die kategorialen Termi-ni und an die expliziten Hinweise Fichtes anknüpft. Eine solche Gliede-rung entspricht deshalb einer Art Inhaltsverzeichnis a posteriori. Dabei muß sehr behutsam und gründlich vorgegangen werden, denn das Ergeb-nis dieser Arbeit dient später stillschweigend als ›neutrale‹ Voraussetzung für die Texthermeneutik, während es doch tatsächlich schon das Resultat einer starken Interpretation des Textes ist. Außerdem stellt diese Arbeit eine Schematisierung des fichteschen Systems dar, die der Philosoph im-mer ablehnte. Diese Erschließung in Form eines Inhaltverzeichnisses dient allerdings einem doppelten Zweck: Sie hat einerseits eine quasi editori-sche Funktion, da einem 150 Seiten umfassenden Manuskript ohne die Hilfe eines Orientierungsapparates sehr schwer beizukommen ist und ein solches Verzeichnis auch die Hinweise und Erläuterungen aufnehmen kann, die Fichte selbst im Laufe der Vorlesungen seinen Hörern geben mußte; andererseits fordert die systematische Nachvollziehung des Textes als Erklärung und Entfaltung der genetischen Deduktionskette, der Fichte folgt, daß man die jeweiligen Glieder der Kette anzeigt und näher be-schreibt, also den Text präziser gliedert. Diese nachträglich formulierte Gliederung des Textes stimmt dabei notwendigerweise mit dem Inhalts-verzeichnis zur Textexegese überein, die man als eine Art Reiseführer durch dem Leser bislang unbekanntes Gebiet verstehen kann: Sie muß die verschiedenen Etappen benennen, die Gegend um sie herum beschreiben, auf schwierige Passagen hinweisen und vor möglichen irreführenden Umwegen warnen. Endlich muß sie, wie jeder respektable Reiseführer, ein paar wertvolle Ausblicke geben, um die Mühe der unternommenen Reise zu rechtfertigen. Da im folgenden Text auf die jeweilige Vorlesungszahl hingewie-sen wird, wird hierunter eine tabellarische Übersicht der von den Heraus-gebern rekonstruierten Gliederung der Vorlesungen angeboten:

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Stelle in GA 12, 2 Datum und Tag

1. Vorlesung 143,1 - 150,23 30. Januar, Mittwoch 2. Vorlesung 150,24 - 157,12∗ 1. Februar, Freitag 3. Vorlesung 157,13 - 159,10∗ 4. Februar, Montag 4. Vorlesung 159,11 - 163,16∗ 5. Februar, Dienstag 5. Vorlesung 163,17 - 168,9∗ 6. Februar, Mittwoch 6. Vorlesung 168,10 - 171,25∗ 8. Februar, Freitag 7. Vorlesung 171,26 - 176,17∗ 11. Februar, Montag 8. Vorlesung 176,18 - 179,12∗ 12. Februar, Dienstag 9. Vorlesung 179,13 - 183,7∗ 13. Februar, Mittwoch 10. Vorlesung 183,8 - 186,25∗ 15. Februar, Freitag 11. Vorlesung 186,26 - 190,19 18. Februar, Montag 12. Vorlesung 190,20 - 196,10 19. Februar, Dienstag 13. Vorlesung 196,11 - 199,6∗ 20. Februar, Mittwoch 14. Vorlesung 199,7 - 205,9∗ 22. Februar, Freitag 15. Vorlesung 205,10 - 209,5∗ 25. Februar, Montag 16. Vorlesung 209,6 - 214,4∗ 26. Februar, Dienstag 17. Vorlesung 214,5 - 216,24∗ 27. Februar, Mittwoch 18. Vorlesung 216,25 - 220,21∗ 1. März, Freitag 19. Vorlesung 220,22 - 224,33 4. März, Montag 20. Vorlesung 224,34 - 228,13∗ 5. März, Dienstag 21. Vorlesung 228,14 - 231,17 6. März, Mittwoch 22. Vorlesung 231,18 - 234,26∗ 8. März, Freitag 23. Vorlesung 235,1 - 238,23∗ 11. März, Montag 24. Vorlesung 238,24 - 242,10∗ 12. März, Dienstag 25. Vorlesung 242,11 - 246,35∗ 13. März, Mittwoch 26. Vorlesung 247,1 - 250,20∗ 15. März, Freitag 27. Vorlesung 250,21 - 254,24 18. März, Montag 28. Vorlesung 254,25 - 259,12∗ 19. März, Dienstag 29. Vorlesung 259,13 - 262,36∗ 20. März, Mittwoch 30. Vorlesung 263,1 - 266,11∗ 22. März, Freitag 31. Vorlesung 266,12 - 269,29 25. März, Montag 32. Vorlesung 269,30 - 273,17∗ 26. März, Dienstag 33. Vorlesung 273,18 - 277,7 29. März, Freitag 34. Vorlesung 277,8 - 281,17 1. April, Montag 35. Vorlesung 281,18 - 285,18∗ 2. April, Dienstag 36. Vorlesung 285,19 - 290,13∗ 3. April, Mittwoch 37. Vorlesung 290,14 - 294,23∗ 5. April, Freitag 38. Vorlesung 294,24 - 299,24 6. April, Sonnabend

∗ Bei den mit Sternchen gekennzeichneten Stellenangaben kann eine eindeutige Zu-ordnung zu einem Vorlesungstag nur unsicher erfolgen.

1. Der Begriff der Wissenschaftslehre und ihre

Methode 1.1. Der Standpunkt der Transzendentalphilosophie: Wissenschaftslehre

versus Dinglehren Fichte nannte seine Philosophie von Anfang an Wissenschaftslehre. In der Schrift Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre, die Fichte vor seiner ersten Systemdarstellung in Jena im Jahr 1794 veröffentlichte, begründete er die Auswahl dieses neuen Terminus: Eine reif gewordene Philosophie solle endlich auf ihren Namen als einer Beschäftigung für Liebhaber ver-zichten, um sich als Wissenschaft der Wissenschaften zu etablieren.29 In der Universität zu Berlin hielt Fichte dann zu Beginn des Semesters stets einige Vorträge vor Studenten, in denen er seine Vorlesungsreihen über die Tatsachen des Bewußtseins und die Wissenschaftslehre30 ankündigte. Den Terminus Wissenschaftslehre führte er zwar hier bereits ein, dennoch widmete er den Beginn der eigentlichen Vorlesung zur Wissenschaftslehre

29 Vgl. Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre; GA I 2, 117f. 30 Die des ersten Berliner Semesters beispielsweise wurden vom 22. bis 26. Oktober

1810 gehalten und sind uns dank einer Kollegnachschrift von August Twesten überliefert, vgl. Fichte (2000), 195-226.

Der Begriff der Wissenschaftslehre und ihre Methode

18

einer eingehenden Definition und der Erläuterung der Methode, die dieser besonderen Wissenschaft zugrunde liegt. Dabei kann Fichte zunächst daran anknüpfen, was über die Wissenschaftslehre schon bekannt ist.

W[issenschafts]L[ehre] – . Der Name redet. Sodann in den frühern [Darstellungen]: – . Hier nun kurz einen festen leitenden Begriff der nun bleibe. – Keine Formel: sondern Sie sollen sich nach mei-ner gegenwärtigen Beschreibung in sich bilden, und nun festhalten. (143,2-4)

An diese knapp formulierte Erinnerung an die früheren Darstellungen der Wissenschaftslehre schließt sich aber gleich die Warnung an, man dürfe nicht erwarten, daß sich der Begriff der Wissenschaftslehre in einer For-mel zusammenfassen lasse. Was nun folgt, ist zwar eine Beschreibung, aufgrund derer die Zuhörer sich einen solchen Begriff schaffen können; dennoch kann dieser Begriff nicht über einen rein definitorischen Prozeß entstehen. Von Anfang an ist dagegen eine aktive Teilnahme des Zuhörers notwendig, denn das erste, was erforderlich ist, um diesen Begriff in sich entstehen zu lassen, ist eine Änderung der eigenen Denkart. Das allererste Ziel dieser einleitenden Vorlesungen ist nämlich, die Vorurteile der ge-wöhnlichen Denkart und die damit zusammenhängenden Fehler der philo-sophischen Tradition zu beseitigen, die die Verwirklichung, ja sogar das Verständnis des Begriffs der Wissenschaftslehre behindern. Um in den Bereich der Wissenschaftslehre einzutreten, muß man diese Hindernisse überwinden. Dazu ist es notwendig, sich zunächst die Eigenschaften der Denkart der Wissenschaftslehre zu vergegenwärtigen. Fichte notiert: »Die Denkart, in der und von welcher aus allein eine W[issenschafts]L[ehre] möglich ist, im Gegensatze«.31 Dieser Satz wird erst dank der Ergänzung »im Gegensatze zur gewöhnlichen Denkart« vollkommen verständlich. Und entsprechend erklärt Fichte, wie diese abzulehnende Denkart beschaf-fen ist, indem er sie all denen, die noch keinen Begriff der Wissenschafts-lehre besitzen, also auch seinen Zuhörern, zuschreibt. Die neue gesuchte Denkart definiert sich also per negationem, denn alle diejenigen – so Fich-te –, die noch nicht in die Wissenschaftslehre eingedrungen sind, denken auf folgende Weise:

31 GA II 12, 143,5f.

Der Begriff der Wissenschaftslehre und ihre Methode

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Sie denken die Dinge als das erste, und lassen nun das Wissen von denselben abhängen, dadurch gebildet werden. – . Ihnen ist das Wissen nichts selbstständiges, und unmittelbar zu erkennendes und durch sich zu bestimmendes. – Fragst du mich was im Wissen ist, so verweise ich dich auf das Seyn: es ist in ihm, was in diesem ist. (143,6-10)

Das »mich« bezieht Fichte hier offensichtlich nicht auf sich selbst, son-dern er legt es den Vertretern anderer philosophischer Positionen in den Mund, als ob er einen imaginären Dialog mit einem Gegner führte. Vom Standpunkt seines imaginären Ansprechpartners aus aber kann man laut Fichte »keine Wissenschaftslehre haben […] sondern Dingelehren, Onto-logie, Cosmologie u.s.w.«32 Die zum philosophischen Standpunkt erhobe-ne gewöhnliche Denkart erlaubt also höchstens eine vermeintliche Be-schreibung der Welt, wie sie an sich ist, nicht aber wie sie im Wissen vor-kommt, geschweige denn eine Beschreibung des Wissens als selbst etwas Unabhängiges. Letzteres aber ist gerade das Ziel der Wissenschaftslehre. Die Wissenschaftslehre setzt also keine philosophischen Kenntnisse vor-aus, sie hat aber gleichwohl eine methodische Voraussetzung, die in der vollkommenen Veränderung der gewöhnlichen Ansicht vom Wissen und seinem Verhältnis zu den Dingen überhaupt besteht. Der Anfang der er-sten einleitenden Vorlesung vermittelt entsprechend in erster Linie nicht eine Definition von Wissenschaftslehre, sondern, daß man mit einer ge-wöhnlichen Weltsicht den Vorlesungen über Wissenschaftslehre über-haupt nicht folgen kann. Daran schließt Fichte sogleich die Erklärung an, welche die rich-tige Einstellung zur Wissenschaftslehre sei, damit diese Vorlesungen kei-ne »Lehre von nichts«33 werden. Diese Einstellung leitet sich ab aus der Formulierung der allgemeinen Aufgabe der Wissenschaftslehre, denn der Begriff der Wissenschaftslehre läßt sich nur über das Ziel dieser Lehre erfassen.

Wir* [* dies durchaus aus Kants Erfindung] geben uns von forn herein die beliebige problematische Aufgabe das Wissen als etwas selbstständiges, nicht wie jene, durch etwas ausser ihm, sondern durchaus von sich selbst bestimmtes, zu denken […]. Wir erhalten

32 GA II 12, 143,10f. 33 GA II 12, 143,10f.

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sonach statt den Bildern der Dinge, Bestimmungen des Wissens, besondere Begriffe, nach unsrer Voraussetzung. (143,12-17)

Wie dem Zusatz »dies durchaus aus Kants Erfindung« zu entnehmen ist, basiert die Wissenschaftslehre auf einer Umformulierung der sog. koper-nikanischen Wende Kants. Die Zuhörer werden also im Rückgriff auf die Prinzipien der Transzendentalphilosophie Kants dazu aufgefordert, ihren gewöhnlichen und natürlichen Blick auf die Dinge preiszugeben, um den transzendentalen Standpunkt einzunehmen. Um sich also in die Lage zu versetzen, ein allgemeines Konzept der Wissenschaftslehre in sich bilden zu können, muß man zunächst die Denkart preisgeben, die »die Dinge als das erste« annimmt und »das Wissen von denselben anhängen«34 läßt. Gerade dafür aber muß man »die beliebige problematische Aufgabe [an-nehmen,] das Wissen als etwas selbstständiges […] durchaus von sich selbst bestimmtes, zu denken«. Es handelt sich um eine »beliebige«, d.h. frei übernommene Aufgabe, weil sie durch nichts und niemanden regle-mentiert wird als durch denjenigen, der sich auf den Standpunkt der Transzendentalphilosophie stellen will.

1.2. Voraussetzungen, Aufgabe und Definition der Wissenschaftslehre Fichte präzisiert nun die oben formulierte Aufgabe der Wissenschaftsleh-re, indem er erklärt, eine Lehre von einem als selbständig und selbst be-stimmend konzipierten Wissen aufstellen zu wollen. Um aber eine solche Kenntnis des Wissens zu erlangen, muß man die Reihe seiner Selbstbe-stimmungen vernunftgemäß ableiten, damit diese Bestimmungen nicht wie die Aufgabe als beliebig, sondern in einer Form erscheinen, die die inhärente Notwendigkeit des Wissens, sich auf diese oder jene Weise zu bestimmen, hervorhebt. Das bedeutet, daß die Wissenschaftslehre samt den Inhalten aller Wissensbestimmungen auch die Gesetzmäßigkeit ihrer Beschaffenheit darstellen muß, denn die Ordnung der Aufeinanderfolge dieser Bestimmungen muß als Gesetz dargestellt werden. So nämlich Fichte:

Nun wollen wir über dieses Wissen, in der Voraussetzung, eine Lehre, Theorie, V[ernun]ftErkenntniß zu Stande bringen: Eine

34 GA II 12, 143,6.

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Einsicht, wie, zu was, das Wissen sich bestimme. V[ernun]ftEinsicht: also nach Gesetzen. Voraussetzung; daß es in dieser Bestimmung nicht gesezlos […] verfahre, […] sondern nach festen Gesetzen. (143,18-144,3)

Die so formulierte Erklärung der Aufgabe beinhaltet aber stillschweigend drei weitere Voraussetzungen, die Fichte auch gleich zum Ausdruck bringt und die mit der oben dargestellten eine Reihe von vier Grundvorausset-zungen der Wissenschaftslehre bilden. Ohne sich ständig diese Vorausset-zungen zu vergegenwärtigen, sei es unmöglich, sowohl die sich in der Wissenschaftslehre verwirklichende Gedankenreihe zu beginnen, als auch sie, einmal angefangen, fortzusetzen, denn: »Wer diese Voraussetzungen nicht macht, kann die Aufgabe einer W.L. sich gar nicht geben«.35 Der Erfolg dieser Gedankenreihe hängt also davon ab, wie ernst diese Voraus-setzungen genommen werden, die Fichte nun in den folgenden vier Punk-ten aufstellt.

Voraussetzungen in der blossen Aufgabe. 1) selbständiges Daseyn des Wissens. 2). mannigfaltige Gestaltungen desselben in diesem seinem selbständigem Daseyn. 3.). Bestimmung dieser Gestaltung durch sich selbst . 4.). nach nothwendigen Gesetzen. – (144,4-8)

Erst nach der eindeutigen Formulierung dieser Voraussetzungen kann Fichte auch eine erste Definition der Wissenschaftslehre als der »vollstän-dige[n] Ableitung der mannigfaltigen Bestimmungen des Wissens, aus erkannten Gesetzen desselben«36 anbieten. Aus dieser Definition folgt aber auch, daß eine »vollständige Ableitung« ihrerseits als Wissenschaft gelten soll, d.h. als ein in sich vollkommenes, kohärentes Ganzes wahrzu-nehmen ist. Die »vollständige Ableitung« ergibt also eine fünfte und letz-te, gleichwohl aber fundamentale Voraussetzung, die die obigen vier er-gänzt und die Fichte folgendermaßen formuliert:

Eine vollständige Ableitung. Neue 5. Voraussetzung: daß die Bestimmungen des Wissens eine endliche durch die Wissenschaft zu erschöpfende Summe ausmachen, indem die Gesetzgebung des Wissens gleichfals ein geschloßnes zu erschöpfendes Ganzes sey. – (144,15-18)

35 GA II 12, 144,8f. 36 GA II 12, 144,11.

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Das vollzogene Wissen des Wissens muß also zeigen, daß die potentiell unendlichen Bestimmungen des Wissens auf eine endliche Zahl von Ge-setzen zurückzuführen sind, die einerseits das Wissen vollkommen bestimmen und die andererseits erschöpfend dargestellt und wissenschaft-lich eingeordnet werden können. Nach der Feststellung der Voraussetzungen und der daraus sich ergebenden Definition der Wissenschaftslehre folgt gleich eine Reihe von Bemerkungen, die Inhalt und Form der angekündigten Wissenschaft zum Gegenstand haben. Die erste Bemerkung bezieht sich auf die Frage nach der Definition des Wissens und seiner Existenz, die zweite dagegen auf die Garantie, daß die Wissenschaftslehre außer der formalen Kohärenz auch eine reale Gültigkeit hat.

1.3. Der Hypothesencharakter des Ausgangspunkts und die Frage nach der Evidenz der Wissenschaftslehre

1.3.1. Das Wissen ist ein unentbehrliches Faktum

Die Wissenschaftslehre will und kann nicht die Frage beantworten, ob etwas wie Wissen existiert oder nicht. Fichte ist allein von der Suche nach einem Begriff der Wissenschaftslehre ausgegangen und hat dafür die Auf-gabe formuliert, der man sich durch das Vorhaben, eine solche Wissen-schaft überhaupt erst zu schaffen, stellen muß. Die Formulierung dieser Aufgabe beinhaltet den Terminus Wissen, der ja auch schon im Terminus Wissenschaftslehre vorkommt. Es erweist sich also nun als Problem der Definition zu zeigen, a) was dieses Wissen ist und b) ob es tatsächlich etwas gibt, das diesem Terminus entspricht. Beide Fragen können allerdings keine Antwort in der Wissen-schaftslehre finden. Auf die erste nämlich antwortet sie in ihrer Ganzheit, so daß es in ihr keinen privilegierten Ort für die Definition des Wissens geben kann – und selbst wenn ein solcher Ort existieren würde, könnte er nicht an ihrem Beginn liegen. Die zweite Frage dagegen, ob das Wissen existiert, kann die Wissenschaftslehre nicht beantworten, denn sie unter-sucht lediglich die Bedingungen der Möglichkeit, daß etwas wie Wissen da ist, ohne über die Tatsache seiner Existenz Rechenschaft ablegen zu können. Daß Wissen da ist, ist für den Wissenden ein unmittelbares, nicht

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hinterfragbares Faktum; allein, wie es zur Existenz kommt und wie es sich dabei gestaltet, kann untersucht werden. Diese unmittelbare Faktizität des Wissens erklärt Fichte wie folgt:

Die W.L. folgert aus dem Seyn des Wissens überhaupt, auf seine besondere Bestimmung […] Ihr Vordersatz ist problematisch – . Falls nun die Frage entstände: ist denn nun W[issen?] […] wo und wodurch soll denn diese Frage beantwortet werden. – Offenbar nicht in der W.L. Siehe hin! Durchaus durch unmittelbare Anschauung. In Beziehung auf das Faktum bleibt die W.L. in der Problematicität und verweist aus sich heraus auf die unmittelbare Wahrnehmung. (144,20-30)

Eines Faktums ist man sich nämlich entweder unmittelbar bewußt oder es ist als Faktum überhaupt nicht da: denn als Faktum kann es nicht abgelei-tet, sondern nur dargestellt werden. Daß man z.B. Schmerz empfindet, wenn man einen heißen Ofen berührt, ist ein Faktum, dessen Feststellung auf nichts anderes zurückzuführen ist, als auf die Berührung des Ofens selbst. So daß, wenn jemand sagt: ›Der Ofen ist heiß!‹, und ein anderer nach dem Beweis fragt, daß im Zimmer wirklich ein heißer Ofen steht, dieser dem Zweiten nur antworten kann: ›Berühre ihn selbst!‹ Ähnlich verfährt auch Fichte hier, wenn er die Frage, ob es ein Wissen tatsächlich gebe, mit keinem deduktiven Argument, sondern schlechthin ostentativ beantwortet: »Siehe hin!« Folgendermaßen argumentiert er weiter:

Dies, daß sie [die Wissenschaftslehre] die faktische Wirklichkeit ihres Subjekts nicht zu realisiren vermöge, ist nicht Eigenschaft der W.L. allein, und als solcher, sondern als Wissenschaft, und so aller W[issenschaften] – . [Z.B.] Theorie der Bewegung: Wenn das und das, so ist B[ewegung] – . ist denn nun das und das? Siehe hin. (145,1-4)

Das Wissen wird demnach als ein reines Faktum angenommen und daher als unmittelbarer Ausgangspunkt der Wissenschaftslehre als etwas, das es ohnehin gibt und sich unmittelbar in die Erfahrung jedes Menschen drängt. Das Faktum ist nicht hinterfragbar und ist der Grund aller Evidenz. Allerdings befürchtet Fichte, daß auch in seinem Publikum »durchaus verkehrte Begriffe über wissenschaftliche Evidenz«37 herrschen könnten,

37 GA II 12, 145,9f.

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gemäß denen die »anschauliche Realität«38 erwiesen werden solle oder könne. Sie, erklärt Fichte, gehen aber von der falschen Voraussetzung aus, daß »die Realität […] durch denken, und schliessen«39 hervorgebracht werden könne. Ganz im Gegenteil, »[s]ie ist nur in dem Fakto: und der absolute Grund alles Wissens ist ein Faktum«.40 Nun aber lassen sich die Fakten, auch wenn sie nicht abzuleiten sind, durchaus erklären. Man kann nämlich die ganze Konstellation der Bedingungen ihrer Möglichkeit sowie die Reihe der Gesetze, die die Verwirklichung dieser Bedingungen erlau-ben, untersuchen und darstellen. Wenn das Daß des Faktums nicht hinter-fragbar ist, kann man über sein Wie recherchieren, und das möchte Fichte in Bezug auf das faktische Wissen tun. Kehren wir zu dem Beispiel des Ofens zurück: Daß ein heißer Ofen da ist, kann nur faktisch, durch eine Wahrnehmung festgestellt wer-den. Darüber hinaus kann man aber fragen, wie ein Mensch mit seinen je spezifisch ausgeprägten Sinnesorganen die Wärme wahrnehmen kann und wie diese mit der Berührung des Ofens, als etwas aus einem gewissen Material Bestehendem, zusammenhängt. Aus diesen Fragen kann eine Wissenschaft entstehen. So ähnlich verfährt auch die Wissenschaftslehre. Es gibt keinen Zweifel, daß das Wissen da ist und daß jeder eine unmittel-bare Anschauung davon hat. Die Frage bleibt aber: Wie kann ein solches von einer unmittelbaren Anschauung dargestelltes Faktum wie das Wissen da sein? Gerade auf diese Frage will die Wissenschaftslehre antworten, die dafür nicht die Realität des Faktums, sondern vielmehr seine Möglichkeit untersucht und damit die in ihm realisierten Bedingungen enthüllt. Das heißt für Fichte Hypothetizität des Ausgangspunkts: Nicht, daß an der Wirklichkeit des Wissens zu zweifeln sei, sondern vielmehr, daß das Fak-tum des Wissens, um Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Untersu-chung zu sein, nur unter der Perspektive seiner Möglichkeit zu betrachten und demnach als hypothetisch anzunehmen sei.

1.3.2. Anschauung und Denken Wie schon angedeutet, verweist die Prüfung dessen, was man durch das Denken herausgefunden hat, notwendigerweise auf etwas vor dem Denken

38 GA II 12, 145,11. 39 GA II 12, 146,1. 40 GA II 12, 146,2f.

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liegendes, und zwar auf die Anschauung, denn das »Denken kommt nach, und verknüpft nur zur Einheit«.41 Fichte selbst hat schon erklärt, daß »[a]lle Wirklichkeit, in der Anschauung«42 liegt, während die Wissen-schaft »Denken [ist], d.i. Herausgehen aus der Anschauung, das mit dem blossen Inhalte, keinesweges aber der faktischen Form sich beschäftigt«.43 Um diese Erklärung eindeutig verstehen zu können, muß man die Diffe-renz zwischen Anschauung und Denken näher untersuchen, die Fichte hier nicht ausreichend thematisieren kann. Einerseits sind nämlich Anschauung und Denken zwei Formen des Wissens und als dessen Bestimmung in der Wissenschaftslehre abzuleiten; andererseits sind sie aber zwei jedem un-mittelbar bekannte Begriffe, die im üblichen Sprachgebrauch unterschie-den werden. Gerade in diesem zweiten Sinne wird in den einleitenden Vorlesungen von Anschauung und Denken geredet. Anschauung bedeutet jene Wissensform, die sich dem Bewußtsein durch die Wahrnehmung unmittelbar darbietet; Denken ist dagegen die Form eines durch Vernunft-schlüsse vermittelten Wissens. Fichte behauptet aber, daß auch das Ergeb-nis des Denkens, falls dieses einen wirklichen Inhalt verlangt, wiederum in der Form einer Anschauung oder einer Intuition sich darstellen muß, denn allein diese kann dem Bewußtsein wahren Inhalt verschaffen. Ein evidenter und gesicherter Erkenntnisinhalt des Bewußtseins kann insofern nur entweder eine unmittelbare Gegebenheit, wie etwa eine sinnliche Wahrnehmung, oder das angeschaute Produkt eines Denkprozesses sein. Denn auch in diesem zweiten Fall liegt der angeschaute Inhalt des Den-kens, will man seine Wirklichkeit feststellen, in der puren Evidenz des angeschauten Bewußtseinsinhalts, also jenseits des Denkens selbst, das die Entstehung der Anschauung nur ermöglicht hat. In der Wissenschaftslehre geht es gemäß ihrer Definition darum, das reale Wissen und alle seine Bestimmungen anhand des Denkens zu rekonstruieren: Wie aber kann man die Realität einer Wissensanschauung verifizieren, die erst durch den Denkprozeß der Wissenschaftslehre herge-stellt werden wird? Dafür benötigt man eine weitere Voraussetzung, die

41 GA II 12, 146,3. 42 GA II 12, 145,4. 43 GA II 12, 145,5f. Den gleichen Gedanken hatte Fichte auch zu Beginn der Vorle-

sungen über die Tatsachen des Bewußtseins im Wintersemester 1810/11 formuliert: »Das Wesen aller Wissenschaft besteht darin, daß von irgend einem sinnlich wahrgenommenen, durch Den-ken, zum übersinnlichen Grunde desselben aufgestiegen werde. Eben also verhält es sich mit der Philosophie. Sie geht aus von der Wahrnehmung des Wissens durch den innern Sinn, und steigt auf zu dem Grunde desselben.« (Fichte [2000], 229).

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das Verhältnis zwischen der unmittelbaren, anfänglichen Anschauung des Wissens und seinem durch das Denken erworbenen Begriff thematisiert:

Voraussetzung: Wenn das Wissen ist, ist es so und so. – . Hier ist die Voraussetzung, daß das Wissen unmittelbar erkennbar sey, und aus ihm gefolgert werden könne. – Es könnte seyn, daß dies nicht so wäre; daß demnach sein Begriff selbst mit aufgenommen werden müßte, in die Reihe des abzuleitenden […]. (146,4-7)

Am Anfang der Wissenschaftslehre wird also einerseits das Wissen als unmittelbar bekannt angenommen, andererseits wird aber gefordert, daß dieses samt seiner Bestimmungen aus einem Grundsatz abgeleitet und in seiner Realität rekonstruiert wird. Wie kann man aber behaupten, daß das, was man abgeleitet haben wird, wirklich das Wissen sein wird? Auch hier verweist Fichte jenseits der Wissenschaftslehre auf die Evidenz der An-schauung dessen, was am Ende der Ableitung als Wissen verstanden wer-den wird:

Es gilt das gesezte A. und so alles das gefolgerte gilt nur problematisch! Ist denn nun dies, was dieser Argumentation zufolge, wirklich und in der That seyn sollte; und demnach auch das, was diesem voraus gesezt wird, A. und das übrige[?] Siehe hin. – . Faktische Wahrheit erhält die für sich als ein blosses Denken rein problematische W.L. nur durch die wirkl[iche] Anschauung. – also nach ihrer Vollendung, ausser ihr selbst; und anders kann es nicht seyn. (146,17-22)

Darüber hinaus ist aber auch die Spiegelbildlichkeit zwischen dem ge-wöhnlichen Verständnis von Wissen, der in ihm schon stillschweigend wirkenden Regeln und Gesetze und zuletzt dem Bild vom Wissen, das man durch die Wissenschaftslehre bekommen wird, in den Blick zu neh-men. Dies leisten die folgenden Bemerkungen über die Methode der Wis-senschaftslehre.

1.3.3.Der demonstrative Gang der Wissenschaftslehre Die oben von Fichte wiedergegebene Stelle leitet die Betrachtung des Demonstrationsverfahrens der Wissenschaftslehre ein. Das Problem ist nämlich, welche Garantie man im Voraus dafür geben kann, daß das Sy-

Der Begriff der Wissenschaftslehre und ihre Methode

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stem, das erstellt wird, nicht nur innere Kohärenz, sondern auch wirkliche Gültigkeit, d.h. reale Übereinstimmung mit dem zu erklärenden Faktum Wissen hat. Dafür müssen gewisse »über den demonstrativen Gang im wissenschaftl[ichen] Publikum [herrschende] sonderbare Begriffe«44 ab-gewiesen werden: »Einen Grundsatz, an die Spitze: aus diesem nun nach den Gesetzen der Logik abgeleitet. Satz: Subjekt, Prädikat, Kopula«.45 Es ist dies der kritisierte »herrschende Begriff«, denn tatsächlich geht die Wissenschaftslehre nicht von einem Grundsatz aus, sondern, wie gleich zu zeigen sein wird, von einem Grundbegriff. Also steht nicht eine aus Sub-jekt, Kopula und Prädikat zusammengesetzte Einheit an der Spitze der Wissenschaftslehre, sondern eine einzige Denkleistung, ein Grundbegriff A. So fährt Fichte fort:

Von irgend einem Grundbegriff = A. müssen wir wohl ausgehen, der, in Absicht seines wirkl[ichen] Seyns völlig problematisch bleibt, in Absicht seines Inhalts als wohl eben möglich, (und weiter bedarf es nichts) durch sich selbst als Begriff bestimmt ist. Hierbei ist durchaus nichts zu bedenken; da ja die Realität dieses Begriffs auf einem ganz andern Wege ausgemacht werden soll. (147,4-8)

Was der Inhalt dieses Grundbegriffs ist, wird Fichte erst in der fünften Vorlesung in Anlehnung an Spinoza erklären, hier geht es nur um die wissenschaftliche Form der Wissenschaftslehre. Die Problematik des Grundbegriffs besteht darin, daß sein Inhalt A keine Anschauung, sondern ein pures Gedankenprodukt ist und daher in erster Linie keiner Wirklich-keit entspricht. Andererseits aber ist dieser Begriff zweifellos möglich, denn der Begriff A wird tatsächlich gedacht. Demnach kann man aus dem Begriff A, der als Begriff notwendig wiederum auch Wissen ist, aufgrund des Vernunftschlusses: »Wenn A. etwa wäre, so würde seyn nothwendi-gerweise […] Wissen, so und so«,46 eine Reihe von Folgerungen ziehen, die das Wissen im allgemein betreffen. Mittels dieser Schlußformel kann man also, den puren Denkgesetzen folgend, eine Reihe hypothetischer Bestimmungen des Wissens herausarbeiten. Demzufolge entsteht eine artikulierte Ganzheit, die aber, da sie durch Vernunftschlüsse erzeugt wird, dem Denken vollkommen innewohnt: es handelt sich um »Denk-

44 GA II 12, 146,25f. 45 GA II 12, 146,26f. 46 GA II 12, 147,9f.

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zwang. Denkfolge. Denknothwendigkeit.«47 Man muß im voraus nur noch sicher sein, daß diese Ganzheit nicht ein reines »Denkspiel«48 ist, sondern eine reale, objektive Gültigkeit hat. Um dafür die Reihe der Vorausset-zungen der Wissenschaftslehre zu entwickeln, folgert Fichte weiter:

Sie [die Wissenschaftslehre] sezt voraus, daß dasjenige, was sie als nothwendige Anschauung im Denken abgeleitet haben werde, in der wirkl[ichen] Anschauung faktisch sich bestätigen werde; und, obwohl dies wenigstens durch die Anschauung selbst bewährt zu seyn scheine, so will sie weiter schliessen, daß dieses aus den selben Prämissen A. usw. in der That und Wahrheit entstanden sey, wie sie es allein als entstanden sich denken kann: so ihrem Denken Gültigkeit auf etwas ausserhalb alles Denkens liegende, dem System der Anschauung beimessen. – . (147,27-148,5)

Damit diese Aussage keine schlichte petitio principii ist, muß Fichte aber gleich auch klären, inwiefern, d.h. unter welcher Bedingung die Wissen-schaftslehre eine solche Voraussetzung annehmen darf. Wir werden sehen, daß diese darin besteht, daß ihr Gedankenweg kreisförmig ist. Am Ende der Wissenschaftslehre muß also die Darstellung der Berechtigung, ja der Notwendigkeit dieses problematisch formulierten Anfangs gefunden wer-den. 1.3.4. Die Zirkularität als die einzig mögliche wissenschaftliche Form der

Wissenschaftslehre Man betrachte zunächst, wie Fichte das Problem einführt:

Es scheint drum die W.L. müsse, ehe sie einen Schritt vorwärts thun könne, zuförderst die Richtigkeit dieses ihres, durch ihre eignen Grundsätze verdächtig gewordnen und angefochtenen Verfahrens beweisen. (148,8-10)

Die geforderte Rechtfertigung des Verfahrens kann aber nur dann richtig durchgeführt werden, wenn man den allerersten, methodischen Anspruch, den transzendentalen Standpunkt festzuhalten, d.h. das Wissen als absolut

47 GA II 12, 147,18f. (Hervorhebung durch Verf.). 48 GA II 12, 147,27.

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selbständig zu verstehen, nicht preisgibt. Diese Annahme schließt offen-sichtlich aus, daß das Ergebnis der Wissenschaftslehre durch das Prinzip der Angemessenheit gewährleistet werden kann. Auch für das Wissen selbst – wie für jedes andere Ding – ist keine objektive Gültigkeit, die seinem eigenen Wissen vorausgeht, anzunehmen. Und auch die Tatsache, daß das Wissen unmittelbar erkennbar ist, d.h. daß es schon immer in einer Anschauung als der ihr innewohnenden Form des Daseins gegenwär-tig sei, drückt eben nur eine erste, undeutliche Form des Wissens von Wissen aus. Wenn nun die Wissenschaftslehre in der Lage sein will, jede Bestimmung des Wissens abzuleiten, muß sie sich auch in die Lage ver-setzen, diese ursprüngliche Form des Wissens von Wissen, nämlich die Anschauung des Wissens, die nach dem gewöhnlichen Bewußtsein dem objektiven Wissen entspricht, abzuleiten. Das betrifft aber nur einen Aspekt des Verfahrens der Wissen-schaftslehre, nämlich die Art und Weise, wie sie ihren Ausgangspunkt rechtfertigt. Darüber hinaus fragt hier aber Fichte etwas allgemeiner, näm-lich wie das ganze Verfahren überhaupt zu rechtfertigen sei, wenn der Anspruch der Wissenschaftslehre derjenige ist, nicht nur so etwas wie eine kohärente Erdichtung herzustellen, sondern durch ihre Gedankenkette den wirklichen, realen Inhalt des Wissens auszudrücken. Dafür hat er die Be-dingungen herauszufinden, die den Produkten der Wissenschaftslehre reale Gültigkeit verschaffen. Diese Frage nach ihrer objektiven Gültigkeit muß man aber in einer Form darstellen, die die Angemessenheit, d.h. die adaequatio als mögliches Mittel ihrer Antwort vollkommen beseitigt. Die Frage muß also in dieser Form beseitigt und eine andere formuliert wer-den: »Lassen wir die Frage liegen, und substituiren ihr vorläufig die ande-re: Wie könnte denn ein solcher Beweis geführt werden? daß dieses Den-ken objektiv sei.«49 Es handelt sich also nicht mehr darum zu fragen, wie ein Ganzes an Gedanken, das sich als Wissenschaft darstellt, einen objektiven Inhalt haben kann, sondern, wie diese Objektivität, d.h. die Gültigkeit der Ge-dankeninhalte, zu beweisen wäre – und zwar unter der Annahme, daß sie gültig sind. Nur diese zweite Frage kann innerhalb der Wissenschaftslehre beantwortet werden, denn sie ist ein Produkt des Denkens und das Denken ist auch eine Wissensform. Da es nun die Aufgabe der Wissenschaftslehre ist, alle Bestimmungen des Wissens abzuleiten, wird sie, falls sie ihr Vor-

49 GA II 12, 148,11f.

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haben erfüllt, auch das Denken deduzieren müssen. Da überdies ihr Denkweg ein besonderes Denken, d.h. eine besondere Bestimmung des Wissens ist und die Wissenschaftslehre jede Bestimmung des Wissens ableiten will, wird sie auch die besondere Bestimmung, die sie selbst ist, ableiten müssen. Mit den Worten Fichtes:

Denken ist doch wohl eine besondre Bestimmung des Wissens. Da nun in der W.L. alle Bestimmungen des Wissens abgeleitet werden sollen, so muß in ihr das Denken selbst, und insbesondre auch dasjenige Denken, was die W.L. um zu sich selbst zu kommen, treibt, abgeleitet werden, und so gewiß Vollständigkeit ist, von selbst in den Umkreis der Folgen fallen. (148,13-17)

Die Wissenschaftslehre muß also sich selbst als eine besondere Bestim-mung des Wissens ableiten, um die Richtigkeit ihres Anspruchs, das ganze Feld der Bestimmungen des Wissens zu deduzieren, und damit sich selbst vor der Anschuldigung der Leerheit zu schützen. Fichte behauptet hier wieder, die Zirkularität sei eine fruchtbare Charakteristik der Wissen-schaftslehre und eigentlich die einzige Bedingung, der sie sich unterwer-fen muß, um ihre Gültigkeit beweisen zu können. Die Wissenschaft des Wissens soll in sich selbst ihre eigene Ableitung vollziehen und dabei ihren Denkweg rechtfertigen; es soll die Ableitung der Form des Wissens, die sie angetrieben hat, stattfinden. Der epistemische Wert der Wissen-schaftslehre, und zwar ihr Wahrheitsinhalt, fällt insofern restlos mit ihrer epistemologischen Gültigkeit, nämlich der Entdeckung und Anwendung der Mittel zur Erfüllung ihres Wahrheitsanspruchs, zusammen.50 Dies ist der Charakter der Wissenschaftslehre als Wissenschaft, als Gewährlei-stung ihrer Wissenschaftlichkeit selbst. Fichte geht folgendermaßen wei-ter:

Da nun im Umkreise dieser Ableitung das Wissen vorkommt in seinen ursprünglichen und nothwendigen Bestimmungen, so muß, falls es mit dem Anspruche des Denkens auf objektive Gültigkeit, seine Richtigkeit hat, und dies unter die nothwendigen und ursprünglichen Bestimmungen desselben gehört, dasselbe mit

50 Zur Verwendung des Terminus Epistemologie in der Transzendentalphilosophie Fichtes vgl. M.J. Siemek: Die Idee des Transzendentalismus bei Fichte und Kant. Hamburg 1984 (Schriften zur Transzendentalphilosophie 4).

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diesem Anspruche vorkommen, und derselbe in der Ableitung selbst begründet werden. (148,17-22)

Diese Zirkularität sichert nun, daß sich die Wissenschaftslehre zweifellos auch auf etwas Reales bezieht, daß sie nämlich reale Bestimmungen des Wissens ableitet. Denn an ihrem Ende wird sie ein besonderes, reales Faktum, und zwar das des eben beschrittenen Gedankenwegs, aus dem sie besteht, deduziert haben. Den Beweis der am Anfang erst noch problema-tischen Realität der Wissenschaftslehre kann man also in die folgenden sechs Schritte gliedern: Da 1) das Denken eine Bestimmung des Wissens ist, ist 2) auch das besondere Denken, das vom Wissenschaftslehrer be-trieben wird, eine besondere Bestimmung des Wissens. Wenn aber 3) in der Wissenschaftslehre jede Bestimmung des Wissens abgeleitet wird, dann wird 4) in ihr auch jene besondere Bestimmung des Wissens abgelei-tet, die eben das Denken der Wissenschaftslehre ist. Es handelt sich aber 5) um ein Denken, das zweifelsohne real ist, denn es wird in erster Person vom Wissenschaftslehrer selbst realisiert und dadurch unmittelbar in sei-ner vollkommenen Realität erfahren, und nun 6) hat man den Beweis, daß die Wissenschaftslehre Bestimmungen des Wissens ableitet, die einen realen Bezug haben. Dieser Beweis bleibt an dieser Stelle offensichtlich noch proble-matisch. Man kann nämlich erst am Ende feststellen, ob der Zirkel, den die Wissenschaftslehre fordert, sich tatsächlich geschlossen hat. Hier kann zunächst nur die Möglichkeit eines solchen Beweises geschildert werden. Um zu zeigen, daß die Wissenschaftslehre wirklich eine in sich selbst abzuleitende Bestimmung des Wissens ist, muß man sie erst vollziehen und kann dann prüfen, ob dasjenige, was man dadurch zustande gebracht hat, auch wirklich abgeleitet worden ist. Fichte kann demnach erklären:

Und so wird denn die W.L. falls sie nur überhaupt möglich ist, in ihrem eignen Kontexte [dieser Punkt muß sich ja ohnedies fin-den]51 die Richtigkeit des Verfahrens, durch welches sie zu Stande gekommen ist, […] um ihrer eigenen Vollständigkeit willen erwie-sen müssen. Da der Erweiß nach kommt, hat man nicht nöthig ihn vorauszuschiken. – […] Die W.L. läuft in sich selbst zurük. Ihr Be-schluß ist der Beweiß ihres Anfangs. (148,22-149,2)

51 Zusatz Fichtes am Rande.

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Die Wissenschaftslehre muß also an ihrem Ende jenes besondere Faktum, das sie selbst ist, ableiten, und das fällt mit der Ableitung des einzigen Faktums, das sie ableiten kann, zusammen. Dadurch hebt Fichte still-schweigend hervor, welches das Charakteristikum der Wissenschaftslehre gegenüber allen anderen Wissenschaften ist: Sie ist die einzige Wissen-schaft, die mit ihrem Ende und in sich selbst bleibend zugleich über sich selbst als reines Denkprodukt hinausweist. Denn indem sie ihre eigene Denktätigkeit ableitet, bleibt sie immer noch in sich selbst. Auch diese Ableitung ist eine Form des Wissens und daher Inhalt der Wissenschafts-lehre. Die Wissenschaftslehre ist insofern eine Gedankenreihe, die in ihrer formalen Strenge die Gültigkeit und dabei auch die Realität ihres Inhalts darstellt, denn sie ist als Wissenschaft erst dann formal gelungen, wenn sie sich als Faktum abgeleitet hat. Nun behauptet Fichte:

Es ist zu bemerken, daß gerade dasjenige Denken, das die W.L. formaliter angewendet hat, als habend dieselbige objektive Gültig-keit, die ihm zugeschrieben worden (die, die Form des ursprüng-l[ichen] Bewußtseyns zu bestimmen) sich erhärtet: also ganz und gerade dasjenige bewiesen wird, was bewiesen werden sollte. (149,3-6)

Das heißt aber, daß es zwischen dem Moment des aktiven Denkens – wenn die Wissenschaftslehre im Denken betrieben wird – und dem Sich-bewußt-Werden dieses Wissens als einem Moment der Wissenschaftsleh-re, eine zeitliche Verzögerung gibt. Das bedeutet schließlich, daß sich die Wissenschaftslehre während ihrer Entwicklung nicht als Wissenschaft begreifen kann und auch an ihrem Ende streng genommen nicht als Wis-senschaft wahrgenommen werden kann, sondern eher als Methode. Das ist genau der Aspekt der Wissenschaftslehre, weswegen sie – rein äußerlich betrachtet – den Eindruck bloßer Formalität erwecken konnte. Denn die Herstellung ihres Inhalts ist nur ein Ergebnis der Denkakte, die nicht von einem äußeren Blick, sondern allein von der individuellen Anstrengung, diesem Denkweg zu folgen, hervorgerufen werden können. Schließlich, könnte man bemerken, hängt Kants Anklage gegen die Wissenschaftsleh-re, sie sei nichts »mehr oder weniger als bloße Logik«52 und somit ganz leer, damit zusammen, daß er sie nur äußerlich betrachtete und deshalb nur

52 Vgl. Kants Erklärung im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Nr. 109 vom 28. August 1799, 876.

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aufgrund ihrer logischen Struktur beurteilen konnte. Wenn aber die Logik notwendig linear verfährt, folgt die Wissenschaftslehre aufgrund ihrer Reflexion auf ihr Denken einer zu sich selbst zurückbiegenden Linie – eine Zirkularität, die nicht von außen betrachtet, sondern nur in der ersten Person erfahren werden kann. Fichte schließt entsprechend:

[S]o ist denn die Frage über die reale Gültigkeit des Denkens aus-ser ihm selbst, hier für das reale, in der That vorhandne Wissen, – gründlich beantwortet. Eben dieses reale Wissen selbst ist es, das sich denkt, und als reales Wissen, nothwendig und ursprünglich sich denkt. Es denkt sich so, und vermag sich so zu denken, wie es in der W.L. sich denkt, weil es in der Anschauung so ist: und es ist so in der Anschauung, weil es in der W.L. sich so denken muß. – Beides ist nur in Einem, das Eine ist durch beides bestimmt: beides ist drum durch einander bestimmt. – . (150,8-15)

Dieses gegenseitige, zirkuläre, der Wissenschaftslehre zugrunde liegende Aufeinanderverweisen eines sich des Sichdenkens bewußt werdenden Wissens und der daher sich ergebenden Anschauung des Wissens, kann nur derjenige wahrnehmen, der dem gesamten Denkweg wirklich gefolgt ist und die ihn konstituierenden Denkakte selbst durchgeführt hat. Erst dann nämlich kann der Wissenschaftslehrer erfahren, daß das System der Zusammensetzung der Ergebnisse seiner Denkakte wirklich aus einer Reihe von Gedanken besteht, die dem System selbst innewohnen. Um dies zu erläutern, sei eine Parallele aus der Dynamik ange-führt. Hier kann, ebenso wie in der Wissenschaftslehre, eine kreisförmige Bewegung nicht aufgrund einer bloß äußerlichen Beschreibung verstanden werden. Die geometrische, d.h. äußerliche Beschreibung einer Kurve ist eine Annäherung über infinitesimal kurze, gerade Strecken, die jeweils mit konstanter Geschwindigkeit zurückgelegt werden. Offenbar kommt aber dadurch der wesentliche Aspekt der Kurve nicht zum Tragen, nämlich die Änderung der Richtung und damit des Geschwindigkeitsvektors. Das bedeutet, daß in dieser äußerlichen Betrachtung der Kurve ihre wesentli-che Eigenschaft, die Biegung, ignoriert wird. Man kann also nicht wirklich verstehen, was Veränderung eines Geschwindigkeitsvektors bedeutet, wenn man eine Kurve lediglich von außen betrachtet oder ihre Länge mißt. Um wirklich zu verstehen, was eine Kurve ist, kann man nur ›per-sönlich‹ auf einem Vektor einsteigen und die Zentrifugalkraft wahrneh-men bzw. messen.

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Dasselbe gilt für die Wissenschaftslehre. Ihre Schlußfolgerungen überschreiten nicht die allgemeine Logik und führen dementsprechend ganz linear von gewissen Prämissen auf ihre Resultate. Sie müssen aller-dings in der ersten Person erfahren und durchgeführt werden, um in ihrem Ganzen als bedeutungsvoll angenommen werden zu können. Der Dreh- und Angelpunkt der Wissenschaftslehre, infolgedessen sie sich auf sich selbst zurückbiegen und ihr Denken selbst ableiten kann, besteht ohnehin aus Schlußfolgerungen, die immer nur geradeaus schließen. Die Tatsache, daß daraufhin der Denkweg der Wissenschaftslehre wirklich abgeleitet wird, kann nur von demjenigen bemerkt werden, der diesen Denkweg selbst zurückgelegt hat und dann eine Art ›intellektuellen Schwindel‹ fühlt, ganz ähnlich dem ›sinnlichen Schwindel‹ der Kinder, die Karussell fahren. In beiden Fällen bleibt dieses Phänomen denjenigen, die es nur von außen betrachten und es nie erfahren haben, ganz unverständlich. Wenn wir nun diesen Parallelismus der wissenschaftlichen Tätig-keit verallgemeinern, können wir auch die Beziehung zwischen der Wis-senschaftslehre und den anderen Wissenschaften definieren. Fichte ver-zichtet in seiner Darstellung von 1811 eigentlich darauf, diese Beziehung darzulegen, sie zu betrachten ist aber dennoch wichtig, um den Sinn seiner Philosophie zu verstehen. Nehmen wir eine Demonstration aus der Geo-metrie, wie z.B. die des Lehrsatzes des Pythagoras. Zwar muß man, um ihr zu folgen, persönlich ein Lineal und einen Zirkel benutzen, man wird aber diese Übung am Ende der Demonstration ganz vergessen und für die Gül-tigkeit der demonstrierten Wahrheit selbst für ganz unwesentlich halten. Die Wissenschaftslehre fordert dagegen, und das ist ihre Besonderheit im Vergleich zu den anderen Wissenschaften, daß der individuelle Vollzug der Gedanken, aus denen ihr Inhalt besteht, eben die Deduktion ihrer Möglichkeit mit einschließt. Sie kann demnach als vollendete Wissen-schaft nur dann beurteilt werden, wenn diese Möglichkeit ihres individuel-len Vollzugs von demjenigen, der ihre Wirklichkeit erfahren hat, formell deduziert worden ist. Und jeder einzelne Wissenschaftslehrer kann diesen Beweis nur von sich selbst und in sich selbst erzeugen. Gerade diesem Aspekt verdankt es die Wissenschaftslehre, daß sie für sich beanspruchen kann, sogar die Realitätsansprüche aller anderen Wissenschaften zu begründen. Denn in ihr wird eben der notwendige ge-genseitige Verweis von Theorie und Praxis thematisiert, der in den Ein-zelwissenschaften zwar stattfindet, aber nicht zum Ausdruck kommen kann. Deswegen wurzeln die Wissenschaften hinsichtlich ihrer Beziehung

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zur Realität in diesem Verweis, ja er begründet ihre Fähigkeit, wirkliche Phänomene zu beschreiben und vorherzusagen. Die Wissenschaftslehre ist deshalb nicht nur kein leeres Wissen, sondern sie ist sogar die einzige Gewährleistung der inhaltlichen Erfülltheit jeder möglichen Wissenschaft, denn sie deduziert in sich unbezweifelbar die Zirkularität zwischen dem Akt des Denkens und der Gegebenheit der Erfahrung, d.h. zwischen Be-wußtsein und Welt, die auch jede Einzelwissenschaft – jeweils unter ei-nem besonderen Aspekt und mit Abstraktion von der Denktätigkeit des Wissenschaftlers – beschreibt. Damit kehrt sich aber die ganze Rede über die Wissenschaftslehre um. Sie ist nicht nur kein bloßes Denkspiel, son-dern sie ist, falls sie ihren Zweck erreicht, diejenige Wissenschaft, die jeden skeptischen Zweifel gegenüber den Naturwissenschaften überhaupt aufheben kann. Auch in diesem Sinn übernimmt die Wissenschaftslehre das kantsche Vorhaben der Transzendentalphilosophie, die Wissenschaf-ten zu begründen und sie gegen die Angriffe des Skeptizismus zu schüt-zen. 1.3.5. Die Wissenschaftslehre als natürliches Produkt In dieser Zirkularität der Wissenschaftslehre könnte sich aber auch ein zweiter problematischer Aspekt verstecken, der ihr positives Ergebnis zunichte machen könnte. Die Radikalität, mit der Fichte auf dem persönli-chen Vollzug der Denkakte des Wissenschaftslehrers beharrt, bringt die Gefahr mit sich, daß sie, genauso wie dies beim Kunstwerk der Fall ist, nur von seinem Schöpfer vollkommen durchdrungen werden kann. Da es sich in ihr bloß um ein Produkt seiner Tätigkeit und seines Denkens han-delt, kann sie also zu einem unvermeidbaren solipsistischen Ergebnis füh-ren. Die Antwort auf diese kritische Betrachtung lautet, daß sich die Wis-senschaftslehre zwar stets im Verlaufe eines individuellen Denkakts voll-zieht, das Denken aber dennoch nur universellen Gesetzen folgt. Auch wenn das Denken in der ersten Person durchgeführt werden muß, folgt es Gesetzen, die notwendig und universell, kurzum a priori und somit für alle identisch sind. Es gibt also niemanden, der innerhalb der Wissen-schaftslehre ganz zufällig die Wissenschaftslehre als einen Teil seiner selbst findet, oder – noch schlimmer – sich nur ausdenkt, daß er sie sich ableiten könne. Denn derjenige, der die Aufgabe der Wissenschaftslehre auf sich nimmt, tritt ganz im Gegenteil in einen Zirkel ein, in dem das

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Wissen selbst, seinen reinen Gesetzen zufolge, sich als Wissen ableitet. Mit Fichtes Worten:

Wenn wir die W.L. sind, wir drum nicht ein freies, erdichtetes, künstliches sind, sondern wir sind das nothwendige Wissen selbst, das eben, sich begreifend sich ausspricht, und darstellt: wir sind Natur, nicht Dichten der Freiheit. (150,5-8)

Offenbar bezieht sich Fichte hier auf einen Naturbegriff, der das Bild der authentische Freiheit wiedergibt, dem er ein falsches Konzept von Frei-heit, als reiner Willkür verstanden, entgegensetzt. Er meint also, daß man erst dann die Freiheit verstehen könne, wenn man die Illusion preisgebe, daß sie ein reines Erdichten sei, und sich dagegen zu der Erkenntnis erhe-be, daß die wahre Freiheit mit der Teilnahme an der selbständigen Bewe-gung der Denkgesetze zusammenfalle. Die wahre Naturwelt und das Apriori des Denkens sind identisch. Dem Wissenschaftslehrer wird also die echte Freiheitswelt erscheinen, die, um zur Erscheinung zu kommen, eine Form annimmt, die zwar an die mechanische Notwendigkeit der Na-tur, wie man sie gewöhnlich betrachtet, erinnern kann, die aber in der Tat der freie, d.h. selbständige Grund dieser Notwendigkeit ist. Natur ist also das, was vollkommen selbständig fortschreitet und sich nur aufgrund sei-ner eigenen Gesetze umgestaltet. Dieser Begriff von Natur und der Begriff von Freiheit als absoluter Selbständigkeit fallen somit zusammen. Darüber hinaus wird deutlich, daß der Begriff der Natur eigentlich von der Hypo-stasierung der Gesetze unseres Bewußtseins abhängt. Wir werden nämlich sehen, daß der Schlüssel zur Umwandlung der Freiheit in gesetzmäßige Notwendigkeit die Annahme des Soll ist, das eine fundamentale Rolle in der Wissenschaftslehre spielt. Am Ende wird also die Wissenschaftslehre auch die anfängliche Willkürlichkeit ihrer Aufgabe deduzieren. Das, was anscheinend von dem einzelnen Subjekt abhängt, wird sich als ein notwendiger Teil eines Ver-fahrens offenbaren, das dem Denken und demnach dem Wissen inne-wohnt. Fichte kann also schließen – und damit zugleich auf die Interpreta-tion seiner Philosophie als eine idealistische reagieren: »Kein freies Sub-jekt, sondern das Eine und nothwendige Wissen selbst ist es, das dieses denken denkt.«53 Das Wissen ist also keineswegs vom Wissenden abhän-gig und von seinem Denkakte produziert. Vielmehr wird jedes wissende

53 GA II 12, 150,26f.

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und denkende Ich, nachdem es die Reihe der Akte, die sein Wissen und Denken konstituieren, abgeleitet hat, feststellen, daß es selbst schon im-mer in den Gesetzen des Wissens miteinbezogen war und von ihnen ab-hing. Hiermit endet die erste Vorlesung zur Wissenschaftslehre. 1.4. Denken, Reflexion, Zweifel Fichte bietet nach dieser ersten, so dichten und komplexen Vorlesung am Beginn der zweiten eine Zusammenfassung des Dargestellten in vier Punkten. Dieser folgen einige ›Anwendungen‹, die die Beziehung zwi-schen Denken und Reflexion betreffen und damit die Frage nach der Ob-jektivität der Wissenschaftslehre vertiefen:

1). Das Wissen gestaltet sich selbst durch sich selbst zu einem or-ganisirten, und artikulirten vollständigen System. 2.) Ein Theil die-ses Systems ist sein Begriff von sich selbst […] und dieser ist eben die W.L. 3). Die W.L. ist drum nicht der Begriff irgend eines Indi-viduum, z.B. d[es] Fichte, vom Wissen, sondern es ist der Begriff des Wissens selbst von sich selbst […]. Das Individuum als solches ist eigentlich nicht einmal denkend, denkend ist das Eine ursprüng-liche Wissen: es [das Individuum] ist nur anschauend dieses Denken. Genau genommen vom individuellen Standpunkte d[ie] W.L. ist lediglich ein System von Anschauungen, keineswegs vom Denken. – . Sie ist kein KunstProdukt der Freiheit, sondern ein Naturprodukt des Wissens. (151,2-13)

Im dritten Punkt kehrt Fichte wieder zum Thema des Verhältnisses zwi-schen Freiheit bzw. Willkürlichkeit und Notwendigkeit in der Wissen-schaftslehre zurück. Es scheint zunächst widersprüchlich, daß er jetzt erklärt, die Wissenschaftslehre sei kein Produkt des Denkens, nachdem er in der ersten Vorlesung konstatiert hat, daß es das Denken sei, »was die W.L. um zu sich selbst zu kommen, treibt«.54 Das freie und individuelle Denken gilt aber nur als ein Mittel, das zur Wissenschaftslehre führt, denn ihr Sinn besteht nicht in den Reflexionen und den Ableitungen, die ihre äußere Struktur ausmachen, sondern vielmehr in der Anschauungsreihe, die von diesem Denken zwar ermöglicht, aber nicht produziert wird. An-ders gesagt: Das Entstehen der Wissenschaftslehre hängt von einem freien

54 GA II 12, 148,15f.

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Akt ab, der die Aufgabe übernimmt, das Wissen als etwas Selbständiges zu denken. Die Entfaltung der gesamten Bedingungen, die die Gültigkeit dieses hypothetisch als wahr angenommenen Gedankens ermöglichen, wird eine Reihe von Anschauungen mit sich bringen – Fichte kehrt hier zum Terminus Anschauung zurück, nachdem er in den Jahren 1804 und 1807 Einsicht bevorzugt hatte. Es wird in der Wissenschaftslehre also ein Verfahren vertreten, das man in gewisser Weise als more geometrico bezeichnen kann und das nochmals am Beispiel des pythagoreischen Lehrsatzes erklärt werden soll. Die Wahrheit eines Lehrsatzes ist bekanntlich unabhängig von der indivi-duellen Denkleistung, dank derer der Lehrsatz formuliert und bewiesen wird. Das, was einem Individuum die Wahrheit des Inhalts des pythago-reischen Lehrsatzes gewährleistet – daß nämlich bei einem rechtwinkligen Dreieck das Hypotenusenquadrat der Summe der Kathetenquadrate ent-spricht –, ist eine Intuition, die einer ganzen Reihe von Handlungen folgt, die man mit Zirkel und Lineal unternimmt und deren Resultat das Denken in einer schlüssigen Demonstration ordnet. Die Demonstration ist aber nur eine praktische Hilfe bei dem Bestreben, über die Eigenschaften des Raums, in dem das Dreieck vorgestellt wird, kohärent nachzudenken, und diese Eigenschaften hängen ihrerseits mit gewissen Postulaten und Axio-men zusammen. Das heißt, daß die oben erwähnten Handlungen nur so lange benötigt werden, um die Eigenschaften des Raums, in dem eine bestimmte Fläche liegt, anschaulich zu machen, bis der anfangs dargestell-te Lehrsatz auch als Inhalt einer Anschauung einleuchtet. Der Inhalt dieser letzten Anschauung hängt freilich nicht von dem vorgelegten Beweis, dem man gefolgt ist, ab. Nur ihre Unwiderlegbarkeit ist dabei individuell gesi-chert, denn sie wurde evident. Es handelt sich also nicht um eine Wahr-heit, die von der bestimmten Reihe von Denkhandlungen, die zu ihrer Anerkennung führt, künstlich konstruiert wird; ganz im Gegenteil wird die Gültigkeit des Beweises von der unmittelbaren und unbezweifelbaren Gewißheit gesichert, die nach seiner Durchführung den Inhalt des Lehr-satzes begleitet. Der Hauptpunkt hierbei ist, daß die euklidische Geometrie nicht aus der Sammlung der Beweise besteht, die man in ihr findet, sondern aus der Gesamtheit ihrer Theoreme, und diese sind Anschauungen. Die De-monstrationen dienen nämlich nur dazu, hypothetisch angenommene Sät-ze, in denen diese Anschauungen zum Ausdruck kommen, mit unwider-legbarer Evidenz auszustatten. Erst dann, wenn ein Theorem als wahr

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begriffen wird, verwandelt es sich von einem hypothetischen Satz in eine feste Anschauung, die nicht mehr in Frage gestellt wird. Einen Beweis für das Theorem wird man nun nicht mehr führen, es wird vielmehr ohne vorherige Demonstration angewendet. Nur die Gewißheit der Geometrie hängt also von den Beweisen, die in ihr geführt werden, d.h. vom Denken ab. Ihr wissenschaftlicher Inhalt aber, d.h. ihre Bedeutung, besteht in der Gesamtheit ihrer Einsichten bzw. Anschauungen. Das gleiche gilt für die Wissenschaftslehre. Daher fügt Fichte seiner Zusammenfassung den fol-genden vierten Punkt hinzu:

4.) Problematisch [ist die Wissenschaftslehre] in Absicht der fakti-schen Realität, nur durch Herausweisen aus sich selbst, in den vom Denken völlig verschiedenen Standpunkt der Anschauung hinüber zum gesehnen. Eben so – problematisch, in Beziehung auf ihre eigne innere Form. Mit ihrem, der Form nach, freien, und als frei erscheinenden Denken hebt sie an: und fährt fort. Was dieses ist, und bedeutet, kann sie nicht wissen, und der Zweifel bleibt. Sie versuchts. Erst am Ende geht ihr darüber Licht auf, und nun wird sie kategorisch. Doch findet sie ihre Gewißheit in sich selber. (151,13-20)

Nun ist der willkürliche Ausgangspunkt jeder Geometrie die Aufforde-rung, die Bestimmungen eines Raums darzustellen, der eine Reihe von Eigenschaften hat, die von Postulaten und Axiomen bestimmt werden. Ihr Endpunkt ist demnach die Beschreibung aller Bestimmungen dieses Raums in Theoremen, die sich am Ende eines sich notwendig entwickeln-den Gedankengangs, der Demonstration, als unmittelbar evident erweisen. Wie gesagt geht die Wissenschaftslehre so ähnlich vor, nur fällt der Raum, den sie beschreibt, mit dem ganzen Raum des Wissens zusam-men, und ist ihre Voraussetzung, daß dieses Raum-Wissen vollkommen selbständig ist, d.h. daß es in sich selbst alle seine Umgestaltungen bestimmen kann. Also besteht der wissenschaftliche Inhalt der Wissen-schaftslehre in den Einsichten bzw. Anschauungen, die aus dieser frei angenommenen Voraussetzung hergeleitet werden können, nachdem durch ein kohärentes Denken alle ihre Folgen abgeleitet wurden. In der Wissenschaftslehre entsteht aber ein Problem, das in der Geometrie nicht existiert, daß nämlich im Raum des selbstbestimmenden Denkens eine seiner Bestimmungen sich die Fähigkeit zuschreibt, den ganzen Raum konstruieren zu können, während sie in Wirklichkeit nur die Fähigkeit hat, ihn zu rekonstruieren. Es handelt sich dabei offensichtlich um das den-

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kende Ich, das sich einbilden kann, die Lehrsätze und die Gesetze, infolge derer sich das Wissen allgemein gestaltet, nicht nur entdecken, sondern sogar erfinden zu können. Alles, was das Ich aber tatsächlich kann, besteht darin, sich diese Lehrsätze anzueignen, d.h. sie von bestimmten Prämissen abzuleiten und demzufolge als unbezweifelbar wahr anzunehmen. Wenn aber das Ich auf die Tatsache reflektiert, daß das Denken faktisch immer nur von einem Ich selbst geleistet wird, wird es von dieser Betrachtung verleitet anzunehmen, daß jede Bestimmung des Denkens von dieser Tä-tigkeit abhängt. Es wird also zuerst nicht bemerkt, daß eben das Gegenteil auch wahr sein kann, nämlich daß gerade die Eigenschaften des Denkens erlauben, daß es etwas wie ein ›denkendes Ich‹ überhaupt gibt. Nun wird aber infolge dieses Versehens des Ich die Möglichkeit, daß das Denken auch etwas Reales liefert, prinzipiell negiert. Fichte äußerst sich darüber folgendermaßen:

1.) Das Denken wird verdächtig nur durch die Muthmaaßung, daß es ein erdenken seyn möchte […] 2). Dieser Verdacht entsteht allemal, wenn auf das Denken, als ein Denken, ein Faktum des Denkens reflektirt wird, weil sodann allemal das individuelle Ich, als das Princip dieses Faktum erscheint. (151,21-26)

Man könnte nun glauben, daß diese Selbsttäuschung des Ich nur aus seiner Fähigkeit resultiert, auf sich selbst reflektieren zu können und sich dabei tätig zu fühlen – was ja tatsächlich die fundamentale Charakteristik des Ich ist. Es könnte demzufolge empfehlenswert scheinen, diese Gefahr ganz einfach dadurch zu vermeiden, daß man auf das Reflektieren verzich-tet. Denn tatsächlich reflektiert man nicht ständig auf Inhalt und Form der im Bewußtsein vorkommenden Ansichten und kommen Reflexionen ge-wöhnlich nur als objektive Betrachtungen vor, ohne daß man sich ständig die Frage nach ihrer Herkunft und ihren Konstitutionsgesetzen stellt.

[B]ei dem wirkl[ichen] realen Denken hat der blosse V[er-nun]ftInstinkt gegen diesen Zweifel das Gegenmittel angeordnet, daß bei einem solchen Denken gewöhnl[ich] nicht reflektirt wird welches für die objektive Gewohnheit nicht nöthig ist. (151,26-29)

Das Reflektieren könnte man also als einen freien Akt interpretieren, der für eine gesunde Vernunft schädlich ist. Nur hat die Geschichte der Philo-sophie aber auch ausreichend gezeigt, daß gerade dieses gewöhnliche, nicht reflektierende Denken in der Erforschung gewisser Themen oft nicht

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vertrauenswürdig ist. Es gibt z.B. auf dem Gebiet der Metaphysik mehrere Theorien, die für den sensus communis alle gleichermaßen greifen, aber einander widersprechen und deshalb nicht alle zugleich gültig sein kön-nen. Um diese Unbeholfenheit des gewöhnlichen Denkens zu umgehen, hat Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft gerade das, was Fichte hier Vernunftinstinkt nennt, untersucht und seinen unreflektierten Gebrauch kritisiert. In seiner Untersuchung konnte er zeigen, daß seine korrekte Anwendung nur ein bestimmtes Gebiet betrifft und daß der Vernunftin-stinkt, wenn er seine Kategorien außerhalb dieses Gebiets anzuwenden versucht, nur eine illusorische Vorstellung weckt. Der bloße Vernunftin-stinkt muß also beim Denken permanent überwacht werden, wenn man nicht Gefahr laufen will, daß »Aller Unterschied zwischen Wahrheit und Irrthum in Rüksicht des denkens, aufgehoben wird«.55 Das Denken über-wachen heißt aber, auf es zu reflektieren, auch wenn man dabei den Zwei-fel erwecken kann, daß alles, was gedacht wird, bloß von dem dabei not-wendig mitanwesenden denkenden Ich erdichtet sei und insofern keinen Bezug zur Realität habe, sondern ein bloßes Hirngespinst sei. Nun aber lehrt Fichte, daß die Reflexion, da sie eine Denkform ist, dem innewoh-nenden Gesetz des Wissens zugehört, weshalb sie nicht zu verbieten sei. Die mit ihr zusammenhängende Täuschung kann wiederum nur durch das Reflektieren selbst überwunden werden. Die Reflexion ist also nicht nur unvermeidbar, sondern auch unentbehrlich und wird deshalb zum Inhalt einer Maxime des klaren Denkens:

Es ist drum Maxime des klaren, und freien Denkens stets zu reflek-

tiren. – . Wird aber reflektirt, so entsteht Zweifel. Was nun dabei thun? Wie diesem abhelfen? Die alte Zeit reflektirte eben nicht, ohne zu wissen, was sie that, und damit gut. Seit dieser Zeit hat es die W.L. denen die nur ein wenig Notiz von ihr genommen, so klar dargelegt, daß ein Wissender eben nur Wissen sey, und kein Ding, daß sichs nicht läugnen läßt. Also die Reflexion dringt sich auf, und mit ihr der Zweifel. (152,5-9)

Fichte deutet nun, hier noch in einer dogmatischen Art und Weise, den Ausweg an, daß das Ich, das zweifellos aktiv denkt und über diese Tätig-keit und ihre Ergebnisse reflektieren kann, sich selbst als Bestimmung des Wissens verstehen kann. Das erste oben erwähnte Ergebnis des Reflektie-

55 GA II 12, 152,2f.

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rens, wonach das Ich selbst das Denken bestimmt, kann insofern dadurch übersteigert werden, daß das Ich sich in einer zweiten Reflexion im Ge-genteil als eine Bestimmung des Wissens versteht. Dieser zweiten Refle-xion zufolge gehört das Denken dem Ich als Bestimmung eines Wissens an, das ganz unabhängig vom faktischen Vollzug des eigenen Denkens ist. Denn, wie Fichte erklärt:

Nicht im Reflektiren liegt der Zweifel, sondern darin, daß die Reflexion vorspiegelt, als ob das Ich, als Individuum denke. Hebe diesen Zweifel, zeige, es ist das Eine nothwendige Wissen, das da denkt, so hat die Reflexion der Realität nicht geschadet, sondern sie hat sie erst recht fest und klar hingestellt. (152,20-24)

Im Zusammenhang mit diesem Thema nennt Fichte zum ersten Mal Schel-ling und stellt das Grundkonzept seiner Kritik an dessen Identitätsphiloso-phie vor, der er die vierte Vorlesung widmen wird. Schelling, so Fichte, habe die Wissenschaftslehre dafür kritisiert, daß sie auf der Ebene der bloßen Reflexion bliebe, wogegen er sich »auf den Standpunct der Pro-duction gestellt hätte«.56 Im Standpunkt der Reflexion, so meint Schelling, bleibe man noch lange diesseits der inneren selbst erschaffenden Tätigkeit der Natur, denn man verweile noch in der Spaltung zwischen dem den-kenden Subjekt und dem gedachten Objekt. Die Vernunft könne dagegen unmittelbar zu sich selbst kommen und sich dabei als reinen Indifferenz-punkt verstehen, womit sie an die wahre, ursprüngliche Quelle des Realen anknüpfe. Genau dem widerspricht Fichte, denn vom Standpunkt der Re-flexion aus könne man weder zu einem möglichen Standpunkt der Produk-tion aufsteigen noch das Herausquellen der Realität anschauen und be-schreiben. In Wahrheit ist – so Fichte – diese vermeintlich ursprüngliche Quelle nichts anderes als eine Hypostasierung der projizierenden Tätigkeit des Subjekts, die das Zentrum der ganzen Operation, nämlich die notwen-dige Tätigkeit des Ich, die hinter diesen Projektionen wirkt, verdrängt. Schelling gelangt also nach Fichte mit seinem System zu keiner Natur, sondern nur zu einer systematischen Beschreibung der Produkte der Wis-sensakte des Ich, die er aber, gerade aus seinem erklärten Verzicht auf die Reflexion heraus nicht als solche anerkennen kann.

56 F.W.J. v. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie. In Zeitschrift

für spekulative Physik 2.2 (1801).

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Diese Auseinandersetzung erhellt, warum Fichte den Begriff Na-tur verwendet, um die Form der Wissenschaftslehre zu beschreiben. Das produktive, d.h. natürliche Moment liege nämlich nur auf der Ebene des sich selbst denkenden Denkens, zu dem man nur dank der Reflexion kommen könne. Die Identitätsphilosophie Schellings sei im Gegenteil nichts anderes als ein willkürliches Produkt, das Schelling wegen seiner Reflexionsblindheit nicht als solches erkenne, während die Wissenschafts-lehre im Gegenteil das authentische Naturprodukt des Wissens sei und sich auch als solches verstehen und darstellen könne. 1.5. Der Inhalt der Wissenschaftslehre Mit diesen Bemerkungen meint Fichte, die Form seiner Wissenschaft ausreichend behandelt zu haben, so daß er sich nun der Beschreibung des Inhalts widmen kann. Da die Behandlung der Form mit der Reflexion über das Denken zusammengefallen ist – denn eben die Gesetze des Denkens geben der Wissenschaftslehre ihre Form –, wird sich die Bearbeitung ihres Inhalts mit der Anschauung beschäftigen. Denn Anschauungen sind genau das, was man durch die Wissenschaftslehre erhalten soll. Fichte beginnt wieder mit dem Grundvernunftschluß der Wissenschaftslehre, um jetzt seine notwendigen Folgen zu analysieren:

Wenn A. ist, so folgt das und das. – Von welcher Art? A. soll nach seinem Inhalte nicht ein blosser Gedanke, sondern eine Realität seyn, es soll einen Inhalt haben, ohnerachtet die faktische Realität nicht nachgewiesen werden kann, und uns nichts angeht. Um somehr wird b. als offenbar eine weitre Bestimmung des A. einen Inhalt haben (der in Absicht seiner faktischen Existenz freilich ebenso problematisch hingestellt wird). Also der Inhalt von b. ist eine bestimmte Anschauung, und er ist nur in der Anschauung, und nur wer durch Anschauung ihn faßt, für den ist er, und außerdem nicht. – (152,26-153,5)

Es wird also zunächst wiederholt, daß die Wissenschaftslehre nicht aus leeren Gedanken, sondern aus Anschauungen besteht. Die Frage nach ihrer faktischen Existenz bleibt dennoch weiterhin unbeantwortet, solange A selbst nur als hypothetisch gesetzt gilt. Gedacht wird A aber wirklich, dem Gedanken muß insofern irgendein Inhalt entsprechen, so daß man aus ihm weitere Anschauungen ableiten darf, die ihrerseits einen Inhalt haben

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werden. Beim Sichverlassen auf das dem Denken innewohnende Gesetz wird also aus der Setzung einer Prämisse A notwendigerweise eine An-schauung b entstehen – ein Buchstabe, der das erste Element der ganzen Anschauungsreihe bildet, die allgemein das Ergebnis der Wissenschafts-lehre darstellen wird. Es ist in der Herstellung dieser Anschauungsreihe keine frei schöpferische Tätigkeit des Subjekts impliziert, sondern nur die kohärente Entwicklung der hypothetisch angenommenen Prämisse A. Fichte erklärt:

Wie komt man zu dieser Anschauung: ist leicht: die Voraussetzung ist: wenn A. gedacht werde, so müsse b. gedacht werden: es ergebe sich von selbst. – . Der W[issenschafts]L[ehrer] hat nach diesem durch seine Freiheit nichts zu thun, oder zu machen: es macht alles in ihm sich von selbst: Das Denken des A. gestaltet ohne sein Zuthun durch sich selbst sich 1.) zu der Anschauung b. 2). zu dem Gedanken, daß das wirkl[iche] faktische Seyn dieses b. nothwendig gesezt sey, durch das faktische Seyn von A. falls nemlich etwa dieses gesezt werde. – Und so ins unendl[iche] fort. Nichts leichter denn die W.L. (153,6-13)

Der Inhalt der Wissenschaftslehre wird also als eine sich automatisch entwickelnde Kette von Anschauungen präsentiert, die sich in strenger Folge aus dem Denken eines ersten Grundbegriffs A ergeben, wenn dieser ernsthaft gedacht wird.

So ist es freilich: alles komt sonach darauf an, daß A. wirklich, und in der That gedacht sey. Einmal in der Reihe der Anschauung darin, hat es keine Schwierigkeit. (153,14f.)

Allerdings, obwohl gleich negiert, beunruhigt das Wort »Schwierigkeit« den Leser. Denn tatsächlich ist das Verschwinden jeder Schwierigkeit der Bedingung unterworfen, daß man sich schon in der Reihe der Anschauun-gen befindet. Die Schwierigkeiten werden also nur bis zum Moment des Eintritts erwogen, denn in diese Reihe einzutreten führt Schwierigkeiten mit sich, die nicht mit dem reinen Verfahren des Denkens, das an sich ganz mechanisch fortgeht, sondern mit anderen Aspekten des Denkens zusammenhängen.

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1.5.1. Die Schwierigkeiten der Wissenschaftslehre 1.5.2.1. Der Gegentrieb Nach dem oben wiedergegebenen Satz geht Fichte mit dem folgenden weiter: »Die Schwierigkeit ist nur die, erst hinein zu kommen. – ich setze hinzu, da ein natürl[icher] Gegentrieb gegen diese Reihe ist, sich in der-selben zu erhalten«57 Hier ist also von zwei Schwierigkeiten die Rede: erstens in die Reihe der Anschauungen einzutreten, zweitens die Fähigkeit zu haben, in ihr zu bleiben. Die Ursachen für diese Schwierigkeiten be-zeichnet Fichte mit dem unklaren Begriff Gegentrieb, den es zunächst zu erläutern gilt. Der Trieb ist etwas im Individuum tief Verwurzeltes, das zur Grundstruktur des Menschen zählt. Da Fichte den Gegentrieb als natürlich charakterisiert, kann man schließen, daß er ihn als jedem Menschen ange-boren denkt. Er weist nun darauf hin, daß sich derjenige, der sich mit der Wissenschaftslehre beschäftigen will, auf einen inneren Kampf zwischen der Anschauungsreihe, die der Denkweg der Wissenschaftslehre in ihm entstehen lassen wird, und dem natürlichen Trieb gegen das Vollziehen dieses Denkens einlassen wird. Bevor dieser Kampf in ihm auftritt, muß der Zuhörer sich schon gegen diesen Gegentrieb entschieden haben. Dabei wird der Lehrer ihm mit seiner Kunst helfen »durch Gleichnisse und Bil-der hierzu aus dem Zustande, in dem er ist, und den er kennt, sich zu erhe-ben, zu dem beabsichtigten«.58 Er muß sich aber auch selbst anstrengen, um von seinem gegenwärtigen zum neuen Zustand überzugehen, in den er erst dann gelangt, wenn er seinen Gegentrieb überwunden hat. Beim Voll-zug dieses Übergangs sowie bei der Einschätzung seines Erfolgs kann ihm aber niemand helfen, denn beides kann man nur aufgrund einer realen Wahrnehmung der Anschauungen, die nur er vollzieht, beurteilen. Fichte erklärt dazu:

Ob es gelungen ist, oder nicht, aber kann der Lehrer niemals wis-sen: bis etwa der Lehrling ihm durch gelungne Anwendung der Anschauung, durch das Machen eines andern ausser ihr, beweiset, daß er in Besiz derselben gekommen [ist]. (153,21-24)

57 GA II 12, 153,16f. 58 GA II 12, 153,19f.

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Anschließend bietet Fichte eine einzige Maxime an, um diese Anfangs-schwierigkeit der Wissenschaftslehre zu überwinden und in die Reihe der Anschauungen einzutreten. Diese liegt im Imperativ: ›Sei, wie du sollst, und nun siehe hin!‹ Der Gegentrieb kann also nur von einer ihm praktisch höher entgegenwirkenden Macht aufgehoben werden; die Wirkung des sich spontan erhebenden Gegentriebs wird durch das sich Unterwerfen unter ein Sollen besiegt. ›Zu sein, wie man sein soll‹ heißt, sich bemühen, etwas anderes zu werden. Diese Änderung der Wesensart muß wiederum einem Gesetz folgen, das man sich autonom auferlegt. Darin besteht eben ein moralisches Sollen. Wenn man sich diesem Sollen ernsthaft unterwor-fen hat, braucht man nur den dadurch erworbenen neuen inneren Zustand anzuschauen und die geforderte Anschauung des Wissens, der einzige Inhalt der Wissenschaftslehre, ergibt sich von selbst. Zwei Haltungen aber, die tief im gegenwärtigen philosophischen Verständnis verwurzelt sind, schwächen die Argumentation Fichtes und erschweren ein Annehmen des neuen Wissensbegriffs: der herrschende Historizismus und eine falsche Konzeption von Sprache. Zum ersten Punkt: Offenbar ist Fichtes Konzept der Aneignung des Wissens ein ganz anderes als dasjenige, das die Wissenschaft als eine reine Sammlung von äußeren Betrachtungen und ihre Mitteilung nur als deren historische Auf-listung versteht. In der Wissenschaftslehre zählt nur, daß man aufgrund des oben erwähnten Sollens handelt, um sodann die Anschauungen, die aus diesem Handeln entstehen, zu betrachten. Dies ist das einzige, was die Wissenschaftslehre interessiert, während bei dem philosophischen Publi-kum ein ganz anderer Begriff der Philosophie herrscht. Fichte sagt ent-sprechend:

Das grosse Publikum freilich allein muß gegen den Misverstand 1.) daß allenthalben nur Historie, Fakten vorgetragen würden, und alles sich faktisch müsse nachweisen lassen, verwahrt werden. Da-durch wird ja alle Wissenschaft durchaus abgeläugnet, und das Be-wußtseyn auf blosse Wahrnehmung eingeschränkt. (153,31-154,4)

Der zweite Punkt bezieht sich darauf, daß im gegenwärtigen philosophi-schen Verständnis eine Konzeption von Sprache verankert ist, derzufolge Worte nur in einem allgemein verstandenen Sinn zu verwenden seien und ihre Bedeutung nicht in einer metaphorischen Weise erweitert werden dürfe. Ganz im Gegensatz dazu merkt Fichte an, daß gemäß dieser fal-schen Annahme sogar ein alltäglicher Gebrauch von Sprache unmöglich

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sei. Denn auch hier werden die Worte sinnbildlich verwendet, sobald man sich auf etwas anderes als auf die puren sinnlichen Gegebenheiten bezie-hen will. Jedes Wort hat zwar immer eine sinnliche Wurzel, da aber die menschliche Erfahrung die Grenze der reinen Sinnlichkeit ständig über-schreitet, muß man notwendigerweise die Bedeutung der Worte durch Analogien erweitern.59

Alle Sprache ist ursprünglich sinnlich; im niedrigsten Sinne für die Erfahrung des äussern Sinns. Wie der höhere dem Menschen auf-geht, erwächst keine neue Sprache; die alte muß sinnbildlich ge-

braucht werden, d.i. durch ein Bild aus dem äussern Sinne, wird ein nach der Analogie hervorgehendes Bild des innern bezeichnet. Dieser sinnbildliche Gebrauch hat keine Grenzen, als die welche das Denken hat. (154,6-11)

Damit ist Fichte noch nicht zum Kern der Schwierigkeiten der Wissen-schaftslehre vorgedrungen, sondern hat nur so etwas wie zwei falsche Auffassungen geschildert, die zwar einerseits die Zuhörer am Lernprozeß hindern können, anderseits aber auch leicht zu beseitigen sind. Der Grund für den Gegentrieb ist aber noch nicht erfaßt, es konnte bislang lediglich festgestellt werden, was den Gegentrieb rechtfertigt und wodurch er ver-stärkt wird. Worin aber liegt der Grund für einen sich gegen die Wissen-schaftslehre richtenden Trieb? 1.5.3.2. Der Hang des natürlichen Bewußtseins Da es sich in der Wissenschaftslehre darum handelt, etwas zu tun und dann das Ergebnis dieser Tat zu betrachten, kann das Problem nur darin bestehen, was in der Wissenschaftslehre zu tun ist. Es wurde schon deut-lich, daß das Sollen das von Fichte vorgeschriebene Mittel ist, um den Gegentrieb gegen die Wissenschaftslehre aufzuheben. Ein Gegentrieb ist aber, wie das Wort selbst erklärt, nicht etwas Selbständiges, sondern et-was, das im Gegensatz zu einer ihm vorangehenden Tätigkeit entsteht und von ihr unmittelbar hervorgebracht wird. Erst von einer näheren Beschrei-

59 Schon Kant hatte in §. 59 der Kritik der Urteilskraft auf die sinnliche Herkunft der philosophischen Sprache am Beispiel der Kategorien hingewiesen. Fichte hatte bei anderen Gelegenheiten seine Überlegungen über das Sinnbild als Fundament der übersinnlichen Sprache bekannt gemacht, wie etwa in der fünften Rede an die deutsche Nation (1808).

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bung der Aufgabe der Wissenschaftslehre aus kann man also den Grund des von ihr erweckten Gegentriebs untersuchen. Fichte beschreibt nun das Objekt der Wissenschaftslehre wie folgt:

3) Nun hat sie [scil: die Wissenschaftslehre] doch überhaupt das Bewußtseyn, das ursprüngl[ich] Eine allen gemeinsame Bewußt-seyn zum Gegenstande. Was sie darum aufstellt, haben, und besit-

zen nothwendig alle. – Nur unbewußt, als Prämisse, und bestim-mendes, dessen was in ihnen wirklich zum Bewußtseyn kommt. Die W.L. aber erhebt auch dieses zum Bewußtseyn. (154,19-23)

Die Schwierigkeit besteht demnach darin, das, was jeder unbewußt besitzt, nämlich das Bewußtsein selbst, zum Bewußtsein zu erheben. Nun er-scheint diese Erklärung wahrhaft paradox, denn ist es nicht absurd zu denken, daß wir uns gerade des Bewußtseins nicht bewußt sind? Genau hierin aber, also im Glauben, daß die Aufgabe der Wissenschaftslehre paradox sei, verbirgt sich der Grund für den Gegentrieb zur Wissen-schaftslehre. Diesem Glauben aber liegt ihrerseits die falsche Prämisse zugrunde, daß das Bewußtsein, nur weil es faktisch sich selbst immer präsent ist, wenn man sich etwas bewußt ist, auch nicht weiter hinterfrag-bar sei. Dagegen meint Fichte, daß man, obwohl man sich immer des Be-wußt-Seins unmittelbar bewußt ist, trotzdem die Frage stellen könne: Wel-che Form hat das Sich-des-Bewußtseins-bewußt-Sein? Nach Fichte nimmt man nämlich das Bewußtsein gewöhnlich nur als ein verschmolzenes Mannigfaltiges wahr, da das Bewußtsein immer nur als die Begleitung von Etwas vorkomme, dessen man sich bewußt sei. Gerade diese gewöhn-liche Wahrnehmung des Bewußtseins muß aber in der Wissenschaftslehre beseitigt und durch eine neue ersetzt werden, denn: »Dort ist […] ein Mannigfaltiges verschmolzen, zu Einem conkreten Bewußtseyn, welches in der W.L. unterschieden wird«.60 Daraus ergibt sich die zweite Definiti-on von Wissenschaftslehre als »Analyse des Bewußtseyns«.61 Diese Definition aber verschärft zunächst die Schwierigkeiten der Wissenschaftslehre, da sie das gewöhnliche Verständnis von Analyse problematisch macht, wonach eine Analyse nur auf die Beschreibung von etwas angewendet werden kann, das außerhalb des Analysierenden liegt. Gerade dies aber ist beim Bewußtsein nicht der Fall. Wenn die Bewußt-

60 GA II 12, 154,24f. 61 GA II 12, 154,25.

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seinsanalyse mit der Erhebung seiner selbst zum Bewußtsein zusammen-fällt, fallen nämlich auch der Analysierende und das Analysierte zusam-men. Und in der Tat läßt sich das Bewußtsein weder wie eine Uhr ausei-nandernehmen noch wie ein Leichnam sezieren, weder chemisch zerlegen noch rein intellektuell wie ein Begriff analysieren. Wie aber läßt sich Be-wußtsein dennoch analysieren? Fichte fährt fort:

– W.L. Analyse des Bewußtseins. Doch nicht in einem gewissen formalen Sinne. – . a.). Das Objekt gegeben, und bekannt hinge-legt, darin nun unterschieden – Thatsachen. – . b.). Hier nicht, son-dern es aus seinen Gesetzen entstehen lassen. Also eigentl[ich] Synthese. (154,25-28)

Obwohl sich das Bewußtsein immer faktisch präsent ist, ist es kein Ob-jekt, und daher entsteht das Problem, wie es zu analysieren sei. Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, konzentriert sich Fichte nicht auf das Verfahren, sondern auf das Ziel der Untersuchung. Es handelt sich also nicht darum, welcher Verfahrensmethode zu folgen ist, sondern darum, daß diese Methode in der Lage sein muß, dasjenige zu unterscheiden und zu sondern, was gewöhnlich verschmolzen vorkommt. Im Falle des Be-wußtseins erhält man dieses Ergebnis dank eines synthetischen Verfah-rens, d.h. dadurch, daß von uns und unter unseren Augen das Bewußtsein und seine Wirkung rekonstruiert werden. Dafür müssen alle seine Be-standteile anerkannt werden, und zwar eher mit der Absicht, das Bewußt-sein synthetisch zusammenzusetzen, als es analytisch zu zergliedern. Wenn die Anschauung des Ergebnisses dieser Zusammensetzung auch dem gewöhnlichen Begriff von Bewußtsein entspricht, werden wir auch seine konstituierenden Bestandteile kennen. In Hinsicht auf das Bewußt-sein fallen demzufolge Analyse und Synthese zusammen. Es besteht nun eine besondere Schwierigkeit darin, daß das Zusammengesetzte ein voll-kommen neuer Inhalt des Bewußtseins ist und die Analyse somit etwas auseinandernimmt, was normalerweise nicht auseinandergenommen wird. Fichte kann somit den folgenden problematischen Schritt einleiten:

Dies giebt nun der Aufgabe ihre Schwierigkeit. Sondern, was das natürl[iche] Bewußtseyn nicht sondert, welches nicht zu sondern der Mensch von Natur einen Hang hat. So ein widerstreben, sich los reissen: und in der That eine neue Kreatur. (154,28-155,3)

Der Begriff der Wissenschaftslehre und ihre Methode

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Wenn es sich auf sich selbst wendet, kann sich das Bewußtsein nicht un-mittelbar zum Objekt machen. Das Bewußtsein bietet sich selbst nicht als ein objektiver Inhalt dar, dessen es sich bewußt ist; Bewußt-Sein ist ganz eigentlich kein Ding, sondern ein Zustand, der allgemeinste und undiffe-renzierteste Zustand des Wissens, das einfache Sich-etwas-bewußt-Sein. Darum befindet sich im natürlichen Bewußtsein ein Hang dagegen, sich selbst zum Bewußtsein zu erheben, denn es scheint eine überflüssige Ver-komplizierung einer einfachen Sache zu sein: Jeder meint zu wissen, was es heißt, sich etwas bewußt zu sein, und macht sich dabei eine zu einfache und schwer zu ändernde Vorstellung vom Bewußtsein.

Das ist neu, ist wider den natürl[iche] Hang, drum ists schwer. Das ist nun eigentl[ich] die Schwierigkeit der W.L. über die so bitter geklagt wird, über das Haarspalten, über das Verwirren des Ein-fachsten, u.s.f. Dies der Grund, warum wohl einige Resultate pp [scil. anerkannt werden] aber den eigentl[ichen] Gang und die Kunst der W.L. keiner. pp. [scil. kennt.] Doch kann dies alles nichts helfen; dies ist das Wesen der Sache, und wer es nicht kann, der muß sie lassen.* [*Hier gilt die Kunst des Lehrers, und die An-schauungsfähigkeit des Lehrlings.] (155,8-13)

Eine Sonderung, also eine Unterscheidung im Bewußtsein, kann man dagegen nur durch einen ganz neuen Gebrauch des Bewußtseins erreichen. Um diesen neuen Gebrauch des Bewußtseins zu entwickeln, muß man aber den eigenen Hang, die eigene Trägheit überwinden, im gewöhnlichen Bewußtseinsgebrauch zu verharren. Man muß also einen natürlichen Habi-tus beseitigen, der überdies auch dadurch verstärkt wird, daß das Bewußt-sein sich gewöhnlich nur mit Dingen beschäftigt. Das, was im gewöhnli-chen Gebrauch des Bewußtseins fest und unbemerkt ist, zeigt sich, sobald man das Bewußtsein anders verwenden will als als Neigung, in dieser Festigkeit zu verharren, d.h. als der Keim einer Tätigkeit, gegen die neue Tätigkeit des Bewußtseins zu wirken. Hier findet sich nun endlich der Grund für den Gegentrieb. Allein die Formulierung der Aufgabe der Wis-senschaftslehre bringt diesen Hang ans Licht, der nun in der Form eines Gegentriebs sich manifestiert und die spezifische Schwierigkeit der Wis-senschaftslehre ausmacht. Gerade diese Schwierigkeit, meint Fichte, wird von den Verleumdern der Wissenschaftslehre nicht in ihrer Tiefe wahrge-nommen und im Gegenteil einfach ihrer Methode zugeschrieben, die dann als ein ›Haarspalten‹ oder ein ›Verwirren des Einfachsten‹ beschrieben wird. Das geschieht, weil sie sich nicht den Standpunkt der Wissenschafts-

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lehre aneignen können, demzufolge das Bewußtsein eben nur scheinbar das Einfachste, tatsächlich aber etwas Zusammengesetztes ist. Wer aber davon nicht von Anfang an überzeugt ist, dem kann Fichte nichts vermit-teln, denn die ganze Wissenschaftslehre besteht nur darin, eine Analyse dieses Einfachsten durchzuführen, und das setzt eben voraus, daß es über-haupt nicht als einfach, sondern als ein Mannigfaltiges verstanden wird.

Dieses Eine Wissen ist sie denn auch, nach ihrer Vollendung. In dem Aufbauen aber wird diese Einheit erst aus ihren Bestandthei-len zusammengesezt. Inwiefern sie nun hier ein mannigfaltiges, ist sie doch, weil sie auch Eins ist, ein organisches, und artikulirtes

Mannigfaltiges. (155,17-21)

1.5.3.3. Die Schwierigkeit des Gedankengangs Die Wissenschaftslehre bekommt also, als Erhebung des Bewußtseins zum Bewußtsein durch ein analytisch–synthetisches Verfahren, eine neue De-finition als »ursprüngl[iche] Genesis des Einen Wissens«.62 Sie ist eine Genesis, denn das Bewußtsein, das »Eine Wissen« wird wie gesagt durch den Gedankengang der Wissenschaftslehre aus seinen Teilen zusammen-gesetzt, wodurch es sich dann als eine synthetische Einheit von Man-nigfaltigem zu erkennen gibt. Nun kommen aber diese Bestandteile erst-mals durch diesen Erkenntnisprozeß vor, dadurch erst wird der Prozeß der Entstehung des Bewußtseins selbst dargestellt. Die Bestandteile des Be-wußtseins werden insofern nicht als solche in ihm entdeckt, sondern im Laufe der Suche nach der Erklärung aller Bedingungen der Möglichkeit, sich von Etwas bewußt zu sein, schrittweise gefunden. Das, was nun Fich-te Genesis nennt, ist nicht eine historische Rekonstruktion der vermutli-chen Entstehung des Bewußtseins, sondern die Aufzählung aller notwen-digen Funktionen, die als Bedingung des Wirkens des Bewußtseins gelten. Folgendermaßen erklärt Fichte den strengen, sorgfältigen Gedankengang, der diese Genesis ermöglicht und leitet:

Sie [die Wissenschaftslehre] ist eine Genesis nach Gesetzen. Aus A. b. und in dieser Weise des Schliessens, dieser Reihe, und durch-aus nichts anderes, u.s f. Jeder Gedanke, oder Anschauung hat sei-

62 GA II 12, 155,14.

Der Begriff der Wissenschaftslehre und ihre Methode

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ne bestimmte Stelle im Ganzen, an welcher allein er auf diese Wie-

se wahr ist, und evident, und ausserdem nirgends. – bis der Um-kreis sich schließt, und das lezte die erste stillschweigende Voraus-setzung beweist. (155,21-25)

Die Wissenschaftslehre, die an sich »eine einzige Anschauung und ein einziger Gedanke, oder ein einziges, aus Anschauung und Denken […] bestehendes Wissen«63 ist, kann als solche nur am Ende begriffen werden. Hiermit wiederholt Fichte aber nicht nur das schon Gesagte, denn es han-delt sich nicht nur um einen zirkulären Selbstbeweis der Wissenschaftsleh-re. Vielmehr drückt er die Ansicht aus, daß es keine Wissenschaftslehre geben könne ohne ihre einheitliche Anschauung, die mit der Anschauung der Einheitlichkeit des Wissens zusammenfällt. Diese Anschauung erhält man aber erst am Ende des ganzen Gedankengangs, der aber wiederum lang und teilweise sehr verwickelt ist, denn viele seiner Teile leuchten nicht auf den ersten Blick ein. Das hängt unter anderem auch mit der oben erwähnten Spannung zwischen dem üblichen und dem philosophischen Gebrauch der Sprache zusammen. Der philosophische Gebrauch der Wor-te stellt sich dem alltäglichen dadurch entgegen, daß er den Worten per Analogie eine andere Bedeutung zuschreibt. Allerdings ist diese Spannung nicht allein auf sprachlicher Ebene zu lösen, denn die Sprache ist als sol-che nur ein Mittel. Sie kann allein durch eine Reflexion über die zwei Standpunkte, den von Fichte und den der Zuhörer, überwunden werden. Um nämlich den Zuhörern dabei zu helfen, von ihrem Standpunkt zu sei-nem überzugehen, kündigt Fichte an, daß er hie und da das streng deduk-tive Verfahren unterbrechen werde, um durch einen Umweg ein allgemei-nes Bild des Ziels der Ableitung zu entwerfen. Er erklärt:

Diesen strengen organischen Gang im wirkl[ichen] Vortrage zu ge-hen, hat nun seine Schwierigkeiten; deswegen, weil manche einzel-ne Punkte von der gewöhnl[ichen] Ansicht so entfernt liegen, und dem natürl[ichen] Hange sosehr widerstreiten, daß es eine besonde-re Schwierigkeit ist, sie unmittelbar sinnbildlich in der gewöhn-l[ichen] Sprache auszudrüken, dagegen es gerathen ist, bei anderm leichteren den Unterricht anzuknüpfen, und von diesem aus erst das in ihnen erzeugte Licht auf das schwerere fallen zu lassen. – . (155,26-156,5)

63 GA II 12, 155,16f.

Der Begriff der Wissenschaftslehre und ihre Methode

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Nachdem er so verfahren ist und das Ganze noch einmal abgeleitet haben wird, will Fichte einen allgemeinen Überblick anbieten, der den organi-schen Charakter der Wissenschaftslehre wiedergeben soll. Der Vorteil einer solchen Bestimmung ihrer organischen Verfaßtheit besteht darin, daß allein von der Methode her ganz gleichgültig ist, von welchem Teil der Kette ihrer Bestandteile aus man beginnt: Man gehe die ganze Kette durch und werde bemerken, daß von jeden beliebigen Element aus alle anderen leicht erreichbar sind:

Es hat nemlich – und darauf eben gründet sich diese Vergünstigung in der Methode – dieser organische Zusammenhang das erleich-ternde, daß jedes Glied aus jedem andern Gliede eingesehen wird. – Der natürliche Weg freilich A – B. C. aber aus C auch hinwide-rum A und B. und so bis zu Ende aus der Bedingung das Bedingte: aus dem Bedingten aber auch die Bedingung. – Die vollkommne Klarheit ist nur im Ganzen […]. (156,14-20)

Die Erklärung des Wissens fällt in der Wissenschaftslehre mit der Darstel-lung aller seiner Bedingungen der Möglichkeit zusammen, die dann in einer Kette von Bedingung und Bedingtem stehen. Vom genetischen Standpunkt – dem principium essendi – aus ist die Beziehung der Glieder vom Bedingenden zum Bedingten zu sehen, vom gnoseologischen Stand-punkt aus aber – dem principium cognoscendi – wird sie in der umgekehr-ten Richtung benutzt, denn erst vom Bedingten aus kann man zur Kennt-nis der Bedingung aufsteigen und sie eindeutig feststellen. Jedes ange-schaute Glied also, das vom Denken in der Kette der Bedingungen zu-sammengefaßt wird, ist einerseits Bedingung der Entstehung des Zu-stands, den es genetisch bestimmt, andererseits aber auch Bedingung für das Anschauen des Gliedes, aus dem sie genetisch resultiert. Die zweite dieser einleitenden Vorlesungen schließt Fichte nun mit einer Übersicht über das Gesagte, in der er auf die Aufgabe der Wis-senschaftslehre, eine Analyse des Bewußtseins zu bieten, fokussiert. Wor-in verwirklicht sich nun diese Analyse? Die Wissenschaftslehre geht, wie bereits gesehen, von einem Faktum aus, dem Dasein des Wissens bzw. des Bewußtseins. Fichte betrachtet jetzt dieses Faktum selbst als problema-tisch, wenn er bemerkt, daß das Bewußt-Sein zwar das faktische Sich-bewußt-Sein des Bewußtseins einschließt, nicht aber das Sich-bewußt-Sein dieses Faktums selbst. Faktisch ist sich nämlich das Bewußtsein im-mer nur eines Etwas bewußt, ohne sich aber seiner selbst als solchem

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bewußt zu sein. Von einem faktischen Standpunkt aus hat das Bewußtsein seinen Fokus außer sich, wie Fichte es stichwörtlich betrachtet: »1.) Das Bewußtseyn ist – faktisch, und als Faktum; und in diesem Seyn erkent es sich nicht, sondern es ist eben, geht auf in diesem Bewußtseyn seyn, und hat darin seinen focus.«64 Aufgabe der Wissenschaftslehre ist es also, das Bewußtsein wieder auf sich einzustellen, wodurch es sich als solches er-kennen wird. Was aber genau sich erkennen bedeutet, erklärt Fichte durch eine nähere Beschreibung dieses Konzepts: »2) Dasselbe Bewußtseyn erkennt sich: d.h. es sieht sich entstehen«,65 und erklärt damit, daß Sich-Erkennen gleich Sich-entstehen-Sehen sei, nicht ohne in einer Randnote hinzuzufügen: »NB. keinesweges, als ob eine wirkl[iche] faktische Ge-schichte eines solchen Entstehens erzählt würde: ein ganzes Misverständ-niß wäre ja ein Stück, da die Ganzheit behauptet wird.«66 Fichte meint, mit seiner Wissenschaft das Bewußtsein, d.h. die ganze Struktur seines Wir-kens, vollkommen zu beschreiben. Man findet aber seine Bestandteile nicht schon vor, wie bei einer historischen Rekonstruktion, sondern man muß sie nach Gesetzen a priori in ihrer Entstehung betrachten. Und dabei wird man die vollständige Beschreibung des Bewußtseins zur Hand haben. Ganz im Gegensatz dazu kann die Geschichte nie Vollkommenheit for-dern, denn sie kann immer durch neue Daten ergänzt werden. Eine Ge-schichte des Bewußtseins würde nur eine Reihe von Fakten mit einer an-deren Reihe vertauschen, während das Erkennen für Fichte vom Faktum zu seiner Genesis aufsteigt. Fichte sagt dazu:

Faktum ist, daß es ist; es findet sich immer, wenn es sich findet, im Seyn, sondern die genetische Form, die der Konstruktion a priori, ist eben schlechtweg die Form des Erkennens – entstehen aus Man-nigfaltigen Theilen. Das Eine einfache. A. = α. × β. × γ. × δ u.s w. (156,27-30)

Gemäß der Beschreibung »A. = α. × β. × γ. × δ u.s w.« scheint das Be-wußtsein durch diesen Prozeß der Anerkennung in seiner Sukzession von Bestandteilen vollkommen verlorenzugehen. Nun muß man zugeben, daß diese Mannigfaltigkeit für Fichte nur dazu dient, einen Prozeß zur Aner-kennung des Wissens zu ermöglichen, und die Trennung der Glieder dann

64 GA II 12, 156,21-23. 65 GA II 12, 156,24. 66 GA II 12, 156,24-26.

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nur von dem notwendig trennenden Charakter des Erkennens abhängt. Das Erkennen besteht nun aber nicht nur im Trennen, sondern auch im Zu-sammensetzen, und das Zusammensetzen wird auf Grund von Gesetzen geschehen, die ihrerseits a priori begründet sind. Keiner der mannigfalti-gen Bestandteile, die in der Reihe der Selbsterklärung des Bewußtseins vorgekommen sind, hat ein selbständiges Dasein außerhalb des organi-schen Ganzen, zu dessen Genesis er beiträgt. Diese organische Verfaßtheit spiegelt ihrerseits die Einzigartigkeit des Wissens und damit auch die Einheit des Bewußtseins wider, und eben diese Einheit kündigt sich in der gewöhnlichen Idee der Einfachheit des Bewußtseins an. Das Ziel der Wis-senschaftslehre wird dann eine einheitliche Anschauung der Wissen-schaftslehre sein, die von der vollkommenen gegenseitigen Abhängigkeit der Elemente des Gedankengangs gewährleistet wird.

Wo ist nun die Mannigfaltigkeit, die Trennung und die Zusammen-setzung? Offenbar im Erkennen begründet durch die Erkennbarkeit des Wissens. – Alle Theile sind nichts ausser ihrer Vereinigung; zum Einen Wissen: α daher begreiflich, nur mit β. – . β. wiederum begreiflich durch α. Gegensatz. Wechsel – . […] alles zusammen steht doch in Wechselwirkung. – . Es ist nicht unbedeutend, dieses Schema der organischen Vereinigung und gegenseitigen Durch-dringung gleich von forn herein gut zu begreifen. (156,30-157,3)

Damit wird der Begriff des Erkennens eindeutig erklärt; in der Wissen-schaftslehre geht es aber um ein Sich-Erkennen. Das bedeutet, daß am Ende des Gangs eben dasselbe Wissen mittelbar zu finden ist, das schon am Beginn unmittelbar wahrgenommen wurde. Dieses Wissen soll durch seinen Begriff nur erklärt, nicht aber irgendwie geändert werden. Fichte wiederholt: »Erkennt sich: – keineswegs ein andrer. […] Der ursprüng-l[iche] Begriff des Wissens von sich selbst, der schlechtweg ist, wie das Wissen (ohne Begriff) schlechtweg ist.«67 Es hat sich nur folgendes geän-dert, nämlich daß jenes Wissen, das am Beginn als unmittelbar angenom-menes Faktum wahrgenommen wird und das, um die Wissenschaftslehre anfangen zu können, als bloß hypothetisch gesetzt wurde, sich am Ende, dank des ganzen Denkwegs als wahr erweisen wird. Es wird sich zwar wieder als ein Faktum zeigen, nur nicht mehr als ein naiv angenommenes, sondern als ein wahr eingesehenes. Die Wissenschaftslehre als Wissen des

67 GA II 12, 157,5-7.

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Wissens ist jener Teil des Wissens, der seine Wahrheit selbst sichert, denn es begründet seine eigene Evidenz. Zum Schluß der zweiten Vorlesung kann Fichte diesen Gedanken folgendermaßen zusammenfassen:

Das Wissen stellt sich selbst dar, und spricht sich aus: dies ist der Grund aller Evidenz; also Bewahrheitung durch das Faktum. Wie konnte man denn, ausser dem Wissen etwas wissen über das Wissen. – . Es sezt etwas: und sezt, was es selbst ist. – Erscheinung in Grund und Boden ohne alles Seyn. Wahrseyn auf seinen eignen Kredit, nicht selbst seyn. Dies W.Lehre. – (157,7-12)

In der Wissenschaftslehre wird das Wissen sich als wahr erweisen, ohne aus sich selbst herauszukommen, ohne sich also auf ein Sein zu stützen, das jenseits der Erscheinung, die das Wissen selbst ist, liegen soll. Es könnte auch nichts anderes sein, denn sonst würde man nicht verstehen können, wie das Wissen aus sich selbst herausgehen könnte. Das Rätsel des Wissens besteht eben in der Fähigkeit, auf sich selbst reflektieren zu können und durch diese Reflexion seine Wahrheit zu begründen, ohne dabei aus sich selbst herauszugehen. Die folgende dritte und schwierigste der einleitenden Vorlesungen wird von Fichte dazu bestimmt, diese selbstbegründende Bewegung des Wissens vorläufig zu klären. 1.6. Die Selbstbewahrheitung des Wissens Die dritte Vorlesung fängt mit den folgenden Worten an: »Ist die Hebung des scheinbaren Zirkels. – . Dies grade einzusehen, darauf kommt alles an.«68 In einem ersten Punkt wird das unmittelbare Selbstverständnis des Wissens als etwas vom Sein vollkommen Getrenntes präsentiert: »1.). Das Wissen ist eßentialiter in Grund und Boden, Erscheinung, Bild, Schema: das Seyn komt in demselben nicht vor, sondern dies bleibt rein, und lauter in Gott.«69 Hier geht Fichte natürlich viel weiter als bloß dahin, die ge-wöhnliche, unmittelbare Wahrnehmung des Wissens darzustellen. Wie er schon in der ersten Vorlesung behauptet, besteht die unmittelbare Wahr-

68 GA II 12, 157,13f. 69 GA II 12, 157,15f.

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nehmung des Wissens darin zu glauben, daß das Wissen zwar eine Er-scheinung ist, aber eine Erscheinung von Dingen, die außer ihm sind.70 Da er aber schon dort eindeutig äußerte, daß das Wissen in der Wissenschafts-lehre als etwas Selbständiges anzunehmen sei, bleibt nun als möglicher Ort des der Erscheinung entgegengesetzten Seins nur das, was jenseits allen möglichen Wissens liegt, und das ist Gott. Die Selbständigkeit des Wissens betont Fichte im zweiten Punkt, in dem die Freiheit des Sichbildens des Wissens seiner Selbständigkeit entspricht: »2) es [scil. das Wissen] ist überdies ein frei sich bildendes Erscheinen!« Nun kommt die wichtige Frage: ›Inwiefern sind wir berech-tigt zu behaupten, daß ein Wissen ist, daß also das Wissen ein Sein hat?‹ auf. Diese Frage muß sich, da das authentische Sein nur von Gott behaup-tet werden kann, notwendigerweise in eine andere umwandeln, nämlich: ›Gibt es einen zweiten Sinn des Wortes Sein, der dem Wissen angemessen ist?‹ Nur wenn diese Frage positiv beantwortet wird, kann die Erschei-nung, die das Wissen ist, auch für etwas Reales, d.h. für wahr und nicht nur für einen trügerischen Schein angenommen werden. Fichte fragt ent-sprechend:

Kann dem zufolge, nicht in dem Sinne, daß es sey, wie Gott allein ist, welches auf ewig abgeschnitten ist, sondern in einem relativen

Sinne etwas in der Erscheinung real, und wahrhaft genannt wer-den? und was.?. (157,17-20)

Und gleich fügt er die folgende positive Antwort hinzu:

Auf folgende Weise: Da Freiheit ist, ist Spielraum im Bilden; die Freiheit kann bilden, wie sie bilden soll, oder auch nicht so bilden: das erste ist Realität, (nicht Seyn an sich sondern) Wahrheit des Bildes; das zweite Nichtigkeit, und Falschheit. (157,20-23)

Die Realität der Erscheinung ist also gleich der Wahrheit des Bildes, und das Bild ist nur dann nicht trügerisch, wenn die Freiheit, die es zustande gebracht hat, nicht willkürlich vorgegangen ist, sondern gesetzmäßig. Da

70 Siehe oben: «Sie denken die Dinge als das erste, und lassen nun das Wissen von denselben abhängen, dadurch gebildet werden. – . […] – Fragst du mich was im Wissen ist, so verweise ich dich auf das Seyn: es ist in ihm, was in diesem ist. Sie können durchaus keine Wis-

senschaftslehre haben (das wäre die Lehre von nichts). sondern Dingelehren, Ontologie, Cosmo-logie, u.s.w.« (GA II 12, 143,6-11).

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es sich um ein Gesetz für die Freiheit handelt, muß das Erzeugen ihrer Produkte einem selbstgegebenen Gesetz, dem des Sollens, folgen. Das relative Sein, das aus dem Sichbilden der Freiheit entsteht, kann demzu-folge zwei Formen haben: die der Erscheinung, die eine gewisse Realität hat, und die des Scheins, die eigentlich keine Wahrheit hat. Nur scheinbar handelt es sich dabei um zwei Seinsformen, weil man allein der ersten Form ein Sein zuschreiben kann, während die zweite eigentlich dem puren Nichtsein entspricht. Welche Form die Freiheit annimmt, die reale oder die scheinbare, hängt nur von ihr ab, d.h. davon, ob sie sich im Prozeß ihres Werdens von einem Sollen leiten läßt oder nicht. Um diese Überle-gung zu vertiefen und weiter zu erklären, was unter dem Wort ist zu ver-stehen sei, bedient sich Fichte des folgenden Beispiels.

Z.B. Das Wissen ist Erscheinung Gottes, wie derselbe ist schlechthin in sich selbst. Was bedeutet hier das Wort ist – und wie redet der ganze Satz? Antw[ort]. Es ist in demselben von der Freiheit ganz und durchaus abstrahirt; sie ist weggedacht. In der Wirklichkeit ist sie aber absolut nie weg. Drum ist dies ein Satz, der über die absolute Wirklichkeit hinausgeht; und gar kein wirk-

l[iches] sondern nur ein ideales Seyn ausspricht, im blossen Den-ken; welches Verfahren indessen an seinen Ort gestellt bleibe. (157,24-30)

Wenn man nämlich das Wort ist verwendet, denkt man dabei für gewöhn-lich nicht auch an den Prozeß der freien Entstehung des beschriebenen Zustands. Die Freiheit ist im Ist gar nicht miteinbezogen, sondern, wie Fichte sagt, »weggedacht«. Das Ist ist das Zeichen einer schon geschehe-nen Abstraktion von der Freiheit. Das führt aber dazu, daß man dadurch den ganzen freien Prozeß der Entstehung tatsächlich zunächst beseitigt und dann vergessen hat. Will man nun aber die Sache genauer betrachten, so muß man zuerst erkennen, daß die Freiheit zwar »weggedacht« sein kann, sie aber dennoch nie wirklich »weg« ist. Durch diese Abstraktion ist man also nur zu einem idealen, d.h. gedachten Sein gelangt – um die Sa-che als etwas Wirkliches anschauen zu können, muß diesem starren Sein die Freiheit wieder zugeschrieben werden. Die Möglichkeit, einem Sein Freiheit hinzuzufügen, bezeichnet Fichte mit dem Begriff Vermögen:

3.) In der Wirklichkeit muß ich jenem Seyn die Freiheit hinzuthun: – . in dieser Synthesis Vermögen. – Also: ideales Seyn in der

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Wirklichkeit: Vermögen. Vermögen Bild Gottes zu seyn. – (157,30-32)

Damit aber erläutert er gleichzeitig, was er in der vorangegangenen Vorle-sung mit dem Begriff Genesis meinte. Eine Tatsache wird nämlich mit einem Urteil beschrieben, das auf der kopulativen Konjugation ist basiert. Ihre Genesis besteht dann eben darin, diese feste Formulierung dadurch aufzulösen, daß man die freien Handlungen, die notwendig im Entste-hungsprozeß der Tatsache vorkommen, ans Licht bringt. Jede Tatsache soll insofern auf eine Tathandlung zurückgeführt werden.71 Diese Genesis fällt also mit der Darstellung der Bedingungen der Möglichkeit einer ge-wissen Tatsache zusammen, da sie der Annahme folgt, daß eine Tatsache ein Produkt und nicht etwas Ursprüngliches ist. Nun wird im nächsten Punkt das Gesagte weiter auf die Aufgabe der Wissenschaftslehre angewendet, die Genesis des Bewußtseins nachzuvoll-ziehen:

4. Fiat applicatio. Die W.L. stellt Elemente hin α, β, γ, usw. mit realem Anspruch: wies Vermögen: – In dem gewöhnl[ichen] Be-wußtseyn liegen, unsichtbar und unentwikelt die Vermögen α, β, γ, die entwikelt werden sollen. (157,32-158,3)

Die hier dargestellte Position der Wissenschaftslehre, derzufolge das Be-wußtsein aus einer Reihe ›unentwickelter Vermögen‹ besteht, die in sei-nem gewöhnlichen, alltäglichen Gebrauch nicht vorkommen, läßt sich anhand eines knappen historischen Exkurses besser verständlich machen. Wenn das Bewußtsein sich eine Vorstellung von sich selbst macht, besteht diese in einem Substanzbegriff. Das Verfahren der Entstehung eines sol-chen Begriffs kann man folgendermaßen beschreiben: Vom ›Ich bin‹, der unmittelbaren Wahrnehmung des eigenen Daseins, geht man zum Satz ›Ich bin mir meiner bewußt‹ über und daraus wird geschlossen: ›Es gibt

71 Vgl. dazu die Gleichung zwischen Genesis und Tathandlung, die Fichte schon in der Wissenschaftslehre 1804-II aufstellte: „Nun hat die W.=L., von dem ersten Augenblicke ihrer Entstehung an, erklärt, daß es das proton qeudoV der bisherigen Systeme sei, von Tatsachen auszugehen, und in diese das Absolute zu setzen: sie lege zu Grunde, hat sie bezeugt, eine Tat-

handlung, zu deutsch, was ich in diesen Vorträgen mit dem griechischen Worte […] Genesis benannt habe«. J.G. Fichte: Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804 vom 16. April

bis 8. Juni. Gereinigte Fassung. Hg. v. R. Lauth et al. Hamburg 1975 (Philosophische Bibliothek

284), 136,8-15.

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ein Bewußtsein, d.h. ein Bewußtsein ist da‹. Der folgende und letzte Schritt besteht in der Cartesischen Formulierung: ›Eine denkende (bzw. bewußt-seiende) Substanz ist da.‹ Diese Reihe von Vernunftschlüssen führt also dazu, daß man nicht auf die Tätigkeit des Bewußt-Seins achtet, denn durch diese Schlußfolgerung tritt seine Substantialisierung in den Vordergrund. Locke hat, trotz seiner entschiedenen Kritik am Substanzbe-griff, das Bewußtsein weiter unter seinem bloß substantiellen Aspekt be-trachtet, wie seiner Metapher des Schirms, auf dem Bilder in Form von Projektionen aus der Außenwelt zum Vorschein kommen, zu entnehmen ist. Und wenig vermochte dagegen der Versuch einer Korrektur durch Leibniz, der diesem Schirm angeborene Falten zuschrieb; die Idee eines festen Substrats als des Wesentlichen im Bewußtsein blieb dadurch unbe-rührt. Erst Kant setzte, dank seines Konzepts der transzendentalen Apper-zeption und der ihr unterworfenen Kategorienstruktur, dadurch den Grundstein einer Genesis des Bewußtseins, daß er es zu einem Zentrum synthetischer Aktivität, einem synthetisierenden Vermögen machte. Somit erkannte er dem Bewußtsein als idealem Sein eine gewisse Freiheit zu und konnte es insofern in seine bis dahin ›unentwickelte Vermögen‹ auflösen. Aber sein Verfahren konnte er nicht vollkommen rechtfertigen, denn, so Fichte, er selbst habe die Fähigkeit jener Selbstanalyse des Bewußtseins nur schildern können, sei aber nicht dazu in der Lage gewesen, sie zu deduzieren. Demnach bleibe die Reflexion Kants allein durch das, was er in seiner kritischen Philosophie dargestellt hat, unverständlich. Außerdem – so Fichte weiter – verbleibe seine Lehre von Dingen an sich als irrefüh-render dogmatischer Rest stehen, woraus sich als Resultat das Bewußtsein selbst als gespalten ergebe – nämlich in einen für sich selbst ganz durch-sichtigen Teil, der alle Vorstellungen frei begleiten solle, und einen für sich selbst ganz unsichtbaren, aber notwendig vorauszusetzenden Teil, in dem eben diese Vorstellungen, zwar in kategorialer Form, dennoch als von den äußerlichen Objekten bedingt vorkommen sollten. Angesichts dieser Ausgangslage habe Reinholds Elementarphilosophie, indem er den Begriff des Dings an sich unberührt ließ, das Problem eher verschärft als gelöst. Nun setzt sich Fichte gerade mit diesen Autoren auseinander, wenn er sich bezüglich der Genesis des Bewußtseins die folgende Frage stellt: »5.) hat denn nun die W.L. objektive Realität; giebt es in der That

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und Wahrheit solche Vermögen?«72 Diese Frage formuliert erneut das von Kant ungelöste Problem einer Rechtfertigung des Verfahrens seiner Transzendentalphilosophie. Darauf antwortet Fichte zuerst mit dem Hin-weis auf das faktische Ergebnis der gestellten Aufgabe. Ähnlich wie vor-her mit seinem »Sey, wie du sollst, und nun siehe hin«,73 spricht er auch jetzt: »Man könnte sagen: probire es, so wird sichs finden«.74 Dabei geht es hier aber darum, das Verfahren der Wissenschaftslehre eindeutig zu erklären, damit ihr scheinbarer Zirkel aufgehoben wird. Fichte formuliert seine Lösung wie folgt:

Was ist denn das Denken eines Vermögens α, β, γ. selbst? Ich sage, es ist die Vollziehung des Vermögens selbst; und zwar, mit Ueberspringung der Sphäre der Anschauung, sogar in einer höhern Potenz, im blossen Schema: Also das Faktum des Denkens selbst ist der faktische Beweiß des Seyns eines solchen Vermögens; denn es ist die unmittelbare Aeusserung und Vollziehung desselben. (158,6-11)

Man braucht also keine Anschauung als Beweis für die Tatsache, daß es ein Vermögen gibt, denn selbst der Gedanke dieses Vermögens ist eine Leistung eben dieses Vermögens und weist demnach unmittelbar seine Realität nach. Was heißt nun Vollziehung in einer höheren Potenz? Es heißt, daß das Vermögen durch seine besondere Realisierung nicht nur in einem seiner ganz normalen Produkte vorkommt, das dann in einer sinnli-chen Anschauung wahrzunehmen ist. Hierin besteht vielmehr die Vollzie-hung des Vermögens in seiner niedrigen Potenz, wo aber das Vermögen nicht zum Vorschein kommen kann, da es sich in seinem Produkt ganz erschöpft. Wenn aber das Vermögen selbst vorkommt, dann notwendi-gerweise in einem Schema, d.h. in einer begrifflichen Beschreibung, die auch die Regeln für die Bildung aller seiner möglichen Produkte mitein-bezieht. Dieses Schema wird auch angeschaut, nicht aber in einer sinnli-chen, sondern in einer intellektuellen Anschauung. Es handelt sich dabei nämlich nicht um Qualitäten der äußeren Dinge oder um Akzidentien einer Substanz, sondern um Vermögen des Bewußtseins, also das, was dem Wissenschaftler am nächsten ist. Es sind vielmehr Eigenschaften des Wissens, jener, laut Fichte, ursprünglichen

72 GA II 12, 158,3f. 73 GA II 12, 153,29. 74 GA II 12, 158,4f.

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Tätigkeit des Menschen, durch die die Welt überhaupt erst zum Vorschein kommen kann. Ein anderes ist es demnach zu sagen: ›Ein Körper ist aus-gedehnt, also hat er das Vermögen, sich auszudehnen‹, oder: ›Ich sehe, also habe ich ein Vermögen zu sehen.‹ Im ersten Fall nämlich kann man sich auch täuschen, denn das Urteil steht unter den Verdacht – wie etwa schon bei Kant –, daß selbst diese prädizierte Ausdehnung des Körpers vom Wahrnehmenden und nicht vom Körper an sich abhängt. Im zweiten Fall verhält es sich anders, denn der Beweis der Existenz des Vermögens erfolgt unmittelbar durch die Vollendung des Vermögens selbst. Ein Schema vom Sehvermögen zu haben bedeutet, alle Bedingungen der Mög-lichkeit des Wirkens dieses Sehvermögens zu kennen, die die ganze sicht-bare Welt bestimmen, ohne hierdurch die faktische Form oder Farbe ir-gendeines Objekts deduziert oder irgendetwas mit dem Sehvermögen wahrgenommen zu haben. Dennoch muß man vom Faktum des Sehens ausgehen, d.h. mit mindestens einer faktischen persönlichen Erfahrung des Sehens anfangen. Im Falle der Wissenschaftslehre geht es um die Erfahrung des Denkens und seine Fähigkeit, ein wahres Schema des Wissens aufzustel-len, d.h. um seine Bestimmungen als Wissen: ›Ich denke, also habe ich ein Vermögen zu denken. Da ich mir des Inhalts meiner Gedanken bewußt bin, bin ich mir auch bewußt, daß ich ein Vermögen, bewußt zu sein, habe oder, daß ich bin.‹ Durch das Denken kann man also auf die Darstellung des Vermögens schließen und dabei sicher sein, daß das Denken selbst eine Vollziehung des entdeckten Vermögens ist und nicht umgekehrt das Vermögen eine Erfindung des Denkens. Darüber argumentiert Fichte fol-gendermaßen:

Der Verdacht, ob nicht das Denken, aus sich heraus, ein solches projicirend, es machte, war der Grund der Befürchtung eines Zir-kels. Hier sehen wir, daß ganz umgekehrt die Sache selbst das Den-ken macht, und in demselben sich ausspricht: sich unmittelbar dar-stellt: und so ist denn der eigentl[iche] Grund des Zweifels geho-ben. (158,11-14)

Nachdem Fichte so deutlich jeden Zweifel über die Möglichkeit, die Er-scheinung zu begründen, und den Verdacht einer vitiösen Zirkularität im Verfahren der Wissenschaftslehre ausgeräumt hat, wendet er sich der Fra-ge nach der Möglichkeit des Entstehens dieses Verdachts selbst zu: »Wo liegt denn nun da das schwierige. – Wo sizt eigentl[ich] der Nebel, der

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sich bei etwas so unmittelbar klarem vor das Auge legt[?]«75 Mit dieser Frage kehrt er zur Behandlung der Schwierigkeiten der Wissenschaftsleh-re zurück. Eine Antwort gibt er anhand eines Beispiels, das die Sache selbst ist. Dadurch wird der Inhalt vieler künftiger Einsichten der Wissen-schaftslehre im voraus offenbar:

An einem Beispiele: – . Das Wissen erklärt sich für Bild Gottes; unmittelbar durch sein Seyn: sein Seyn ist nemlich nur unter dieser Voraussetzung begreiflich. Im Denken seiner selbst also u lediglich in diesem erklärt es sich dafür; denn nur in diesem erklärt es über-haupt sich, und begreift sich: in der Anschauung begreift es sich nicht, sondern es ist. Es fragt sich, ist dieses Denken wahr, und ob-jektiv gültig. – . Hängt davon ab: konnte es sich so begreifen, ohne es zu seyn? (158,16-22)

Was in diesen wenigen Zeilen vorgestellt wird, ist im Grunde genommen der allgemeine Inhalt der Wissenschaftslehre, der aber erst in den nächsten Vorlesungen erörtert und hier allein als Beispiel dargestellt wird. Dem-nach kommt er notwendigerweise hier noch nicht mit seiner Begründung, sondern in der Form einer reinen Behauptung vor. Fichte hätte auch sagen können: ›Nehmen wir an, daß das Wissen sich für dieses und jenes erklä-ren würde‹, denn man wird erst später erfahren, daß es sich nicht anders verstehen läßt, weil es wirklich »nur unter dieser Voraussetzung begreif-lich« ist. Das bleibt bis jetzt aber eben als eine Voraussetzung stehen, deren Notwendigkeit noch nicht zu beweisen ist. Das heißt, daß es hier nicht um den Inhalt dessen, was er erklärt, geht, sondern um die Sicherung des künftigen Beweisgangs, die aber im Grunde die einzig mögliche Si-cherung des Beweises der Wissenschaftslehre überhaupt ist. Diese Sicherung hängt, so Fichte, damit zusammen, daß das Wis-sen, abgesehen davon, wie es sich im Denken erklärt, sich gerade darin wirklich nur für ein bestimmtes Etwas und nicht für etwas anderes erkläre; da es nur darin und nirgendwo anders von sich wissen kann, muß es nur eben so und überhaupt nicht anders sein. Das Wissen muß insofern so sein, wie es sich im Denken begreift, denn

das denken ist ein Akt der Freiheit, in der Freiheit aber wird das Seyn Vermögen: Vermögen sich so auszusprechen: dieses Vermö-gen zeigt sich nun und thut sich dar im wirkl[ichen] Aussprechen.

75 GA II 12, 158,15f.

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Seyn = Vermögen; so ist denn die Vollziehung des Vermögens der einzige unmittelbare und apodiktische Beweiß des Vermögens. d.i. des Seyns. (158,22-26)

Mit dieser Argumentation können, laut Fichte, nur diejenigen Schwierig-keiten haben, die sich das Sein von Anfang an falsch vorgestellt haben: nicht nämlich als ein Sein der Freiheit, sondern als ein wirkliches Sein. Dieses letzte Sein solle nämlich notwendigerweise mit dem des Vermö-gens zusammenfallen, wobei das erste vom Wissen absolut unabhängig sein solle. Dann aber solle dieses Sein an sich wieder mit dem gedachten Sein verglichen werden, was nur im Denken geschehen könne. Das würde jedoch bedeuten, eben im Denken eine Reflexion zu vollziehen, denn der Gedanke von dem vermuteten Ding an sich könne nur dadurch als solcher und nicht für das Ding an sich erkannt werden. Fichte behauptet nämlich und beendet damit die dritte Vorlesung:

So dies nun jemand nicht einleuchtet, und nicht hinreicht, was muß ein solcher wollen? Ein Seyn will er, das nicht Seyn der Freiheit, so nicht Vermögen, und so eben, da das Wissen in der Freiheit be-steht, nicht Seyn des Wissens sey (ein todtes kaltes starres). Mag er sich so etwas denken. – Nun will er weiter dieses Seyn mit einem Wissen, einem Gedanken vergleichen, und die Uebereinstimmung beider bewiesen haben? Wie will er denn nun diese Vergleichung angestellt, und den Beweiß vollzogen haben: – Ich denke doch, im denken: Er wird drum das Seyn an sich eben im Denken erfassen und da beide Gedanken vergleichen, was eine leichte Operation seyn wird. – . Nein, das sollen wir ihm schenken: die Reflexion: ab-solute Maxime, daß irgendein Denken nicht für Denken, sondern für ein Ding an sich, gelten solle. Dies ist der alte bekannte Scherz, welchen sich zu verbitten, d[ie] W.L. eben da ist. – (158,27-159,5)

1.6.1. Die Abneigung gegen das historische Wissen und jede Autorität überhaupt

Die vierte und gemäß der hier vorgelegten Rekonstruktion letzte einleiten-de Vorlesung der Wissenschaftslehre ist größtenteils der Kritik an der Identitätsphilosophie Schellings gewidmet, der ein punktueller Kommen-tar der ersten zehn Paragraphen der Darstellung meines Systems (1801) vorangeht. Mit diesem Kommentar möchte Fichte »zeigen, wie sie [sc.

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Schellings Darstellung meines Systems] voller Widersprüche und Unsinn wäre«, wie Twesten, ein Hörer der Wissenschaftslehre, in einem Brief vom 10. Februar 1811 referiert.76 Diese kurze Auseinandersetzung mit dem schellingschen System ist aber nicht hauptsächlich von einem inhalt-lichen Interesse begründet. Sie ist vielmehr als Reaktion auf die philoso-phische Schule Schellings gedacht und will zeigen, wie gefährlich der Rekurs auf Autoritäten in der Philosophie ist. Schelling war nämlich in-zwischen zur Hauptfigur einer philosophischen Schule avanciert – was er übrigens selbst immer zurückwies –, und Fichte wollte nachweisen, daß, wie im Falle der Anhänger Schellings, alle diejenigen, die sich unkritisch auf eine Autorität beziehen, notwendigerweise den Irrtümern des Meisters folgen würden, ohne es zu bemerken. Das würde selbstverständlich auch für vermeintliche Fichte-Anhänger gelten, denn die Wissenschaftslehre lasse sich nicht einfach buchstäblich wiederholen, sondern könne nur als lebendiger Denkweg vollzogen werden. Demzufolge lautet das Ergebnis der Kritik:

Entledigen Sie sich drum in Gottes Namen aller Autorität, und alles Glaubens. Wie wenig Sie sich zutrauen mögen, die grossen Meister wissen auch nicht mehr; ja der geringste und bescheidenste unter Ihnen pp. Dies mag; glauben Sie, daß Sie eben nichts haben, und suchen Sie selbst sich eigne Einsichten ruhig zu verschaffen. (163,13-16)

Da diese Kritik den systematischen Aufbau der Wissenschaftslehre nicht betrifft und nur von historischem Interesse ist, wird sie hier nicht weiter berücksichtigt. Interessant ist dennoch, daß Fichte in den ersten zwei Punkten der vierten Vorlesung jede historisch klassifizierende Denkart in der Philosophie verwirft, und zwar aus folgendem Grunde: »Der Irrthum läßt sich classificiren, die Wahrheit ist Eine: Irrthum – eigne Erdichtung. Wahrheit – . Selbstsichaussprechen.«77 Die Denkart, die – so Fichte – die Philosophie mit der Geschichte der philosophischen Systeme verwechsle, sei unphilosophisch und allein ein Spiel mit Worten und Begriffen. Sie bringe also keine Erkenntnis, denn man beschäftige sich nicht mit dem Problem selbst, sondern begnüge

76 Vgl. GA II 12, 160, Anm. 21, sowie J.G. Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitge-nossen. Bd. 4 1806-1812. Hg. v. E. Fuchs. Stuttgart-Bad Cannstadt 1987 (Specula 1,4), 300 (im folgenden zitiert als FiG [Band], [Seite], [Zeile]).

77 GA II 12, 159,25-27.

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sich mit leeren Formeln. Die Denkart sei falsch, weil sie falsch ansetzt, nämlich von den unterschiedlichen Lösungen der Frage her, statt mit ihrer Position und Annahme und der darauffolgenden intellektuellen Anstren-gung, eine eigene Lösung zu finden. Darüber äußert sich Fichte wie folgt:

Welche radikale Verkehrtheit und Verflossenheit: Die Frage selbst hat Interesse, das höchste erste. Wäre sie erst gelöst, sodann pp. [scil. = könnte es für die Geschichte] fort ein Interesse geben. [Diese] Ist aber nicht möglich, ohne [jene Lösung]. (159,18-21)

Diese falsche Denkart hängt mit der zu Beginn des Paragraphen verurteil-ten Neigung zusammen, sich an eine Autorität anzulehnen. Wenn man nämlich nicht durch eigene und selbständige Forschung nach der Wahrheit strebt, kann man nur der von einem anderen geäußerten, vermeintlichen Wahrheit vertrauen und diese dogmatisch als die eigene behaupten. Dage-gen spricht Fichte sich aus und schließt in Erinnerung an den von Kant zitierten Spruch sapere aude mit den Worten:

Doch hier kämpfen wir mit der Autorität. Das haben nun auch be-rühmte, angesehne Männer gesagt. – Ich selbst stelle gar keine Au-torität gegenüber, sondern nur eigne Einsicht. Durch diese Ihre eigne Einsicht nun, wenn Sie nur sich daran setzen wollen, si sape-re audetis, will ich Ihnen nun im kurzen zeigen, was alle berühmte und angesehne Männer in der Welt ohne Ausnahme eines Einzi-gen, im Fache der Philosophie sind, und was überhaupt unser wis-senschaftliches Zeitalter an philosophischem Talent, und Scharf-sinn aufzuwenden habe. und daran zu setzen. (160,1-7)

Dies sind die Worte, die den Weg zur Auseinandersetzung mit der Identi-tätsphilosophie Schellings bahnen. Vielleicht sind diese Worte und die folgende Kritik des schellingschen Systems sogar mehr gegen die Anhän-ger und Wiederholer seiner Philosophie gerichtet als gegen Schelling selbst, da Fichte am Ende dieser Auseinandersetzung notiert, daß Schel-ling es »vielleicht seitdem besser und anders gegründet hat«. Damit näm-lich räumt Fichte ein, daß Schelling, trotz seines »durchaus schlechten Kopf[es]« und obwohl er »ohne Wahrheitsgefühl, ohne Besinnung, ohne dialektische und logische Kunst, – kurz in philosophischer Rüksicht in jeder Betrachtung ein armer Sünder«78 sei, dadurch, daß er sein eigenes

78 GA II 12, 163,4-6.

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System in der ersten Person aufbaute, die Möglichkeit hatte, es wieder in Frage zu stellen oder zu korrigieren. In einer durchgestrichenen Fortset-zung dieses Satzes erklärt Fichte nämlich, Schelling habe es tatsächlich »[z]urückgenommen gegen mich unter 4. Augen«,79 wobei er möglicher-weise auf das letzte Treffen hinweist, das im Mai 1802 zwischen ihm und Schelling stattfand.80 Eine philosophische Position können aber diejenigen nicht zurücknehmen, die sich auf eine Autorität stützen, denn ihnen fehlt eben nicht nur das Wahrheitsgefühl, sondern sogar jede authentische Lie-be zur Wahrheit, die sich nur durch eine persönliche lebendige Suche zeigt.

79 GA II 12, 163, Philol. Note l 80 Darüber berichtete Jean Paul Richter in einem Brief an Jacobi, in dem er erwähnt,

daß die zwei „zornig aus einander« gegangen seien. Vgl. FiG 3, 134.

2. Einleitung durch Spinoza: das Sein Nach der Auseinandersetzung mit dem System Schellings beginnt Fichte seine fünfte Vorlesung mit den Worten: »W.L. selbst. – . Charakteristik, durch Abschnitt und Gegensatz, und so Einführung.«81 Mit der vierten Vorlesung sind die methodischen Prämissen und der allgemeine Begriff der Wissenschaftslehre vollkommen dargestellt worden und Fichte kann die eigentliche Darstellung der Wissenschaftslehre beginnen. Als Einleitung zu seinem eigenen System wählt Fichte Spinozas Ethik, denn: »Es giebt keine bessere als das System des Spinoza: damit ein gemeinschaftl[icher] Standpunkt; sodann ein wesentlicher Gegensatz«82 Die Auseinandersetzung mit Spinoza, ja der fiktive philosophische Dialog mit ihm, wurde in den Berliner Jahren immer intensiver und ausführlicher. Jetzt fungiert der niederländische Philosoph nicht mehr in polemischer Absicht als Platzhalter Schellings, wie es vor allem in den Jahren 1800 bis 1802 so oft der Fall war, vielmehr fühlt sich Fichte nun frei und in der Lage, sich mit seinem ehemaligen Freund auseinanderzusetzen, wie die vierte Vorlesung zeigt. Spinoza wird für sich betrachtet als derjenige, der die authentische Aufgabe der Philosophie formulierte, so wie später Kant

81 GA II 12, 163,17. 82 GA II 12, 163,18f.

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die begrifflichen Mittel dafür anbot, sie zu erfüllen, d.h. die Frage zu be-antworten, wie ein absolutes Sein und die Welt nebeneinanderstehen kön-nen. Fichte übernimmt aus dem ersten Buch der Ethik den Begriff der Substantia als jenen Grundbegriff, den die Wissenschaftslehre an ihrer Spitze braucht und formuliert ihn zu folgendem Satz um:

Satz: in welchem wir übereinstimmen. Das Seyn ist schlechthin Eins, von sich, durch sich, aus sich selbst. Was es ist ist es, wie es ist, durch sich selbst. Es kann drum in ihm kein Zuwachs der Realität entstehen. Alle Wandelbarkeit und Veränderung ist von ihm ausgeschlossen. Es ist nur, und kann durchaus nicht werden. – In ihm ist das Seyn alles, und ausser ihm ist kein Seyn. […] So er [scil. Spinoza], so wir. (163,20-164,3)

Dieser Satz wird die ganze Wissenschaftslehre hindurch als Prüfstein gelten, denn kein anderer darf ihm widersprechen und jeder soll mit ihm in irgendeiner Weise harmonieren können. Darin besteht die Absolutheit der Anfangsvoraussetzung, daß nur das wahr ist und deshalb zum System gehören kann, was entweder unmittelbar mit dieser ersten Voraussetzung vereinbar ist oder ihr nur scheinbar widerspricht. In diesem letzten Falle soll die Perspektive gefunden werden, durch die das widersprüchliche Glied mit der ersten Voraussetzung vereinbar wird. Die Aufforderung, die man mit dem Grundbegriff der Ethica Spinozas übernimmt, besteht darin, die absolute Einheit und Unveränder-lichkeit des Seins in ihrer tiefsten Bedeutung zu fassen. Demzufolge wer-den alle Einsichten abgelehnt, die die Annahme dieser Voraussetzung verhindern, und alle anderen angenommen, die es erlauben, an ihr festzu-halten. Aus diesen Einsichten werden sich neue Einsichten entwickeln, die ihrerseits mit der ersten Voraussetzung unvereinbar scheinen können, was erneut dazu zwingt, die nun erreichte Perspektive zu korrigieren usw., bis alle möglichen Einsichten erschöpft sind, die aus dem formulierten Grundbegriff entstehen können. Daher kommt die Erklärung, die Charak-teristik der Wissenschaftslehre sei es, durch Abschnitt und Gegensatz fort-zugehen: Abschnitte, die die Zuhörer zur Aneignung einer bestimmten Einsicht führen, und Gegensätze, mittels derer das der Einsicht scheinbar Widersprechende anhand der Voraussetzung gerechtfertigt und korrigiert wird. Fichte meint damit die Schwierigkeiten lösen zu können, die bei der Aufgabe auftreten, die faktische Mannigfaltigkeit der Erfahrung auf die Einheit des Prinzips zurückzuführen. Die Erfahrung rechtfertigen heißt

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nicht, die Einheit des Standpunkts zu verwerfen, ganz in Gegenteil heißt es, sie insgesamt auf den Standpunkt, der das Sein als einheitlich betrach-tet, zurückzuführen; es handelt sich insofern um eine systematische reduc-tio ad unum. Gleich nachdem Fichte die volle Übereinstimmung mit Spinoza mit den Worten »so er so wir« ausgesprochen hat, deutet er den funda-mentalen Unterschied zu ihm an: er besteht nicht im Inhalt dieser anfäng-lichen Einsicht, wohl aber in der Art und Weise, sie zu begreifen.

Wir aber sind gewohnt, allenthalben zu reflektiren auf das was wir treiben. Drum Reflexion. Was ist jener Satz? Offenbar ein Gedan-ke, der Begriff des Seyns in welchem es selbst sich ausspricht. (164,4-6)

Wenn man nämlich einen Gedanken wie den vom absoluten Sein vollzo-gen hat und diesen vollständig verinnerlicht hat, muß man der Methode der Wissenschaftslehre entsprechend sofort darüber reflektieren, was man gerade getan hat.83 Fichte nimmt ja die spinozische Idee einer All-Einheit des Seins an, nicht aber als transzendente, sondern als eine transzendenta-le Voraussetzung. Er postuliert nämlich nicht das reale Dasein des absolu-ten Seins, sondern stellt nur das faktische Dasein seines Begriffs fest, wie es in Spinozas Begriff der Substantia vorkommt. Es handelt sich dabei nur um einen Gedanken, der zwar der höchsten Auffassung des Seins ent-spricht, aber in keinem Fall in der Lage ist, über die Realität der absoluten Geschlossenheit des Seins mittelbar oder unmittelbar zu berichten. Durch Spinozas Begriff der Substantia – oder des fichteschen Von-, Durch-, Aus-sich-Seins Gottes – ist weder dieses absolute Sein selbst da, noch wird irgendwie über es berichtet: es wird lediglich ein Begriff hergestellt. Diese Reflexion hat allerdings Spinoza nicht vollzogen, denn er hat dagegen angenommen, daß der Gedanke der absoluten Einheit des Seins seinem Inhalt vollkommen konform ist, ohne über die Bedingungen dieses Ge-dankens selbst zu reflektieren. Aber nur wenn man diese Reflexion voll-zieht, vollzieht man zugleich auch die transzendentale Gedankenbewe-gung, ja die gedankliche Kehre, die allein in die Wissenschaftslehre ein-führt. Durch diese Reflexion wird jedoch das spinozische vorausgesetzte Sein ganz anders erscheinen, denn es wird als ein methodisch vorauszuset-

83 Zur Reflexion als Methode der Wissenschaftslehre vgl. Kapitel Denken, Reflexion,

Zweifel dieser Arbeit.

Einleitung durch Spinoza: das Sein

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zender Begriff anerkannt. Gerade aber die Denkleistung, die zu Spinozas Begriff der Substantia führt, bleibt aus folgenden Gründen grundlegend:

1) Nicht jeder denkt diesen Gedanken [sondern] viele bleiben ste-hen bei dem denken eines relativen, einmal gewordnen, und einmal vergehenden Seyns […]. […] Bei diesen ist das Denken selbst noch im Werden, und es hat sich nicht aus – und bis zu Ende ge-dacht. 2). wo [aber] es sich zu Ende denkt, entsteht dieser Begriff des Seyns; der sich unmittelbar mit absoluter Evidenz ankündigt, und so für seine Wahrheit zeugt. (164,6-14)

Es ist also allererst notwendig, sich mit diesem ›gründlichen‹ Gedanken auseinanderzusetzen, um in die Philosophie eintreten zu können. Ein Ge-danke, den man aber in seiner ganzen Ernsthaftigkeit genommen sogar ›abgründlich‹ nennen könnte, weil durch ihn unser Dasein in Frage ge-stellt wird. Denn wo sich dieses absolute Sein in den Vordergrund drängt, scheint notwendigerweise alles andere und wir selbst verloren zu gehen: Wo nämlich bleibt Platz für die Welt der Mannigfaltigkeit und demnach für das Denken selbst, wenn allein die Alleinheit des absoluten Seins ist?84 Der Lösung dieser Frage widmet Fichte die unmittelbar folgende Vorle-sung. Um die Frage und seine spätere Lösung einzuleiten, merkt Fichte nur noch an, daß dieser Gedanke zwar eine notwendige, jedoch keine hinreichende Voraussetzung für richtiges Philosophieren sei. Man müsse vielmehr über den Begriff hinausgehen und über den hervorgebrachten Gedanken reflektieren, denn die reine Evidenz, mit der der erste Satz »für seine Wahrheit zeugt«, biete nur noch eine faktische Kenntnis an. Man darf sich aber nie mit faktischen Kenntnissen begnügen, ohne auf die Be-dingungen ihrer Möglichkeit zu reflektieren: »Beruhen auf dem Faktum der Evidenz. Dies war Spinozas Fall, und muste es bleiben. […] man kann [aber] und soll in vollendeter Philosophie hinaus gehen über dieses Fak-tum zur Genesis derselben«.85 Erst mit diesem Anspruch auf Genesis tritt man nach Fichte in den wahren Kreis der Philosophie ein. Schließlich deutet er noch an, von welcher Bedeutung der Anspruch auf Genesis für

84 Ähnlich verfährt Fichte schon in der Wissenschaftslehre 1804: »Dieß war eben die Schwierigkeit aller Philosophie, die nicht Dualismus sein wollte, sondern mit dem Suchen nach der Einheit Ernst machte, daß entweder wir zu Grunde gehen mußten, oder Gott. Wir wollten nicht, Gott sollte nicht! Der erste kühne Denker, dem hierüber das Licht aufging, mußte nun wohl begreifen, daß, wenn die Vernichtung einmahl vollzogen werden sollte, wir uns derselben unter-ziehen müssen; dieser Denker war Spinoza […].« (GA II 7, 76,5-16.)

85 GA II 12, 164,16-165,1.

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die Wissenschaftslehre ist und zu welchem Ergebnis die Genesis führen wird:

Das absolute Seyn selbst ist es, das durch sich selbst sich aus-

spricht in diesem Denken. – . So werden wir dieses denken selbst in seiner Reihe ableiten als das lezte (dies gehört zum Zurükkehren der W.L. in sich selbst,) und so denn das gesagte finden. – So zu Ende: am Anfange, wie Sp[inoza] jedem anmuthen die unmittelba-

re Evidenz […]. (165,1-5)

Die Wissenschaftslehre fängt also mit der unmittelbaren Evidenz des spi-nozischen Begriffs vom absoluten Sein an, aber sie muß – so Fichte – die Deduktion der Bedingungen der Möglichkeit dieses Gedankens ableiten, um ihre Aufgabe vollständig zu erfüllen. In der ersten Aussage dieses Zitats: »Das absolute Seyn selbst ist es, das durch sich selbst sich aus-spricht in diesem Denken« steckt eigentlich schon der ganze Inhalt der Wissenschaftslehre, denn in ihr wird eben nichts anderes als das Grund-konzept entfaltet, wonach das Denken – und daher seine Bestimmungen wie z.B. die Begriffe – eine Erscheinung bzw. eine Selbstoffenbarung des einen in sich geschlossenen Seins ist. Jedoch ist dieses Sein bislang nur programmatisch dargestellt worden. Die Wissenschaftslehre besteht eben im weiteren Vollziehen aller Schritte, wodurch sich diese Lösung als not-wendig erweist. Dadurch wird am Ende die Evidenz vermittelt, daß man gerade mit diesem Begriff anfangen mußte. 2.1. Erster Widerspruch: das Sein und sein Begriff. Wie schon in den einleitenden Vorlesungen hinreichend erklärt wurde, führt das Reflektieren notwendig zum Zweifeln. Entsprechend führt auch die Reflexion über den spinozischen Begriff Gottes als absolutes Sein direkt zu einem anscheinend unlösbaren Widerspruch, der im Begriff selbst steckt. Denn der Begriff der absoluten All-Einheit des Seins führt die Existenz eines einzigen Seins mit sich und schreibt nur diesem Sein eine reale Existenz zu. Dem Inhalt des Begriffs zufolge kann nämlich nur Eins sein, nämlich das Sein, und nichts anderes außer ihm. Dagegen rückt aber die Reflexion auf den Begriff auch ein zweites Dasein in den Vorder-grund, nämlich die Existenz dieses Begriffs selbst. Ewas außer dem abso-

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luten Sein muß infolgedessen zweifellos existieren, eben sein Begriff. Fichte argumentiert folgendermaßen:

Ohnerachtet nun gesagt ist: dieses ist alles Seyn, und ausser ihm ist keines: Der Satz, bei aller seiner Evidenz, erscheint als unwahr, denn es findet sich offenbar etwas ausser jenem Seyn. Z.B offenbar der soeben von uns selbst vollzogne, und als Begriff erkannte, Be-griff. (165,7-10)

Es entstehen also aus einem einzigen Gedanken zwei entgegengesetzte Evidenzen: eine erste vorreflexive unmittelbare Evidenz, die auf dem Inhalt des Gedankens beharrt, eine zweite mittels der Reflexion entstande-ne Evidenz, die jene erste für unwahr erklärt. Einen ersten Schritt zur Lösung dieses Gegensatzes macht Fichte, indem er zwischen Form und Inhalt des Seins differenziert. Damit kann er verneinen, daß der Begriff des Seins den Inhalt des Seins enthalten könne, wohl aber eingestehen, daß dieser allein die Form enthalte. Um nämlich auch den Inhalt des Seins wiedergeben zu können, sollte der Begriff mit dem Sein vollkommen zusammenfallen, wobei man ihn aber dann nicht als einen vom Sein unterschiedenen Seinsbegriff verstehen würde. Wenn er aber, wie es hier der Fall ist, eben als Begriff anerkannt werden kann, muß er sich außer dem Sein befinden und daher zwar nicht seinen Inhalt, wohl aber seine Form vermitteln können:

Offenbar ist dieser Begriff ausser ihm, umfassend, und in einer Sphäre einschliessend jenes Seyn, dann ist er ja auch innerlich nicht das Seyn selbst in seinem lebendigen Daseyn, das in ihm behauptet, sondern er enthält nur seine leere Form, sein Bild und Schema. – (165,11-14)

Zur näheren Erklärung dieses Gedankens führt Fichte die Termini Bild und Schema ein, um so die Beziehung von Seinsbegriff und Sein zu cha-rakterisieren. Diese Begriffe beschreiben aber keine Synonyme, sondern deuten die beiden Arten an, wie der Seinsbegriff das Sein wiedergibt. Ein Bild hat eine eher inhaltliche und sinnliche, ein Schema hingegen eine mehr formale und mentale Bedeutung. So kann man auch in der heutigen Sprache mit dem Bild von Etwas nur das Abbild seiner äußeren Form, wie z.B. die Darstellung seiner Gestalt verstehen. Dagegen verwendet man das Wort Schema eher für die abstrakte Beschreibung und Wiedergabe seiner logischen Struktur. Ein Schema kann selbst ein Bild sein, wenn etwas

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Unsichtbares sinnlich wahrnehmbar gemacht wird, wie z.B. die Struktur eines Mechanismus oder der hinter seiner äußeren Gestalt sich abspielende Prozeß eines Organismus. Daß also der Seinsbegriff ein Bild des Seins ist, bedeutet, daß er allein seine äußere Form darstellt. Dieser Begriff hat aber wiederum nur eine schematische Bedeutung, denn alles, was vom Sein in seinem Begriff ans Licht gebracht wird, ist die rein begriffliche Relation zwischen den drei Aspekten, ›von sich‹, ›durch sich‹, ›aus sich‹ zu sein. Es handelt sich also um eine Art Bild, aber ohne visuellen, sondern mit einem nur mentalen Charakter. Trotz dieser Erklärung wird aber der anfängliche Widerspruch noch nicht eliminiert, sondern seine Lösung nur verschoben. Denn Bild und Schema muß jetzt irgendeine Form von Dasein zugesprochen werden, die notwendig außerhalb der in sich geschlossenen Alleinheit des absolu-ten Seins besteht, wie Fichte in den folgenden drei, hintereinander stehen-den Stellen formuliert:

Also ist ausser dem Seyn, wenigstens und zu allererst der Begriff des Seyns, der durchaus nicht das Seyn selbst ist. (165,14f.) Ausser dem Seyn findet drum fürs erste sich sein Begriff (165,20) So finden wir, d[ie] W[issenschafs]L[ehrer] zu allererst und un-mittelbar ein faktisches Seyn am Begriffe des absoluten Seyns. (165,29f.)

Gerade diese faktische Existenz wird aber von dem Sein, wie es in dem eingeführten Begriff vorkommt, überhaupt nicht zugelassen. Spinoza – so Fichte – konnte zu dieser Frage nicht gelangen, weil er nicht auf die Tat-sache reflektierte, daß er die Substanz nur in einem Begriff auffassen und ausdrücken konnte. Dieser Begriff wurde von ihm hypostasiert, ohne zu bemerken, daß gerade diese Hypostasierung nur dank einer an sich unzu-lässigen Verdoppelung der Substanz möglich war. Dabei verlor er aber eben den wesentlichen Charakter der Substanz, Alleinheit zu sein, denn sie wurde zu zwei Substanzen: zum absoluten Sein und zur absoluten Hypostasierung seines Begriffs. Zwar nimmt auch Spinozas Philosophie das Faktum des Denkens als problematisch an – er bringt dies in seiner Lehre von den Attributen der Substanz (Denken und Ausdehnung) zum Ausdruck – doch hält Fichte seine Lösung für inkohärent, da durch sie die Einzigartigkeit des ersten Begriffs in einer bloßen Vervielfältigung des-selben verlorengehe. Bei der Lösung der Frage müsse man laut Fichte der

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anfänglichen Voraussetzung treu bleiben und den daraus sich ergebenden Widerspruch anerkennen, denn erst mit der präzisen Auffassung dieses Widerspruchs könne die Suche nach seiner Lösung beginnen. Anschlie-ßend kann Fichte den folgenden Hauptsatz formulieren:

Hauptsatz. – . Also – es findet sich, ausser dem Seyn, das durchaus als das Eine Seyn ausser welchem kein anderes möglich ist, sich ankün-digt, findet sich denn doch in der That ein zweites Seyn vor. Dieses zweite Faktum widerspricht geradezu dem Begriffe. Dieser Wider-spruch muß gelöst werden: gezeigt werden, wie beides wahr seyn, und beides neben einander bestehen könne. (166,5-9)

3. Fortsetzung mit Kant: die Erscheinung

Der Widerspruch zwischen dem Sein und seinem Begriff erweist sich bei näherer Betrachtung als abhängig vom unscharfen Begriff des Wortes Sein. Hierdurch ergibt sich ein Widerspruch zwischen dem Sein im Begriff und dem Sein des Begriffs. Das Sein des Begriffs stellt sich allein dadurch, daß der Begriff ausgesprochen wird, als ein faktisches Dasein dar; das von ihm angedeutete Sein im Begriff aber negiert jedes Sein außer dem des absoluten Seins, d.h. auch das Sein des Begriffs. Da der erste als ein un-mittelbares, unentbehrliches Faktum nicht nicht sein kann und der zweite wegen seiner Evidenz sein muß, müssen beide zugleich sein können – allerdings können sie nicht auf dieselbe Weise sein. Die erste Aufgabe der Wissenschaftslehre besteht also darin, eine Lösung des Rätsels zu finden, wie Sein und Dasein nebeneinanderstehen können, obwohl sie sich not-wendigerweise gegenseitig ausschließen. In einer Fußnote zum Text der fünften Vorlesung formuliert Fichte die folgende eindrucksvolle Frage: »Wie so Gott und Welt (das faktische Seyn) bei einander möglich. – Nicht wie Gott, dieser [ist] schlechthin pp aber wie sodann die Welt?«86 Für diese Fragestellung läßt Fichte Spinoza als denjenigen Philosophen gelten,

86 GA II 12, 166,29f.

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der einen zentralen Platz in der Geschichte des philosophischen Denkens einnehme, weil er erstmals eindeutig das Problem formuliert habe, das allein die Errichtung einer Philosophie aus einem Stück erlaubt. Eine Fra-ge, die nicht die leibnizsche: ›Warum die Welt und nicht eher das Nichts?‹ ist, sondern die vollkommen andere: ›Wie die Welt, wenn schon Gott?‹ Fichte rekapituliert nun mögliche Lösungen:

Nun scheint es, daß die Lösung auf eine doppelte Weise möglich sey (wird sich bald zeigen, quod non). 1.) entweder man gesteht dem einzelnen faktischen Seyn das Seyn der Form nach zu. 2.) oder man spricht ihm das Seyn der Form nach, wie es vom absolu-ten ausgesagt wird, durchaus und gänzlich ab; wo man denn frei-lich eine andere SeynsForm substituiren muß. Den ersten Weg hat Sp[inoza] eingeschlagen, den zweiten die W.L. durch Kants Be-merkung erleichtert. (167,1-6)

Die erste Lösung, durch Mitteilung dem faktischen Sein dieselbe Form wie dem ursprünglichen Sein zuzusprechen, führt ganz eindeutig zu einer Verdoppelung des Seins; sie würde also den Widerspruch nicht nur nicht lösen, sondern noch verschärfen, denn diese Verdoppelung ist offenbar der ersten Annahme entgegengesetzt. Die einzige Möglichkeit, die Einheit des Seins zu retten, besteht also darin, dem Begriff eine ganz andere Seins-form zuzusprechen, so daß »in dem Faktischen Seyn, durchaus weder ursprüngliches noch mitgetheiltes und abgeleitetes Seyn sey, sondern eben durchaus kein Seyn.«87 Dabei ist Kant, der Fichte das gedankliche Instru-mentarium zur Beantwortung dieser Frage zur Verfügung stellt, genauso wichtig, und zwar dank seiner Idee von Erscheinung, wonach der Begriff vom absoluten Sein, das Dasein, eine Erscheinung des Seins, Gottes sei. Kant selbst hatte sich die korrekte Frage nicht gestellt, da er sich nicht intensiv genug mit dem Anspruch beschäftigt hatte, eine einheitliche Phi-losophie zu formulieren. 3.1. Erscheinung In Kants Grundgedanken der Erscheinung findet Fichte eine Formulie-rung, mit der er der auf den ersten Blick auftretenden Unmöglichkeit ent-

87 GA II 12, 167,27-29.

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geht, die Kopräsenz des Seins und seines Begriffs zu rechtfertigen. Fichte behauptet, hier könne man keinen ausführlicheren Beweis anführen, denn der einzige Beweis bestehe schon in der bereits ausgeführten Reflexion. Für Fichte stellte sich das Problem, eine Denkweise zu finden, in der ein Faktum, d.h. das faktische Denken des Begriffs des Seins, und der Inhalt dieses faktischen Gedankens nebeneinander stehen können, obwohl dieser selbst ausdrücklich die Möglichkeit des Faktums negiert. Die Lö-sung besteht darin, daß zwar kein echtes Sein außer dem Sein, sondern nur eine Erscheinung da ist und diese Erscheinung eben eine Erscheinung des Seins und endlich dieses Sein außer dem Sein nur in der Form des Bildes und Schemas des Seins zu verstehen ist. »Was nun ist es [das Sein außer dem Sein?]« fragt Fichte und antwortet gleich darauf: »Substituire eine andere Form. – . Erscheinung«88 Dies kann Fichte aber nur behaupten, weil er den kantschen Be-griff Erscheinung als mit dem Sein außer dem Sein übereinstimmend de-finiert. Erst dann können ein Sein und ein Sein außer dem Sein nebenein-ander bzw. zugleich gedacht werden, wenn das erste per definitionem nicht das ist, was das zweite ist, obwohl es mit diesem auf irgendeine Weise verwandt sein muß. Die Beziehung zwischen Sein und Erscheinung ist also diejenige, die das Abgebildete in Bezug auf das Bild erklärt und in der dann die Erscheinung ein Bild und Schema des abgebildeten Seins ist. In der Erscheinung, so Fichte, wird die Form des Seins zwar wiederholt, nicht aber in derselben Form, sondern in einer, die zu der ersten in einem absoluten Gegensatz steht. Wenn nämlich die Form des Seins die war, in sich selbst zu beruhen, ist die Form des Bildes des Seins bzw. seiner Er-scheinung, außer sich selbst zu sein. Fichte behauptet:

Das Seyn der Form nach geständig in sich selbst: ganz, gediegen, und gehalten. Die Erscheinung desselben ist dies durchaus nicht, sondern es ist das Seyn, ausser dem Seyn. Es ist durchaus nicht: sondern es erscheint mir in ihm so: als Bild Schema, u s f. Absolu-

ter Gegensatz. (168,6-9)

Hiermit schließt Fichte seine vermutlich fünfte Vorlesung. Er hat seine Zuhörer in die Wissenschaftslehre als Transzendentalphilosophie einge-führt, indem er sich ausgehend von Spinozas Annahme einer Alleinheit des Seins durch die faktische Bemerkung, daß sie notwendigerweise in

88 GA II 12, 168,2f.

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einem Begriff vorkomme, eines kantschen Auswegs bedient, nämlich des Begriffs der Erscheinung. Dadurch gelingt es ihm, die Wahrheit der ersten Annahme trotz ihrer Widersprüchlichkeit zu retten. Diese Annahme aber muß gerettet werden, weil sie zuvor als absolut evident erkannt wurde. Anderseits wird auch die Evidenz des Faktums unmittelbar sichtbar, wenn man sich nur mit der ersten Grundsetzung des Seins beschäftigt. Da es aber keinen Grund gab, die eine Evidenz der anderen vorzuziehen, mußte Fichte eine Lösung finden, die beide Evidenzen ermöglicht und rechtfer-tigt. Damit wurden die Grundbestandteile der Wissenschaftslehre verviel-facht, denn nun hat man es nicht nur mit einem Sein, sondern auch mit seiner Erscheinung zu tun. Im obigen Zitat ist aber auch das Wort mir bemerkenswert. Das ursprünglich angeschaute Sein ist ganz in sich geschlossen und schließt alles außer ihm aus, d.h. auch seinen Begriff selbst und damit jedes ihn denkende Ich. Nun tritt mit der Erscheinung gerade das Ich in den Vorder-grund und dies führt wiederum zu einer notwendigen Verdoppelung der Erscheinung. Der ausführlichen Behandlung dieses Themas werden die folgenden Vorlesungen gewidmet. 3.2. Sicherscheinung Zu Beginn der sechsten Vorlesung wird der Inhalt der fünften Vorlesung zusammengefaßt und damit der im mir angedeutete Schritt weitergeführt:

1). Im ersten Gedanken ist alles Seyn als Eins gesezt, und umfaßt, eines Wandels, und eines Werdens durchaus unfähig. Ein zweites nicht. 2.) Durch den zweiten Gedanken wird ein zweites gesezt, also ein in jenem nicht umfaßtes, welches dem ersten Gedanken, in seinem Anspruche, alles Seyn erfaßt zu haben, widerspricht. – 3.) nun soll dieses zweite Seyn durch das erste begründet seyn: es müste drum ausserhalb jenes ersten Denkens; und durch dasselbe nicht gesezt, noch eine besondere Bestimmung, ein Werden eben, d.h. etwas andres und neues, in ihm gesezt werden, was ein klarer Widerspruch ist. – (168,11-18)

Es wird nun eindeutig erklärt, daß das Problem der Nebeneinanderreihung des Seins und des Begriffs des Seins mit der Rechtfertigung des Werdens

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zusammenfällt.89 Man darf das Werden aber nicht als etwas von Fichte rein faktisch Angenommenes betrachten, das er unberechtigt durch diese Argumentation im Sein begründen würde – sonst würde der Gedanke des Werdens vor dem des Seins kommen und hätte Fichte fälschlicherweise mit dem Sein statt mit dem Werden begonnen. Ganz im Gegenteil: Man kann den Gedanken eines Werdens erst dadurch denken, daß Fichte zu-nächst den Begriff Erscheinung definiert und diesen dann dem Werden gleichsetzt, denn das Werden, ganz abgesehen davon, ob es wirklich da ist und was es tatsächlich ist, kann, da es notwendig vom Sein selbst ausge-schlossen sein muß, nichts anderes als eine Erscheinung sein und wird aus diesem Grund der Erscheinung gleichgesetzt. Daher wird die Duplizität der innerste Charakter der Erscheinung sein. Sie muß, da das Sein einfach ist, während sie diesem entgegengesetzt ist, außer ihm steht, zweifach, also doppelt sein. Mit der Behandlung des Werdens kommt auch die Erklärung der ihm immanenten Duplizität ins Spiel, da das Werden notwendig min-destens zwei unterschiedliche Zustände verbindet.

– . Seyn ist in sich selbst, an sich selbst gebunden, und in sich auf-

gehend, es ist einfach in der Form, und etwas wie Duplicität ist in ihm nicht. Ein ausser sich seyn, und los seyn von sich selbst, giebt es für dasselbe nicht. – . Ganz im Gegentheil ist die Erscheinung, wie Sie es an dem vollzognen Begriffe des absoluten gesehen ha-ben, und noch anschauen können, ein erfassen und umfassen des-selben von aussen her, und ein los seyn von demselben, welches der gerade Gegensatz von dem in sich selbst an sich gebunden seyn des Seyns ist. – Die Erscheinung ist ein Seyn des Seyns ausserhalb dem Seyn desselben. Da aber das Seyn durchaus nicht ausserhalb seiner selbst ist, so ist sie eben nicht das Seyn, sondern die Erschei-nung desselben. – . (168,19-27)

Jetzt, da der Unterschied zwischen dem Sein und seiner Erscheinung ein-deutig dargestellt und der Gedankengang, der zu ihrer notwendigen Ko-präsenz führte, wiederholt worden ist, bereitet Fichte den nächsten Schritt mit den Worten vor: »Das ausser dem absoluten Seyn faktisch wahrge-nommene ist Erscheinung. Wir haben ersehen das Was.«90 Mit dieser

89 Das Werden kam in der fünften Vorlesung nur negiert und als vom Sein ganz aus-geschlossen vor; vgl. GA II 12, 163,24 und 167,24f.

90 GA II 12, 169,21f.

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Feststellung wird nämlich die nächste Frage eingeleitet, die nach dem Wie des Seins der Erscheinung. Fichte erklärt:

Unsere ganze Aufgabe, der Anstoß, ging von dem Satze: daß so et-was ist, eben schlechtweg, ohne daß dadurch ausgemacht war, was es sey, welches wir erst durch Nachdenken gefunden haben. Wo-rauf gründet sich denn nun dieses ist? Offenbar darauf, daß die Er-

scheinung sich selbst unmittelbar erscheint, und daß sie in dieser Sicherscheinung innerlich eben an diese Sich-Erscheinung gebun-den ist, so wie das absolute Seyn in sich selbst an sich gebunden ist. (169,23-28)

Was Fichte an dieser Stelle mit »so etwas« meint, erfordert eine eingehen-dere Erklärung. Das »etwas«, von dem wir sagten, daß es ist, ist eben der Begriff des Seins, denn wenn man sagt: ›das Sein ist‹, hat man eigentlich nur seinen Begriff, nicht aber das Sein selbst dargestellt. Weiter hat sich bereits erschlossen, daß dieses »etwas« eine Erscheinung ist. Also läßt sich nur vom Begriff, sprich von der Erscheinung sagen, daß er bzw. sie ist, die Erscheinung allein lassen sich dem Ist-Sagen unterwerfen. Die Reflexion auf den Gedanken des Seins stellt nur das Ist seiner Erscheinung fest: nicht also das Sein, sondern die Erscheinung ist.91 Was heißt aber, daß eine Erscheinung ist? Wie ist die Erschei-nung, wenn ihrer Seinsform nicht dieselbe Form des Seins zuzuschreiben ist? Die Erscheinung ist nur, insofern sie erscheint; und weiterhin: sie erscheint nur, insofern sie sich erscheint. Also die Erscheinung erscheint sich und ist nur, damit sie sich erscheint: Erscheinung ist gleich Sicher-scheinung. Das Sein beruht also vollkommen in sich, in ihm ist keine Zweiheit. Ganz im Gegenteil besteht die Erscheinung aus der ihr imma-nenten Bewegung des Sicherscheinens, so daß mit dem Terminus Erschei-nung eine Einheit benannt wird, die aber zugleich eine Zweiheit ist. Die Erscheinung ist insofern eine produktive und bildende Einheit zur Zwei-heit und gibt sich so als Werden zu erkennen. Bei der Erscheinung handelt es sich also um eine formale Einheit, denn alles außer dem Sein ist Er-

91 In der Wissenschaftslehre 1807 spricht Fichte, um ganz eindeutig die Seinsform des Seins von der der Erscheinung zu unterscheiden, eher vom Leben als vom Sein. In Bezug auf die Seinsform des Lebens bedient er sich dann des Ausdrucks weset statt ist. »Grammatische Bestimmung, Vita, vivere, esse, essentia. – Das leben ist, weset, aktive und virtualiter: und das ist ist eben als Leben zu denken. ein verbum aktivum, nicht neutrum. – Man kann das Leben eben nur leben.« (GA II 10, 119,4-6).

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scheinung und somit unter diesen einzigen Begriff subsumierbar. Dennoch kann sie nur durch eine unmittelbare und immanente Verdoppelung ihrer selbst da sein. Mit dem Begriff Sicherscheinung faßt Fichte also zugleich die Einheit der Bewegung des Erscheinens und die in ihr miteinbezogene Zweiheit. In diesem Terminus, so wie schon bei Erscheinung, muß man nur den Akzent auf die Tätigkeit, das Werden, das aktive Sichdarstellen legen. Die Erscheinung kann nichts anderes als erscheinen, wobei sie nur sich erscheinen kann. Wie in der Folge der Wissenschaftslehre zu sehen sein wird, liegen hierin die Möglichkeiten, die Mannigfaltigkeit zu recht-fertigen, und die Gründe einer ausführlichen Entfaltung der inneren Struk-tur der Erscheinung: Eine Seinsform, die sowohl auf sich selbst reflektie-ren und dabei sich wahrnehmen als auch sich darstellen, d.h. selbst Objekt einer Wahrnehmung werden kann. Anhand dieser Entfaltung wird die Struktur der Erscheinung als Sicherscheinung mit der des Bewußtseins zusammenfallen. Diese Überlegung über die Sicherscheinung hatte Fichte mit der Frage nach dem Sinn des Ist-Sagens eingeleitet. Seine Absicht war es also auch, das gewöhnliche Verständnis des Wortes ist zu kritisieren. Dieses Wort, das Fundament aller Urteile, fällt nach Fichte mit der Selbstdarstel-lung der Erscheinung zusammen und gründet insofern auf der Sicher-scheinung. Die Erscheinung ist also nur dadurch, daß sie sich erscheint: Erscheinung und Sicherscheinung können nicht gesondert werden, denn die Seinsform der Erscheinung ergibt sich nur in ihrer Sicherscheinung. Das heißt, daß die Erscheinung nur in der Sicherscheinung ist, so daß es ein und dasselbe ist zu sagen: ›Die Erscheinung ist‹ und ›Die Erscheinung erscheint sich‹. Demzufolge aber gilt jedesmal, wenn man sagt: ›Etwas ist‹, nur dasselbe wie: ›Eine Erscheinung ist da‹, und insofern ›Eine Er-scheinung erscheint sich‹. Fichte hierzu:

Das Wort ist, von ihr gebraucht, bedeutet durchaus nichts mehr, als sie [scil. die Erscheinung] erscheint sich; und erscheint sie sich nicht, so ist sie nicht. Ihr Seyn in Grund und Boden, und seiner Wurzel ist nichts anderes, denn SichselbstErscheinung. Keineswe-ges aber bedeutet dies Wort, was es heißt vom absoluten gebraucht: es ist schlechthin in sich selbst, und aufgehend im blossen Seyn,

unabhängig von aller Erscheinung, in sich selbst, oder außer ihm. – . (169,31-170,5)

Die Wichtigkeit dieser Sichtweise vom ist als allein der Erscheinung an-gemessen, d.h. eher dem Werden als dem Sein, unterstreicht Fichte da-

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durch, daß er sie zum Charakteristikum der Transzendentalphilosophie macht:

Dies ist nun der höchstwichtige Satz, auf welchem alle trans-scendentale Einsicht beruht, gegen den sich der natürl[iche] Hang sträubt, und so die Augen gegen die Wahrheit verschließt. Der Er-scheinung erscheint nie etwas anderes, denn die Erscheinung: dies spricht sie aus durch ist, also ein Seyn für die Erscheinung ist nur Erscheinung. Das Seyn ist abgesondert, und verborgen in Gott. Um nun dies im wirkl[ichen] Faktum zu erkennen, müste man die Er-scheinung als Erscheinung fassen. Dazu gehört eine gewisse Er-hebung durch Freiheit, die eben erst durch die W.L. erhalten wird. (170,6-13)

Die Wissenschaftslehre wird dabei als jener Gedankengang beschrieben, der zu allererst zum Verständnis des wahren, echten Sinns des Ist-Sagens führt. Erst dann kann man wirklich mit dem wissenschaftlichen Inhalt an-fangen, denn jedes wissenschaftliche Urteil basiert auf der Kopula. Man muß sich also vollkommen im klaren darüber sein, daß man sich jedes Mal, wenn das Verbum sein in der Form des ist vorkommt, nicht auf das Sein, sondern auf die Erscheinung bezieht. Diese Ansicht steht allerdings nicht jedem zur Verfügung, denn beim ersten, gewöhnlichen Ansatz wird das ist angewendet, gerade um die Wahrnehmungsinhalte als etwas abso-lut geltendes zu erklären. Die Betrachtung der Welt als eine Erscheinung, die sich erst im Prozeß des Sicherscheinens konstituiert, d.h. die Möglich-keit, die Erscheinung als Erscheinung zu erkennen, setzt demnach die Fähigkeit voraus, sich von jenem spontanen, automatischen Ansatz eines ist zu befreien. Die Wissenschaftslehre ist in ihrem Anfang nichts Anderes als die Übung dieses Abstraktionsvermögens, das jeder Mensch besitzt, aber nicht zwangsläufig auch verwenden kann. Fichte möchte nun jeden Zweifel, der aus der irreführenden Knappheit der Sprache und ihrem unre-flektierten gewöhnlichen Gebrauch resultiert, aufheben, indem er weiter erläutert:

In unserm [faktischen] Standpunkte erscheint also eben die Er-scheinung nicht als solche, dieser92 Erscheinung wird ausgespro-

92 Ich weise die von den Herausgebern der Gesamtausgabe vorgeschlagene Korrek-tur der Handschrift zurück, die das handschriftliche »solche, dieser« (vgl. philologische Fußnote f ) zu »solche. Dieser« konjiziert. Ich ziehe die ursprüngliche Formulierung vor und verstehe »dieser« als pronominale Form im Genitiv, also im Sinne von ›deren‹, d.h. ›der Erscheinung‹.

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chen durch ist; und so glaubt man denn auf diesem Standpunkte, unbekannt mit dem wahren Seyn, ein Seyn zu erbliken. – . Hier sehen wir daß, was auch das faktische Bewußtseyn sagen möge, dieses unmöglich ist. (170,13-17)

Mit dieser Erklärung ist das anfangs dargestellte Problem endgültig gelöst. Fichte schlägt nämlich vor, einen Standpunkt anzunehmen, der es erlaubt, den vorher kontradiktorischen Begriff des absoluten Seins korrekt zu in-terpretieren. Diesem Standpunkt zufolge ist es nun möglich, das Neben-einandersein des Seins und des Seinsbegriffs, Gottes und der Welt, zu denken: Der Eine, Gott, beruht in sich selbst, und darin besteht sein Sein, die Zweite, die Erscheinung, erscheint sich und ist dadurch. Das wurde aber bis jetzt nur faktisch gesehen. Ausgehend von dem Daß, d.h. der Tatsache, daß außer dem Sein auch etwas anderes, näm-lich wenigstens der Begriff dieses Seins da ist, wurde ein Was gedacht, das dieses Sein außer dem Sein sein könnte, nämlich eine Erscheinung. Es fehlt aber noch das Wie, also wie etwas geschieht. Erst durch die Erklä-rung des Wie wird Fichte die Beziehung zwischen den Termini Sein und Erscheinung ganz erläutern können. Die Suche nach dem Wie der Er-scheinung bzw. nach der Bedingung der Möglichkeit ihres Sicherschei-nens läßt Fichte zunächst auf das Sein selbst zurückschließen. Über den reinen Inhalt des Begriffs des absoluten Seins oder Gottes kann man aber nichts anderes sagen, als daß es in sich geschlossen und insofern voll-kommen undurchsichtig ist. Dieser Begriff selbst ist aber faktisch da, er ist, außerhalb des Seins als dessen Begriff da. Deshalb konnte man schlie-ßen, daß er eine Erscheinung ist, daß diese eine Erscheinung des Seins ist und schließlich, daß eine Erscheinung des Seins da ist. Kann man nun dank dieses faktischen Daseins etwas über das absolute Sein selbst sagen? Über das Sein selbst, wie es in sich ist, läßt sich dadurch nichts behaupten. Über sein Sichäußern dagegen kann eine Aussage gemacht werden, denn es zeigt sich schon bei der bloßen Wahrnehmung der faktischen Existenz des Seins-Begriffs. Da ein Sein vorausgesetzt wird und das Dasein seines Begriffs betrachtet wird, ist man nach Fichte genötigt zu schließen, daß das Sein sich in seinem Begriff und damit in einer Erscheinung geäußert hat. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß das Sein genötigt ist, sich

Übrigens wurden die Herausgeber durch ihren Eingriff dazu gezwungen, nach dem Wort Erschei-nung noch das Wort »[Erscheinen]« hinzuzufügen, was dank meiner Interpretation des hand-schriftlichen Textes vermeidbar ist.

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zu äußern, gleichwohl aber, daß es sich unzweifelbar geäußert haben muß. Fichte bemerkt:

Muß Gott erscheinen; und erscheint er nothwendig[?] – . Hierüber ist in seinem Begriffe, der von dem blossen innern Seyn redet, durchaus nichts gesagt. Erscheint er? Allerdings, denn die Erschei-nung findet unmittelbar selbst sich vor, und nimmt sich wahr. ist sie denn also? ja sie nimmt sich wahr. (170,29-32)

Folgen wir nochmals der im vorstehenden Zitat implizierten Schlußreihe. Das absolute Sein wurde ursprünglich gedacht. Dann aber ist anzuerken-nen, daß dieses Denken unmittelbar einen Begriff mit sich führt, der not-wendigerweise anders als der des als einzig vorausgesetzten Seins ist und zu diesem in einem Gegensatz steht. Daher hat Fichte gefragt, was es sein könne, und behauptet, man könne mit Kant antworten, es sei Erscheinung. Sie ist, in ihrem Sicherscheinen, das, was ist, das Sein außer dem Sein – das Sein also, das anfangs in dem Begriff gedacht wurde, muß in seinem Begriff, d.h. in seiner Erscheinung erscheinen. Die Erscheinung ist inso-fern nach Fichte Manifestation und Äußerung des Seins, also die Offenba-rung Gottes. Nun kann man aber über den Grund dieser Manifestation Gottes in der Erscheinung, d.h. in seinem Begriff, nichts aussagen, da man sich dafür an die Stelle Gottes setzen müßte, was jenseits der Grenzen unserer möglichen Standpunkte liegt. Daß aber diese Äußerung stattgefunden haben muß, kann man nicht leugnen, da man ihr Ergebnis faktisch wahr-nimmt. Eben darum, weil wir von dieser Wahrnehmung überhaupt nicht abstrahieren können und sie sich in unseren Gedanken offenbar als Er-scheinung des Seins manifestiert hat, kann man schließen, daß das Sein in seiner absoluten Selbständigkeit zur Erscheinung kommt. Fichte geht nun noch einen Schritt weiter, wenn er sagt:

Freilich und da dies faktisch gefunden ist, so folgt, daß, da er er-scheine, er erscheinen müsse, und zufolge seines absoluten Seyns überhaupt, keinesweges etwa zufolge dieser oder jener Eigenschaft erscheinen müsse, denn wenn man das Gegentheil annähme, so würde in Gott ein Seyn, und auch nicht Seyn, ein Wandel, eine Selbstbestimmung zum Uebergange vom Nichterscheinen zum Er-

scheinen angenommen werden müssen, welches dem Grundbegrif-fe widerspricht.** Also gar nicht unmittelbar aus dem Begriffe, sondern aus der Vereinigung des Faktums mit dem Begriffe, folgt die Nothwendigkeit. Da sie [die Erscheinung] ist, muß sie noth-

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wendig seyn, so geht der Schluß, keineswegs sie ist unbedingt nothwendig. (171,1-9)

Fichte meint hier nämlich, daß die Erscheinung nicht ohne Bedingung, sondern vom Sein und als seine Erscheinung bedingt sei. Nicht die er-schienene Erscheinung also, sondern das reine Erscheinen des Seins, d.h. seine Offenbarung, ist unbedingt und deswegen unbedingt, weil das In-sich-geschlossen-Sein, die Selbständigkeit und Absolutheit des Seins kei-ner möglichen Bedingung zu unterwerfen ist, auch nicht der einer Selbst-bestimmung. Zur Unbedingtheit des Seins gehört auch sein Erscheinen, das nämlich kein Übergang vom Nichterscheinen zum Erscheinen sein kann, sondern nur ein ewiges wesensgleiches Erscheinen. Diesen Charak-ter kann man nicht ursprünglich dem Inhalt des Begriffs des Seins ent-nehmen, sondern nur nach der Reflexion auf das faktische Dasein dieses Begriffs anerkennen, denn dieses zwingt anzunehmen, daß das Erscheinen eben das Wesen des Seins sei. Ein Begriff Gottes ist da, dieses Dasein ist Erscheinung, also ist Gott uns faktisch in ihm erschienen und nicht anders. Dieser letzte Schluß erhellt auch die folgende, von Fichte mit zwei Stern-chen eingefügte Fußnote: »Der absolute Grund aller Wahrheit ist hier ein absolutes Faktum: Das absolute erscheint: wer mehr denken will, muß herein ins Faktum: das dermalen lehrts ihn nur verstehen.«93 Nun soll man in einen durch das Faktum der Erscheinung geleite-ten Lernprozeß eintreten. Demzufolge schließt Fichte diese sechste Vorle-sung mit einer Bemerkung, die eine kurze und prägnante Zusammenfas-sung des Verfahrens der Wissenschaftslehre bietet und sie nochmals als Erscheinungsphilosophie oder Phänomenologie präsentiert:

Die W.L. geht, um nur erst ihren Eingang zu gewinnen, aus von einem reinen Begriffe, dem des absoluten Seyns. Will sie sich mit der faktischen Evidenz dieses Begriffes begnügen, was sie freilich nur thun würde, wenn sie überhaupt nicht reflektirte, wie etwa Spi-noza, so scheint sie im reinen Denken Fuß gefaßt zu haben […]. Dies liegen gelassen: Könnte sie nur aus diesem Begriffe die Noth-

wendigkeit der Erscheinung darthun, so ginge ihr Weg eben fort. Das aber kann sie schlechthin nicht. Diese beruht auf der Wahrneh-

mung. Nun abstrahirt sie als Wissenschaft mit Recht davon. Also problematisch: wird nun die Erscheinung nothwendig seyn: hier ist wieder ihr Feld. – Drum bleibt ihr nichts übrig. (171,15-25)

93 GA II 12, 171,30-32.

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Daher erhellt, daß Fichte nun an dem Dasein der Erscheinung als notwen-dig anzunehmendem festhält und aus dessen Behandlung den Rest seines Systems ableiten wird.

4. Grundlage für die Ableitung des Bewußtseins 4.1. Zweiter Widerspruch: die Erscheinung und ihre Sicherscheinung

Mit der sechsten Vorlesung hat Fichte seine Zuhörer in jenen Standpunkt einführen wollen, von dem allein aus die Wissenschaftslehre möglich ist, nämlich in den transzendentalen. Da man die Annahme dieses Stand-punkts durch zwei Schritte erreicht, kann er am Beginn der siebten Vorle-sung noch einmal sein Ergebnis und die zwei Schritte, die dazu geführt haben, wiederholen und zusammenfassen und dadurch zum nächsten Schritt überleiten. Die Erscheinung wurde zunächst als allgemeine Form des Da-seins verstanden, d.h. von all dem, was außer dem Sein da ist. Der erste Schritt bestand also darin, daß die Erscheinung des Seins nirgends sonst als in einer unmittelbaren Anschauung erblickt wurde und sie sich darin mit aller Evidenz als ein Faktum dargestellt haben muß. Dieses Faktum gilt demzufolge als allgemeines Konzept dessen, was außer dem Sein existiert. Fichte drückt dies so aus: »Was ausser dem absoluten Seyn, noch sich vorfindet, ist Erscheinung jenes Seyns. – . Ein solches ist: als Faktum und schlechthin nur als Faktum«.94 Nun bestand der darauf folgende zwei-te Schritt darin, daß nicht nur gesagt wurde: ›Etwas ist außer dem Sein

94 GA II 12, 171,26f.

Grundlage für die Ableitung des Bewußtseins

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da‹, sondern auch: ›Eine Erscheinung ist da‹. Damit wurde zugleich die Annahme formuliert, daß diese Erscheinung, da sie mit dem Begriff des Seins überhaupt zusammenfällt, eine Erscheinung dieses Seins sein muß. Das Faktum der Erscheinung wird damit notwendig als Äußerung des Seins angenommen, und zwar nur infolge ihres faktischen Daseins selbst als Begriff des Seins. Fichte beschreibt diesen Schluß wie folgt:

Was ist das nun, Erscheinung? Es scheint, wer da sagt: das ist Er-scheinung, weiß das schon. Er hat das allgemeine Bild, unter wel-ches er nun subsumirt; und ohne dies ist jener Satz nicht möglich. Woher? offenbar aus einer faktischen Anschauung jenes ausser Gott selbst: Die Erscheinung muß ihm drum unmittelbar als Er-scheinung erschienen seyn: schlechthin in Einem unmittelbaren Blike: und da war die Ueberzeugung fertig. Jezt spricht er [scil: derjenige, dem die Erscheinung als solche einleuchtet] sie nur in Worten und in der Form eines Satzes aus. [Und damit formuliert er die folgende] Voraussetzung: eine sich Darstellung der Erschei-nung schlechthin als solcher in einem Faktum, also in einer An-schauung, wird für die Möglichkeit der W.L. vorausgesezt. Nur Anschauung, nicht Begriff. Sie ist ja nur faktisch. (172,1-9)

Durch den oben vollzogenen Gedankengang, der aus dem Begriff des Seins auf die Gleichsetzung dieses Begriffs mit der Erscheinung und letzt-endlich auf die faktische Anerkennung ihres Sicherscheinens in der Form der Erscheinung schlechthin schloß, ist man im Grunde zur höchsten An-schauung aufgestiegen, d.h. zur Anschauung der Erscheinung schlechthin. Es wurde dadurch kein besonderes Dasein wahrgenommen und es ist in dieser Anschauung kein Inhalt wahrzunehmen: Die Erscheinung selbst hat sich als solche im Denken dargestellt. Fichte fordert dazu auf, diese Selbstdarstellung der Erscheinung in einer unmittelbaren Anschauung zu fassen. Diese Anschauung ist also, wie Fichte eindeutig erklärt, eine abso-lute, d.h. von jedem möglichen Inhalt losgelöste Anschauung. Nicht nur das: Obwohl sie sich nur dank des Denkens manifestiert hat, ist sie auch von diesem Denken selbst unabhängig. Das Denken ist nämlich nur für die Herstellung des Begriffs des Seins zuständig. Daß er dann als Erscheinung anerkannt wird, wird unmittelbar deutlich, d.h. es zeigt sich selbst in einer unmittelbaren Anschauung. Das Denken kann nämlich nur den Wider-spruch zwischen dem absoluten Sein und dem Dasein seines Begriffs dar-stellen, nicht aber seine Lösung, die sich nur dank einer unmittelbaren Intuition – der von Erscheinung – ergibt. In dieser Intuition zeigt sich der

Grundlage für die Ableitung des Bewußtseins

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Charakter der Erscheinung in ihrer absoluten Reinheit. Fichte erklärt das folgendermaßen:

Was ist das für eine Anschauung; läßt sie sich näher charakterisi-ren? Alle Anschauung ist sich Erscheinen der Erscheinung. Die be-sondere Anschauung die Erscheinung einer besondern Erschei-nung, eines Theils der Erscheinung. Hier erscheint die Erscheinung selbst schlechthin als solche, als blosse Erscheinung, und nichts mehr, in ihrer formalen Einheit. Darüber hinaus liegt keine An-schauung mehr, denn zur Anschauung gehört, daß die Erscheinung sich erscheine. Also ist dies die absolute Anschauung. – . Wo sie ist, da ist die Anschauung in sich zu Ende gekommen, und auf ihren höchsten Gipfel gesteigert. (172,10-17)

Dabei wird – und zwar schon in der siebten Vorlesung dieser Darstellung der Wissenschaftslehre – ganz eindeutig erklärt, wo die Grenzen des Wis-sens liegen. Das Wissen kann sich nämlich höchstens zum Wissen von der Erscheinung des Seins, in einer Anschauung davon, erheben, keineswegs aber zum Wissen bzw. zur Anschauung des Seins selbst. Der am Anfang formulierte Begriff des absoluten Seins dient also keineswegs der Kennt-nis des Seins, sondern schließlich der Anschauung der Erscheinung. Diese reine Anschauung der Erscheinung schlechthin ist nun der Höhepunkt des Wissens, das absolute Wissen eben als Erscheinung des absoluten Seins aufgefaßt. Darum kann dieses absolute Wissen auch nur leer sein, denn es ist ein reines Produkt des Intelligierens, ohne daß man auf irgendeinen wahrnehmbaren Inhalt zugreifen könnte: Bei der Auffassung des Erschei-nungscharakters der Erscheinung handelt es sich also um eine intellektuel-le Anschauung. Aber nicht allein die Wahrnehmung fehlt hier, sondern auch der Begriff, unter welchem diese Anschauung zu subsumieren wäre. Denn das Angeschaute, sprich die Erscheinung, ist selbst der allgemeinste Begriff, unter den alles Dasein – dieser aber wiederum unter keinen anderen Be-griff – subsumierbar ist. Da aber gemäß Kant nur der Begriff eine An-schauung sichtbar macht, handelt es sich hier um eine zwar intellektuelle, dennoch blinde Anschauung. Die höchste Einsicht fällt insofern mit der unmittelbaren Feststellung unserer ursprünglichen Blindheit zusammen: Das absolute Licht, das in der Evidenz der Anschauung der Erscheinung schlechthin durchbricht, ist in seinem absoluten Glanz für uns vollkom-men blendend. Mit unserer Blindheit verweist Fichte aber keineswegs auf unser Nicht-sehen-können des Seins oder Gottes selbst, denn dieses bleibt in sich geschlossen jenseits seiner Erscheinung. Der Seinsbegriff war

Grundlage für die Ableitung des Bewußtseins

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nämlich wiederum kein Begreifen des Seins, sondern die Anschauung seiner Erscheinung als dessen Offenbarung. Es handelt sich also vielmehr um das Nichtsehen des puren Lichts Gottes, das zwar als Inhalt einer intel-lektuellen, rein gedanklich erstellten Anschauung – der der Erscheinung schlechthin – faßbar ist, das aber eben wegen seiner intellektuellen Her-kunft nicht von einem sehenden Auge, sondern nur vom blinden Denken einzusehen ist. Der Erscheinung selbst entspricht also laut Fichte auch ein gewisser Grad von Unberührbarkeit. Das Problem, das sich nun dem Wissenschaftslehrer stellt, ist, wie ein Übergang von der Erscheinung zur Erscheinung der Erscheinung, d.h. von der absoluten Anschauung zu den Wahrnehmungen, von der Intuition des Lichts des Seins zum Sehen des Daseienden möglich sei. Ein Satz aus dem obigen Zitat deutet schon auf dieses Thema hin und leitet damit zum nächsten Punkt über. Fichte weist hier nämlich schon auf eine vermutete Teilbarkeit der Erscheinung hin, wenn er von der Möglichkeit »besonderer Erscheinungen«, die als »Teile der Erscheinung« zu verstehen seien, spricht. Das hängt mit der Erklärung der Bedingungen der Möglichkeit der Sicherscheinung zusammen, also des Übergangs von der Anschauung der Erscheinung zu einem Begriff der Erscheinung, unter den man die Wahr-nehmungen und dadurch die ganze Erfahrung subsumieren kann. Dieser Begriff von Erscheinung soll nun konstruiert werden. Nach einem Exkurs über Verfahren und Ziel der Wissenschaftslehre, der im folgenden unbe-rücksichtigt bleiben soll, wendet sich Fichte diesem Problem zu:

Es zeigt sich ein neuer Widerspruch, ganz ähnlich dem obigen. Das ausser Gott ist angeschaut, und dieser Anschauung zufolge begrif-fen, als Erscheinung, eben schlechtweg, in seiner Einheitsform, ohne daß hierin das mindeste zu unterscheiden ist. Bleibe ich in diesem Gedanken stehen, so ist alles gut. Werfe ich mich aber etwa in die Wahrnehmung, so finde ich vor ein sehr mannigfaltiges. (174,22-26)

Nun, und darin besteht die nächste Aufgabe, scheint auch der Erschei-nungs-Begriff, wie schon vorher der Seins-Begriff, in sich widersprüch-lich zu sein. Als solcher ist die in der Anschauung sich ergebende Er-scheinung notwendig einheitlich, weil sie nur als mittels des Begriffs des Einen Seins vorhanden faktisch angeschaut wurde. Dagegen aber soll der Begriff von Erscheinung, unter dem alles, was außer dem Sein da ist, sub-sumiert wird, auch den faktisch mannigfaltigen Wahrnehmungen ange-messen sein.

Grundlage für die Ableitung des Bewußtseins

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Den Begriff des absoluten Seins, sprich das außer Gott stehende Dasein, hat Fichte als Erscheinung begriffen, worin die Art und Weise des Seins, außer seiner selbst zu sein, besteht. Das wurde unmittelbar als Fak-tum, das sich in einer Anschauung ergab, eingesehen. Die Erscheinung kann aber, als Sein außer dem Sein angenommen, nur völlig einheitlich wie das Sein selbst erscheinen. So, wie sie bisher gedacht wurde, kann man keineswegs eine Spaltung in ihr zeigen, denn sie ist nur der vermittel-te Ausdruck eines ganz einheitlichen Seins. Fichte geht weiter:

– allerdings, da es [scil das Mannigfaltige] in der Wahrnehmung ist, [ist es] ausser Gott. Was ist nun dies? Entweder Erscheinung, oder nicht.. Nicht, so ist Widerspruch: also ja: aber jenes ist Eins. wie wird die Einheit ein Mannigfaltiges?* (Widerspruch: das Fak-tum, und die DenkEinheit, freilich selbst auf ein Faktum gegrün-det.) So muß auch die Erscheinung sich in sich selbst spalten, und modificiren lassen; wie Sp[inozas] Gott. (174,26-175,5)

Wenn also die Erscheinung Anschauung ist und umgekehrt die Anschau-ung Erscheinung, und wenn man bedenkt, daß jede faktische Wahrneh-mung als Anschauung bezeichnet werden kann, müssen auch die Wahr-nehmungen Erscheinungen sein. Diese zeigen sich aber als mannigfaltig, woraus sich ein Widerspruch zwischen der faktisch angeschauten Einheit der Erscheinung als Bild des Einen Seins und ihrer ebenso faktisch ange-schauten Mannigfaltigkeit in den vielen wahrgenommenen Bildern ergibt. Die Erscheinung ist gemäß ihrem Begriff Erscheinung, aber auch die mannigfaltigen Wahrnehmungen sind notwendigerweise Erscheinungen: Kann man also in der Erscheinung eine Beziehung zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit finden? Hier rückt gerade das oben angedeutete Problem der Teilbarkeit von Erscheinung in den Vordergrund. Nun muß Fichte aber eindeutig ausschließen, daß bezüglich der Erscheinung das akzeptierbar sei, was man im Hinblick auf das Sein schon ablehnen mußte, nämlich, daß sie sich vervielfältige. Einerseits ist also klar, daß sich der Ort der Vermannigfaltigung nur in der Erscheinung selbst und nirgendwo anders befinden muß; andererseits ist aber auch evident, daß der jetzige Bestimmungszustand der Erscheinung es nicht erlaubt, diesen Trennungspunkt in ihr festzustellen. Der Ort der Spaltung muß also zwar innerhalb der Erscheinung liegen, dort aber erst genauer bestimmt werden:

Sie [scil die Erscheinung] ist schlechtweg der Form nach; wie das innere Seyn und das absolute schlechtweg ist; sie ist drum eben so

Grundlage für die Ableitung des Bewußtseins

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wenig geworden, als das absolute geworden ist. Was das absolute innerlich ist, erscheint in ihr, unmittelbar wie sie ist, so wie im Seyn unmittelbar durch das formale Seyn es ist; es ist drum auch innerhalb ihrer selbst kein Werden, kein Zuwachs der Erschei-nung, so wie im Seyn kein Zuwachs des Seyns ist. – Sie ist schlechthin durch ihr blosses Seyn ganz und vollendet. – In diesem Sinne also ist die Erscheinung kein Ort und Anknüpfungspunkt für eine mögliche Deduktion der W.L. (176,9-17)

Die Annahme, das Werden sei unmittelbar mit der Erscheinung zu identi-fizieren, stellt sich also als ein Irrtum heraus. Besser gesagt: So wie bisher die Erscheinung gedacht wurde, nämlich nur als Erscheinung des Seins, ist in ihr keine Möglichkeit eines Werdens zu finden, denn als reines Bild des Seins muß sie denselben Charakter wie das Sein haben. Von einem Wer-den aber kann man in der Erscheinung, ebenso wie im Sein selbst, keine Spur finden. Wenn aber kein Werden da ist, dann ist auch keine Mannig-faltigkeit durch diesen Begriff der Erscheinung greifbar. Dies stünde aber in einem Widerspruch zu den faktischen Wahrnehmungen des Mannigfal-tigen, die ihrerseits nur Erscheinungen sein können. Es wird also eine tiefere Erörterung des Begriffs der Erscheinung verlangt, um ihn als mög-lichen Ort der Ableitung der Mannigfaltigkeit begreifen zu können. Um dieses Konzept zu verdeutlichen, sei nochmals die Metapher des Lichts bemüht. Daß Licht da ist, wird faktisch einfach dadurch erfah-ren, daß man sieht. Nach dem Modell Fichtes ist aber für das faktische Sehen notwendig weiter vorauszusetzen, daß das Licht die ursprüngliche Erscheinung des Seins ist, so daß es eigentlich in unserem Sehen dieses Jenseits des Lichts ist, das zur Erscheinung kommt. Dies nennen wir Sein und es äußert sich absolut frei, d.h. ohne irgendeinen Grund – aber für uns, die faktisch etwas sehen, notwendig – als das Erscheinende in der Er-scheinung. Nun betrachtet man das Licht als die Erscheinung des absolu-ten Seins schlechthin, als eine Erscheinung, die in einer Anschauung ebenso absolut aufgefaßt wird, und negiert so die Vorstellung, daß und wie dieses Licht teilbar sein könnte. Die Frage, die sich hier stellt, ist demnach: Wenn das Licht nur in dieser ursprünglichen Erscheinungsform da ist, ist seine Unterbrechung dann denkbar? Der Begriff des Lichts allein genommen sagt noch nichts darüber aus, daß auch Schatten oder Farben wahrzunehmen seien, vielmehr würde er das ausschließen. Denn vom Begriff des puren Lichts her ist es unmöglich, Dunkelheit zu begreifen, und sind die Farben, d.h. jeder Inhalt des faktischen Sehens, nur als Schat-ten, also als eine Form der Dunkelheit zu verstehen, so daß man das Sehen ohne eine Unterbrechung der Kontinuität des Lichts durch die Dunkelheit

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nicht erklären kann. Ähnlich wird auch die Erscheinung nicht nur gedacht, sondern tatsächlich wahrgenommen. Mit der Darstellung dieses Problems endet die siebte Vorlesung. 4.1.1. Protestatio facto contraria Fichte eröffnet die achte Vorlesung, indem er sich auf den Begriff der Erscheinung und seine korrekte Betrachtungsweise konzentriert. Gerade auf einem falschen Verständnis von der Erscheinung nämlich beruhen laut Fichte alle Mißverständnisse der Wissenschaftslehre, da der Begriff der Erscheinung für ihn als Hauptbegriff der Transzendentalphilosophie und die Wissenschaftslehre als deren vollkommene systematische Darstellung gälten. Auf das Problem der Mißverständnisse der Wissenschaftslehre hatte Fichte bereits in der vorangegangenen Vorlesung angespielt, als er fragte:

Wo ein Ableitungspunkt. Giebt es einen solchen? / Ist bedeutend. Sie begreifen einzelne Ableitungen, nicht den Einheitspunkt aller. Auch hat dieser in mehrern meiner frühren Darstellungen nicht so recht herausgestellt werden können. Jezt soll [dies geschehen], drum empfiehlt es sich Ihnen. selbst auf die Gefahr hin, daß es als Spitzfindigkeit erscheinen sollte. (175,7-11)

Er beginnt mit der Erläuterung dieser »Spitzfindigkeit« jedoch nicht, ohne vorher zu erklären, worin der Grund für die früheren Mißverständnisse lag: Die Erscheinung sei nämlich als leerer Schein und nicht als ein im absoluten Sein begründetes Dasein interpretiert worden. So habe bei-spielsweise Jacobi die Wissenschaftslehre für nihilistisch erklärt, d.h. für eine Philosophie, die das Dasein und daher die ganze Welt der Erfahrung auf ein inhaltsloses Produkt der Einbildungskraft zurückführe. Gegen diese Interpretation wehrt sich Fichte zunächst, indem er an die Begrün-dung der Erscheinung als Seinsbegriff im absoluten Sein erinnert, und er gibt dann eine mit dieser Annahme kompatible Erläuterung der Struktur des Bewußtseins:

Wir haben die Erscheinung in diesem Sinne, wie sie durchaus kein eignes, und selbstständiges Daseyn hat, sondern lediglich ist eine andere Form des göttl[ichen] Seyns, deutlich aufgestellt […]. Die-ser jezt aufgestellte Begriff derselben, muß uns in der Zukunft nie verschwinden, ausserdem würden wir in den Nihilismus wirklich, und in der That versinken; und eben daß man diesen Begriff nicht

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fest hält, hat diese falsche Ansicht, und Aufnahme der W.L. ver-ursacht. (176,18-25)

Nun geht er zur Behandlung der Frage nach der Möglichkeit einer Spal-tung innerhalb der Erscheinung über. Aus dem vorherigen Zitat hätte man nämlich schließen können, daß der Einheitspunkt aller Ableitung, d.h. der Punkt, an dem die Einheit der Erscheinung sich in die Mannigfaltigkeit der jeweiligen Erscheinungen, sprich Wahrnehmungen spaltet, irgendwo im Erscheinungsbegriff verborgen liegen muß. Die Erscheinung wurde ja bereits bei ihrem Eintritt in die Wissenschaftslehre als Ort des Werdens und als Übergang von der Einheit zur Zweiheit als Gegenpol zur absoluten in sich geschlossenen Einheit des Seins betrachtet. Jetzt wird diese Erklä-rung zwar nicht zurückgenommen, es ist allerdings inzwischen deutlich geworden, daß die Zweiheit im Begriff der Sicherscheinung nur faktisch anerkannt, nicht aber genau angeschaut wurde, da der exakte Ort dieser »lebendigen Einheit zur Zweiheit«95 und die Struktur dieses Übergehens noch nicht erkennbar sind. Dagegen könnte eine übereilte Lösung der Untersuchung nach diesem Ableitungs- bzw. Spaltungspunkt Gefahr laufen, die Erscheinung, wie sie in der intellektuellen Anschauung sich anbietet, nicht nur als die unmittelbare Erscheinung des Seins selbst zu verstehen, sondern zugleich und in derselben Form auch gerade als Ort der Spaltung zu begreifen. Dies ist der Fehler, den Schelling, so Fichte, in seiner Identitätsphilosophie begangen hat, denn der Ort kann überhaupt nicht in diesem ersten, sondern eventuell nur in einem zweiten und vertieften Begriff der Erscheinung liegen:

Das Seyn wird nicht, und in ihm wird nichts. Auch die Erscheinung des Seyns wird nicht, und in ihr wird nichts, sondern sie ist, in Ab-sicht der Realität in ihr, durch ihr blosses formales Seyn vollendet, und geschlossen. (177,4-7)

Auch wenn dieser Begriff der reinen Erscheinung des Seins, wie er bisher angeschaut wurde, nicht dazu beiträgt, die Mannigfaltigkeit zu verstehen, muß man sich dennoch an das bislang Festgestellte halten. Der Begriff der Erscheinung soll als solcher bewahrt werden, gleichwohl muß unsere wirkliche Beziehung zu ihm tiefer als bisher verstanden werden. Der Wis-

95 Ich bediene mich hier einer Redewendung aus der Wissenschaftslehre 1804; vgl. GA II 7, 106,1.

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senschaftslehrer muß demnach über seinen Begriff von Erscheinung wie-der reflektieren, um die unbemerkten und implizierten Bedingungen der Möglichkeit gerade der Anschauung des Seinsbegriffs als Erscheinung verstehen zu können, aus denen sich der Begriff von Erscheinung heraus-kristallisiert hat.

Einen solchen Begriff gewinnen wir von der Erscheinung, wenn wir in der blossen Voraussetzung: das Seyn erscheint: stehen blei-ben. Können wir denn nun in dieser Voraussetzung stehen bleiben, und bleiben wir in der That darin stehen[?] (177,10-12)

›Selbstverständlich nicht‹, muß die Antwort lauten, denn offenbar setzt die Formulierung des Erscheinungsbegriffs nicht nur voraus, daß das Sein erscheint, sondern auch, daß diese Erscheinung jemandem bzw. einer an-deren Erscheinung erscheinen mußte. Wenn jemand nämlich behauptet: ›das Sein erscheint‹ oder ›ein Sein außer dem Sein ist da‹, deutet diese Aussage schon jenseits des reinen Außer-sich-Seins des Seins darauf hin, daß diese Erscheinung ihm erschienen ist. Entsprechend müßte er auch gleich feststellen, daß außer dem Sein nicht nur der Begriff des Seins, sondern auch er selbst da sein muß, dem diese Erscheinung eben erscheint. Wir können also nicht bei der reinen Voraussetzung verharren, daß das Sein erscheint, ohne dabei auch unmittelbar festzustellen, daß diese Seins-erscheinung uns, d.h. wiederum einer Erscheinung erscheint. Die Erschei-nung kann insofern nie von ihrer eigenen Darstellung als Erscheinung, also nicht von ihrer Erscheinung der Erscheinung getrennt werden. In der ursprünglichen Anschauung der Erscheinung ist aber all dies nicht zu finden und, streng genommen, sogar auszuschließen, denn sie wurde nur als Erscheinung des Seins in Form seines Begriffs aufgefaßt. Der Inhalt unseres ursprünglichen Gedankens der Erscheinung zeigt also einen Wi-derspruch in sich, dem Fichte jetzt die Bezeichnung protestatio facto con-traria gibt:

Jene Form des göttlichen Seyns ist mit dem Erscheinen desselben – des Seyns eben – geschlossen, und es liegt in ihr durchaus nichts weiter. Es liegt z.B. durchaus nicht darin, daß diese Erscheinung des Seyns selbst wiederum erscheine; natürlich, da ausser ihr nichts ist, sich selbst. Nun ist dies in dem soeben vollzognen Ge-schäfte unser Fall gewesen: wir haben herabgesehen auf sie, sie ge-dacht, sie ist uns, sie ist sich erschienen. protestatio facto contraria. Was wir dachten, war einfach: die Erscheinung schlechtweg. Was wir waren war doppelt: SichErscheinung der Erscheinung als Er-

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scheinung schlechtweg. Also: die Erscheinung erscheint sich selbst. So war es in dem eben vollzognen Fakto. (177,14-22)

Wenn vorher die Formulierung des Begriffs des absoluten Seins zu der Antinomie führte, daß sein Inhalt seinem faktischen Dasein und umge-kehrt das faktische Dasein des Begriffs der Wahrheit seines Inhalts wider-sprach, so verwickelt jetzt die protestatio facto contraria den Wissen-schaftslehrer selbst in einen lebendigen Widerspruch. Derjenige, der er-klärt, daß eine Erscheinung da sei, stellt sich nämlich als eine lebendige Darstellung des Widerspruchs dar. Denn der Begriff, in dem sich der als Erscheinung anerkannte Seinsbegriff als notwendig einheitliches Sein außerhalb des Seins darstellt, schließt zugleich die Existenz desjenigen aus, der ihn denkt. Der Widerspruch besteht nämlich darin, daß der Wis-senschaftslehrer durch seinen Begriff der Erscheinung, rein als Erschei-nung des absoluten Seins betrachtet, sich selbst als sich existierend den-kende Erscheinung negiert. Das kann aber Fichte nicht akzeptieren, weil dieses zweite Faktum in der Tat da ist und von ihm selbst, sozusagen in Fleisch und Blut, dargestellt wird. Der Begriff der Erscheinung führt also ähnliche Probleme mit sich wie der Begriff des absoluten Seins. Er kann nicht allein da sein, denn, da Fichte ihn als eine Erscheinung vorstellte, gilt er selbst faktisch schon als seine Verdoppelung, d.h. als Erscheinung der Erscheinung. Aus ihm selbst läßt sich aber diese Möglichkeit, die sich schon als eine Wirk-lichkeit faktisch darstellt, nicht denken. Die Protestatio sagt: ›Eine Er-scheinung ist da‹, das Faktum stellt dagegen dar, daß nicht eine einfache Erscheinung da ist, sondern vielmehr eine Erscheinung der Erscheinung als Erscheinung. Nun läßt sich an beiden Begriffen von Sein und Erschei-nung allein durch die Annahme festhalten, daß in der Erscheinung das Sein eigentlich nicht erscheint. Zwar äußert, manifestiert und offenbart sich das Sein in der Erscheinung, doch kommt das Sein in der Erscheinung nie zu seinem wirklichen Erscheinen, denn das, was in der Erscheinung ist und erscheint, ist nichts anderes als die Erscheinung selbst in der Form ihrer Erscheinung. Die Erscheinung ist zwar Erscheinung Gottes und Sein außerhalb des Seins, was aber in der Erscheinung, durch die Erscheinung und eben als Erscheinung erscheint, kann nicht das Sein sein, sondern nur seine Erscheinung selbst. Mit den Worten Fichtes:

Das Seyn erscheint denn in der That nicht. Ist doppelsinnig. – . Es ist das erscheinende: aber nicht das erschienene, nicht das von der Erscheinung abgesonderte, und gleichsam abgestoßne, und abge-

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sezte: kurz was, in beiden Beweißformen eben der Hauptgrund ist, Erscheinung und Seyn treten nicht aus einander sondern ver-schmelz[en].. (178,2-6)

Kehren wir zurück zum Verständnis des Worts Erscheinung, das wie jede Nominalisierung eines Verbums zweideutig ist. Es deutet nämlich auf die Tätigkeit des Verbums erscheinen hin, verweist aber zugleich auch auf das Resultat dieser Tätigkeit, sprich auf das Erschienensein. Erscheinung heißt also so viel wie: erscheinendes Erschienenes. Die Erscheinung braucht einerseits ein Resultat des Erscheinens, um wirklich zu erscheinen, ande-rerseits aber ist dieses Resultat selbst auch weiter von allein erscheinend, so daß die Erscheinung ein erschienenes Erscheinendes und zugleich ein erscheinendes Erschienenes ist. Erscheinung ist also kein einfacher oder zweifacher, sondern ein dreifacher Terminus, denn mit ihm sind gleichzei-tig, nebeneinander und ineinander das Erscheinen (des Seins), das Er-schienensein (der Erscheinung) und ihr synthetisches/trennendes Glied gesetzt. Dieses Mittelglied aber ist im Erscheinungsbegriff nicht unmittel-bar zu finden, und auch der Trennungspunkt zwischen dem erscheinenden Sein und der erschienenen Erscheinung kann noch nicht gezeigt werden. Auf diese Weise macht Fichte auch deutlich, inwiefern der Er-scheinungsbegriff nicht nihilistisch ist: Die Erscheinung kann nämlich aufgrund ihrer ursprünglichen Verschmolzenheit mit dem in ihr erschei-nenden Sein keinesfalls als ein reiner, leerer, seinsloser Schein genommen werden. In ihrem Erscheinen trägt sie immer das sich offenbarende Sein weiter, dessen Erscheinung sie eben ist. Demzufolge kann man zu Recht sagen, daß die Erscheinung ist, denn in ihr erscheint das Sein tatsächlich, insofern es sich als Sein selbst äußert: nur aber als das Erscheinende in der Erscheinung und durch sie, nicht als das Erschienene der Erscheinung.

Im ersten Beweise wird wieder vorausgesezt: es soll das Seyn als erschienenes abgesezt werden: im zweiten: es sollen eben beide ge-sondert werden: also ein Zirkel – und so bleibt es eben faktisch. Kurz Faktum. In dieser eignen und selbstständigen Form der Ort der Deduktion[.*] [* Wird in der Zukunft gebraucht werden.] (178,6-9)

Also wird man, wenn eine Erscheinung wahrgenommen wird und diese Wahrnehmung im Urteil ›eine Erscheinung ist da‹ wirklich zum Ausdruck gekommen ist, als wesentlichen Charakter dieser Erscheinung nur die Erscheinung selbst und nicht das Sein erhalten. Eben als erscheinendes Sein aber ist die Erscheinung mit dem Sein verschmolzen und insofern

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gegen jede nihilistische Interpretation ihres Begriffs gesichert. Zwischen der Erscheinung als erscheinendem Sein und als erschienener Erscheinung besteht also eine Zusammengehörigkeit, die das Sein der Welt vor allen entwertenden Interpretationen sichert. 4.1.2. Genesis des Erscheinungsbegriffs Die oben erwähnte Rechtfertigung der Erscheinung vollzieht sich folgen-dermaßen: Fichte fordert dazu auf, über das Faktum der Erscheinung und darüber, wie wir uns auf dieses Faktum beziehen, zu reflektieren. Daß die Erscheinung eine zweite Form des Seins ist, genügt aber nicht, um die ganze Komplexität der Erscheinungsstruktur zu erklären, denn in dieser Beschreibung fehlt noch der Grund ihres Erscheinens. In dem Erschei-nungsbegriff ist nämlich das Sicherscheinen der Erscheinung nicht unmit-telbar miteinbezogen. Allein das Beruhen der Erscheinung auf sich selbst als Erscheinung des Seins genügt nämlich nicht, um auch ihre Tätigkeit zu erklären, die sich in ihrem Erscheinen verwirklicht und äußert. Die Er-scheinung muß dagegen ein eigenes Leben haben, wodurch sie tatsächlich zur Erscheinung kommt. Die Genesis ihres Begriffs wird dementspre-chend ihrer schematischen Existenz ein selbständiges schematisierendes Leben zuweisen. Eben das bedeutet Faktum, ein Zustand, der die Bedin-gung seiner Möglichkeit und damit sein Zustandekommen, d.h. seine ge-netische Struktur, nicht zeigt. In der Wissenschaftslehre soll aber jedes Faktum auf seine Genesis zurückgeführt werden, die durch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Faktums rekonstruiert wird. Das Leben der Erscheinung muß einerseits auf dem Sein gegrün-det sein, andererseits aber über diesen bloßen Seinszustand hinausgehen. Nur unter dieser Voraussetzung, die aus der kohärenten Reflexion über das Faktum des Sicherscheinens bzw. des Uns-Erscheinens hervorgeht, ist es möglich, sich nicht in der reinen Anschauung der Erscheinung zu ver-lieren, sondern auch von einem Begriff der Erscheinung zu reden und daher ebenfalls von besonderen Erscheinungen, d.h. von besonderen An-schauungen und Wahrnehmungen.

Was enthält dieses Faktum, und bringt es neues mit. – Die Form des Absoluten geht bis zum erscheinen, nicht bis zum sich erschei-nen. In jenem ersten ist das absolute das Erscheinende; im leztern nicht mehr dieses, sondern das Erscheinen ist das erscheinende. Die Erscheinung erhält ein selbstständiges Seyn. In diesem ihrem

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selbstständigen, und eigenthümlichen Seyn laßt uns sie nun ergrei-fen. […] Also – zufolge des Faktum ist die Erscheinung in sich selbst absolut reale Schöpferkraft eines neuen, durchaus aus Nichts, ein eigenes schöpferisches Leben. Der Beweiß beruht da-rauf, daß es dies nicht durch das absolute ist, indem dieses nur bis zum Erscheinen dieses, keinesweges aber bis zum Erscheinen der Erscheinung selbst geht. – (178,10-24)

Demzufolge muß man schließen, daß sich das Sein zu einer Erscheinung und sich diese Erscheinung wiederum zu einer Erscheinung der Erschei-nung bestimmen mußte. Diese zweite Bestimmung, die wir erst nach der Feststellung des faktischen Sicherscheinens der Erscheinung in uns selbst ableiten können, kann man aber nicht dem Faktum als solchem entneh-men, denn dieses stellt den Prozeß als schon vollzogen dar, ohne auf den Prozeß verweisen zu können. Die einzige mögliche Voraussetzung, dank derer das Faktum der Sicherscheinung erklärbar ist, ist eine der Erschei-nung innewohnende Kraft, die sie zu ihrem Sicherscheinen führt und da-her als genetische Struktur einer Erscheinung der Erscheinung gilt. Durch dieses reflektierende Verfahren, das nach der Genesis des Faktums der Sicherscheinung fragt, kommt Fichte also zum Konzept vom schöpferi-schen Leben, das er ausschließlich der Erscheinung zuschreibt. Der nächste Schritt besteht darin, sich gleich eine weitere reflek-tierende Frage über das eigene Verfahren zu stellen: Wie wurde diese Genesis nachvollzogen? Man sei, so Fichte, allein den Gesetzen des Den-kens gefolgt. Um zu entdecken, was sich im Faktum nicht unmittelbar zeigt, wendet er nur rückschließend das Gesetz des Grundes an: Er fragt sich nämlich, was der Grund für das Faktum der Erscheinung sei, muß zunächst seinen reinen Seinscharakter als möglichen Grund ausschließen und wird dann dazu geführt, eine schöpferische Kraft anzunehmen, die der Erscheinung innewohnt. Fichte schließt:

Diese oben behauptete Schöpferkraft nemlich liegt keinesweges in dem Faktum selbst […]. In demselben liegt die Erscheinung der Erscheinung schon wirklich vor, und ist ihr faktisch gegeben. […] Wir aber haben, über dieses Faktum hinausgehend, gefragt: wie kommt es nun zu diesem, durch den vorhergehenden Begriff durchaus nicht erklärten Vorliegen, welches ist sein Grund? und haben darauf antworten müssen: die absolute Kraft der Erschei-nung sich selbst ihr selbst vorzulegen: wir sind drum durch Den-

ken, nach dem Gesetze des Grundes, heraus gegangen über das Faktum. (178,25-179,1)

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Erst nachdem Fichte diese Gedankenkette zusammengesetzt und sich aus ihr unmittelbar und intuitiv ein Schluß ergeben hat, reflektiert er über dieses Verfahren, das die Unentbehrlichkeit der Schöpferkraft feststellen ließ. Die Gewißheit des Schlusses hängt nun aber nicht damit zusammen, daß er faktisch gedacht wurde, sondern sie resultiert daraus, daß er eine Folge der Gesetzmäßigkeit des Denkens ist. Das gesetzmäßige Denken erhebt uns also über die Faktizität und führt uns mit Sicherheit zur Gene-sis, indem es die Bedingungen der Möglichkeit eines Faktums enthüllt. Im Falle des Faktums des Sicherscheinens der Erscheinung besteht diese Bedingung in einer selbständigen schöpferischen Kraft der Erscheinung. Fichte kann also schließen, daß die Erscheinung wirklich auch Prinzip ihrer Sicherscheinung sein muß. Mit dieser grundlegenden Feststellung beendet er die achte Vorlesung.

Dies sollen wir wissen. Diesem unserm Denken schreiben wir nun eine reale Gültigkeit zu; wir nehmen nemlich an, daß eine solche absolute innere Schöpferkraft der Erscheinung in der That ausser Gott da sey, unabhängig von unserm jezt vollzognen denken, und wenn wir es auch nie gedacht hätten […]. Resultat: In der Erscheinung, die da ist das absolute Erscheinen des Seyn, schlechtweg dadurch, daß es selbst ist, und wie es selbst ist in sich selbst, ist noch über dies ein eigenthümliches absolutes Leben, zufolge des sie sich selbst erscheint. Sie ist in sich selbst; und innerhalb ihres ursprünglichen Seyns Princip schlechtweg. (179,1-12)

4.1.3. Die Freiheit der Erscheinung In Übereinstimmung mit seiner anfänglicher Erklärung, ein System dürfe nicht mit einem Prinzip begonnen werden, stellt Fichte an den Anfang seines Systems nicht ein Prinzip, sondern die Formulierung eines Grund-begriffs, dem des absoluten Seins. Das Prinzip seiner Ableitung wird erst jetzt innerhalb der Erscheinung ersichtlich. Nicht also das Sein ist das Prinzip, nicht Gott, sondern vielmehr seine Erscheinung, die sich als Er-gebnis der folgenden beiden, freien Bestimmungen dargestellt.

1) Die Erscheinung ist das Ergebnis der freien Selbstbestimmung des Seins. Diese hat Fichte aufgrund der Feststellung seiner Voll-ziehung als notwendige Äußerung Gottes betrachtet, sie ist aber andererseits anzusehen als Ergebnis der absoluten Freiheit Gottes. Man könnte diesem Gedanken auch folgendermaßen folgen: Auf-

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grund seiner absoluten Freiheit kann Gott auch zu einer solchen Selbstbestimmung kommen, die es ihm erlaubte, sich in einem Phänomen zu äußern; da uns aber ein Phänomen zweifellos tat-sächlich erschienen ist, muß Gott diese Möglichkeit verwirklicht haben, d.h. sich in ihm geäußert haben. 2) Nun aber, im Bemühen, die Erscheinung als Prinzip zu fassen, muß festgestellt werden: Es ist das Ergebnis der freien Selbstbe-stimmung des Wissenschaftslehrers, nach der Faktizität der Er-scheinung zu fragen. Dafür muß er sich zunächst für frei gegenüber der Erscheinung halten, sodann aber selbst diese Freiheit dem Ge-dankengesetz unterwerfen, nach dem Grund zu fragen. Das Ge-dankengesetz, d.h. die Selbstbestimmung, den Gedankengesetzen zu folgen, hat dann dahin geführt anzuerkennen, daß das Faktum Erscheinung eine Selbstbestimmung der göttlichen Freiheit ist.

Beide Freiheiten, diejenige Gottes und die des Wissenschaftslehrers, zei-gen sich am Ende dieser Deduktion als gegenseitig aneinander gebunden. Die Freiheit der Wissenschaftslehrer gegenüber der Erscheinung (die ei-gentlich selbst die Freiheit der Erscheinung ist, weil sie selbst nichts ande-res als Erscheinung sind) ist die faktische Bedingung der Möglichkeit, den Begriff Gottes zu formulieren und dadurch die absolute Freiheit Gottes zu postulieren. Die absolute Freiheit Gottes hingegen ist die genetische Be-dingung der Möglichkeit für die Existenz der Erscheinung und damit die Wurzel der freien Bestimmung zum Denken nach Gesetzen. In beiden Fällen zeigt sich also dieselbe Freiheit zur autonomen Selbstbestimmung. Gerade die Freiheit, sich selbst zu bestimmen, erlaubt es, in der Erscheinung ein Prinzip für die ganze Kette der Ableitungen anzuerken-nen, die zur Entfaltung der Wissenschaftslehre führen. Diesen beiden Formen der Freiheit und ihrer gegenseitigen Beziehung widmet Fichte seine neunte Vorlesung. Er erklärt zunächst, daß die Freiheit, d.h. die Selbständigkeit der Erscheinung, die Bedingung der Möglichkeit des Wis-sens überhaupt ist, weil sie die Bedingung der Möglichkeit seiner beiden Formen, sowohl der Anschauung als auch des Denkens, ist. Diese Freiheit muß dann auch die Möglichkeit der Erscheinung, sich zu vermannigfalti-gen, bieten, also den möglichen Ort der Ableitung der Wissenschaftslehre anbieten. Demzufolge erklärt Fichte:

Es ist nöthig, diesen hier sich anfügenden neuen Begriff der selbstständigen Freiheit der Erscheinung in sich selbst, fürs erste genau kennen zu lernen, da er ohne Zweifel der Ort ist, in welchem die Ableitung der W.L. beginnt. – . […] Dies […] wird schon jeder

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vermuthen, und voraussehen, daß allein durch diese Freiheit, und die wirkliche Vollziehung derselben die SichErscheinung, die An-schauung, das Denken, und so das Wissen überhaupt zu Stande kommen werde; daß daher, wenn wir uns, nur ihrer recht versichert haben werden, die Ableitung ihren ruhigen Gang fortgehen wird. (179,13-20)

Sodann aber betont er, daß die Freiheit der Erscheinung, obwohl selbstän-dig, nicht bedingungslos ist, denn sie hat in der absoluten Freiheit des Seins – man würde sogar sagen in der absoluten Freiheit, die das Sein selbst ist – ihre Bedingung und ihren Grund. Darin unterscheiden sich beide Freiheiten: die Freiheit Gottes ist absolut grundlos und bedingungs-los, während die der Erscheinung in dieser begründet ist. Entsprechend erklärt Fichte weiter:

– Aber es ist eine andere Frage: wodurch ist sie denn selbst, diese Freiheit [der Erscheinung], die ja nach der Voraussetzung ist, schlechtweg ist, und vor allen ihren Produkten voraus ist, als das Bedingende derselben? Ist sie etwa durch sich selbst? Offenbar nicht; denn die Erscheinung selbst, in ihrem einfachen, und absolu-ten Seyn ist nicht durch sich selbst, sondern durch das Erscheinen des absoluten; diese Freiheit selbst gehört aber zu ihrem absoluten Seyn, in dem sie ist vor aller SichErscheinung, als Grund dersel-ben. Sie selbst müßte drum seyn durch das absolute. (179,20-27)

4.1.4. Vom Begriff des Absoluten zum lebendigen Durch der Erscheinung (Schluß vorwärts)

Bevor er zur erwähnten Ableitung der Mannigfaltigkeit übergeht, will Fichte noch den gezogenen Schluß durch einen zweiten Gedankenweg rechtfertigen. Er bedient sich dazu eines demonstrativen Verfahrens, das nicht vom Faktum auf die Bedingung seiner Möglichkeit schließt, sondern gerade vom Begriff des absoluten Seins das Leben der Erscheinung ablei-tet. Nur so, meint Fichte, sei es möglich zu beweisen, daß man kein Mit-telglied zwischen dem Sein und der Erscheinung vergessen habe:

Bestätigt sich dies etwa auch noch auf einem anderen Weg: Kön-nen wir sie [scil: die Freiheit der Erscheinung] etwa auch ableiten, durch das Schliessen vorwärts, aus dem Erscheinen des Absoluten, so wie wir sie jezt gefunden haben, durch rükwärts schliessen, aus dem Faktum. Ist eine solche Ableitung möglich, so müssen wir sie vollziehen; außerdem wäre unsre Darstellung der WL. Unvoll-

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ständig, und es würde ein Glied übersprungen. Versuchen. (179,28-32)

Der Ausgangspunkt dieser Deduktion ist der Charakter des Seins, durch sich zu sein. Das Durch-sich-Sein wird von Fichte in der kürzeren und damit ausdrucksvolleren Substantialisierung der Präposition durch zu-sammengefaßt: »Wir heben an von dem Begriffe des Absoluten, daß es sey schlechtweg durch sich selbst«, sagt er und fügt gleich hinzu: »Auf dieses durch kommt es mir an.«96 Was wird nun aber mit diesem Durch zum Ausdruck gebracht? In den Berliner Jahren hat Fichte in einer sehr originellen Weise seine philo-sophische Sprache dank der Substantialisierung von Präpositionen erwei-tert. Präpositionen sind die Verbindungselemente der Sprache, durch sie setzt man Worte und Konzepte, die für sich genommen nur einen starren Zustand wiedergeben können, zusammen, um, dank dieser Kombinatio-nen, die lebendige Komplexität der Welt in Gedanken zu fassen. Nun hat aber eine ständig unreflektierte Benutzung der Sprache und somit der Präpositionen zur Folge, daß man nicht mehr weiß, welche Tätigkeit sie zum Ausdruck bringen. Die fichtesche Substantialisierung der Präpositio-nen soll nun dazu führen, wieder über ihre Funktion zu reflektieren. Durch diese künstliche Hypostasierung tritt eben einerseits die vergessene Hypo-stasierung hervor, die in der gewöhnlichen Sprache erfolgt, anderseits wird aber auch auf ihre ursprüngliche, aktive Bedeutung fokussiert. Durch ist nämlich die Präposition, die einen ersten Zustand von einem zweiten abhängig macht, wobei das erste Princip und das zweite Principiat ge-nannt wird, so daß das erste in das zweite übergeht. Fichte findet den Aus-druck durch sich als Charakteristik des Seins vor und versucht, ihm einen tieferen als den banalen Sinn zu geben, demzufolge das Sein zunächst als Prinzip und sodann als Prinzipiat zu betrachten und diese zwei Zustände dann in Einheit zu denken wären:

Entweder bildet man sich vor, und sezt ab ausser sich das Seyn, vollendet, gegeben: und denkt hinterher sich dieses gegebne als ge-worden, eben durch sich selbst. Man nimt es in zwei Ansichten, als Principiat, und als Princip, die man hinterher zu einer macht, oder bestimmter, sagt, sie sollen zu Einer gemacht werden. (180,1-5)

96 GA II 12, 179,33f.

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Die erste Möglichkeit, das Durch zu denken, nennt er das »ertödtende und verblassende Denken«,97 denn das Denken spielt hier nur die Rolle, beide Zustände starr zu erfassen und als solche wieder zu kombinieren. Einen tieferen Sinn kann man aber dem Durch dank eines anderen Gedankenver-fahrens geben, das Fichte ein » lebendige[s]« und »anschauliche[s]« nennt. Damit, so Fichte, werde das Durch als ein innerliches und lebendi-ges Fließen verstanden. Zu dieser Art von Denken führt Fichte seine Zu-hörer auf die folgende Weise. Zunächst fordert er, daß man

sich in das durch selbst hinein stellt, und sich in seiner Anschauung zu einem durch macht, worin denn das Bild eines unmittelbaren lebendigen Fortflusses, eben eines Lebens entsteht. Dies ist das lebendige, und anschauliche Denken. (180,5-8)

Diese Gedankenübung, ein lebendig im Denken aufgefaßter Fortfluß, erlaubt es jetzt, über seinen Gedankeninhalt weiter zu reflektieren:

Denken wir ihn also, so denken wir ihn [scil. das Durch] als eitel Leben; und seine Realität, die nicht in ihm, sondern in unserm ertödtenden Denken abgesezt ist, als ein ruhendes Seyn, nur in der Form des Lebens, und als Leben, und im Leben, und durchaus nicht anders […]. (180,11-14)

Das Durch nun, in dieser Form aufgefaßt, ist dem Leben gleichzusetzen. Dementsprechend darf es als Kern des Begriffs des Absoluten, der als Sein außer dem Sein anerkannt wurde, eine eigene Lebendigkeit besitzen. Allein aus ihrem Charakter also, Erscheinung des lebendigen Seins zu sein, schließt Fichte, daß die Erscheinung ein eigenes Leben haben müsse, da es sonst keine reale Erscheinung des lebendigen Durch-Sich des Seins gebe.

Dieses absolute Leben nun erscheint, heißt keinesweges, es er-scheint und bildet sich ab als ein Tod; denn sodann erschiene garnicht es, sondern sein absolutes Gegentheil: sondern es muß heissen: es erscheint als Leben. Also auch die Erscheinung muß, so gewiß sie Erscheinung des Lebens ist, in ihr selbst ein selbständi-ges, und absolutes Leben seyn: ein durch, nur nicht, wie in dem ab-soluten selbst, des Urseyns, sondern der Erscheinung und des Bil-des. (180,16-21)

97 GA II 12, 180,5.

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Somit wird die Erscheinung als notwendig lebendig gesehen, auch ausge-hend von dem Begriff des absoluten Seins. Wie nun aber diese Lebendig-keit sich zu einer Sicherscheinung weiterbestimmen kann, ist noch unklar. Die nächste Aufgabe besteht insofern darin, die innere Struktur des Si-cherscheinens der Erscheinung zu erklären, die die Verwirklichung ihrer eigenen Selbstbestimmung ermöglicht – es gilt, das Leben der Erschei-nung zu erörtern. Es wird also die Art und Weise dargestellt werden, wie sich das Leben der Erscheinung als innerer Charakter des Bildes und Schemas des absoluten Lebens entfaltet. Der jetzt vollzogene Schritt ist insofern wichtig, als man die Erscheinung dadurch, daß sie als Bild des lebendigen Seins anerkannt wird, als selbständiges Leben, d.h. als ein unabhängiges Werdensprinzip verstehen kann.

Vereinigen wir. Oben: Die Erscheinung ist schlechtweg, so wie Gott ist schlechtweg, und sie ist nie geworden. […] Dies ist sie nun nicht, wie es uns eben durch unser objektives Denken so ausfiel, im objektiven Seyn, tod, und abgesezt, sondern sie ist es als Leben: also, sie ist ein lebendiges Bild Gottes, durchaus schlechthin voll-endet und. in Einem Schlage; und dieses Bildseyn ist ihr inner-

liches Seyn, so wie das Urbildseyn Gottes innerliches Seyn ist. (180,25-32)

4.2. Dritter Widerspruch: das Durch der Erscheinung In dieser Beschreibung der Erscheinung bleibt aber noch etwas ungeklärt. Um das Charakterisieren der Erscheinung zu vertiefen, muß man den Ge-danken der Lebendigkeit des Bildes vom Absoluten näher analysieren und sich fragen, auf welche Weise die Erscheinung einen echten Charakter der Lebendigkeit, als Erscheinung des Lebens des Absoluten, in sich tragen kann. Das Leben der Erscheinung wurde bis jetzt durch das Leben des Absoluten begriffen – dann aber kann dieses Leben gar nicht selbständig sein, sondern nur von dem des absoluten Seins abgeleitet werden.

Die Erscheinung ist, so wie sie nur ist, das vollständige Bild des Seyns; diese Erscheinung ist ferner nicht ein todtes, sondern ein lebendiges Bild. – . Durch was ist sie dies alles? Wir haben gese-hen, durchaus durch das göttliche Erscheinen. Das gesezte ist drum durchaus das Durch dieses Erscheinens, und nichts anderes. Das Leben des Bildes Leben des göttlichen Erscheinens. (181,11-15)

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Ist aber somit die Erscheinung in der Lage, ein wahres Bild des Absoluten zu sein? Freilich nicht, sondern auch ein selbständiges Leben muß der Erscheinung zugewiesen werden, damit sie ein wahres Bild des Seins sein kann. Allein das Leben genügt der Erscheinung nicht, wenn dieses noch vollkommen vom absoluten Leben des Seins abhängt. Das Durch der Er-scheinung muß also auch teilweise auf sich selbst gegründet sein, wenn es der Kern der Erscheinung des Absoluten sein soll. Erst also wenn das Durch der Erscheinung auch durch sich ist, kann es dem Charakter der Erscheinung, Erscheinung des Absoluten zu sein, entsprechen. Hier tritt also ein dritter Widerspruch ein. Gemäß der bisherigen Beschreibung des Durch ist dieses nämlich ganz im Leben des absoluten Seins begründet. Um aber eine Erscheinung des Lebens zu sein, muß das Durch eine gewis-se Selbständigkeit haben, die ihm laut seiner bisherigen Beschreibung noch nicht zuzuschreiben ist. Fichte erläutert diesen Widerspruch wie folgt:

Und so haben wir denn durch den aufgestellten Begriff das Wesen der Erscheinung nicht vollständig erschöpft woraus Widerspruch: denn das absolute könne erscheinen nur in einer solchen Erschei-nung, die ein eignes selbstständiges Leben habe; ein durch in ihm selber; die schlechthin durch sich etwas seyn könne. Was sie in unsrer obigen Beschreibung ist, ist sie durch Gott und sein Er-scheinen. Wir müssen drum der Beschreibung hinzusetzen, daß sie ausser jenem, was sie ist durch Gott, auch noch ein durch sich selbst habe. (181,16-22)

Diese neue Reflexion auf das Durch wird also zum nächsten genetischen Schritt führen. Freilich bleibt das lebendige Durch-sich-Sein der Erschei-nung im Leben des Absoluten begründet. Allerdings muß es auch ein ge-wisses selbständiges Leben der Erscheinung gewährleisten, denn nur so kann die Erscheinung den wahren Charakter des Seins wiedergeben und damit das Sein außer dem Sein, d.h. eine wahrhaftige Erscheinung und keine bloß schattenhafte Existenz besitzen. Aus dem absoluten lebendigen Sein wird also unter der Voraussetzung, daß dies seine wahre Erscheinung sei, die Selbständigkeit des Lebens seiner Erscheinung abgeleitet. Daher werden die lebendige Sicherscheinung der Erscheinung und die entspre-chenden Produkte dieser Tätigkeit des Sicherscheinens als allein von der Erscheinung abhängig betrachtet und können insofern nicht unmittelbar aus dem Absoluten abgeleitet werden.

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Nach dieser Erzeugung des Begriffs – wie weit ganz genau geht das absolute durch des Erscheinens, welches aus der Vorausset-zung, daß das absolute eben erscheine, vom reinen Denken dedu-cirbar, und deducirt werden muß, und wo geht seine Grenze? Wir sehen es: sie geht bis zu einem absoluten Durch sich der Erschei-

nung. So scharf gedacht, und nichts weiter. Wenn nun die Erschei-nung weiterhin etwas würde, wäre sie dieses Etwas auch durch das Erscheinen des Seyns? Offenbar nicht, sondern sie wäre es durch sich, – zufolge ihres durch sich überhaupt, welches sie allerdings ist durch das Erscheinen. (181,27-34)

4.2.1. Das Vermögen Um die Selbständigkeit der Erscheinung zu charakterisieren, führt Fichte einen neuen bedeutenden Terminus, das Vermögen, ein. Die Erscheinung, in ihrer Selbständigkeit betrachtet, ist das Vermögen, sich zu erscheinen. Um aber die Erscheinung als Vermögen zu verstehen, muß Fichte über den tieferen Sinn von Erscheinung reflektieren und sie als Möglichkeit begreifen, die Lebendigkeit des Seins darzustellen, denn gerade diese Lebendigkeit und ihre Selbständigkeit ist der fundamentale Charakter des Seins. Das absolute Können Gottes, des puren Lebens, erscheint also in der relativen Möglichkeit des Vermögens der Erscheinung. Das, was Fich-te vorher das Erscheinende nannte ist das absolute Leben, das sich bis zum Erscheinen in der Erscheinung als Grund ihres freien Vermögens äußert; das, was er dagegen Erschienenes nannte, ist das unmittelbare Produkt dieses Vermögens, sprich die Erscheinung der Erscheinung, die wiederum nur mittelbar Erscheinung des Lebens oder Gottes ist. Außer der reinen Möglichkeit drückt nämlich das Vermögen auch die Kraft aus, die oben erwähnte Schöpferkraft der Erscheinung. So wie das Sein seine pure In-sich-Geschlossenheit in einer Erscheinung geäußert haben muß, womit ein Sein außerhalb seines Seins entstand, muß auch sein Bild zu einer selb-ständigen Äußerung kommen, d.h. von seiner reinen Möglichkeit zur Verwirklichung seines Erscheinens gelangen. Die Erscheinung wiederholt sich demnach in einer Erscheinung von sich, die sich nach der Vollzie-hung dieses Sicherscheinens als Vermögen erscheint.

– Also – jenes durch sich der Erscheinung, das absolut ist durch das Erscheinen Gottes, ist ein blosses reines Vermögen der Er-scheinung; und bis zu diesem reinen Vermögen geht das Erschei-nen Gottes, des Seyns der Erscheinung an Gott; der Form des gött-lichen Seyns, und hier ist seine Grenze; Was dießeit des Vermö-

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gens liegt, und. zufolge der Vollziehung desselben ist, ist unmittel-bar nicht durch Gott, sondern durch die Erscheinung selbst. Unmit-telbar sage ich: denn mittelbar, in Absicht des Vermögens über-haupt etwas zu vollziehen, ist es durch Gott. (181,34-182,7)

In diesem neuen Verständnis von der Erscheinung als ein Vermögen kün-digt sich schließlich der Ort der Verbindung und der Sonderung zwischen Gott und der Welt an. Das Vermögen verbindet, weil nur bis zu ihm das Sein Gottes erscheinen kann und in ihm tatsächlich erscheint. In ihm ist aber auch die Sonderung der zwei Sphären des absoluten und des erschei-nenden Lebens, weil das Vermögen, obwohl es im Leben des Seins be-gründet ist, beim Sichvollziehen eine ganz selbständige Tätigkeit ausübt. Denn gerade seine Vollziehung kann man vom absoluten Sein nicht ablei-ten, um so weniger noch seine Produkte. Das, was Gott und seine Erschei-nung verbindet und trennt ist die Freiheit: durch ihren Vermögenscharak-ter ist sie ein Verbindungsfaktor, ein Trennungsfaktor aber in ihrer Voll-ziehung. Wenn Fichte also mit dem absoluten Sein, oder Gott, eigentlich die absolute Freiheit bezeichnet, ist seine entsprechende Erscheinung das Vermögen, ein Bild dieser Freiheit zu verkörpern, d.h. sich als ein Bild Gottes zu gestalten oder nicht. Die Äußerung des Seins kommt zu einem Erscheinen, in dem dann die Möglichkeit einer Selbstbestimmung zu ei-nem authentischen Bild von ihm zu finden ist. Von jetzt an kann Fichte aus dem Begriff des Seins und aus der Voraussetzung, er manifestiere sich durch eine Selbstbestimmung, jeden möglichen Schluß ziehen. Das bedeutet, daß der Begriff des Seins ausrei-chend tief gedacht wurde. Nun konzentriert er sich auf die selbständigen weiteren Bestimmungen der Erscheinung, d.h. des Vermögens und legt dadurch den Akzent auf den Gegensatz von Erscheinung und Sein. Dieser Gegensatz ist nämlich notwendig, um eine hinreichende Erörterung der Sicherscheinung – eine Phänomenologie – zu entwickeln, die die Erschei-nung als Erscheinung des lebendigen absoluten Seins annimmt und somit das Dasein der Welt auf das absolute Sein gründet, ohne dieses Dasein selbst von ihm abhängig zu machen. Fichte erklärt:

Hier also liegt der […] Punkt der Ausscheidung, und Absonderung Gottes und der Erscheinung, in der Erscheinung selbst: der Punkt des höchsten, und absoluten Gegensatzes. Die Erscheinung ist ein reines absolutes Vermögen realer Schöpfung; und was sie diesseit dieses Vermögens ist, ist sie nicht durch Gott, sondern durch sich selbst. Dieses reine absolute Vermögen selbst aber durch sich et-was zu seyn, ist sie durch Gott; er selbst sezt sie frei, und

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selbstständig ab: und dies […] zufolge der Nothwendigkeit seines formalen Wesens, welches, als selbst lauter Leben, nicht erschei-nen kann, und nicht erschienen seyn würde, in dem todten, und ge-bundenen, sondern nur in dem in sich selbst lebendigen. (182,8-19)

Wie schon gesagt sind wir jetzt hinsichtlich der begrifflichen Deduktion an einem Endpunkt angekommen und werden folglich auf die faktische Ebene zurückgeworfen. Vermögen heißt praktische Möglichkeit, etwas zu vollziehen oder auch nicht, und es ist weder vom Begriff des Seins noch von dem der Erscheinung noch von dem des Vermögens ableitbar, ob sich das Vermögen tatsächlich vollzieht oder nicht. Es könnte auch nicht an-ders sein, denn eine solche Ableitung würde der Selbständigkeit des Ver-mögens widersprechen. Im Begriff des Vermögens liegt nur die Möglich-keit seiner Vollziehung und die Kraft dafür, nicht aber der Grund für seine reale Vollziehung.

Wie nun von dem Vermögen an? Vollzieht es sich, oder vollzieht es sich nicht? Davon sagt der Begriff nichts, vielmehr liegt es in seinem Wesen, daß er alle Antwort darauf sich verbittet, denn er redet von einem reinen Vermögen, sich zu vollziehen oder nicht. (182,22-25)

Die Wissenschaftslehre hat also, insofern sie bloßes Denken ist und daher nur a priori schließt, kein Mittel, über ein Gebiet zu urteilen, dessen Da-sein sich nur als a posteriori herausstellt: Hier verweist sie aus sich heraus auf das Faktum, also auf die Wahrnehmung.

Wie soll man nun auf jene Frage Auskunft erhalten? Offenbar nur, inwiefern das Faktum sich selbst darstellt: also faktisch; und so ist es denn klar, und wird wohl nun weiter keinen Anstoß erregen, daß wir diesseits des Vermögens, und in Beziehung auf seine Produkte lediglich an die faktische Wahrnehmung verwiesen werden, und die W.L. als ein reines Denken, in diesem Gebiete problematisch bleibt. (183,2-7)

Mit diesem Hinweis auf die faktische Wirklichkeit wird die neunte Vorle-sung beendet.

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4.2.2. Der Inhalt des Vermögens: Schema 2

Die Einsicht, daß die Erscheinung ein Vermögen ist, ist der Eintritt in einen tieferen Kern dieser Darstellung der Wissenschaftslehre. Die Ein-heit, die das Vermögen als Drehpunkt der Erscheinung Gottes ausdrückt, ist das, was dem ganzen System in seinen sukzessiven Ableitungen Ein-heit mitteilt. Die Selbständigkeit der Schöpferkraft, die das Vermögen ausüben kann, wird dagegen die Wurzel der Mannigfaltigkeit sein. Die zehnte Vorlesung fängt dementsprechend mit der Frage nach dem Inhalt des Vermögens an: »Ein Vermögen; Ein Vermögen wozu?« Die schlichte Antwort darauf lautet: »Das Vermögen ein Vermögen zu werden«.98 Selbstverständlich stellt der Begriff Vermögen denjenigen Aspekt der Erscheinung dar, der nicht bloß mit ihrem Seinscharakter, nämlich Sein außer dem Sein zu sein, sondern vielmehr mit demjenigen Charakter zusammenfällt, durch den die Erscheinung sich von dem Sein ab- und ihm entgegensetzt. Dank des Vermögens faßt man also den Aspekt der Erscheinung, durch den sie nicht als etwas, das ist, sondern umgekehrt als etwas, das wird, existiert. Wenn also das Sein bloß in sich beruht und, nach dem in der fünften Vorlesung formulierten Begriff, »alle Wandelbarkeit und Veränderung von ihm ausgeschlossen ist« und er »nur ist und durchaus nicht werden kann«,99 muß seine ihm entgegengesetzte Äußerung nicht nur sein, sondern auch werden und daher sein Vermögen eben ein Vermögen zu werden sein. Nun hat Fichte dieses Vermögen zu werden als Form der freien Schöpferkraft der Erscheinung beschrieben, d.h. als die Fähigkeit, etwas hervorzubringen, das vor seiner Vollziehung nicht existiert. Fichte drückt diesen Gedanken in den folgenden zwei Punkten aus:

Zuförderst: offenbar ist durch dieses Vermögen ausgesprochen ein Vermögen zu werden, der Erscheinung, was sie nicht ist, eine abso-lute Genesis derselben, Schöpferkraft einer durchaus neuen, nicht vorhandenen Sphäre. – . Denn nach dem vorigen; die Erscheinung ist, durch das Erscheinen Gottes in ihr, und dieses ihr Seyn ist durchaus und ganz bestimmt: und selbst das Vermögen, rein als solches gedacht, gehört zu diesem Seyn. (183,11-16)

Und weiter:

98 GA II 12, 183,10-12. 99 GA II 12, 183,22f.

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Ueber dieses Seyn hinaus nun geht die Vollziehung des Vermögens. Was durch das Vermögen seyn kann, kann seyn, oder auch nicht seyn, denn das Vermögen kann sich vollziehen, oder auch nicht. Wenn es sich vollzieht, so ist, was auch nicht seyn konnte, was un-abhängig von dessen Vollziehung nicht war: es ist drum etwas aus dem Nichtseyn in das Seyn übergetreten; es ist etwas geworden. (183,16-20)

Wenn man aber annimmt, daß die Form des Vermögens freie Schöpfer-kraft ist, wenn also das Vermögen eine Kraft ist, etwas zu schaffen, d.h. aus dem Nichtsein in das Sein übertreten zu lassen, erhebt sich die Frage: Was kann das Vermögen überhaupt schaffen? Der Anspruch, diese Frage zu beantworten, widerspricht nicht dem obigen Verweis auf die Faktizität, denn es geht hier nicht darum, einen Grund für die Vollziehung zu finden oder ihr faktisches Produkt abzuleiten. Vielmehr gilt es herauszufinden, was das Produkt des Vermögens sein kann, falls es sich vollziehen sollte: Welche Art von Umwandlung der Erscheinung erlaubt das Vermögen, wie es jetzt gedacht wurde? Die Frage lautet dann: »Was nun kann sie [scil die Erscheinung] werden, durch das Vermögen; welches ist die Sphäre ihrer Schöpfung.« Fichte schließt zunächst aus, was das Vermögen nicht schaf-fen kann, nämlich »das was sie ist, durch das Erscheinen Gottes«,100

denn dieses kann überhaupt nicht werden, sondern es ist schlechtweg, so wie Gott schlechtweg ist: eben so wenig kann sie es auch nicht vernichten, denn auch dies wäre ein Werden des Nichtseyns dessen was ist, – nicht einmal das absolute Vermögen zu werden kann sie werden, oder es vernichten, denn auch dies liegt im Seyn – . Also ein ganz neues, innerhalb jener Sphäre des Seyns garnicht liegendes. (183,23-28)

Wenn also das Vermögen die Möglichkeit der Erscheinung, sich selbst zu bestimmen ist, muß die Erscheinung imstande sein, etwas anderes zu wer-den als das, was sie ist; und ihrer Autonomie entsprechend muß sie allein aus sich selbst das hervorbringen, was sie wird. Die Erscheinung wurde von Anfang an der Form nach als Bild des Seins beschrieben. Dieses Bildsein entsprach eben der Form des Seins außer dem Sein und Bild heißt insofern Form des Außersichseins. Gerade im Außer-dem-Sein-Sein be-stand der ursprüngliche Charakter der Erscheinung, die tatsächlich nur durch ihre bloße Bildform gekennzeichnet wurde und insofern nur diese

100 GA II 12, 183,24.

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Form und nichts anderes war. In dieser absoluten Formalität konnte die Erscheinung als Erscheinung begriffen werden, ihre Wesensbestimmung als Bild war insofern vollkommen formell und inhaltslos. Auf die Frage also, was die Erscheinung als formelles Schöpfungsvermögen aus sich selbst hervorbringen kann, kann man nur antworten: Formen, d.h. Bilder. Die Erscheinung kann nichts anderes als Bilder aus sich hervorbringen, so daß die selbständige Vollziehung ihres Vermögens nur wiederum ein Bild ihres Bildseins sein kann. Dadurch aber wird dieses Formbild zum Inhalt und ist der Inhalt des Vermögens ein Bild des Bildes des Seins oder Got-tes:

Was ist nun diese Sphäre des durchaus neuen, das nur ist durch die Vollziehung des Vermögens, und ohne diese, und unabhängig von ihr nicht ist? Die Erscheinung hat ein Vermögen, durch sich selbst etwas zu seyn, und zu werden; sich zu einem neuen schlechthin zu erschaffen. Sie hat’s; aber sie kann durchaus der Form nach (von dieser rede ich hier zuförderst) aus sich nichts hervorbringen, was sie nicht in sich selbst ist. Sie aber ist Erscheinung: so kann denn das Produkt ihres Vermögens nichts andres seyn, denn auch nur Erscheinung, oder Bild. (184,3-9)

»Der Form nach« hebt Fichte an dieser Stelle hervor. Die Erscheinung ist zunächst nur in einer absoluten Anschauung vorgekommen, die sodann mit dem Begriff Erscheinung benannt wurde, der aber nur auf eine leere Form, d.h. auf die Form des Erscheinens des Seins ohne irgendeinen In-halt deutet. Nun entwickelt sich aber durch die Vollziehung des Vermö-gens, anders zu werden, die Erscheinung zu einem Bild, das offenbar der Form nach eine Erscheinung und damit mit seiner schöpferischen Kraft identisch ist, das aber nicht nur Form ist, sondern die Bildform als seinen Inhalt hat und sich von der ursprünglich leeren formellen Erscheinung wesentlich unterscheidet. Demzufolge tritt hier wieder der Terminus Schema auf, den Fichte schon in der fünften Vorlesung vorläufig dem der leeren Form und des Bildes nebenordnete.101 Wenn also die Erscheinung ein Bild und Schema des Seins ist und aus der möglichen Vollziehung ihrer selbständigen Schöpferkraft ein Bild dieses Bildes entsteht, kann man die ursprüngliche Erscheinung Schema 1 und die aus ihr entstandene Erscheinung der Erscheinung Schema 2 nen-nen. Das Vermögen ist also für den Übergang von der Singularität der Erscheinung zu ihrer Verdoppelung in der Erscheinung der Erscheinung,

101 Vgl. GA II 12, 165,13f.

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also vom Einen zum Mannigfaltigen, verantwortlich, weil es Bilder aus sich selbst erzeugt, sich selbst in diese Bilder verwandelt und so selbst Bild wird.

Sie ist Bild, haben wir gesagt, schlechtweg durch das Erscheinen

Gottes in ihr; insofern sie es aber ist, kann sie es nicht werden: von diesem Bildseyn ist drum im Produkte der Freiheit nicht die Rede. Also – sie wird Bild; heißt hier, sie wird Bild, von diesem ersten Bildseyn. / Dieses Schema 1. genannt, ist das Produkt ein Schema selbst des ersten Schema, also ein Schema 2. (184,10-14)

Man muß allerdings beachten, daß Fichte jetzt nicht einfach den schemati-schen als den bildlichen Charakter betont. Schema, wie bereis gesagt, ist abstrakter als Bild, Bild also eher sinnlich. Wenn man sich daran erinnert, wie Kant das Wort Schema benutzt, nämlich als Mittelglied zwischen den beiden sonst unvereinbaren Ebenen der Begriffe und der sinnlichen Wahr-nehmungen, erhellt sich die fichtesche Anwendung des Unterschieds zwi-schen Schema und Bild unmittelbar. Ein Bild entspricht nur einer Einzel-heit, ein Schema dagegen einer Mehrheit von Bildern: Ein Bild stellt also in sich einen zum Ende gekommenen Prozeß dar, während ein Schema die Struktur des Prozesses wiedergibt. Nun meint Fichte, daß die Produkte des Vermögens zur Klasse Schema 2 gehören, die der Form nach der Erschei-nung, also dem Schema 1 ähnlich sind, die aber außer dieser Form noch etwas anderes in sich enthalten müssen, was durch die Entfaltung ihrer weiteren Bestimmungen erklärt wird. Was den Inhalt dieser Produkte betrifft, wird auf die Faktizität hingewiesen – es wird sich freilich wieder-um um Bilder handeln; alles, was aber die Wissenschaftslehre bis jetzt ableiten konnte, ist ihre schematische Form. Das Vermögen ist insofern das genetische Mittelglied, das die Lösung des dritten Widerspruchs ermöglicht und damit auch endgültig sowohl den ersten Widerspruch – zwischen dem Faktum des Seinsbegriffs und dem darin ausgedrückten Inhalt – als auch den zweiten – zwischen der Einheit der Erscheinung und der Mannigfaltigkeit der Wahrnehmungen – löst. Das Vermögen der Erscheinung, ein Schema 2 von sich selbst her-vorzubringen, kann nämlich schon als Bedingung der Möglichkeit sowohl der Begriffe als auch der Wahrnehmungen gedacht werden. Um dies je-doch deutlich zu machen, muß noch die ganze Reihe der Mittelglieder eruiert werden. Weiter unten findet sich die von Fichte gegebene Zusam-menfassung des ganzen Verfahrens, in der aber nicht nur von der Ablei-tung des genetischen Verhältnisses zwischen Schema 1 und Schema 2 die Rede ist, sondern auch etwas Wichtiges darüber ausgesagt wird, wie das

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Schema 2 auf das Schema 1 zurückwirkt. Durch diese nähere Darstellung der Beziehung von Schema 1 und Schema 2 erklärt er schließlich, warum die Erscheinung des Seins nicht gleich als Leben erschienen ist, sondern zunächst nur als ein totes Dasein in seinem Begriff: Es ergab sich zwangs-läufig, denn die Erscheinung erhält man in erster Instanz wieder nur in einem Schema ihrer selbst, also im erwähnten Schema 2.

Nach der obigen Darstellung ist die Erscheinung schlechtweg durch ihr Seyn an Gott sein Lebendiges Bild, Leben seines Bildes; es fügt sich an ein Vermögen, etwas durch sich selbst zu seyn: in-wiefern aber dieses Vermögen ruht, und in gar keinem Resultate

erscheint, ist die Erscheinung eben bloß jenes lebendige unmittel-bare Bild Gottes, und nichts weiteres. – Nun setzet, dieses Vermö-gen werde thätig, so wirft sich das Leben der Erscheinung eben in diese Thätigkeit, und ist nicht mehr im Urbilde, sondern in diesem erstorben. Dieses wird nun zu einem ruhenden, substanti[ellen] Kern, und Wurzel seyn, ohne Leben, welches in die Vollziehung des Vermögens sich geworfen hat. Diese Vollziehung nun, oder dieses neue an die Stelle des ersten getretene Leben bildet, und zwar bildet es ab sein eignes Seyn, also jenes Urschema: und giebt drum ein Schema 2. Ein stehendes aber, ruhendes, und erblaßtes Seyn hat das Schema 1. erst dadurch erhalten, daß es schematisirt wird in einem Schema 2. Im Schematisiren verblaßt das eigent-l[iche] Schematisirte. Dieses ist immer ein Leben. Ein durchgehen-der Satz, der hier seinen Ursprung hat. (184,17-30)

Die Erscheinung zeigt sich als Erscheinung des Lebens erst durch die Vollziehung des Vermögens, sie erscheint dann aber nicht unmittelbar selbst, sondern in ihrem zweiten Schema, also in einer Erscheinung von sich, die sie aber nicht in sich selbst zeigt, sondern als sich selbst, in einem Bild von sich selbst. Dieses Bild ist nämlich nur ein »stehendes, ruhendes, und erblaßtes Seyn«, nicht mehr das Bild des ursprünglichen Seins, son-dern das Ergebnis der bildlichen bzw. schematischen Sichdarstellung sei-ner Erscheinung. Während also das ursprüngliche Bild des Seins, das Schema 1, notwendig lebendig und produktiv sein mußte und ein Schema-tisieren in seiner Tätigkeit ganz unbegreiflich war, muß das Bild, in dem diese Erscheinung sich darbietet – also gerade der Begriff des absoluten Seins vom Anfang, die spinozische Substantia – ein schematisiertes Pro-dukt jenes Schematisierens sein und damit notwendig als totes Sein er-scheinen.

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Das Bilden ist eben nothwendiger Abdruk des Seyns des Bildenden im Bilden,* und so eben hängt das Seyn und sein Bild schlechthin zusammen. Also auch dies nicht Sache der Freiheit, sondern der Nothwendigkeit. Von der Freiheit bloß das Faktum – daß ist, kei-neswegs aber was ist. [* Das Bilden ist unmittelbar Abdruk des Seyns des bildenden im Bilden. / Dieser Satz wird späterhin höchst bedeutend werden.] (185,22-26)

Das Leben der Erscheinung muß also erst rekonstruiert werden, um dann dem anfänglichen Seinsbegriff zugeschrieben werden zu können, denn dieser Begriff zeigt sich als bloßer Begriff vollkommen leblos. Nur unter der Voraussetzung, daß der Seinsbegriff ein Bild des Lebens und demnach eine Erscheinung des Lebens ist, hat Fichte nämlich schließen können, daß auch dieses Bild lebendig sein müsse. Dafür benötigte er aber das geneti-sche Verfahren der Wissenschaftslehre, denn aus dem Faktum selbst war es nicht zu ersehen. 4.2.3. Der Inhalt von Schema 2

Mit dem Terminus Schema 2 hat Fichte den Inhalt des Vermögens oder sein Produkt benannt, während seine Form die war, eine freie Schöpfer-kraft zu sein. Der Inhalt des Vermögens ist also das Produkt einer freien Schöpferkraft und muß seinerseits eine eigene Form und einen eigenen Inhalt haben. Die Form des Schemas 2 ist, wie gerade gesehen, die des Bildes, eines Bildes aber, das sich nicht als solches, sondern als »stehen-des […] Seyn«102 darstellt. Wie aber läßt sich sein Inhalt beschreiben? Da die Erscheinung ein schematisierendes Leben ist, kann der Inhalt des Pro-dukts des Vermögens nur das Abbild dieses Lebens sein. Das Leben der Erscheinung besteht insofern darin, ein Vermögen zu sein, sich selbst als Schema zu schematisieren, so daß diese Tätigkeit nicht auf sich selbst beruht, wie das Leben des Seins, sondern seine Produkte benötigt, um sich zu verwirklichen.

Was nun: Die Erscheinung ist Leben!, so haben wir gesagt. Sie muß drum schematisirt werden eben als Leben, und als eignes Le-ben der Erscheinung. (also nach der Form eines Ich; ein eigentli-

102 GA II 12, 184,27f.

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ches ausgedrüktes Ich kommt hier noch nicht vor.) Als absolutes,

und leztes Leben, eben aus sich von sich durch sich. – . Die Er-scheinung ist aber nicht Leben schlechtweg, sondern sie ist Leben

des Bildes. Sie müste drum in demselben Einen Schlage gesezt werden, als bildend, als hervorbringend etwas, nicht als reines Le-

ben, sondern als Leben sich erweisend an einem Produkte, und die-ses Produkt nur, als da durch sein Leben. (186,5-12)

Es kann hier hilfreich sein, einen Vergleich mit der Lehre Spinozas und insbesondere mit seinen Begriffen von natura naturans und natura natu-rata anzustellen. Wie gesehen meint Fichte, daß Spinoza den Begriff Got-tes zwar richtig faßte, der Einheit dieses Begriffs aber nicht treu geblieben sei und die Einheit Gottes durch Attributi und Modi beschädigt habe. Dar-über hinaus sei es ein anderes Problem der Lehre Spinozas, daß er Gott zunächst mit dem Begriff natura gleichsetzte und sodann diesen Begriff wieder in natura naturans und natura naturata unterschied. Fichte dage-gen trennt die zwei Ebenen Gottes und der Erscheinung vollkommen: Die spinozische natura naturans dürfe man also nicht Gott gleichsetzen, son-dern nur als Erscheinung Gottes, als Schema 1 betrachten, und die natura naturata, Schema 2, als ihr Produkt, in dem sich die Erscheinung eben als natura naturans, d.h. als Vermögen zeigt, aus sich selbst etwas zu erzeu-gen. Was erzeugt aber die Erscheinung? Sie bringt ständig nur sich selbst als Schema und Bild hervor und zeigt und bildet sich gerade in diesem Bilden als Erscheinung Gottes. 4.3. Vierter Widerspruch: das Erscheinen des Absoluten im Schema 2 4.3.1. Die Frage nach dem Prinzip des Mannigfaltigen Zu Beginn der elften Vorlesung bietet Fichte eine allgemeine Rekapitula-tion des Gesagten, deren wichtigste Aspekte im folgenden zusammenge-faßt werden. »Nur Eins ist, das absolute, Gott«, »aber er erscheint schlechtweg, welches Faktum sich nur als Faktum ankündigt«: das ist »sein Sein in einer anderen Form, der des Erscheinens«, und Gott »ist das Erscheinende darin«. Nur, fügt Fichte gleich hinzu, »kann Gott als lauteres Leben nicht erscheinen, als in einer gleichfals in sich lebendigen Erscheinung«, die dann ein Durchsich sein soll. Da sie aber nur eine depotenzierte Wieder-holung Gottes außerhalb seiner selbst ist, kann dieses lebendige Durchsich nur die Form eines »absoluten Vermögens, durch sich etwas zu sein« an-

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nehmen. Dieses Vermögen, das sich als solches entweder nicht vollzieht oder vollzieht, hat sich offenbar vollziehen müssen, denn »im ersten Falle ist noch immer kein Sein außer Gott«, während es im zweiten Falle »eben das Produkt der Vollziehung dieses Vermögens« ist. Es ist nun dabei äu-ßerst wichtig, daß dieses Produkt »nicht unmittelbar durch das Erscheinen Gottes ist«, sondern nur mittelbar, d.h. »es ist dadurch möglich« aber nicht verursacht, denn das Vermögen vollzieht sich frei. Fichte folgert also, daß »eine neue, durchaus und schlechthin aus nichts hervorgegangene Sphäre des Seins«, »eine völlig neue Welt außer Gott« da ist, die gleichwohl – der Möglichkeit nach – in ihm gründet. Nun fragt er: »Was kann es sein, die-ses Produkt, diese neue Sphäre?« Und antwortet: »Erscheinung, und Bild wiederum dieses Erscheinens, sich verhaltend zu diesem, wie jenes zu Gottes innerlichem Sein: Schema 2 wie jenes Schema 1«.103 Demzufolge kann Fichte schließen:

Dies nun erst ein Seyn ausser Gott. Nach diesem fragten wir, und durch diese Frage entstand eben die W.L. Sie ist gelöst. Alles, was ist ausser Gott, z.B. wir selbst, und was da ist für uns – ist dies – . Erscheinung der absoluten Erscheinung Gottes. – und schlechthin nichts anderes. Dabei wird es nun unverrükt bleiben. (187,28-31)

Mit der Ableitung des Schemas 2 wird also der Ort der Mannigfaltigkeit gezeigt, sein Prinzip ist aber noch unbekannt. Die faktische Mannigfaltig-keit kann man mit dem Begriff von Schema 2 verstehen, damit ist aber noch nicht geklärt, wie sie wirklich entstehen konnte, denn immerhin war das in ihm reproduzierte Schema 1 noch einheitlich. Es gilt demnach, den Übergang von der Einheit des Schemas 1 zur Mannigfaltigkeit des Sche-mas 2 näher zu betrachten.

Erscheinung der Erscheinung Schema 2. – Wir haben gewonnen; aber alles? das worauf wir ausgingen? Es kommt faktisch ein viel-fach mannigfaltiges, ja unendliches vor. – . Liegt diese Mannigfal-tigkeit in unsrer Ableitung? Nein; rechtlich fortgefahren liegt in ihr die Einfachheit. – Wir bedürfen drum ein neues, in dem bisherigen durchaus nicht liegendes Princip für diese Spaltung! (188,12-16)

Fichte erklärt nun, nicht wieder auf die Faktizität zurückgehen zu wollen, um dieses Prinzip zu finden. Er will hingegen weiter deduktiv vorgehen und in den folgenden Vorlesungen dazu übergehen, die Elemente abzulei-

103 Zusammenfassung von: GA II 12, 187,3-27.

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ten, aus denen das gesuchte Prinzip zusammengesetzt werden kann, je-doch ohne alle diesbezüglichen Beweise anzuführen. Er wird dafür außer-halb der strengen Methode voranschreiten – wie er schon in den einleiten-den Vorlesungen ankündigte und nun folgendermaßen wiederholt:

Ich werde aber damit anheben, daß ich, scheinbar ausser der stren-gen Reihe, wenigstens ohne die strenge Reihenfolge zu beweisen, die wichtigsten, und unbekanntesten Bestandtheile der durch die Deduktion zu liefernden Synthesis heraushebe, und besonders er-kläre. (189,8-12)

Nun formuliert Fichte die kommende Aufgabe wie folgt: »alles, was je-mals von aller Zeit her im Bewußtseyn vorgekommen, was in alle Ewig-keit fort in ihm vorkommen wird, als Eins zu begreifen, und auf Eins zu-rükzuführen«.104 Hierin besteht das Ganze der abzuleitenden Mannigfal-tigkeit und in ihrer Zurückführung auf Eins die Darstellung ihres Prinzips. Gleichzeitig kündigt er an, was er mit diesem Prinzip meint, daß es näm-lich genau den Punkt bezeichne, an dem sich das Wissen in seine Grund-formen aufteilt, welche sich ihrerseits jeweils aufspalten in Fünffachheit und Unendlichkeit. Da jedoch die beiden Grundformen immer in einer Wechselbeziehung bleiben, bleiben auch ihre jeweiligen Disjunktionsfor-men in dieser Beziehung, so daß Unendlichkeit und Fünffachheit sich gegenseitig aufeinander beziehen. Der Einheitspunkt also, auf den alles zurückzuführen ist, fällt nun mit diesem Trennungspunkt in Fünffachheit und Unendlichkeit zusammen.

Historisch angegeben: Die Erscheinung der Erscheinung = das Wissen, bleibend dasselbe Eine Wissen, und seinen innern Zusam-menhang nie verlierend, spaltet sich in zwei GrundFormen, zufolge deren einer es sich spaltet ins Unendliche, zufolge der andern in ein fünffaches. […] Nur der Einheitspunkt, in fester Anschauung gefaßt, aus dem diese Mannigfaltigkeit sich von selbst entwikelt, ist der, den wir suchen, und den jeder besitzen, ja der er seyn muß, wenn er sich rühmen will, er besitze die W.L. (189,22-32)

Nun, und damit schließt Fichte die elfte Vorlesung, bestehe die Wissen-schaftslehre nicht nur aus einer Darstellung der Spaltung der Mannigfal-tigkeit aus einem Einheitspunkt, sondern auch aus einer »synthetischen Anschauung« dieser Mannigfaltigkeit selbst als Einheit des Wissens, denn

104 GA II 12, 189,16-18.

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»[d]as Wissen selbst, in seiner reinen Form, wie wir es immer sind und leben […] wird durch diese Synthesis decomponirt […] und aus der De-composition wieder componirt durch synthesirende Anschauung«.105 Es ist jedoch nicht leicht, sich in diese Anschauung hineinzuversetzen, denn sie ist »dem natürlichen Menschen das allerunnatürlichste, weil sie die Wur-zel seines bisherigen Seins angreift und auflös’t«.106 Was wird nämlich durch sie wirklich angegriffen? Offenbar der Glaube daran, daß das Wis-sen ein Produkt, ja ein Vorkommnis am Menschen sei, während sich ganz im Gegenteil in dieser Anschauung ein dieser Konzeption entgegengesetz-ter Prozeß konzentriert, nämlich, daß das Wissen sich selbständig bildet und sich der Mensch eben erst dank dieser Selbstbildung als Mensch und als wissender Mensch betrachten kann. Nicht der Mensch ist also der Brennpunkt der Erschaffung der Welt, d.h. der Erscheinung Gottes, son-dern das Wissen selbst, denn »das Wissen, in seiner absoluten Form, er-zeugt sich selbst, und sieht dieser Erzeugung in sich selbst zu«.107 Der Mensch, oder das Ich, tritt also nur am Ort des reflektierenden Sichsehens des Wissens auf. 4.3.2. Die Frage nach dem Erscheinen des Absoluten im Schema 2

Auf der Suche nach dem Prinzip der Disjunktion geht die Analyse des Schemas 2 erneut von einem Widerspruch aus, der seinen Ursprung in der Frage hat, ob das absolute Sein im Schema 2 nun erscheine oder nicht. Diese Frage wird sich als die wahre, dringende herausstellen, denn durch ihre Beantwortung sollte sich der Übergang von der Einheit des Schemas 1 zur Mannigfaltigkeit des Schemas 2 vollkommen erhellen. Zuvor, bei der Entkräftung des vorigen Widerspruchs, hatte sich die Frage gestellt, ob das Absolute in der Erscheinung erscheint. Die Antwort lautete, daß es das Erscheinende war, nicht aber das Erschienene, denn das Erschienene ist im eigentlichen Sinne nur die Erscheinung und diese erscheint nur in einer Erscheinung der Erscheinung. In dieser Unterscheidung, so hatte Fichte angekündigt, liege der Ort der Ableitung der Wissenschaftslehre.108 Man

105 GA II 12, 190,2-10. 106 GA II 12, 190,14f. 107 GA II 12, 190,13f. 108 Vgl. GA II 12, 178,2-9: »Das Seyn erscheint denn in der That nicht. Ist doppel-

sinnig. – . Es ist das erscheinende: aber nicht das erschienene, nicht das von der Erscheinung abgesonderte, und gleichsam abgestoßne, und abgesezte: kurz was, in beiden Beweißformen eben

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findet sich jetzt also an dem Punkt, an dem dieselbe Frage wiederkehrt, so daß ihre Lösung auch die Ableitung der Spaltung innerhalb der Erschei-nung weiterbringen wird:

Ich sage: wir sind durch das bis jezt gesagte in einen neuen Wider-spruch gerathen. – . Ueberlegen Sie: wie das nun sattsam be-schriebne absolute Vermögen der Erscheinung sich vollzieht, so entsteht ein Bild, der Erscheinung eben: wie sie ist, – . Schema 2. In diesem Bilde vom Bilde geht nun das Vermögen auf, und ist darin völlig erschöpft, und befangen. – Halten Sie diesen Zustand fest: und nun der Gegensatz: Die Erscheinung sollte doch seyn Erscheinung des absoluten […]. Wie steht es wiederum nun in dieser Rüksicht mit dem beschriebnen Schema 2. Erscheint in ihm

das absolute oder erscheint es nicht in ihm? (191,9-17)

Durch die Vollziehung des Vermögens bringt die Erscheinung ihren Cha-rakter zum Ausdruck, Bild des Absoluten zu sein – die Vollziehung ist ein Bild der Erscheinung des Absoluten. Wird nun das Absolute in diesem Produkt von neuem reproduziert oder nicht? Fichte antwortet: »[E]s ist ein ähnlicher Doppelsinn in dem Worte erscheint, wie wir denselben schon oben gehabt haben; und Sie können Ja sagen, oder Nein, beides richtig, nur im doppelten Sinne.«109 Diese Frage kann man nämlich einerseits bejahen, denn im Schema 2 muß, wenn man die Beschreibung des Ver-mögens und seine Beziehung zum Absoluten zu Grunde legt, auch das Absolute – wenigstens mittelbar – erscheinen. Andererseits kann man aber genauso behaupten, daß es dort tatsächlich nicht erscheint. Denn man hat zwar eindeutig festgestellt, daß das Schema 2 die Vollziehung des Vermö-gens ist, das sich selbst von alleine abbildet, doch geht, wenn sich das Vermögen einmal vollzogen hat, aus seinem Produkt nicht unmittelbar hervor, daß es ein Bild ist, und daher noch weniger, daß es ein Bild Gottes ist. Die Vollziehung des Vermögens ist ja notwendigerweise ein Bild Got-tes, aber wo und wie dieses Faktum im Inneren des Bildes selbst zum Ausdruck kommen kann, ist aus der bisherigen Ableitung noch nicht her-vorgegangen. Das Bild Gottes, das das Produkt des Vermögens sein muß, erscheint nicht wirklich als solches, d.h. weder als Bild, noch als Bild

der Hauptgrund ist, Erscheinung und Seyn treten nicht aus einander sondern verschmelzen. Im ersten Beweise wird wieder vorausgesezt: es soll das Seyn als erschienenes abgesezt werden: im zweiten: es sollen eben beide gesondert werden: also ein Zirkel – und so bleibt es eben faktisch. Kurz Faktum. In dieser eignen und selbstständigen Form der Ort der Deduktion[.*] [*] Wird in der Zukunft gebraucht werden«

109 GA II 12, 191,19-21.

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Gottes. Fichte charakterisiert nun diese Doppelung der Erscheinung des Absoluten durch die Adverbien implizit und explizit: »[Das Absolute] erscheint allerdings, implicite, als unsichtbarer Faktor des Schemas 2: aber es erscheint nicht explicite, und ausdrücklich: es erscheint nicht, daß es erscheine: es erscheint nicht als solches.«110 4.3.3. Das Als des Schemas und das Prinzip des Soll Nun ist gerade die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Ent-stehung dieses Als dringlich geworden, denn erst mit ihm wird die Er-scheinung eine eigene Existenz gewinnen können und diese eben als Er-scheinung, die ihrer Möglichkeit nach im Sein begründet ist, während sie ihrer Wirklichkeit nach selbständig ist. Da Fichte aber in der Reihe der Voraussetzungen von der Erscheinung des Absoluten ausgegangen ist, kann die Frage nach der Erscheinung der Erscheinung nur als Folge des Anspruchs hergeleitet werden, daß das Absolute als solches erscheinen soll. Wie man sehen wird, fallen die Bedingungen der Möglichkeit der Erscheinung des Absoluten als solchem mit denjenigen der Erscheinung der Erscheinung als solcher zusammen. Wenn man nämlich erklärt, daß das Absolute im Schema 2 implizit erscheint, hängt diese Erklärung davon ab, daß die Erscheinung als solche öffentlich erscheint, d.h. als solche erscheinen kann, denn gerade die Aussage der Implikation Gottes in der Erscheinung hängt von der Möglichkeit ab, die beiden zu trennen. Im Erscheinen der Erscheinung als solcher wird also auch die Möglichkeit vorgewiesen, eine Trennung in der Verschmolzenheit von Absolutem und Erscheinung herzustellen. Daher wird nun das Prinzip gesucht, das die Grundlage für diese Trennung bildet. Fichte definiert nun zuerst den Terminus Prinzip als den »Begriff eines Gesetzes, zufolge dessen das und das nothwendig erfolgt«.111 Es wird hier allerdings ein Gesetz für den Bereich der Erscheinung gesucht, die ihrerseits schon als eine absolut freie Vollziehung des Vermögens verstanden wurde. Das Vermögen ist insofern frei, weil es eine Erschei-nung der absoluten Freiheit, d.h. Gottes ist. Demzufolge muß das Gesetz, dem das Vermögen unterworfen ist, notwendig ein solches sein, das durch sein Wirken die Freiheit des Vermögens nicht aufhebt. Dieses Gesetz darf

110 GA II 12, 192,10-12. 111 GA II 12, 192,27.

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also nicht durch ein Müssen ausgedrückt werden, das ein notwendig und nicht frei wirkendes Gesetz zum Ausdruck bringt, sondern kann nur mit dem Vorschreiben des Sollens zusammenfallen. Fichte schließt entspre-chend: »Ein solches Soll allein könnten wir in dieser Sphäre als Princip denken«.112 Im Soll bestehe also das Prinzip, von dem aus die Reihe der aufeinander folgenden Deduktionen im Rahmen der Erscheinung abgelei-tet werden kann, ohne die Freiheit des Vermögens, sich zu vollziehen oder nicht, abzuschaffen, d.h. ohne irgendeinen notwendigen Vollziehung des Vermögens zu postulieren. Das eben so formulierte Prinzip des Soll wird auch von Fichte gleich angewandt, um in der Ableitung fortzuschreiten: »Gesezt, das absolute sollte erscheinen als solches ([…] es versteht sich innerhalb der Erscheinung der Erscheinung, also durch das absolute freie Vermögen […]) was würde daraus folgen[?] […] So hätten wir einen Anhalt für eine weitere Deduktion.«113 Wie gesagt erscheint das Absolute in der Erscheinung faktisch nicht als solches. In der Wissenschaftslehre geht es aber eben nicht darum, die Dinge ihrer Faktizität nach zu beschreiben, d.h. nicht bloß anzuerken-nen, daß sie tatsächlich so und so vorkommen, sondern ihrer Möglichkeit nach, d.h. genetisch oder wie sie zustande gekommen sind. Das kann man aber nur dadurch tun, daß man zunächst einen bestimmten Zustand pro-blematisch unter ein Soll setzt. Erst dadurch gelingt es, die Bedingungen der Möglichkeit dieser Tatsache ans Licht zu bringen. Das Als, worum es nun geht, hängt also von der Setzung eines Soll ab: ohne Soll kein Als. Das ist genau die Art und Weise, wie das Soll als Prinzip fungiert: das Soll ist Prinzip des Als. Da aber das Als das Zeichen der Disjunktion zwi-schen einer Tatsache und derselben als solcher ist, erweist sich dabei das Soll als Bedingung der Möglichkeit der Disjunktion.

Das absolute soll erscheinen als solches = Ueberhaupt ist durch das soll postulirt ein Als; und dies ist eigentl[ich] die neue Grundform, die dadurch herbeigeführt wird. – Warum erschien […] im Schema 2. wie wir es abgeleitet haben, das absolute nicht als solches, ob-wohl es implicite, und als unsichtbarer factor allerdings drin lag.. Antw[ort]. Weil es als absolutes mit dem Schema zu Einem ver-schmolzen war, conkrescirt damit aufgehend; ohne Unterschei-dung, in seinem besondern Seyn durch das Schema verdekt. – Die-ser Konkrescenz also müste abgeholfen werden: Das Schema müste

112 GA II 12, 192,33f. 113 GA II 12, 193,1-5. Hervorhebung des Verfassers.

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drum zuförderst besonders, und mit seinem Charakter der Abson-derung, als Schema erscheinen. (195,13-21)

Der Grund für das Nichterscheinen des Absoluten als solchem in der Er-scheinung wird also von Fichte einer so genannten Konkreszenz zuge-schrieben. Konkreszieren ist das lateinische Wort für Zusammenwachsen, Konkreszenz bedeutet demnach die Folge des Zusammenwachsens. Fichte meint damit, daß in der Entstehung des Schemas 2, das wiederum ein vom Vermögen frei hergestelltes Schema des Schemas 1 ist, diese erste ur-sprüngliche Erscheinung Gottes von der formalen Hülle des Schemas so tief durchdrungen wird, daß in ihrem Produkt Inhalt und Form nicht mehr unterscheidbar sind: Sie sind zusammen zustande gekommen und bilden ein einziges Produkt des Vermögens. Dieser Prozeß des Zusammenwach-sens ist der Grund für die faktisch unzertrennbare Verschmolzenheit des Absoluten mit der Erscheinung im Schema 2. Das Schema 2 bringt also einerseits das Erscheinen Gottes zur wirklichen Erscheinung, anderseits aber verdeckt es durch eine schematische Hülle den erscheinenden Gott selbst. Somit erhält man im Schema 2 nur eine Erscheinung der Erschei-nung, d.h. ein Schema des Schemas, nicht aber unmittelbar auch die Er-scheinung des darin erscheinenden Gottes als solchem. Man kann aber nicht unmittelbar Gott vom Schema sondern, denn Gott wird eben nur in einem Schema, d.h. wie zu Beginn höchstens im Begriff Gottes gestaltet. Entsprechend muß man negativ vorgehen und zunächst das Schema selbst im Zusammengewachsenen erkennen. Nach der Voraussetzung, daß die Erscheinung Erscheinung des Absoluten sei, und der faktischen Evidenz, daß das Absolute in der Erscheinung der Erscheinung, sprich im Schema 2, nie explizit erscheine, muß man schließen, daß hier Absolutes und Schema nicht zu unterscheiden bzw., wie Fichte sagt, verschmolzen sind. Die Enthüllung des ursprünglichen Erscheinens Gottes kann nun nur einer Sonderung im Zusammengewachsenen folgen, die von einem Soll gefordert und durch die Entstehung eines Als ermöglicht wird. Unter der Setzung des Soll gewinnt das Als daher die grundlegende Rolle, im Corpus des Schemas 2 als Element der Unterscheidung zu fungieren. Da wir aber vom Absoluten nie etwas prädizieren können, führt der An-spruch, daß das Absolute als solches erscheine, dazu, daß eigentlich allein das Schema dasjenige ist, was als solches erscheinen soll. Unter der An-nahme also, daß im Inneren der Erscheinung der Erscheinung des Absolu-ten (Schema 2) das Absolute als solches erscheinen soll, kann das Absolu-te vom schematischen Aspekt seines Erscheinens erst dann unterschieden werden, wenn das Schema als solches erscheint. Damit kann die Erschei-

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nung des Absoluten als der Rest betrachtet werden, der nach einer idealen Subtraktion des Schematischen als solchem aus dem Schema 2 übrig bleibt. Die Frage nach der Erscheinung des Absoluten als solchem ver-wandelt sich also in die Frage nach der Erscheinung des Schemas als sol-chem – die Antwort auf diese zweite Frage wird auch die Lösung für die erste bringen. Nun geht man hier noch einen Schritt weiter, indem man aner-kennt, daß, damit das Schema als solches, d.h. als Schema, erscheint, es seinerseits einem Etwas entgegengesetzt werden können muß, das eben als Nicht-Schema erscheint. Fichte bringt diesen Gedanken folgendermaßen zum Schluß:

Nun kann es [scil. das Schema] als solches, und in seinem schema-tischen Charakter nur erscheinen, im Gegensatze mit einem NichtSchema: also mit einem Seyn; und so müste denn schlechthin eine Erscheinung des Seyns als solchen, im Gegensatze mit dem Schema als solchen ihm entgegen treten. (195,22-25)

Dies erfordert eine weitere Analyse des Schemas 2. Wenn also einmal, hinter der Voraussetzung des Soll, das Als in Funktion getreten ist, haben wir nicht mehr allein mit dem Schema 2 für sich genommen zu tun, son-dern mit zwei doppelten Schemata zugleich, nämlich dem Schema als Schema und einem Sein, welches diesem Schema entgegenzusetzen ist. Dabei fordert Fichte aber gleich dazu auf, zu bemerken, daß alles, was nun innerhalb des Schemas 2 unterschieden wurde, auch nur eine Folge der Vollziehung des Vermögens ist. Indem also das Vermögen allein als Ver-mögen zum Schema 2 dargestellt wurde, war die Erklärung seines Voll-ziehens noch nicht vollständig. 4.3.4. Die synthetische Periode Es ist unmittelbar einsichtig, daß das Als als eine weitere Bestimmung, nämlich als eine Verfeinerung des Vermögens zu verstehen ist: Das Ver-mögen ist, über seine bloße Fähigkeit hinaus, sich in einem unmittelbaren Resultat zu vollziehen, auch in der Lage dazu, innerhalb des Gemachten anhand des Soll durch ein Als weiter zu unterscheiden. Das einfache Pro-dukt des Vermögens, das Schema 2, vermannigfaltigt sich dabei zu einem Paar von Schemata. Man beachte nämlich, daß das Vermögen nichts ande-res als Schemata herstellen kann. Das bereits entdeckte Sein, das dem

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Schema als Schema entgegenzusetzen wäre, ist also kein Sein strictu sen-su, sondern vielmehr nur ein schematisches Sein, denn es ist bloß ein Pro-dukt des Vermögens. Dieses Paar Schemata ist wiederum doppelt, denn jedes der zwei Elemente stellt sich nicht mehr einfach dar – wie das Schema 2 anfangs gesehen wurde –, sondern infolge des nun zustande gekommenen Als, zusammen mit dem Kennzeichen, als etwas da zu sein, und entsprechend als Schema und als Sein. Im Schema 2 sind also, dem Soll zufolge und mittels des Als, zwei Schemata und vier Glieder zu un-terscheiden: das Schema, das ihm entgegengesetzte Sein sowie das Sche-ma als Schema und das Schema als Sein. Diese machen, zusammen mit ihrem synthetischen Glied, dem Schema 2, eine Fünffachheit (Quintuplici-tät) aus. Fichte faßt zusammen:

Kurz: das Resultat dieses Als, zu weiterer Bestimmung, ist, daß nicht, wie vorher ein Schema, sondern daß zwei Schemate vorkom-men; beide auch in sich selbst nicht einfach, wie das früher abge-leitete Schema 2. erschien, sondern mit einer Duplicität, nicht eben bloß seyend, sondern seyend noch überdies mit einem bestimmten Charakter, als das und das; das Eine als das Schema, das andere als das Seyn zu diesem Schema. (195,31-196,3)

Man darf dies jedoch nicht so verstehen, als ob das Vermögen etwas völlig Neues schaffen würde oder das Als von einem neuen besonderen Akt der Freiheit in Funktion gesetzt würde, der sich von demjenigen unterscheidet, der bereits zur Bildung von Schema 2 führte. Es ist dagegen festzuhalten, daß das Vermögen nur in der Lage ist, das zu erfassen, was als sein Pro-dukt bereits vorhanden ist. Tatsächlich ist das dem Schema-als-Sein ent-gegengesetzte Schema-als-Schema nichts anderes als Schema 2 oder das Produkt der freien Vollziehung des Vermögens, das dieses am Ende seiner unmittelbaren Vollziehung auch selbst unmittelbar als solches erfaßt. Und wiederum ist das Schema als Sein auch nur das Schema 2, allerdings unter dem Aspekt betrachet, daß es da ist. Wir erkennen daher im einheitlichen Sichvollziehen des Vermögens – das, da das Vermögen singulär ist, in einem einzelnen Schema 2 zusammenzufassen ist – eine Mannigfaltigkeit von Elementen, denen ein einziger Freiheitsakt des Vermögens zugrunde liegt. Fichte nennt nun die Form dieser Struktur, der die freie Vollziehung des Vermögens unterliegt und die aus fünf Gliedern besteht, Quintuplici-tät. Die Art und Weise, wie die fünf Elemente – das Schema 2 mit den zwei Schemata des Schemas und des Seins und ihren Spiegelungen durch das Als – aufeinander wirken, bezeichnet er als synthetische Periode. Die

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zwölfte Vorlesung wird nun mit den folgenden Worten geschlossen, die die ganze Deduktionsreihe zusammenfassen:

Wenn nun diese Quintuplicität […] in der Erscheinung wirklich eintritt, als wessen Folge tritt sie ein? Unmittelbar, als Vollziehung des Vermögens. Warum fällt nun diese Vollziehung so aus, als die-se Quintuplicität aus, die wir beschrieben haben? Weil das Vermö-

gen schlechthin also ist, daß seine Vollziehung nicht anders ausfal-len kann? Und warum ist das Vermögen so? Weil in ihm erscheint Gott, und dieser erscheinen soll, als solcher: und weil dieses alles nicht anders denn also erscheinen kann. (196,4-10)

Fichte hat mit der Unterscheidung zwischen Schema 2, Schema als Sche-ma und Schema als Sein im Inneren der Erscheinung der Erscheinung die Entfaltung der synthetischen Periode abgeschlossen, die er in der elften Vorlesung ankündigte, als er sagte: »Ich werde […] damit anheben […], [daß ich] die wichtigsten und unbekanntesten Bestandtheile der durch die Deduktion zu liefernden Synthesis heraushebe und besonders erkläre«, und noch hinzufügte: »Eine Synthesis […] und zwar ein sehr reicher, und, wie es scheinen möchte, sehr verwickelter synthetischer Periode«.114 Da-bei zeigt sich, daß die Synthesis, d.h. die synthetische Periode fünffach ist. Mit synthetischer Periode bezeichnet Fichte also die ganze Artikulation des Schemas 2: Ausgehend vom Schema 2 als Vollziehung des Vermö-gens wird es als zwar vom Sein verschiedenes aber auf dieses bezogene Schema wiedergefunden. In dieser Analyse hat sich jedoch das Schemas 2 angereichert und nun zeigt es sich statt als einfache Vollziehung des Ver-mögens als ein Mannigfaltiges, und zwar als fünffache Synthesis unter-schiedlicher Elemente. Durch diese fünffache Synthesis, in der sich die ganze Erscheinungswelt bildet, läßt die Erscheinung – die sich nun in Vermögen, Soll und Als weiter artikuliert hat – auch das Absolute aus-drücklich erscheinen, denn gerade die Frage nach der Erscheinung des Absoluten als solchem hat diese Struktur als solche erscheinen lassen. 4.3.5. Die Kritik an Locke und den Kantianern Am Beginn der 13. Vorlesung findet sich eine Bemerkung, die der weite-ren Entwicklung der Deduktion vorausgeht. Fichte fragt nämlich: »Das

114 GA II 12, 189,8-15.

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Schema erscheint als solches: lernt etwa die Erscheinung oder das Ich nach und nach durch Versuche, ein Schema vom Dinge selbst [zu] unter-scheiden?«115 Freilich lautet die Antwort auf diese rhetorische Frage ›nein‹, und dabei übt Fichte einerseits harte Kritik am Empirismus der angelsächsischen Tradition, insbesondere an der Philosophie Lockes, an-dererseits möchte er aber auch eine wichtige Erklärung der Art und Weise, wie er die Erscheinung im Unterschied zu den Kantianern und auch zu Kant betrachtet, einleiten. Er fährt fort:

Wie die Erscheinung ist, ist diese Unterscheidung, denn sie ist zufolge ihres ursprünglichen Seyns in Gott. 2) Im Gegensatze mit dem Schema erscheint das Seyn als solches: es giebt, kann man sagen, einen Begriff des Seyns. […] [W]ie die Erscheinung ist, so ist er, denn er ist zufolge des ursprüngl[ichen] Seyns der Erschei-nung. Sie [die Erscheinung] macht nicht das Seyn, sondern die Er-scheinung des Seyns macht sich selbst in ihr […] – . (196,15-22)

Hier wird die Beziehung zwischen Begriffenem und Begriff beschrieben. Sobald eine Erscheinung (Schema 2) wirklich wahrgenommen wird, wird sie unmittelbar als Schema und als Sein zu diesem Schema zugleich be-trachtet. Mit dem ersten hat man den Begriff, mit dem zweiten das ent-sprechende Begriffene bzw. eine Wissensform, die mit der Entstehung des Begriffs als Anschauung anzuerkennen ist. Beide erscheinen also gleich-zeitig »zufolge ihres ursprünglichen Seyns in Gott«, denn gerade damit Gott als solcher zur Erscheinung kommen kann, wird im Schema 2 das Schema als Schema (Begriff) von einem Sein als Sein (Anschauung) un-terschieden. Das Schema 2 ist eine Erscheinung der Erscheinung, die ih-rerseits einer Erscheinung erscheint: Fichte greift nun vor, indem er sagt, daß diejenige Erscheinung, der das Schema 2 erscheint, ein Ich ist. Dieses Ich kann nämlich das Schema 2 auf zweierlei Weise denken: entweder in der schematischen Form seines reinen Daseins – daraus resultiert eine Anschauung – oder fokussierend auf das Schematische an dieser Daseins-form, womit dann der entsprechende Begriff privilegiert wird. Fichte sagt dazu:

[D]as Erfassen des Schema in der Form als (als was es sey, ob als Schema, oder Seyn, thut hier nichts zur Sache) heißt mit Recht Denken, das Seyn des blossen Schema, als Grundlage des Als An-schauung. (196,23-25)

115 GA II 12, 196,12f.

Grundlage für die Ableitung des Bewußtseins

130

Nach Fichte gibt es also keine andere Beziehung zwischen der Seinsan-schauung und ihrem Begreifen als Schema in einem Begriff als diejenige der unmittelbaren gegenseitigen Bestimmung, die sich nach dem Denken, das zur Intuition des Als führt, richtet. Die Konzepte der Anschauung und des darauf bezogenen Begriffs geben sich also gleichzeitig als fundamen-tale Bestandteile der wirkenden Struktur des Wissens zu erkennen. Es gibt demnach weder einen zeitlichen noch einen logischen Vorrang des einen vor dem anderen. Daran knüpft Fichte die Erklärung seines Konzepts vom Apriori an, wobei er auf Leibniz und Kant verweist:

Beim Denken stehen bleibend; wird nun das [daß dank des Den-kens ein Sein und ein Begriff auftauchen] etwa erlernt, nach und nach erzeugt? [Nein, sondern] Es ist schlechthin, wie die Erschei-nung ist, zufolge des Seyns derselben in Gott. – Jene […] Ansicht, daß das wissende seine Grundbegriffe nach, und nach lerne, und einübe, und sich angewohne, die den Engländer Locke zum Haupt-vertheidiger hat, wird mit Recht verächtlich weggeworfen. Es tritt ihr entgegen die Behauptung, diese Grundbegriffe liegen im Wis-senden selbst schlechtweg, in seinem Wesen: [wie] Leibnitzens an-gebohrne Begriffe, [und] Kants a priorische Begriffe. (196,25-197,2)

Nun schreitet Fichte darüber hinaus, indem er weiter fragt, wie man ei-gentlich diesen Schluß beweisen könne, ob wiederum nur induktiv oder a priori:

Aber wie will man denn diese Behauptung erhärten. – . Etwa durch den Beweiß aus Induktion, daß ohne diese Voraussetzung sich das wirkl[iche] Wissen durchaus nicht erklären läßt? Sodann ist jene Apriorität der Grundbegriffe lediglich ein Faktum des Bewußt-seyns, über dessen verborgnen Grund wir keine Auskunft erhalten […]. (197,2-7)

Es wäre nämlich widersprüchlich, den Empirismus durch ein Argument zu beseitigen, das sich wiederum auf die Induktion stützte, d.h. auf eine em-pirisch begründete Methode. Fichte übt damit Kritik an denjenigen Kan-tianern, die nicht bemerkt haben, daß die transzendentale Wende in der Formulierung Kants noch unvollkommen war. Sie beruhe nämlich auf einem lediglich empirisch aufgefaßten Faktum des Bewußtseins. Fichte erklärt: »So bei Kant, nach einer sehr mildernden, und vieles andre über-

Grundlage für die Ableitung des Bewußtseins

131

sehenden Ansicht«.116 Eben gegen die Annahme, daß ein Faktum die Vor-aussetzung für die apriorische Spaltung der Erscheinung in Sein und Schema liefert, fragt Fichte nun: »Und wie sind denn nun jene a priori-schen Begriffe, im Gemüthe? Wollen wir etwa da auf die kindischen Vor-stellungen der Kantianer uns einlassen?«117 Die Interpretation der Kantia-ner widerlegt er in drei, die Stellungnahme der Wissenschaftslehre zu-sammenfassenden Punkten:

1.). Daß Erkenntnisse, Begriffe, Bewußtseyn überhaupt da ist, die-ses nakte Faktum, ist Resultat der absoluten Freiheit der Erschei-nung. 2). Wie diese Erkenntnisse, und Begriffe sind, ist schlechthin bestimmt durch die Beschaffenheit ihres [scil. der Erscheinung] Vermögens. – . Aeussern kann sich die Freiheit des Wissens, oder nicht: wenn sie sich aber äussert, kann sie sich nicht anders äus-sern, denn also, wie sie sich äussert. 3) Was ist denn nun aber die-ses Vermögen selbst? Etwa, […] ein blosser Gedanke – eben ein Nichtseyn, – […] Keinesweges; sondern dieses Vermögen ist das allerrealste Seyn, und die Wurzel alles anderen Seyns, das in der Erscheinung seyn kann: das unmittelbarste Erscheinen Gottes selbst. (197,11-198,2)

Das einzige Faktum des Bewußtseins ist also buchstäblich jenes, daß es überhaupt ein Bewußtsein, sprich das Wissen und Wissende gibt. Dies resultiert allein aus der Freiheit der Erscheinung, sich zu erscheinen. Wie sich nun diese Freiheit bestimmt, hängt nur vom Vermögen und von der Art und Weise ab, wie das Vermögen sich vollzieht. Die Freiheit des Vermögens liegt ihrerseits nur darin, sich vollziehen oder nicht vollziehen zu können. Wenn es sich aber vollzieht, oder, wie Fichte sagt, wenn es sich äußert, kann es nur die oben erwähnte fünffache Gliederung in ihrer synthetischen Einheit und dabei Erkenntnisse, d.h. Begriffe und Anschau-ungen zustande bringen. Nun ist aber dieses Vermögen als »das allerreal-ste Seyn«, freilich innerhalb der Erscheinungswelt, zu betrachten, denn es ist das Mittel, wodurch die Freiheit Gottes zur Erscheinung kommt, so daß das Sein Gottes die einzige wahre Wurzel des Daseins der Erscheinung ist. Das Sein Gottes erscheint aber nicht als solches im Produkt des Vollzie-hens des Vermögens, sondern in seinem freien Vollziehen selbst, denn dieses Vollziehen ist eine freie Selbstbestimmung des Vermögens und stellt sich damit als lebendiges Bild und Schema der absoluten Freiheit

116 GA II 12, 197,7f. 117 GA II 12, 197,8-10.

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132

Gottes dar. Die absolute Freiheit erscheint also nur in einem freien Ver-mögen oder, so Fichte, im »bestimmte[n] Vermögen der Freiheit«:

Gott kann erscheinen nur in der Freiheit: in dieser nun erscheint er allerdings, unabtrennbar von ihr, und nicht auszutilgen; denn er ist ihr Träger: Dieses sein unmittelbares Erscheinen in der Freiheit nun ist das durchaus bestimmte Vermögen der Freiheit. (198,2-5)

Da aber das Sein außer dem Sein als freies Vollziehen des Vermögens das Wissen in seiner fünffachen Synthesis ist, ist laut Fichte erwiesen, daß das Bewußtsein unbezweifelbar auf das Sein Gottes gegründet ist. Deshalb schließt er:

Daß sie [die Freiheit] gegen dieses ihr Vermögen, und über dieses ihr Vermögen hinaus nichts könne, ist wohl klar. Dies also ist das a priorische in der Erscheinung, und auf diese Weise, nemlich als Gottes Erscheinen selbst, ist es, dieses apriorische in der Er-scheinung. – . Ohne auf Gott zu fussen hat eine sonst scharfsinige Theorie des Bewußtseyns keinen Grund und Boden; wie dies z.B mit der Kantischen der Fall ist. (198,5-10)

Das also ist die spätere Formulierung des höheren Realismus der Wissen-schaftslehre. Ein Realismus, der freilich nicht in der unmittelbaren Realität der vielfältigen Wahrnehmungen gründet, sondern in der absoluten Reali-tät des Absoluten bzw. des Seins Gottes, dessen wahre Erscheinung als Produkt der Vollziehung eines freien Vermögens die mannigfaltige Welt ist. Demzufolge kann man also sagen, daß die Welt eine Erscheinung ist. Die Phänomenologie der Wissenschaftslehre 1811 ist also eine Betrach-tung der Welt der Erscheinungen als Erscheinungen Gottes, wobei der Entstehungsgrund dieser Erscheinungen die freie Selbstbestimmung des Vermögens ist, das sich in seiner freien, schöpferischen Bildungskraft als Schema Gottes darstellt. Die Welt ist demzufolge vor dem Nihilismus gesichert, nicht aber allein dank des Glaubens an einen Gott, sondern dank des Beweises, daß die Erscheinung Produkt der freien bildenden Tätigkeit eines Vermögens ist, das sich darin als Bild und Schema Gottes erweist. Fichte vertieft nun diesen höchst wichtigen Gedanken, indem er die am Ende der vorigen Vorlesung unterbrochene Deduktion weiterführt:

Wieder zurük in den Weg der Deduktion! Setzen wir das gesagte noch weiter aus einander; anhebend von folgender Bemerkung. Das durch die absolute Freiheit entstandene Schema (2) ist es, was zufolge der weitern Bestimmung der Frei-

Grundlage für die Ableitung des Bewußtseins

133

heit, als Schema, im Gegensatze eines Seyns, erscheint; denn ein anderes Schema ist nicht möglich. Nun ist, wie wir schon oben be-merkt haben, dieses Schema nur im unmittelbaren Sichvollziehen der Freiheit; keineswegs etwa nachdem sie sich vollzogen hat, den Akt zurüknimmt, denn da versänke es wieder in sein voriges Nichtseyn. Und so findet denn wenigstens die Vollziehung der weitern Bestimmung der Freiheit, und was daraus folgt, durchaus nicht ohne unmittelbare Vereinigung mit der Vollziehung der Frei-heit überhaupt statt, und ist mit derselben zugleich, schlechthin in Einem Schlage. – . (198,14-24)

Die der Erscheinung oder dem Ich des Wissenschaftslehrers – der eben nichts als eine Erscheinung ist – innewohnende Freiheit, sich mit der blo-ßen Wahrnehmung des Schemas 2 nicht zu begnügen, sondern durch das Denken und die vom Soll eingeleitete Frage nach der Erscheinung des Absoluten als solchem noch darüber hinauszugehen, ist wiederum im Freiheitsakt des Vermögens verwurzelt. Es handelt sich also beim Denken um eine weitere Bestimmung der Freiheit des Vermögens selbst und kei-ner anderen, denn es gibt keine andere Freiheit. Überdies ist sie dieselbe Freiheit, in der sich die absolute In-sich-Geschlossenheit Gottes zeigt, obwohl sie sich jetzt in der Erscheinung darstellt und sich demnach nur als absolute, d.h. autonome, selbständig zeigt. Man kann also sagen, daß die Erscheinung Gottes eben diese zweifache Selbstbestimmung der Freiheit ist. Sie verwirklicht sich erst durch ein Vermögen zur Selbstbestimmung, und diese Selbstbestimmung führt unmittelbar zu einer Erscheinung der Erscheinung, d.h. zu einer ersten unbestimmten Anschauung (das Sein des Schemas 2). Als Form der Sicherscheinung der Erscheinung bestimmt sie sich aber zugleich weiter zu einem Begriff (Schema als Schema) sowie zu einer Anschauung (Schema als Sein). Die freie Selbstbestimmung der Erscheinung besteht also darin, daß sie sich selbst und für sich selbst erscheint und sich da-durch anschaut und denkt, wobei sie sich gleichzeitig als Erscheinung versteht und als Anschauung und Begriff auffaßt. Diese zugleich zu erfas-sende Reihe von Momenten ist aber, da es um Selbstbestimmungen geht, wiederum nur unter der Annahme der Freiheit zu verstehen, freilich nicht der absoluten, sondern der relativen Freiheit der Erscheinung. Die relative Freiheit der Erscheinung aber ist wiederum nur als Erscheinung der abso-luten Freiheit zu begreifen. Es handelt sich also um eine Selbstbestim-mung der Erscheinung, die nur als Bild der Freiheit Gottes selbst zu den-ken ist.

Grundlage für die Ableitung des Bewußtseins

134

Fichte schließt seine 13. Vorlesung, indem er zunächst ausdrück-lich den Standpunkt der Wissenschaftslehre vom ›gewöhnlichen‹ Stand-punkt unterscheidet:

Nach der gewöhnlichen Ansicht ist eine Welt von Dingen: diese ist nun eben schlechtweg und woher sie ist, fragt niemand; oder man weist uns ab mit der völlig unverständl[ichen] Antw[ort] sie ist ge-schaffen. Zu dieser Welt der Dinge tritt nun die Vorstellung hinzu; und bildet nach und nach ein Bild derselben; abermals auf eine völlig unverständliche Weise. So ist es bei uns nicht – sondern das Bewußtseyn ist, schlechthin bestimmt, so wie es ist, und eben seyn muß; und dies ist die wahre und einzige Welt und ausser ihm ist keine. (198,30-199,2)

Dieser auf den ersten Blick rein idealistische Standpunkt wird sogleich durch das sich auf Gott stützende realistische Prinzip der Freiheit ergänzt: Diese Welt nun oder dieses Bewußtseyn ist Anschauung Gottes; die da ist eben also, wie eine solche seyn kann in der Form der Freiheit; weil Gott überhaupt nur in der Freiheit angeschaut werden kann. (Ohne Gott ist alle Theorie des Bewußtseyns bodenlos.) (199,3-6) 4.3.6. Gesetz und Evidenz Die 14. Vorlesung beginnt mit der Aufforderung, über die Einheit der synthetischen Periode näher zu reflektieren, oder wie Fichte sagt »dieses wichtige Verhältniß des Mannigfaltigen in dieser synthetischen Einheit, zu betrachten«.118 Es gilt also zunächst, die Beziehung der Erscheinung zur Freiheit näher zu erklären, woraus die entscheidende Frage entsteht, wie auch das Vermögen als solches erscheinen kann und nicht nur die von ihm hergestellten Schemata. Dazu werden einerseits die Begriffe Gesetz und, mit diesem verbunden, Evidenz, andererseits der Begriff Reflex eingeführt. Fichte leitet die angekündigte Betrachtung durch eine Wiederho-lung der Einheitlichkeit der Vollziehung der Freiheit dadurch ein, daß die Erscheinung für sich in einem Schema 2 erscheint und infolgedessen als Schema und als Sein. Diese anscheinend aufeinanderfolgenden Bestim-mungen der Freiheit des Vermögens sind eigentlich nur »in Einem Schla-ge« zu verstehen. Fichte bedient sich zur Erklärung des Verbums projizie-ren: Man soll sich vorstellen, daß das Sein des Schemas 2, sobald es er-

118 GA II 12, 199,7f.

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scheint, auch eine doppelte Schattengestalt, nämlich die beiden Schemata, Sein/Schema mit ihrer unmittelbaren Verdoppelung durch das Als hervor-bringt, woraus die fünf Bestandteile der synthetischen Periode entstehen. Fichte faßt diesen Gedanken folgendermaßen zusammen:

1.) die Freiheit vollzieht sich schlechthin, und es entsteht dadurch ein Schema. […] 2.) unter Voraussetzung der Vereinigung der wei-tern Bestimmung des Vermögens mit diesem ersten Akte, stellt dieses Schema, in der Anschauung schlechthin sich hin als Sche-ma. […] [B]eides ist ja schlechthin in Einem Schlage […]: Also das Schema leuchtet durch sich selbst, und durch sein blosses Seyn also ein. Es projicirt sich selbst durch sein Seyn, als Schema. 3.) ich sagte ferner: es kann nicht erscheinen als solches, ohne den Ge-gensatz mit einem andern, das nicht Schema sey, sondern Seyn. (199,8-19)

Nun erklärt er weiter, daß diese Vollziehung »in Einem Schlage«, genauso wie die Projektion der Schatten keine weitere Bedingung als das Herein-treten des Objekts ins Licht fordert, jeden zweiten Freiheitsakt ausschließt. Das scheint aber im Widerspruch zur vorherigen Erklärung zu stehen, derzufolge die Betrachtung des Schemas 2, in der Form des Als, dem Denken gleichgesetzt werden sollte – ganz im Gegensatz zu seiner ur-sprünglichen Betrachtung in der Form des Seins, die der Anschauung gleichgesetzt wurde. Um diesen Widerspruch zu vermeiden, muß man das Denken anders als ein freies Handeln verstehen. Denken ist nämlich eben kein besonderer freier Akt der Erscheinung, sondern es taucht, genauso wie die Anschauung und unmittelbar mit dieser vereinigt, in der Erschei-nung der Erscheinung auf. Anderseits ist das Schema als Sein, das nun als die Kategorie der Substanz zu verstehen ist – auch wenn Fichte den Ter-minus hier nicht verwendet –, wiederum kein Produkt des Denkens, son-dern es stellt sich a priori als Inhalt der Erscheinung der Erscheinung dar. Fichte sagt nämlich:

– Drum zuförderst; wie das Schema, als Schema erscheint, in demselben ungetheilten Akte, indem ausserdem das Schema als solches nicht erschiene, tritt auch heraus das Seyn als Seyn. – Meine Frage ist: bedarf es zur Formung dieses zweiten Schema, und zur Ansicht desselben als Seyn eines besondern Aktes, und ist ein solcher Akt möglich? Wird dieses Seyn fabricirt, und gebildet durch irgend eine Freiheit des Denkens? Wir sehen ja, daß auch dies, in seinem Daseyn überhaupt und mit seinem Charakter als

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136

Seyn sich schlechthin anschließt in absolut synthetischer Vereini-gung an den ersten Akt. – . (199,19-26)

Und kurz danach fügt er als bessere Erklärung hinzu:

Also ein Seyn wird nicht gemacht durch die Freiheit, weder seinem Daseyn, noch seinem Charakter nach, sondern es macht sich selbst, durch sich selbst in ihr. (und so halte ich denn das gestern gegebne Versprechen, daß ich bald auf einem andern Wege zu sonnenklarer Anschauung erheben wolle, daß die Freiheit nicht den Begriff des Seyns mache, sondern daß er selbst sich in ihr mache.) (199,26-200,3)

Eben auf das, was hier in Klammern steht, stützt sich die Aussage, daß Fichte mit dem Schema als Sein die Kategorie der Substanz meint. Fichte redet hier nämlich vom »Begriff des Seyns«. Es ist klar, daß das Denken mit nichts anderem als mit Begriffen zu tun hat. Es läßt sich aber auch zeigen, daß, wenn man von einem allgemeinen Begriff des Seins redet, dieser nichts anderes als der Begriff der Substanz ist. Fichte hat diese Wissenschaftslehre eben mit dem Begriff des Seins begonnen, eigentlich also mit der spinozischen Substantia, mit dem Sein Gottes außer dem Sein. Dies wird hier als Ergebnis der freien Selbstbestimmung des Ver-mögens aufgefaßt, weil es sich dabei selbst als Bild Gottes erscheint. Mit dem Ausschließen eines zweiten selbständigen Freiheitsakts will Fichte also seine realistische Position verschärfen, denn die synthetische Periode, in der das Denken als freie Tätigkeit auftaucht, kommt im Grunde ganz automatisch mit dem Erscheinen der Erscheinung selbst zustande. Fichte erklärt:

So ist es endlich mit dem Gegensatze und der Beziehung der bei-den Glieder, des Schema’s und des Seyns auf einander. Auch diese wird nicht gemacht durch einen besondern Akt der Ueberlegung, des Hin- und Herdenkens; sondern sie macht sich schlechtweg, und ist, inwiefern dieser ganze synthetische Periode ist. (200,3-7)

Hier war gerade von einem automatischen Zustandekommen die Rede, um einen Bezug herzustellen zur fichteschen Idee des Sichmachens der Er-scheinung. Fichte vertieft nun diesen Gedanken, indem er dieses Sichma-chen als von einem Gesetz abgeleitet versteht und sein Ergebnis der Evi-denz gleichsetzt. Mit und in der synthetischen Periode nämlich macht sich die Erscheinung selbst. Dieses Sich-selbst-Machen ist aber zweifach: ei-nerseits bietet die Erscheinung sich selbst dar, wie in der freien Vollzie-

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hung des Vermögens bzw. in einer Wahrnehmung des Schemas 2, ande-rerseits ist diese Wahrnehmung nur faßbar als Paar von Elementen der Synthese, die im Schema 2 gleichzeitig anwesend sind, d.h. in der Bezie-hung Sein/Schema. Beide Aspekte haben, wie oben gezeigt wurde, eine unterschiedliche Beziehung zur Freiheit und damit zum schöpferischen Moment. Das Schema 2 ist eine direkte Hervorbringung der Freiheit des Vermögens, das in dieser Tätigkeit die absolute Freiheit des absoluten Seins zum Ausdruck bringt. Das wechselseitige Paar Schema/Sein hinge-gen geht automatisch aus dem ersten Moment hervor, sobald das Produkt des Vermögens dem Gesetz des Soll unterstellt wird, das den Anspruch zum Ausdruck bringt, das Erscheinen des Absoluten innerhalb seiner Er-scheinung zu sehen. Fichte erklärt dies wie folgt, beschreibt dabei aber nochmals den Entstehungsprozeß der synthetischen Periode:

Die Erscheinung macht schlechthin sich selbst; ist selbst von einer Zweideutigkeit […]. Die Zweideutigkeit liegt im Worte selbst. [...] Nemlich die Erscheinung macht sich selbst 1.). mit absoluter Freiheit, durch einen SchöpferAkt, durch ein bringen ins Seyn, was ohne diesen Akt, diese Sichvollziehung der Freiheit schlechthin nicht war. – So vollzieht in unserm Falle sich die Freiheit schlecht-weg, indem sie dadurch überhaupt ein Schema ihrer selbst, das sattsam bekannte Schema 2. schlechthin aus dem Nichtseyn in eine neue Sphäre des Seyns hineinschaft. – . […] 2.) nachdem sie über-haupt ist durch diese Freiheit, macht sie sich noch durch ihr blosses

Seyn. / hat Kausalität durch blosses Seyn […]. (200,15-31)

Sodann erklärt er, wie uns als Wissenschaftslehrern die synthetische Peri-ode erschienen ist:

– . So war in unserm Falle der ganze synthetische Periode aller-dings ein Produkt der Freiheit, daß er ist: nachdem er aber war, und durch das blosse Seyn stellte sich das Schema als pp. [scil. = als Schema] diesem: – u.sw. [= alles folgt vollkommen notwendig.] Ein sich machen der Erscheinung durch ihr Seyn, nachdem sie nur erst durch die absolute Freiheit gekommen war in dieses Seyn. (200,32-201,1)

Der Zusatz »[= alles folgt vollkommen notwendig]« meint, daß das freie Vollziehen des Vermögens einen Prozeß auslöst, der nur zu einem be-stimmten Ergebnis und zu keinem anderen führen kann. Das, was gemäß der Selbstbestimmung, sich zu vollziehen, vom Vermögen unmittelbar zum Ergebnis der Vollziehung führt, wird von Fichte Gesetz genannt. Es

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wirkt also ein Gesetz, dank welchem das Vermögen durch seine freie Be-stimmung zur Sichvollziehung notwendigerweise und unmittelbar zu einer einzigen möglichen letzten Vollziehung kommt. Die Folge dieses Geset-zes ist das Als in seiner doppelten Funktion: die Wiederherstellung des Aspekts des Schemas als Schema und die Wiederherstellung des darauf bezogenen Seins. Dieses Gesetz gilt nun als das Gesetz des freien Sichma-chens der Erscheinung. Somit beendet Fichte seine Überlegungen:

– – Lösung – – Die Erscheinung macht sich selbst: dieses selbst aber kann bedeuten das freie; oder das, (freilich erst durch Freiheit zu Stande gekommene) seyende; und diese Bedeutungen muß man wohl unterscheiden. Sie macht sich selbst innerhalb des Seyns durchaus ohne Freiheit! Was ist denn also das machende in diesem machen, das eigentliche Princip in diesem Principiat. Offenbar das Gesez. (201,1-7)

Aufgrund dieses Gesetzes zeigt sich das Vermögen, nachdem es sich zur Sichvollziehung in einem Schema bestimmt hat, endgültig als Anschau-ung und Begriff, die durch das Denken differenziert und daher ausdrück-lich als Anschauung und als Begriff anerkannt werden können. Fichte kann nun schlußfolgern, daß das Wirken dieses Gesetzes die wahre Mani-festation Gottes innerhalb der Erscheinung ist, da alles zum Sichmachen der Erscheinung gehört. Er entwickelt das Konzept des Gesetzes so:

– Dieses Gesez konnte durch sich unmittelbar nichts hervor-bringen; denn es ist gerichtet an die Freiheit; und sezt diese voraus. Wie diese nun wirklich ist, und sich vollzieht, so giebt sie dem Ge-setze eine Sphäre, und wird unwiderstehlich erfaßt von ihm. In un-serm Falle; das synthetische Gesez ist Gesez eines Schema, und sezt dieses voraus; und dieses Schema vermag nicht hervorzu-bringen das Gesez, sondern nur die Freiheit. Ist es aber einmal, so wird es ergriffen durch das innere Gesez des Lebens der Freiheit und durch dieses, das Gesez, ohne alles weitere Zuthun der Freiheit dargestellt, als Schema, im Gegensatze u.sw. [scil. = zu einem Sein] welche Ingredienzien alle unmittelbar aus dem nun begon-nenen Leben der Erscheinung sich entwikeln, und in ihm bilden. (201,7-16)

Da die Erscheinung Gottes als solchem mit dem Wirken des Gesetzes zusammenhängt, gründet sie nicht auf dem Sein Gottes allein, denn dazu ist das freie und selbständige Sichvollziehen des Vermögens unentbehr-lich. Damit ist die Sphäre der Freiheit der Welt vor einer direkten Einwir-

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kung Gottes abgesichert. Dennoch liegt es gerade in dieser Freiheit und in ihrer gesetzmäßigen Vollziehung, daß Gott in der Erscheinung tatsächlich zum Erscheinen kommen kann. Dieses Gesetz, das ursprünglich nicht zur Erscheinung hätte kommen können, weil zu allererst eben nur die Erschei-nung faktisch erscheint, wirkt als Bedingung der Möglichkeit der voll-kommenen Vollziehung des Vermögens zu einem Schema Gottes und stellt die Genesis von Schema 2 dar. Das lebendige Vermögen ist in sei-nem Vollziehen von einem Gesetz geleitet, das nicht nur zum Zustande-kommen von Schema 2, sondern auch unmittelbar zu seiner entsprechen-den Auffassung in einem Sein und in einem Schema – und darüber hinaus zu ihrer entsprechenden Auffassung als Anschauung und als Begriff – führt. Diese Betrachtungsweise wird nun von Fichte Denken genannt. Das Denken ist also offenbar kein frei hinzutretendes Handeln des Vermögens, sondern eine Folge des Gesetzes der freien Sichvollziehung des Vermö-gens. Fichte geht nun konsequent weiter:

Das zur Anschauung hinzutretende Charakterisiren, das als, ist ein Denken. Kein freies Subjekt denkt, sondern das eben begonnene Leben der Erscheinung selbst denkt, oder legt sich in die Form des Denkens. (201,16-18)

Dabei muß man sich aber erinnern, von welchem Gedanken diese Entdek-kung des Gesetzes geleitet wurde: Fichte fragte ursprünglich nach der Erscheinung des Absoluten als solchem und sah sich genötigt, nach dem Erscheinen des Schemas als solchem fragen, um eben dadurch die Sphäre der Erscheinung Gottes per subtraktionem abgrenzen zu können. Gott wurde also vom Schema zur Erscheinung gebracht; seine Erscheinung war aber unmittelbar als Erscheinung Gottes unsichtbar, da in ihr Gott und Schema verschmolzen waren. Hier kann man dagegen klar erkennen, was vom Schema in erster Linie verdeckt wurde: das Gesetz seiner Entstehung, das Fichte jetzt vollkommen deduziert und ans Licht gebracht hat. Daraus kann er schließen, daß dieses Gesetz, das nun von der Erscheinung des Schematischen am Schema zu unterscheiden ist, das Erscheinen Gottes in der Vollziehung des Vermögens, d.h. in der Erscheinung der Erscheinung ist. Fichte betont: »Dieses Gesez selbst ist nun das unmittelbare Erschei-nen Gottes. Und nun denke ich, haben Sie im allgemeinen eingesehen, wie es mit der ursprünglichen Erzeugung des Wissens zugeht.«119

119 GA II 12, 201,18-20.

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Wie gesehen ist die Folge dieses Gesetzes die Einsicht, daß das Schema eben nur ein Schema ist, und wiederum, daß sein schematisches Sein nichts anderes als ein diesem Schema entgegengesetztes Sein ist. In diesem Gesetz steckt die wahre Erscheinung Gottes. Nun sollte nach Fich-te jeder Mensch diese Einsicht unmittelbar erlangen können, sobald es ihm gelingt, sich auf den richtigen Standpunkt zu stellen. Das Zeichen des Göttlichen an dem Gesetz ist nun, daß, sobald man den richtigen Stand-punkt erreicht hat, dieses Gesetz mit absoluter Evidenz für eine produktive Vollziehung des Vermögens erscheint. Die Evidenz folgt also aus dem Gesetz und erweist sich dabei als das göttliche Zeichen an ihm:

– . Dieses sich selbst im Seyn der Erscheinung nach dem (dem gewöhnl[ichen] Auge verborgen bleibenden) Gesetze machende ist nun die Evidenz, die uns unmittelbar ergreift, wenn wir uns nur durch Freiheit in den rechten Standpunkt setzen, weil das Ergrif-fenwerden durch das Gesez durch die Vollziehung der Freiheit be-dingt ist. (201,21-24)

Gesetz und Evidenz gehen also zusammen. Wenn etwas evident vor-kommt, darf es nur vom göttlichen Gesetz zustande gebracht worden sein, das die Erscheinung Gottes ist. Das göttliche Gesetz seinerseits verwirk-licht sich in einem Produkt, das sich selbst unmittelbar evident erscheint. Evidenz ist aber für die Menschen das Zeichen des Unbezweifelbaren, d.h. der Wahrheit: Die Wahrheit wird also vom oben angedeuteten göttlichen Gesetz gestaltet. Fichte schreibt entsprechend: »Der Mensch kann nicht etwa die Wahrheit sich machen, und durch Denken sie erzeugen; die Wahrheit muß in ihm sich machen, ja sie muß ihn machen.«120 Die Menschen können die Wahrheit also nicht erschaffen, son-dern sich allein zum Standpunkt erheben, von dem aus sie sich unbezwei-felbar von selber zeigt. Streng genommen wird die Wahrheit nicht einmal erfaßt, vielmehr wird man von ihrer Evidenz gefaßt: Nichtsdestoweniger ist der Anspruch, sich in die Lage zu versetzen, in der man von der Wahr-heit erleuchtet wird, eine faktische Bedingung für ihre Manifestation:

– Allerdings, dieses sich machen der Wahrheit ist zwar durchaus nicht bestimmt, aber es ist bedingt durch ein Faktum seiner [des Menschen] Freiheit. Er muß sich nur in die Lage setzen: dann er-greift ihn ohne sein eignes weitres Zuthun die Evidenz, die zu Stande kommt nach dem Gesetze, welches Gesetz ist das ursprüng-

120 GA II 12, 201,25-28.

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l[iche] Erscheinen der Gottheit. – Wegen des a priori – a priori der ganze Inhalt: a posteriori bloß das Faktum, daß dieser Inhalt ist, da

ist. (201,30-202,2)

Selbst der Übergang vom gewöhnlichen Standpunkt zum Standpunkt der Wissenschaftslehre ist nämlich von einem Soll geführt, und daß der Mensch anhand des Gesetzes des Soll sein Handeln führen kann, ist ein Beweis seiner Freiheit und die faktische Bedingung der Möglichkeit für das Sichversetzen in den transzendentalen Standpunkt.

5. Die Erhebung des Bewußtseins zum Bewußtsein Die Untersuchung der synthetischen Periode, die von der Forderung, daß das Schema als solches erscheine, geleitet wurde, führt zur Auseinander-setzung mit einem neuen Problem: Wie kann das für ihr Zustandekommen verantwortliche Vermögen als solches erscheinen? Die Erklärung der synthetischen Periode hängt von der Möglichkeit ab, das Schema als sol-ches betrachten zu können. Das Schema erscheint dabei allerdings nicht unmittelbar als solches, sondern in einer Anschauung seines bloßen Seins, da gerade sein schematischer Aspekt unsichtbar bleibt. Wie also wurde das Schema als Schema erkannt?

Woher wissen denn wir, die W.L. daß das Schema eben ein Sche-ma ist, und nichts weiter, und wie haben wir denn bisher den Be-weiß geführt für die ganze Sphäre? Antw[ort]. Weil es ein Produkt ist des Vermögens, das Vermögen aber durchaus nichts mehr kann, denn schematisiren. (202,21-25)

In der Tat wird das Schema 2 nur dann als Schema erkannt, wenn es sich als Produkt eines Vermögens des Schematisierens darstellt. Erst durch das Vollziehen des Vermögens kann ein Schema da sein. Die Erscheinung der Erscheinung wird also als Schema erfaßt, nachdem sie als Produkt eines freien schematisierenden Vermögens identifiziert werden konnte. Fichte

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geht also jetzt von der Frage nach der Erscheinung des Schemas als Schema über zur Frage nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit, also danach, wie das Vermögen als solches erscheinen könne. Die Frage nach der Erscheinung des Schemas als Schema impliziert somit diejenige nach der Erscheinung des Vermögens als Vermögen. In der bisherigen Zusam-menstellung der Bedingungen der Erscheinung des Schemas, und daher des Absoluten als solchem, fehlt noch dieses wesentliche Element. Somit setzt Fichte die nächste Aufgabe folgendermaßen fest:

Soll drum ursprüngl[ich] im wirkl[ichen] Bewußtseyn, und unab-hängig von der WL., das Schema als solches, erscheinen, wie wir dies bewiesen haben, so müste es erscheinen als Produkt des Ver-mögens; und so müste denn, worauf es uns zunächst allein an-kommt, das Vermögen selbst, als solches, erscheinen. – . (202,25-28)

Das Vermögen aber erscheint zwar im Schema, jedoch nicht als solches, sondern nur insoweit, als sich seine Tätigkeit in seinem schematischen Produkt vollzogen hat. Wenn das Vermögen nur als Bedingung der Mög-lichkeit des Schemas erschienen ist, muß es auch ausdrücklich als solches erscheinen, d.h. als Bedingung der Möglichkeit der Erscheinung des Schemas als Schema. Fichte fragt also: »1.). Erscheint das Vermögen, als solches, in einem besonderen Schema, nach der bisherigen Darstel-lung?«,121 und antwortet gleich:

Wohl schematisirt im wirkl[ichen] entstehenden Schema das Ver-mögen sich; aber dieses sich fällt zusammen mit dem Schema, und ist nur der unsichtbare und nicht erscheinende Faktor seiner Be-stimmung. Also das Vermögen erscheint nicht als solches, sondern ist verborgen, zufolge des blossen Seyns der Erscheinung. (203,1-5)

Der lebendige Akt des Erscheinens des Vermögens hat sich bisher nicht als solcher gezeigt, sondern nur vermischt mit seinem Produkt. Wenn aber dieses Produkt als solches erscheinen soll, muß auch das Vermögen als solches erscheinen können. Das kann aber wiederum nur nach der Setzung eines Soll geschehen. Hierzu formuliert Fichte seinen schon üblich gewor-denen methodischen Vorschlag: »Soll es [scil. das Vermögen] doch [als

121 GA II 12, 202,32f.

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solches] erscheinen, so muß es erscheinen eben zufolge des absoluten Soll eines als überhaupt; und daher haben wir soeben auch seine Erscheinung mittelbar abgeleitet.«122 Fichte rekapituliert nun die ganze Struktur der synthetischen Peri-ode und stellt sie, wie schon oben, als unmittelbare Manifestation des Wirkens des Vermögens dar: Schema 2, Schema als Schema und Schema als Sein sind damit gleichzeitig vom Vermögen hergeleitet und geben ihre wechselseitigen synthetischen Beziehungen preis, die sie als Einheit er-weist. Dabei fragt Fichte, welche Art von Einheit das Zusammenhängen der Bestandteile der synthetischen Periode bedingt:

Was ist das für eine Einheit, und was sagt hier das Wort Einheit? Ist etwa die Einheit nun ein besonderes, und die Mannigfaltigkeit wieder ein besonderes? Nein; sondern die Mannigfaltigkeit eben selbst, diese Mannigfaltigkeit ist Einheit: und die Einheit ist eben nichts andres als diese Mannigfaltigkeit. (203,25-29)

Es wird hier über die synthetische Einheit berichtet, in der Einheit und Mannigfaltigkeit eben nicht auseinandertreten, sondern vereinigt sind. Tatsächlich ist das Schema 2 etwas Einheitliches, das aber eine Man-nigfaltigkeit von Elementen mit sich bringt, die in einer synthetischen Periode zusammengesetzt werden. Man könnte also sagen, daß die Voll-ziehung des lebendigen Vermögens die Einheit gewährleistet: Um was für eine Art von Einheit handelt es sich aber? Offenbar um eine tätige, synthe-tische Einheit, die vollkommen verschieden ist von der auf sich beruhen-den Einheit des Seins.

Wie läßt sich dies denken: von jedem Punkt wird die Einheit zur p [scil. Mannigfaltigkeit] fortgetrieben, und sie kann nicht seyn Eins, dieser beiden, ohne zu seyn alle; weil das Seyn des Einen ohne das Seyn der andern garnicht möglich ist. Die Einheit ist drum keines weges eine ruhende, sondern sie ist eine absolute Lebendigkeit, und Beweglichkeit; schlechthin genöthigt zu dieser Lebendigkeit dadurch daß sie Einheit ist eines Mannigfaltigen, in welchem kein einziges Ingrediens ist ohne alle die übrigen. (203,29-35)

Nun schlägt Fichte zunächst zwei mögliche Interpretationen dieser Einheit vor, die sich allerdings gleich als falsch herausstellen werden: 1) Könnte

122 GA II 12, 203,5-7.

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diese Einheit wiederum ein Sein sein? Natürlich nicht, denn das Sein ist eben »in sich selbst ein einfaches, mit sich selbst übereinstimmendes, auf sich beruhendes«,123 ganz im Gegensatz zum oben erklärten Konzept einer synthetischen Einheit des Mannigfaltigen. 2) Könnte dann vielleicht diese Einheit das Wissen sein? Die Vertiefung der Bedeutung des Begriffs Wis-sen durch einen Diskurs des wirklichen Prinzips des Schlußfolgerns führt dazu, sein Wesen im Durch, d.h. im lebendigen Hin- und Hergehen zwi-schen den Elementen, die es zusammenfaßt, zu erkennen. Daß das Wissen im wesentlichen mit dem Durch gleichbedeutend ist, macht allerdings deutlich, daß es ungeeignet ist, die gesuchte Einheit darzubringen. Wenn man nämlich genau hinschaut, verlieren sich im Durch sowohl die Einheit als auch die Mannigfaltigkeit, während beide im Produkt des Vermögens gleichzeitig anwesend sein müssen. Über die durch das Durch dargestellte Einheit äußert sich Fichte wie folgt:

Die Bestandtheile, so wie die Einheit folgen aus der Vollziehung des Vermögens; mit der Vollziehung desselben ist drum unmittel-bar ein solches Wissen wirklich geworden. Ich sage weiter: Das soeben aufgestellte ist auf diese Weise nicht möglich; denn, da die Einheit nur das durch des Mannigfaltigen ist, geht die Mannigfaltigkeit als solche selbst aus der Erscheinung verlohren: Die Einheit kann drum auch nicht das Durch desselben seyn. – . Wo liegt der Grund des Widerspruchs: weil die Einheit selbst in der Mannigfaltigkeit verlohren geht in ihr endet. Dies wäre zu heben nur dadurch, daß die Einheit selbst, als solche im Schema heraus träte. – . (204,28-205,1)

Da nun diese Einheit vom Vermögen hergestellt wird, muß sich das Ver-mögen in seiner Erscheinung als solches als Bedingung der Möglichkeit dieser gemeinsamen Anwesenheit von Einheit und Mannigfaltigkeit er-weisen. Das Wissen ist sozusagen der Ort der tatsächlichen Kopräsenz von Einheit und Mannigfaltigkeit, während das Vermögen als deren genetische Bedingung der Möglichkeit gelten muß. Hiermit schließt Fichte die 14. Vorlesung, nicht aber ohne eine positive Spur zur Identifikation dieser Einheit des Mannigfaltigen hinzuzufügen, die hier noch nicht verständlich ist, aber später von großer Bedeutung sein wird:

123 GA II 12, 204,2f.

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Was ist nun eigentlich die Einheit: Die Vollziehung des Vermö-gens ist sie: – .. Diese im Schema abgesondert; also als Freiheit vor der Vollziehung, die sich in der Gewalt hätte. In diesem Zusam-

menhange: ein freies Vollziehen der Vorstellung: darin aber ein Hingeben an dieselbe. (205,3-6)

Mit der kurzen abschließenden Bemerkung: »Soviel im Ganzen, und grossen über diesen lezten Punkt: und um mit etwas verständl[ichem] zu schliessen: Uebrigens wird in diesem Punkte eben unsre HauptUntersu-chung beginnen«,124 schließt Fichte. Die hier angekündigte Untersuchung wird erst nach fünf weiteren Vorlesungen beendet, wie er, etwa am Ende der 18. Vorlesung, erklärt: »Wir haben den Einen Haupttheil unsres Ver-sprechens erfüllt, und das, was ich selbst als den schwersten Punkt der WL. angab, vollzogen, das Bewußtseyn selbst zum Bewußtseyn erhoben: Die Durchsichtigkeit durchsichtig gemacht«.125 Es handelt sich um den Kern der Ausführung der Wissenschaftslehre. Mit der Frage, wie das Vermögen als solches erscheint, leitet Fichte also eine lange und in sich gegliederte gedankliche Bewegung ein, die die ganze Struktur des Be-wußtseins rekonstruieren und damit erhellen wird und uns darüber hinaus dazu bringen wird, das Bewußtsein als Einheit von Einheit und Mannigfal-tigkeit aufzufassen. 5.1. Die Erscheinung des Vermögens als solchem Die 15. Vorlesung beginnt mit einer langen Rekapitulation des oben Ge-sagten, setzt mit einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem kant-schen Konzept der transzendentalen Apperzeption fort und endet mit der Einleitung zu einem nächsten genetischen Schritt. Darin wird untersucht, worin »das eigentl[iche] Wesen der W.L.« liegt.126 Zwischen den beiden Hauptteilen der Vorlesung und als Übergangspunkt vom einen zum ande-ren liegt die Definition der gesuchten Einheit ihrem Charakter nach: als »Einheit der Einheit als solcher und Mannigfaltigkeit als solcher«.127 Es wird nun zunächst daran erinnert, daß ein Prinzip der Spaltung gesucht werden muß, nachdem bislang ja nur das Vermögen, sich frei zu

124 GA II 12, 205,7-9. 125 GA II 12, 219,5-7. 126 GA II 12, 209,1. 127 GA II 12, 207,3.

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schematisieren, abgeleitet worden ist. Die bisherige Untersuchung konnte aber im Vermögen schon mehr als das bloße Schema seiner selbst identifi-zieren – sie wies auch das Als nach, das dem Soll folgt: »Das Vermögen ist drum nicht bloß ein Vermögen des Schemas seiner selbst überhaupt, sondern zugleich eines Als, und ist dadurch weiter bestimmt«.128 Dadurch wurde also stillschweigend dem Vermögen die Möglichkeit zugeschrie-ben, über sein schematisches Produkt zu reflektieren. Es ist dies eine Re-flexion, die erst durchgeführt werden kann, wenn das Vermögen sich dem Gesetz des Soll unterworfen hat. Über die faktische Bedingung der Mög-lichkeit dieser Reflexion wird allerdings von Fichte noch nicht hier, son-dern erst in späteren Vorlesungen ausreichend berichtet. Nach der Ableh-nung des Durch als derjenigen Form, in der das Vermögen als solches erscheinen kann, bleibt die folgende Frage noch unbeantwortet: »Das Vermögen erscheint, wie nun und auf welche Weise[?]«129 Dabei geht es nicht mehr darum, die Art und Weise der Erscheinung des Vermögens festzustellen, sondern die seiner Erscheinung als solcher. Das Vermögen erscheint nämlich in einem Schema und somit erschöpft sich seine pure Erscheinung, d.h. seine Vollziehung, in erster Linie in einem von ihm hergestellten Produkt, das in einer doppelten Unterscheidung, also im Schema als Schema und als Sein zu diesem Schema weiter bestimmt ist. Wenn es dagegen darum geht zu klären, wie das Vermögen als solches erscheint, ist die Selbstschematisierung als Vermögen zu durchschauen. Die Argumentation für die Ablehnung des Wissens bzw. des Durch als die dem Wissen unterliegende Struktur wiederholt Fichte wie folgt:

[E]ine solche Einheit ist aufgestellterweise ganz und gar nicht möglich; und was wir gesagt haben, ist, so wie es dasteht, eitel Nichts. Es ist eigentlich nur ein Schein= und Blendgedanke, aber gar kein wirklicher. Wird nemlich das aufgestellte als Einheit ge-dacht, so geht die Mannigfaltigkeit verloren; nun aber soll es ja durchaus nicht als eine besondere Einheit gedacht werden, woge-gen wir oben gar sehr protestirt haben, sondern als Einheit der Mannigfaltigkeit: Geht nun diese verloren, so geht es selbst verloren, und zerfällt in nichts. Wird es aber als Mannigfaltigkeit gedacht, so liegen die Einzelnen Ingredienzien aus einander, wie dies gleich anfangs war, und die Einheit geht verloren. (206,17-25)

128 GA II 12, 205,19-21. 129 GA II 12, 206,5.

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Bezüglich dieser Zurückweisung einer Einheit des Wissens fährt er fort: »Wo lag der Fehler? Darin, daß auf diese Weise entweder die Einheit oder die Mannigfaltigkeit verlohrengeht.«130 Dabei erklärt er, wie die Einheit, in der das Vermögen als solches erscheint, richtig zu denken sei. Die ein-fache – auf der faktischen Ebene vorgefundene – Einheit der Mannigfal-tigkeit reicht auf der genetischen Ebene nicht aus, weil es nun darum geht, sich über die Kopräsenz von Einheit und Mannigfaltigkeit im Produkt des Vermögens Klarheit zu verschaffen. Das Prinzip des Vermögens muß daher nicht allein eine Einheit der Mannigfaltigkeit darstellen, sondern vielmehr eine Einheit, in der Einheit und Mannigfaltigkeit synthetisch verbunden sind, ohne daß eines dem jeweils anderen geopfert wird. Es handelt sich also, wie Fichte nun ausdrücklich formuliert, um eine Einheit der Einheit als solcher und der Mannigfaltigkeit als solcher, denn mit der Hinzufügung als solcher bekommen beide Elemente ihre Charakterisie-rung innerhalb der synthetischen Einheit. Dadurch kann ihre Zusammen-setzung wieder getrennt und jedes Element, sowohl die Einheit als auch die Mannigfaltigkeit, einzeln isoliert werden.

Beide sollen bleiben; und dies spricht unsre Aufgabe aus: Einheit

und Mannigfaltigkeit muß vereinigt werden. Wir sezten die synthe-tische Einheit als Einheit des Mannigfaltigen: des [Mannigfaltigen] der Synthesis – Nein – . Einheit der Einheit als solcher, und [der] Mannigfaltigkeit als solcher. Dies ist er [scil. der Fehler]. Nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar, zufolge dieser höhern Einheit ist jene andere Einheit der Mannigfaltigkeit möglich. Also – die Aufgabe ist bestimmt. (206,32-207,5)

Die unmittelbare synthetische Einheit der Mannigfaltigkeit ist also nur ein Element einer höheren synthetischen Einheit, die über die vereinigende Funktion des Vermögens als solchem und dessen komplementäre Fähig-keit, die einzelnen Elemente der Mannigfaltigkeit zu unterscheiden, je-weils als solche Rechenschaft ablegt und sie in sich vereinigt. Was bedeu-tet aber nun »Einheit der Einheit als solcher, und [der] Mannigfaltigkeit als solcher?«131 Soweit das Als auf ein Schema hinausläuft (sowohl der Einheit wie der Mannigfaltigkeit), muß das gesuchte Schema des Vermö-gens Klarheit über die Möglichkeit einer Synthese der beiden Schemata

130 GA II 12, 206,32f. 131 GA II 12, 207,3; Hervorhebungen durch Verfasser.

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von Einheit und Mannigfaltigkeit schaffen. Es geht also darum, das Als im Ausdruck als solcher zu erklären:

Wie habe ich hier das Wort als gebraucht: bloß um energisch zu reden, oder im ganzen rechten Ernste: daß die synthetische Einheit ein Schema beider sey? Wohl offenbar das leztere; denn daß das entgegengesezte im Seyn nicht Eins werden könne, versteht sich wohl: und das war auch der eigentliche Grund, warum unser erster Versuch der Synthesis misglükte. – (207,8-13)

Da also zwei Elemente, Einheit und Mannigfaltigkeit, da sind, deren höhe-re Einheit ein gültiges Schema für beide liefern muß, geht Fichte ohne besonderen Anlaß von einem der beiden, nämlich der Einheit aus und untersucht, was es bedeutet, daß sie als solche erscheint. Offenbar, so bemerkt Fichte, behandelt man hier die Genesis der kantschen Apperzep-tion, d.h. die Genesis dessen, was zwar nicht die Ich-Vorstellung, wohl aber die Bedingung oder die »Grundlage seiner Möglichkeit«132 ist: das Ich denke. Fichte versteht die transzendentale Apperzeption, also das Ich denke, als die Auffassung der Einheit, die das Vermögen in seiner Voll-ziehung bewirkt. Die transzendentale Apperzeption ist also das einheitstif-tende Prinzip des Vermögens, das in einem Schema, das heißt als solches, wiedergegeben ist. Auf diese Weise meint Fichte aber die Genesis dessen zu liefern, was Kant als höchste synthetische Instanz nur faktisch faßte. Die Auseinandersetzung mit Kant führt er nun in drei Punkten. Im ersten Punkt stimmt Fichte mit Kant darin überein, daß das Wissen bzw. das Bewußtsein keine Einfachheit, sondern eine Synthese einer Mannigfaltig-keit ist:

Es wird hiebei voraus gesezt 1.). daß das Wissen in seiner Form keinesweges ein einfaches sey, […] sondern eine zusammengesez-te, synthetische Einheit. […] Kant wuste es, wie es sich denn auch einem festen und tiefen Blike in sich selbst schon faktisch nicht verbergen kann; er hat es aber keinesweges an der Einheitsform, sondern nur an einzelnen Exempeln nachgewiesen. (207,24-208,8)

Trotz seiner treffenden Intuition hat Kant sie aber nicht genetisch bewie-sen, sondern nur an den faktischen Beispielen der synthetischen Formen a priori, also sowohl des unbestimmten Mannigfaltigen, das zur Anschau-

132 GA II 12, 208,15.

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ung kommt, d.h. Zeit und Raum, als auch ihrer mannigfaltigen Zusam-mensetzung, d.h. der Kategorien, gezeigt. Diese wurden nach Fichte, der sich hier noch der in der post-kantschen Debatte üblichen Kritik an Kant bedient, von Kant durch eine bloß faktische Betrachtung entdeckt. Obwohl sie der Form nach einer allgemeinen und insofern höheren synthetischen Einheit entsprechen müssen, wurden die Formen der Synthesis a priori von Kant nicht weiter untersucht, so daß es ihm nicht gelungen ist, sie von einem einzigen Prinzip abzuleiten. Um dahin gelangen zu können, fehlte Kant – so Fichtes zweiter Kritikpunkt – eine transzendentale Auseinander-setzung mit dem Begriff des Absoluten:

[Es wird hiebei vorausgesetzt, …] 2.) daß nun dies zwar Wissen sey, damit aber noch nicht zu Ende, […] sondern daß […] noch ein andrer Bestandtheil hinzukommen müsse; daß diese synthetische Einheit nicht bloß sey, sondern auch für sich selbst sey, sich appercipire; und daß dies schlechthhin so seyn müsse; – diese Ap-perception einen integrirenden, und unabtrennlichen Bestandtheil des Wissens ausmache. – Das leztere fühlte Kant, in einem sehr klaren Gefühl: das: ich denke, muß alle meine Vorstellungen be-gleiten können – . […] Doch nur gefühlt; nicht a priori eingesehen; seine ganze Ph[ilosophie] ist faktisch, auf Selbstbeobachtung ge-gründet, nicht spekulativ: was sie auch nicht seyn konnte, weil er sich nicht zum Denken des absoluten erhob. (208,8-18)

Angenommen also, daß diese synthetische Einheit Wissen sei, ist damit noch nicht ihr wesentlicher Charakter beschrieben, nämlich neben dem Wissen überhaupt ein besonderes Wissen, dasjenige von sich selbst, zu sein. Gerade dieses Wissen von sich selbst bezeichnet Fichte mit dem kantschen Wort Apperception. Es handelte sich dabei bei Kant um den letzten Grund der synthetischen Einheit des Bewußtseins, den er insofern dem Bewußtsein selbst zuschrieb, da er ihn, laut Fichte, faktisch dank eines Gefühls im Bewußtsein selbst fand. Dagegen wird hier von Fichte dieses Gefühl der synthetischen Tätigkeit des Wissens als Schema eines höher liegenden Grunds erklärt, der wiederum nicht mehr im Bewußtsein, sondern im Vermögen selbst, in der Erscheinung des Absoluten, beruht. Der Ableitung der Apperception widmet Fichte die folgende 16. Vorle-sung. In der 15. Vorlesung aber wird deutlich, daß diese Ableitung nur dank einer transzendentalen Auffassung des Begriffs des Absoluten, den Kant nicht hatte, geleistet werden kann, so daß Fichte über Kant schließt: »3.) eben drum weiß Kant auch nicht, und kann nicht wissen, worin die

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synthetische Einheit der Apperception bestehe. ([Er weiß] daß [sie ist], nicht was sie sey.)«133 Anschließend faßt Fichte die Stellung der Wissenschaftslehre als jene Wissenschaft zusammen, die historisch in der Ableitung der trans-zendentalen Apperzeption ihren Ausgangspunkt gefunden hat:

Die W.L. ist von der Untersuchung über diese Apperception ausge-

gangen; und durch die Lösung der Frage, was diese sey, und wa-rum sie nothwendig sey, entstanden. In dieser Untersuchung da-rum, die wir jezt beginnen, liegt das eigentl[iche] Wesen der W.L. (208,20-209,1)

Diese 15. Vorlesung endet mit einer kurzen aber scharfen Polemik gegen die Kantianer: Ihnen fehle der – von Fichte ja vollzogene – Blick in den letzten Grund des kantschen Begriffs der Synthesis, sie seien blind geblie-ben für die Unvollkommenheit der kantschen Philosophie und könnten sie demnach auch nicht vollkommen verstehen. So urteilt Fichte:

Keiner unter ihnen [scil: den Kantianern] weiß auch nur den ersten Punkt, daß das Wissen in seiner absoluten Form synthetisch sey. Wenn sie von Synthesis geläufig schwazen, so meinen sie nur die Verbindung einzelner, besonderer schon fertiger Bestimmungen des Wissens: so haben sie Kant verstanden; aber das ist seicht, und führt zu nichts. Jenes zu sehen, worauf allein es ankommt, ist ihnen das innere Auge verriegelt. (209,11-15)

5.1.1 Der Reflex Zu Beginn der 16. Vorlesung jedoch braucht Fichte für seine Argumenta-tion noch eine einleitende Bemerkung. Er fordert seine Zuhörer auf, sich daran zu erinnern, daß die ursprünglich gestellte Frage die nach der Er-scheinung des Vermögens als solchem war, und stellt nun fest, daß er erst durch eine Verkettung von Gedanken zu der Forderung gekommen sei, daß sich nicht mehr das Vermögen, sondern die Einheit als solche zeigen müsse. Damit die Lösung der zweiten Frage auch die erste löst und die Ableitung der Apperzeption schließlich mit dem Vorweisen des Schemas des Vermögens zusammenfällt, möchte Fichte nun zunächst beweisen, daß

133 GA II 12, 208,18-20.

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beide Sätze gleichbedeutend sind. Zu diesem Zweck rekurriert er darauf, daß das gesuchte Bild der Einheit notwendig mit dem Begriff des Vermö-gens einhergeht, weil die synthetische Einheit der Mannigfaltigkeit, die sich in der synthetischen Periode faktisch darstellt und nun zwingend als solche bzw. in einem Schema erscheint, eine lebendige Einheit wiederge-ben muß. Es wurde aber schon gezeigt, und zwar in der Deduktion des Vermögens im Laufe der neunten Vorlesung, daß das Vermögen eben die begriffliche Form der lebendigen Einheit der Erscheinung ist, sofern in dieser Einheit das Leben Gottes erscheinen sollte. So war Fichte nämlich ursprünglich zum Begriff des Vermögens gekommen, indem er die Frage gestellt hatte, wie das Schema des selbständigen Lebens der Erscheinung zu verstehen sei. Die Antwort auf diese Frage lautete: ›als ein Vermögen, sich selbst zu schematisieren‹. Daher gilt jetzt wie vorher, daß das Vermö-gen das Schema des Lebendigen ist, und dies gilt umso mehr für die le-bendige Einheit, die jetzt in Frage kommt: »Im Schema erscheint die Ein-heit drum nothwendig als Vermögen, und beide Worte sagen dasselbe«.134 Einheit als solche und Vermögen als solches haben daher dieselbe Bedeu-tung, sie hängen von derselben Bedingung der Möglichkeit ab. Fichte schließt also seine letzte einleitende Bemerkung:

Die Begriffe sagen dasselbe: Die zwei Sätze, die gebraucht worden, sagen dasselbe: das Vermögen muß erscheinen, wenn es zur Er-scheinung des Schema als solchen, d.i. als zu einem Produkte des Vermögens, das nichts andres ist, denn ein schematisches Vermö-gen, kommen soll. – . Der zweite sagt: die synthetische Einheit muß als solche erscheinen, wenn die Mannigfaltigkeit nicht verloh-ren gehen soll […]. (210,8-12)

Diese Mannigfaltigkeit ist die der synthetischen Periode, die wiederum aus der Kopräsenz des Mannigfaltigen und eines einheitlichen synthetisie-renden Prinzips besteht – eine Entdeckung, die gerade aus der Forderung resultiert, daß das Schema als solches erscheinen sollte. Deshalb schließt Fichte, daß auch die Einheit als solche erst dank dieser Forderung erschei-nen kann:

Die Mannigfaltigkeit gründet sich aber darauf, daß das Schema er-scheinen soll als solches, und gründet sich nur von diesem Punkte an: soll, wie wir erst uns die Sache dachten, ein blosses einfaches

134 GA II 12, 210,4f.

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Schema seyn, so ist keine Mannigfaltigkeit, aber das als fügt das Seyn, usw. [scil. das sich dem Schema als solche entgegensetzt, und damit auch die Mannigfaltigkeit] an. (210,12-16)

»Jetzt zur Sache«, erklärt Fichte am Ende dieser langen Einleitung. Die »Einheit […] erscheint schlechtweg«,135 wie man schon in der 14. Vorle-sung gesehen hat,136 und dies geschieht infolge des Als des Soll, d.h. des Ergebnisses des Gesetzes der Freiheit, das seinerseits in der Vollziehung des Vermögens dasjenige Element war, das das Erscheinen Gottes garan-tierte. Daher kann man das Als als Ergebnis der Erscheinung Gottes im Schema 2, auf die das Soll verweist, verstehen. Es gibt aber außer der Unterwerfung unter dieses Gesetz noch eine andere Bedingung für die Manifestation der Einheit; daß sich nämlich die Freiheit des Vermögens, sich zu verwirklichen oder nicht, tatsächlich verwirklicht und die Erschei-nung ein Bild ihrer selbst als Produkt dieser Vollziehung hervorbringt, eben das bekannte Schema 2. Erst dann kann nämlich das Soll mit seiner Forderung eintreten, daß Gott in ihm als solcher erscheine, daß sich ferner dafür das Schema als solches samt der notwendig folgenden synthetischen Periode darstelle und sich endlich auch ein Schema des Vermögens bzw. der lebendigen Einheit manifestiere. Denn, wie Fichte sagt:

Diese Erscheinung der Einheit ist drum zu fassen als Produkt einer Zusammenwirkung, und Wechselwirkung der selbstständigen Er-scheinung und des absoluten Erscheinens Gottes in ihr: jene giebt sich selbst her, und diese giebt ihr, nachdem sie nur ist, die weitere Bestimmung. (210,32-35)

Das Soll muß sogar unbedingt eintreten, da ja seine Funktion innerhalb der Vollziehung des Vermögens garantiert, daß dieses Produkt wirklich Bild Gottes, d.h. eben eine lebendige schematische Einheit und kein totes Schema ist. Also ist das Auftreten der Einheit als Einheit ein Ergebnis einerseits der gemeinsamen Tätigkeit der freien Vollziehung des Vermö-

135 GA II 12, 210,21. 136 Vgl. GA II 12, 203,17-25: »In dem uns nun wohl bekannten synthetischen Peri-

oden erscheint schlechthin, und stellt sich absolute hin, ein Schema; und dieses zwar als Schema: ihm gegenüber ein andres, dieses als Seyn: beide entgegengesezt, und auf einander bezogen. Ich bitte, stellen sie sich denn so getrennt hin, und geschieden, wie wir es eben ausgesprochen haben? […] Wie wäre das möglich. Keins ist ja was es ist, durch sich, sondern durch alle übrigen, und mit allen übrigen; […] also diese Ingredienzien müßten sich hinstellen als Einheit, ausserdem können sie überhaupt sich nicht hinstellen.«

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gens – oder, mit anderen Worten, der Vollziehung der Freiheit der Er-scheinung, sich in einer Erscheinung der Erscheinung zu schematisieren – und andererseits des Gesetzes des Als des Soll in ihm:

Das Gesez ist hier ein Muß, jedoch ein bedingtes: wenn die Er-scheinung sich vollzieht, was sie auch nicht konnte, so muß sie sich so vollziehn, zufolge ihres Seyns aus Gott. […] Die Freiheit soll sich vollziehen, damit es zu einem Als des absoluten komme. (210,35-211,5)

Fichte nennt nun die Folge dieses Gesetzes Reflex, um damit die Unmit-telbarkeit zu bezeichnen, mit der sich ein Bild des Vermögens zusammen mit seiner Vollziehung ergibt. Das Vermögen bringt also mit seiner syn-thetischen Vollziehung über die Einheitlichkeit seines Produkts hinaus auch unmittelbar ein Bild seiner einheitstiftenden Tätigkeit hervor. Dieses unmittelbar erscheinende Bild, der Reflex, ist genau die transzendentale Apperzeption, die Einheit als solche, das Ich denke, das alle Vorstellungen begleiten können muß. 5.1.2. Die Genesis der transzendentalen Apperzeption Das Ich denke ist also nicht das, was die Einheit schafft, sondern allein ein apperzipiertes Bild des einen schematisierenden Vermögens, das innerhalb des von ihm synthetisch zustande gebrachten Produkts für seinen notwen-dig synthetischen Zustand zeugt und immer weiter zeugen können muß. Dieses Bild ist aber als Reflex der synthetischen Einheit auch unmittelbar zu fassen.

Also, wie die Freiheit sich vollzieht, und die synthetische Einheit ist, erscheint sie sich schlechtweg. – . Dies ist denn in der Schärfe die Deduktion der Apperception pp. [scil. die bei Kant noch fehlte.] Nur aus Gott ist sie möglich. Dies der Reflex der Einheit, der nach dem gesagten schlechtweg ist, und nothwendig ist. Der Reflex, kei-nesweges etwa die Reflexion. (211,6-9)

Hinsichtlich der Erscheinung wird in erschöpfender Weise gezeigt, daß sie sich in einer doppelten Weise generiert: einerseits frei, andererseits durch ihr Sein. Sie bildet sich frei, insofern das Vermögen von sich aus zur Tä-tigkeit übergeht, also indem es sich selbst schematisiert. Durch sein Sein

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oder besser gesagt sein Da-Sein hingegen entsteht sie, da sich ja das schematische Produkt – das Dasein des Schemas 2, das das Vermögen zustande bringt, wenn seine Selbstschematisierung einmal vollzogen ist – dank des notwendig eintretenden Gesetzes des Soll als fünffache Synthesis in der synthetischen Periode zeigt. Diese wird nun unmittelbar vom Bild ihrer Einheit bzw. vom Reflex des einheitstiftenden Vermögens selbst oder von seiner Erscheinung als solcher begleitet. In einem ersten Punkt erklärt Fichte, inwiefern die transzendentale Apperzeption eben nicht einem besonderen Akt folgt, sondern gerade ein Element dessen ist, was durch das Sichmachen der Erscheinung zustande kommt:

– [1.] Oben: die Erscheinung macht sich selbst: ein Doppelsinn: sie macht sich mit Freiheit, sie macht sich durch ihr blosses Seyn. Hier das lezte. Daß in einem andern Sinne mit Freiheit reflektirt werde, ist durch den ursprüngl[ichen] Reflex bedingt. – . (211,9-12)

Erst dann also, wenn der Reflex eingetreten und in der Form des Ich denke erschienen ist, kann sich ein zweiter Akt der Freiheit vollziehen, derjenige, der nun die Reflexion vollbringt. In der Schlußbemerkung dieser Stelle erklärt Fichte nämlich, was er meinte, als er oben präzisierte: »Der Reflex, keinesweges etwa die Reflexion«.137 Denn die Reflexion ist eben das Er-gebnis der Möglichkeit der Erscheinung, auf sich selbst zu reflektieren. Das resultiert aus der vom Reflex abhängigen Bedingung, daß die Er-scheinung sich in der einheitlichen Form eines Ich unmittelbar wahr-nimmt. Ein reflektierendes Ich, ein wahres Ich, ist nun durch den sich unmittelbar darstellenden Reflex bedingt, fällt aber nicht einfach mit die-sem zusammen. Vielmehr ist es seine weitere Hypostasierung in einem Bild des Reflexes. Die Möglichkeit einer Reflexion über den Reflex wurde aber noch nicht abgeleitet. Der Reflex, der sich im Ich denke zeigt, stellt insofern erst die Möglichkeit eines Ich dar. Zur näheren Erklärung schließt Fichte den folgenden Kommentar an, mit dem er nochmals das Ergebnis seiner Überlegung an den kantschen Begriff der Apperzeption als Bedin-gung der Möglichkeit des reflektierenden Ich anknüpft.

Wer den [Reflex] nicht kennt, steht eben in der Oberflächlichkeit von der wir oben redeten. Kant nicht: Das Ich denke, muß meine

137 GA II 12, 211,8f.

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Vorstellungen begleiten können. Möglichkeit eines Ich. Das eben ists. Er wußte die Stelle gut. (211,12-15)

In einem folgenden zweiten Punkt wiederholt Fichte seine Stellungnahme zum Denken, das im Ausdruck ich denke vorkommt. Das Denken ist für die Betrachtung von Schema 2 unter der Perspektive des Als zuständig. Der Ausdruck, »Das Ich denke, muß meine Vorstellungen begleiten kön-nen«, bedeutet also, daß die Einheit des Schemas 2 immer von der Kennt-nis ihrer fünffachen synthetischen Struktur begleitet werden können muß, ohne damit als Einheit verloren zu gehen. Auch im Schema 2 also muß das Schema immer als Schema von einem entsprechenden schematischen Sein, das als Sein erscheint, unterschieden werden können. Der Reflex erscheint angesichts der Forderung, daß Gott als solcher erscheinen soll, automatisch als Zeichen des Erscheinens des Vermögens, bzw. seiner Einheitsstiftung, eben als solchem. Das gilt für Fichte als ein weiterer Beweis und ist sogar die Wurzel seiner Idee, daß das Denken nicht als eine Tätigkeit des Ich vorkomme, sondern es sich allein dank der Erscheinung des absoluten Seins Gottes manifestiere. Demzufolge kann er schließen:

– [2.] Oben: wir denken nicht, sondern das denken macht sich selbst. So faktisch in den Thatsachen. Hier haben wir dieselbe Ein-sicht in ihrer Wurzel. Die Einheit hat schlechthin, zufolge des Seyns der Erscheinung aus Gott, ihren Reflex. – . Dies die Form. Jezt zum Inhalte dieses Reflexes. (211,15-18)

Da das Ich denke erst als ein Reflex der fünffachen Vollziehung des Ver-mögens erscheint, wird hiermit bewiesen, daß es mit dem Als zusammen auftritt, nicht aber als sein Grund, sondern als seine Folge. Im apperzipier-ten Ich denke ist es also nicht das Ich, das eigentlich denkt, sondern es ist das sich beim Als ergebende Denken, das sich zeigt und dabei nur in der Form der ersten Person im Reflex aufgefaßt werden kann. 5.1.3. Der Inhalt des Reflexes Der Grund, auf den sich die Apperzeption stützt, ist nun deduziert. Sie wird nicht als letzte Instanz der Synthesis verstanden, denn sie ist nur Reflex der bei seinem Vollziehen einheitstiftenden Tätigkeit des Vermö-gens. Was sich allerdings in diesem Bild des Vermögens darstellt und also

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der Inhalt eines solchen Bildes ist, muß noch erhellt werden. Zunächst ist jedoch der Inhalt der faktischen Apperzeption des Vermögens zu vertie-fen. Fichte erklärt:

1.). […] Wir haben bisher von Vermögen gesprochen, auch einge-sehen, daß die Erscheinung schlechtweg ein solches selbstständiges Vermögen seyn müsse, und daß mit diesem ihr ursprüngl[ichen] Seyn an Gott sich erst schliesse: wir hatten da ohne Zweifel einen Gedanken, und so ein Bild des Vermögens, und wie wir zu diesem

Bilde kamen, darüber haben wir uns, mit Recht nach dem einmal nothwendigen Gange unsrer Wissenschaft, nicht gekümmert. Se-hen wir doch jezt auf den realen Gehalt dieses Denkens. – . (211,22-30)

Die Einführung des Vermögens wurde ursprünglich durch die Frage moti-viert, wie man sich der Freiheit oder des göttlichen Lebens in der Erschei-nung bewußt werden könne. Jedoch erweist sich bei genauerer Erfor-schung der Gedanke des Vermögens als leer. Mit dem Ausdruck Vermö-gen hat Fichte die Möglichkeit und die dynamische Fähigkeit, ja die Macht und die Kraft der Erscheinung bezeichnet, frei eine Schematisie-rung ihrer selbst hervorzubringen. Ganz gleich, ob diese Freiheit sich nun vollzieht oder nicht, in beiden Fällen ist offensichtlich, daß der Begriff des Vermögens keinen eigentlichen Inhalt besitzen kann. Wenn das Vermögen sich nämlich nicht vollzieht, steht man vor einer leeren Eigenschaft der Erscheinung, irgendetwas zu schaffen, dem aber jeglicher wahrer Inhalt fehlt. Wenn es sich hingegen vollzieht, hat man ein Produkt, d.h. einen Inhalt des Vermögens, welches sich jedoch vollständig im schöpferischen Akt und in dem darauf folgenden Produkt erschöpft, ohne daß dabei vom Vermögen selbst eine Spur übrig bliebe. Mit den Worten Fichtes:

Es sind doch wohl nur zwei Fälle: entweder das Vermögen voll-

zieht sich nicht: so ist es doch wohl höchstens nur zu denken als ein ruhendes Accidens der Erscheinung; hoffentlich aber nicht als eine besondre Substanz, oder ein besondrer materieller, und substantiel-ler Bestandtheil an der Erscheinung. Oder es vollzieht sich: so ist es nicht blosses Vermögen, sondern irgend eine That, und das blosse Vermögen ist durch die That vernichtet. (211,30-212,4)

Dennoch behauptet Fichte, einen realen Gedanken des Vermögens formu-liert und damit ein Bild davon besessen zu haben. Worum aber handelt es sich und wie wird man sich dieses Gedankens bewußt? Offenbar ist es ein

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bloßes Bild ohne entsprechendes Vorbild, ein Bild, das keine Nachbildung von etwas ist, sondern allein ein Produkt des Formens.

Also – ein blosses Vermögen ist in der That ganz und gar nichts, hat in keinem Sinne Realität, und hält, ohnerachtet es bisher ge-dacht worden, dennoch selbst gegen das Denken nicht Stand. Nun soll doch schlechtweg ein solches Bild eines blossen Vermögens seyn. Ein solches ist drum eine reine und absolute Schöpfung des Bildens, ohne alles Urbild irgend einer Realität; es ist durch und

durch Bild, und nichts weiter; wiewohl es selbst, als Bild, eben ist. – . (212,4-9)

Dies ist allerdings eine »wichtige Entdekung«, wie Fichte weiter unten ausführt, denn es ist ihm damit gelungen, den Charakter reiner Bildlichkeit der Erscheinung zu isolieren. Der Ausgangspunkt der Wissenschaftslehre war nämlich der Gedanke der Erscheinung oder des Seins außerhalb des Seins. Auch die Erscheinung wurde also als eine Form des Seins gedacht. Nun hebt man unwiderruflich die eigentliche Seinsform der Erscheinung als bloßes Bild hervor und hat im Bild des Vermögens ein klares Beispiel dafür. Im Gedanken des Vermögens erscheint die Erscheinung als solche, d.h. als reine Erscheinung ohne irgendein Sein.

Die Erscheinung soll sich erscheinen als solche: da ist gar kein Seyn. Wir haben eine sehr wichtige Entdekung gemacht. Die Erschei-nung ist durchaus nicht das Seyn, haben wir gesagt: sondern sein eignes besondres seyn. Was denn nun? Jezt haben wir die reine, pure lautere Erscheinung an etwas construirt: an dem Vermögen nämlich. Diese Erscheinung nun, die absolut ist, wird das Element seyn, woraus alle andere Anschauung gemacht wird. – . (212,11-15)

Das Bild des Vermögens ist also die Erscheinung, ihrem reinen Erschei-nungscharakter nach gefaßt. Dabei wird deutlich, wie gut für sich dieses Bild gerade der Terminus Reflex eignet, denn es geht nicht mehr um ein mögliches Abbild, sondern um die Spiegelung seines reinen Erscheinens innerhalb seiner Erscheinung – d.h. nachdem sich die Erscheinung aus-führlich in einer Erscheinung der Erscheinung gezeigt hat und sich somit erschienen ist.

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5.1.4. Ein Beispiel zur Erklärung Diese Ausführungen möchte ich anhand eines Beispiels aus der bildenden Kunst näher erläutern. Man denke an das berühmte Bild Las Meniñas von Velàsquez.138 Das Bild zeigt einen Raum, in dem ein Maler mit Pinsel und Palette in den Händen vor einer großen Leinwand steht. Von der Lein-wand ist nur die Rückseite zu erkennen, rechts von ihr blickt der Maler hervor, der gerade innehält und sich den Betrachtern des Bildes zuzuwen-den scheint. Neben ihm befindet sich eine Gruppe von Menschen, darunter die Tochter des Königs von Spanien, Isabel, die gleichsam im Zentrum des Bildes steht. Im Hintergrund ist eine Wand mit einer offenen Tür zu erkennen, von der aus ein Mann ins Zimmer blickt. An der Wand hängen mehrere Bilder und ein eingerahmter Spiegel, der ein Bild zurückwirft, das sich besonders gut zur Erläuterung von Fichtes Reflex eignet. Das Spiegelbild zeigt nämlich das Königspaar, das der Maler porträtiert und das er eigentlich gerade in diesem Augenblick anschaut. Interessant ist nun, daß sich das Spiegelbild deutlich von den anderen an der Wand an-gebrachten Bildern unterscheidet. Es gibt sich nämlich zweifellos als Ab-bildung eines reflektierten Bildes zu erkennen. Wie aber ist es Velàsquez gelungen, dieses Bild im Spiegel von den anderen Bildern abzuheben? Er erreicht dies durch zwei Details, nämlich einen Lichtfleck in der rechten unteren Ecke des Spiegelbildes und einen helleren Rand, der das Spiegel-bild vom Rahmen des Spiegels abhebt. Es sind dies zwei Reflexe, die sich als Versinnlichung des fichteschen Begriffs von Reflex verstehen lassen. In ihnen wird nichts abgebildet, denn obwohl der Fleck und die Umran-dung das Licht reflektieren und dadurch das Bild als Spiegelbild zu erken-nen geben, wird kein bildlicher Inhalt transportiert. Gerade in diesem ab-gebildeten und nicht abbildenden Bild aber äußert sich die Bedingung der Möglichkeit des Spiegelns, d.h. des Erscheinens einer Erscheinung inner-halb dieser eingerahmten Oberfläche. Nun kann man das Bewußtsein mit diesem gemalten Spiegel ver-gleichen und dabei den fundamentalen Unterschied erkennen, daß es nicht nur die Fähigkeit hat, Bilder in sich zusammenzustellen, sondern auch die Bedingung der Möglichkeit der in ihm zusammengestellten Bilder selbst zu betrachten und sich sogar von dieser Bedingung ein Bild zu machen:

138 Für eine bemerkenswerte philosophische Interpretation dieses Bildes vgl.: M. Foucault: Les môts et le choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris 1966, Kap. I.

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Dem Bewußtsein entsteht ein Bild des eigenen helleren inhaltslosen Ran-des, damit wir uns dessen bewußt sein können. Dies ist nun der Reflex, der an sich selbstverständlich erscheint, aber leer ist und damit die Bedin-gung der Möglichkeit sowohl des gegenwärtig gespiegelten Bildes als auch eines weiteren Zusammenstellens von Bildern wiedergibt, denn alle Bilder im Spiegel des Bewußtseins müssen immer von diesem helleren Rand eingerahmt werden können. Es handelt sich also um das Bild des Ich denke, das alle Vorstellungen begleiten können muß. Nicht dies ist aber das Synthetisierende am Bilden, es ist allein das Schema der höchsten thetischen und dabei unmittelbar auch synthetischen Tätigkeit des Bil-dungsvermögens, wenn es die Erscheinung zum Selbsterscheinen bringt. 5.1.5. Schema und Sein des Vermögens Fichte fährt fort, indem er den letzten Satz des vorangehenden Zitats wie-der aufnimmt – »wiewohl es selbst, als Bild, eben ist« – und ihn in einem Prinzip bestätigt, das er als äußerst wichtig deklariert: »Ich sage: ein höchstwichtiger Satz: im Vermögen ist, falls man das Vermögen be-schreibt, Schema und Seyn schlechthin Eins«.139 In der Beschreibung des Vermögens sind Schema und Sein folglich dasselbe, was daraus resultiert, daß wir dort, wo das Vermögen beschrieben wird, in dieser Beschreibung nur ein Schema haben. Da aber das Beschriebene wiederum nur ein Ver-mögen zur Herstellung von Schemata ist, muß im Schema des Vermögens auch sein schematisches Produkt anwesend sein. Denn in der Beschrei-bung des Vermögens darf nichts von dem fehlen, was das Vermögen als Vermögen betrifft. Fichte fährt fort:

Heben Sie damit an sich ein bestimmtes Vermögen zu denken, zu dem und dem x, y. z. […] sein als, sein Charakter wird gedacht; also es wird in seinem blossen Schema gefaßt, ohne alle Rüksicht darauf, ob es sey oder nicht: und also gefaßt wird es zufolge des Gedankens eines blossen Vermögens, und durch die Beschreibung desselben, als Vermögen eines x. (212,21-29)

Das »Vermögen eines x« geht dadurch, daß es allein wegen seiner Cha-rakteristik eben als Vermögen eines x und als nichts anderes gedacht wird,

139 GA II 12, 212,20f.

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vollkommen in seiner Beschreibung und daher in seinem Schema auf. Im Akt löst es sich auf und verschwindet, so daß außerhalb seiner Beschrei-bung das Vermögen nicht mehr existiert, sondern nur das bleibt, was blind, d.h. unbewußt, mit ihm zusammengewachsen ist. Dieses reine Bild-Sein des Vermögens ist nun gerade die charakteristische Seinsform des Seins außerhalb des Seins. Denn das Vermögen ist selbst nichts anderes als die Erscheinung, blickt man allein auf ihre tätige, praktische Fähigkeit, einem Bild von sich Gestalt zu geben. Wenn man also den Inhalt des Bil-des analysiert, welches das Vermögen von sich gibt, erweist es sich als reines Bild; gerade als reines Bild ist es dennoch aber zweifellos da. Was ist also in dieser Beschreibung eigentlich zu finden? Mit dem puren Aus-druck Vermögen wird eine Fähigkeit, eine Kraft angezeigt, die mit der Macht ausgestattet ist, sich zu vollziehen, die aber, als reines Vermögen gedacht, bei sich bleiben muß, ohne aus sich herausgehen zu können. Wenn die Kraft in die Tat übergeht, verschwindet das Vermögen nämlich:

Jezt das Vermögen selbst, als solches, in seiner reinen Form. Of-fenbar: eine auf sich selbst ruhende sich selbst haltende Kraft, durchaus und schlechtweg ohne alle Aeusserung. Dies, diese Form

des ruhens auf sich selbst, diese Duplicität, Rükkehr, und Ver-

schlossenheit der Kraft in sich ist die reine Form des Vermögens in absoluter Einheit. Diese wenn sie wäre, und zu seyn vermöchte,

wäre nun eben in sich verschlossen, und es folgte daraus nichts […]. (212,33-213,4)

Das Vermögen wird demzufolge als Motor der Erscheinung gedacht, denn seine Tätigkeit fließt kontinuierlich in sich selbst zurück ohne irgendeine wirkliche Folge außerhalb seiner selbst. Es ist aber ein Vermögen, sich selbst zu schematisieren, und muß daher ein Schema dafür liefern, wie es selbst ist, d.h. ein Schema seiner Geschlossenheit in sich selbst. Das leistet das Vermögen, indem es in sich selbst verbleibt und damit sich selbst in einem Schema von sich selbst reflektiert. Dadurch entsteht nach Fichte die Form des Ich. Denn

sie soll nach dem obigen durchaus sich reflektieren, in Einem Schema: also es entstände ein absolutes Schema ihrer selbst, als eben eines selbst, eines auf sich ruhens: Kurz ein Schema ad legem eines Ich. (213,4-7)

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Dieses Schema hat die Form des Ich nur dem Gesetz der Reflexion nach, weil die Reflexivität, aus der es hervorgeht, in ihrem Kern der Form der Ichheit entspricht. Es ist dennoch nicht selbst ein vollkommenes Ich, son-dern, wie gesagt, die Bedingung seiner Möglichkeit, die ihm die Form gibt. Es handelt sich insofern um eine Ichheit de iure, aber nicht de facto, denn ein faktisches Ich ist noch nicht da. Darüber hinaus hätte dieses Schema vom Vermögen nie produziert werden können, wenn es sich nicht in einer tatsächlich synthetischen Einheit vollzogen hätte, so daß es nur einschließlich dieser synthetisierenden Tätigkeit als deren Reflex entsteht.

Nun aber kann – darauf kommt alles an, laut des Zusammenhan-ges, ein solches Schema allein, in der jezt beschriebnen Einheit, nicht entstehen, sich nicht für sich selbst machen, sondern es kann nur entstehen, als Reflex einer wirklichen synthetischen Einheit. (213,7-10)

Der Reflex ist also das Schema des Vermögens als Vermögen und selbst sein Produkt als unmittelbares Ergebnis der Schematisierung seiner syn-thetisierenden Tätigkeit. Diese Schematisierung im Reflex kann aber vom Vermögen hergestellt werden, nachdem es sich tatsächlich vollzogen und somit selbst ein Schema 2 und die damit verbundene synthetische Periode projiziert hat. Dann kann das Vermögen auch unmittelbar als solches er-scheinen, d.h. in einem Schema gleichzeitig als Dasein der Kraft und als von der Kraft bestimmtes Schema sich selbst erscheinen: als Dasein der Kraft, weil die Kraft nur in ihrem Schema als solche erscheint, und als von der Kraft bestimmtes Sein, weil in diesem Schema das spezifische Produkt ihrer schematisierenden Tätigkeit erfaßt wird. Das Schema von sich selbst, der Reflex, kann also vom Vermögen erst als Schema anerkannt werden, wenn es sich von einem ihm entgegengesetzten Sein des Vermögens un-terscheidet. Fichte hierzu:

– Das Vermögen als solches ist ja, wie wir gesehen haben, über-haupt nicht; im Ernste ist eine wirkl[iche] Vollziehung der Freiheit, und deren Reflex ist das Bild eines Vermögens: Da nun ein Bild nothwendig als Bild sich schematisirt, und dies nicht ohne einen Gegensatz des Seyns möglich ist so projicirt dieses Bild aus sich selbst ein Seyn des Vermögens; und so sehen wir auch klarer, wie im Vermögen Seyn und Bild eins sey, indem ja das Seyn das Bild selbst ist, nur nicht als solches. (213,20-26)

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5.2. Das Sehen Mit dem Reflex hält aber auch ein neuer Begriff Einzug, das Sehen, das als weitere Bestimmung des Vermögens eingeführt wird. Fichte bestimmt das Sehen als den Zusammenfall von Schema und Sein und da beide gera-de in der Beschreibung des Vermögens zusammenfallen, ist es das Sche-ma des Vermögens, der Reflex, in dem das Vermögen erscheint und das Sehen hervortritt. Hier erhält man zugleich das Sehen und das Sichsehen oder, in der Erweiterung, das Sehende und das Gesehene. Im Sehen tritt also das Wesentliche der Erscheinung ans Licht, das zugleich das ist, was erscheint, und das, was in einer Erscheinung erfaßt, also gesehen wird. Im Vermögen fallen die Bedingung der Möglichkeit des Sehens – die Er-scheinung – und das Sehen selber – die Erscheinung der Erscheinung – zusammen, ihr Identitätspunkt ist seine Ichform. Dabei zeigt sich die Fä-higkeit, ein Etwas und zugleich sich selbst zu sehen.

Nennen wir etwa die absolute Identität, und das Zusammenfallen des Seyns und des Schema’s sehen, worin wir wohl recht haben dürften, so ist das Vermögen schlechthin und unmittelbar sich sichtbar: – sich, weil es die Form des Ich hat. – Wo daher Vermö-gen ist, da ist absolute Sich Sichtbarkeit und umgekehrt. (213,26-30)

Auf diese Weise also kommt das Vermögen dahin, sich als die wesentli-che Bestimmung der Erscheinung zu definieren. Das Vermögen wurde ursprünglich als das vorgestellt, wodurch in der Erscheinung die Spaltung zwischen dem absoluten Sein und dem Dasein, Gott und seiner Erschei-nung, hervortritt. Fichte hat in der Folge auf dem Vermögen selbst die pure Erscheinung konstruiert, indem er ihre Eigenschaft erfaßte, ein leeres Schema zu sein. Nun beginnt man die Struktur zu verstehen, durch die sich die Spaltung verwirklicht, und erfaßt ihr wesentliches Moment im Hervorgehen aus dem Reflex. Es ist die aus dem Vermögen entstehende synthetische Periode der Ort, an dem in der Erscheinung und von der Er-scheinung her der Reflex auftritt, dem es wiederum zu verdanken ist, daß sich die Erscheinung Gottes gerade in der Form der Erscheinung bzw. des Seins außerhalb des Seins selbst erfassen kann. Der Reflex ist also der Kernpunkt der Bewegung der sich selbst erscheinenden Erscheinung: In ihm erfaßt sich das Vermögen unmittelbar als solches, und zwar als sche-matisierende und synthetisierende Tätigkeit. Nun entspricht aber diese

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Tätigkeit, in der Schema und Sein immer zusammen auftreten, dem Sehen. Der Reflex ist daher die Bedingung der Möglichkeit des Sehens überhaupt und des Sichsehens des Vermögens im besonderen. Fichte fragt: »Gibt es nun etwa ein absolutes Sichsehen, oder eine Anschauung des reinen Ver-mögens, als solchen?«, und antwortet darauf: »Ja, wenn es nur ein abge-sondertes Bild desselben gäbe«.140 Dieses abgesonderte Bild gibt es eben-falls und zwar im Begriff des Auges. Es gibt eigentlich kein Auge ohne Sehen, so wie es kein Sehen ohne Sichsehen und Gesehenes gibt. Im Akt des Sehens kann man allerdings das Auge gerade als Schema des einfa-chen Sehvermögens verstehen. Fichte schließt:

[D]ieses [Bild] ist nur in einem synthetischen Zusammenhange mit einem andern Gliede, und ist bloß der Reflex dieses andern, und seiner, nicht reinen, und einfachen, sondern synthetischen Einheit. Also, die absolute Identität des Vermögens, was eine reine und ein-fache, keinesweges eine synthetische Einheit ist, giebt bloß die Sichtbarkeit her für die andere, synthetische Einheit. Allenthalben ist es Vermögen x, y. z. und schaut drum in sich als Vermögen an x. y. z. Dies ist das Auge, das eingesezt ist. (213,32-214,4)

Mit der Deduktion des Auges beendet Fichte die 16. Vorlesung. Der nähe-ren Erklärung des Sehens wird er die 17. Vorlesung widmen. Sie beginnt mit einer klaren, langen Zusammenfassung der bereits erklärten Struktur des Sehens, wonach eben das »empirisch bekannte« Sehen als »ein Zu-sammenfallen, [ein] völliges gegenseitiges sich Durchdringen des Schema und des Seyns«141 dargestellt wird. Wenn Fichte seinen Zuhörern nun erklärt: »Sie sollen Ihnen empirisch bekanntes Sehen ansehen, und tief erfassen: eben als solches«,142 dann entsteht gleich die Frage, wie man das empirisch bekannte Sehen in diesem Sinne verstehen kann. Dies wird zum einen dadurch geleistet, daß im Sehen das Gesehene offenbar eine bildli-che Struktur hat, wobei es aber zugleich auch als etwas Reales, d.h. als ein objektives Dasein angenommen wird; zum anderen aber dadurch, daß beide, das Bild und das in im abgebildete Dasein, im reinen Sehakt selbst nicht zu unterscheiden sind, da sie ganz im Gegenteil im faktischen Sehen eine Einheit bilden und erst nachträglich unterschieden werden. Wenn man also an die Eigenschaft des Sehens denkt, zwei Aspekte in sich zu

140 GA II 12, 213,30-32. 141 GA II 12, 214,13-16. 142 GA II 12, 214,13f.

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haben – denn es besteht zugleich aus einer Aktivität (man sieht etwas, nur insofern man es betrachtet) und aus einer Passivität (man schafft streng genommen nichts im Sehen selbst, sondern läßt nur ein Bild als gesehen entstehen), kann man die oben angeführten Glieder der Definition von Sehen als Zusammenfallen von Schema und Sein in folgender Weise ver-stehen: das Schema als das Produkt des Hinsehens und das Sein als das Gesehene, insofern es vom Sehenden als völlig unabhängig verstanden wird. Diese zwei Aspekte, Schema und Sein, existieren aber nur in der und für die Reflexion auf das Sehen, d.h. sie kommen erst in einem Sehen des Sehens vor, wobei das einfache Sehen nur aus einem Zusammenfallen von Schema und Sein, »als ein geschloßnes und in sich aufgehendes Seyn«143 besteht. Folgendermaßen argumentiert Fichte und zeigt dabei vermutlich auf den Ofen im Vorlesungsraum:

Was ist Sehen? […] Sie sollen Ihnen empirisch bekanntes Sehen ansehen, und tief erfassen: eben als solches; auch dies dermalen empirisch, und faktisch. Ich behaupte Sie werden finden: es sey ein Zusammenfallen, völliges gegenseitiges sich Durchdringen des Schema und des Seyns: (Sie sehen diesen Ofen: in beiden). Dieses Zusammenfallen eben als ein geschloßnes und in sich aufgehendes Seyn: (denn dermalen sehen Sie nicht den Ofen, sondern Ihr Sehen des Ofens.). (214,11-18)

5.2.1. Das Bewußtsein Nun präzisiert Fichte, indem er die Wechselseitigkeit aufzeigt, die sich zwischen dem genetischen und dem faktischen Moment vollzogen hat. Vertieft man sich in den Inhalt der Anschauung des Reflexes, so neigt man zu dem Schluß, daß er in Wirklichkeit nicht der Reflex des Vermögens, sondern eher der Reflex des Vollzogenseins des Vermögens ist, d.h. seines Produkts und insofern einer Tatsache. Eine solche Tatsache ist, da sie der Vollziehung des Vermögens folgt, einerseits eine Beseitigung des Vermö-gens, andererseits aber stellt sie die faktische Bedingung der Möglichkeit seiner Erscheinung als solcher dar. Tatsächlich hat man es im Reflex nicht direkt mit der Tätigkeit des Vermögens zu tun, sondern höchstens mit der Projektion eines Schemas desselben auf der Grundlage seines Ergebnisses,

143 GA II 12, 214,16f.

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das nur nach der Unterbrechung seines Wirkens zustande kommt. Wenn nämlich das Vermögen seine eigene schematisierende Tätigkeit erfaßt, kann es tatsächlich nicht in seinem üblichen schematisierenden Wirken am Werk sein, sondern es muß zuerst diesen unterbrochen haben und anhand des Gesetzes des Soll auf sich reflektiert haben, wobei es sich in der Form eines Als erfassen kann. Denn wenn dagegen das Vermögen direkt am Werk ist, vollzieht es sich in einer ständigen Synthese von Schema und Sein in actu und dann ist kein Reflex von ihr vorhanden. So nämlich Fich-te:

1.) Das Vermögen, schlechtweg als solches, als blosses reines Ver-mögen, ist der Punkt des Zusammenfallens [vom Seyn und Sche-ma]. Ist ein Vermögen, so ist sein Schema, und v[ice] v[ersa] und was im Seyn d[es] V[ermögens] ist, ist in seinem Schema und v[ice] v[ersa]. (214,25-27)

Dieses Zusammenfallen wurde aber bereits von Fichte als Sehen definiert, so daß tatsächlich der Reflex, welcher ursprünglich als Schema des Ver-mögens vorgestellt wurde, in Wirklichkeit nicht so sehr ein Reflex des Vermögens als vielmehr ein Reflex von dessen Realisierung, mithin des Sehens ist. Das Schema des Vermögens kann nämlich erst vom Sehen und daher vom Gesehenen aus gedacht werden, denn das Vermögen kann nicht auf frischer Tat ertappt, sondern nur nachträglich ermittelt werden. Fol-gendermaßen erklärt Fichte, inwieweit der Reflex eher der eines Faktums als der des Vermögens ist:

Nimmt man zuförderst an, das Vermögen ist, so folgt daraus un-mittelbar kein Schema. Aber wir wissen aus dem obigen, daß, zu-folge des absoluten Als, das Vermögen seinen Reflex bei sich füh-re, jede weitere Bestimmung desselben drum ihren Reflex. Nun soll man dies nicht einmal annehmen, das Vermögen ist in der That nicht, sondern es ist rein und lauter Schema in Grund und Boden; und das wovon es der Reflex ist, nicht ein Vermögen ist, sondern ein, das Vermögen aufhebendes Faktum. (214,27-34)

An dieser Stelle dürfte man also nicht mehr vom Vermögen als solchem sprechen, sondern nur von seinem Schema; und auf diese Weise findet man seine Eigenart, die ihm als Schema zukommt.

Es ist drum um so klärer, daß da das Vermögen durchaus nur Sche-ma ist, jede weitere Bestimmung des Vermögens, (das was im Ver-

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mögen ist) unmittelbar eben eine weitere Bestimmung des Schema ist (schlechthin nothwendig ist, und vorkommt in diesem Schema.). (214,34-215,3)

Von diesem Gesichtspunkt aus überdenkt Fichte nun die gesamte vorher dargelegte Struktur der synthetischen Periode. Das Vermögen, das nun restlos mit seinem Schema zusammenfällt – und dabei tatsächlich das Schema Gottes bzw. des Seins außerhalb des Seins ist –, wird, vom Reflex der Einheit aus gesehen, die das faktische Sehen bietet, als die ganz eigen-ständige Form wiedererkannt, die sich in Schema als Schema und auf dieses bezogenes schematisches Sein spaltet. Fichte folgert also weiter:

2.) Den Unterschied, und das darauf gebaute Zusammenfallen des Seyns, und des Schema im Vermögen […] denken Sie nun so: […] Das absolute Schema sezt sich eben in sich als Schema, und so ent-steht ihm denn im Gegensatze ein Seyn, was ja gerade dasselbe ist, was im Schema als solchen liegt. Urganzes; ein Schema, das zufol-ge des Zusammenhangs, als Reflex eines Faktum, ist ein bestimm-tes. Dieses Schema spaltet sich in sich selbst, so wie es ist, forma-

liter, und qualitative in zwei Hälften; Schema als Schema, Seyn eben des Schema […]. (215,4-13)

Da außerdem das Vermögen nie von seinem Reflex getrennt auftreten kann, gilt natürlich, daß synthetische Periode und Reflex, und also auch Sehen und Sichsehen, immer verbunden sind. Das Vermögen ist insofern der Ort, an dem ein Sehen begegnet, das immer von seinem Sichsehen begleitet wird. Dies gibt Fichte, wie der folgende Abschnitt zeigen wird, die Begriffe für die Synthesis des Bewußtseins an die Hand. Da ja tatsäch-lich die Grundbedingung des Erscheinens der Erscheinung die Reflexion ist, zeigt sich hier eine ichförmige Struktur, die als Dreh- und Angelpunkt der Reflexion fungiert und ihre weitere Bestimmung in Richtung auf das Bewußtsein und das eigentliche Ich bereits ankündigt. Nun wurde gerade dieses Zusammenfallen und gegenseitige sich Durchdringen des Schemas und des Seins schon als Sehen anerkannt, wobei aber in ihm offenbar we-gen der absoluten Durchdringung seiner Bestandteile weder Schema noch Sein unmittelbar als solche erscheinen können. Somit kann auch das Ver-mögen als solches nicht unmittelbar erscheinen, denn erst zufolge der Erscheinung des Schemas als solchem kann man auch nach der Erschei-

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nung des Vermögens als solchem fragen.144 Das Sehen stellt sich also, obwohl es erst jetzt abgeleitet wird, als das wahre ursprüngliche Faktum dar, das aber erst danach als Zusammenwachsen (oder »Concretion«) von zwei Bestandteilen verstanden werden kann:

Das beschriebne Zusammenfallen, im Zusammenfallen, und als Zusammenfallen, in dieser Concretion ist das Sehen; das in sich aufgehende, einfache, damit geschloßene Zusammenfallen. Es kommt drum in dieser Concretion keinesweges das Vermögen, in seiner Duplicität, und Beziehung auf sich selbst vor; sondern an seiner Statt, das Sehen, und dies ist das einzige Faktum was hier vorkommt. (215,17-22)

Im Vermögen wird also das Prinzip der Sichtbarkeit und des Sehens ge-funden, das nun sich – und sich selbst – als Erscheinung Gottes offenbart. Selbst das Vermögen erscheint als solches erst durch den Reflex des Fak-tums, d.h. des faktischen Sehens als Produkts seiner ursprünglich blind zustande gekommenen Schematisierung. Dadurch wird das Vermögen in seinem Reflex das Auge, das das Zustandekommen der Erscheinungswelt kontinuierlich begleitet und daran teil hat.

4.) Der Satz: Das Faktum führt den Reflex eines Vermögens bei sich, heißt eben: es wird gesehen: Dieser Reflex ist zufolge des Er-scheinens Gottes, weil dieser als solcher erscheinen soll, heißt: das Sehen ist zufolge dieses Erscheinens, und ist dieses Erscheinen, und dasjenige, das dieses Erscheinen selbst zum vollständigen Fak-tum vollendet. Sehen – in der Form – schlechthin Sichtbarkeit Gottes. Dazu ist es da. […] Das Vermögen ists, an dem das Sehen sich entzündet; und das der näher beschriebnen finstern syntheti-schen Einheit das Auge einsezt. (215,22-31)

Von hier an wird Fichte das Vermögen als Vermögen zu sehen behandeln, also ausdrücklich als Erkenntnisvermögen Aufgrund der notwendigerwei-se schematischen Form seines Sichvollziehens geht jedoch die wahre Na-tur der erscheinenden Welt als Erscheinung Gottes in ihrem Produkte auf. Nach der Ableitung des Sehens und seiner inneren Reflexivität interessiert also Fichte am Vermögen nur noch sein schematischer Charakter, näm-lich: ein Sehvermögen, ein Auge zu sein. Dabei kann die Erscheinung

144 Vgl. oben Kapitel Die Erscheinung des Vermögens als solchem.

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Gottes eben nur als Vorstellung erfaßt werden. Die Ableitung des Reflexes stellt daher einen Wendepunkt innerhalb dieser Darstellung der Wissen-schaftslehre dar, insofern nach dieser Ableitung am Vermögen nicht mehr interessiert, was es ist, sondern wie es sich bzw. uns in einem Schema und in dessen weiteren Bestimmungen erscheint. Im letzten Punkt dieser 17. Vorlesung fragt Fichte nach der Mannigfaltigkeit und antwortet:

Die weitere Bestimmung die im Seyn des Vermögens ist, ist noth-wendig auch in seinem Schema, wie wir gesehen haben: Diese weitere Bestimmung ist aber nicht das blosse einfache Vermögen, sondern ein weiteres, drum ein mannigfaltiges […]. (215,32-34)

Hier ist mit »weitere Bestimmung […] des Vermögens« sowohl seine Sichvollziehung zum Schema 2 als auch die damit zugleich sich ergeben-de – offenbar mannigfaltige – synthetische Periode zu verstehen. Nun schreitet Fichte fort, indem er mit dieser synthetisierten Mannigfaltigkeit das bereits abgeleitete Sichsehen des Vermögens im Reflex anknüpft:

[U]nd so träte denn durch das unmittelbare sich sehen des Vermö-gens auch die Mannigfaltigkeit ein in das Sehen, und würde sicht-bar. Aber wie und unter welcher Bedingung? Offenbar nur unter der, daß das Vermögen, als Vermögen sich sähe in jedem Gliede des mannigfaltigen; (215,35-216,3)

Aus dieser Prämisse kann Fichte endlich zur Darstellung der Struktur des Bewußtseins als Ort der Synthesis des faktischen Sehens kommen:

[S]o würde denn das Verknüpfen des Mannigfaltigen, als solchen, immerfort begleitet, von der bleibenden Sichtbarkeit des Einen Vermögens, und nur unter Bedingung dieser Fortbegleitung, ist das mannigfaltige sichtbar, und sichtbar als solches, und aufgenommen in die Sichtbarkeit: indem unmittelbar nur jenes Vermögen, und das mannigfaltige nur durch dieses Vermögen hindurch sichtbar wird. nennen wir nun die Synthesis Bewußtseyn. (216,6-11)

Die Wissenschaftslehre stellt sich also dar als Übergang von der fakti-schen Formulierung des Seinsbegriffs, seiner Anerkennung als Sein außer dem Sein und dem darauf folgenden Postulat, daß es die Erscheinung des Seins bzw. Gottes sei, zu ihrem Sichzeigen bzw. Sicherscheinen als Seh-vermögen und anschließend zur Erklärung des Bewußtseins als der Form der Beziehung von Sehendem und Gesehenem. Dies ist es, was Fichte

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vom Vermögen ausgehend erlaubt, den Begriff des Bewußtseins einzufüh-ren und damit die Untersuchung des Prinzips der Einheit als solcher und der Mannigfaltigkeit als solcher abzuschließen, mit der er in der elften Vorlesung mit der Suche nach einem Ort der Spaltung die Ableitungsbe-wegung begonnen hatte. Fichte kann also schließen:

Und so ist denn, daß ich zur aufgestellten Formel zurükkehre: die aufgegebne synthetische Einheit gefunden – . Einheit der Einheit als solcher, und der Mannigfaltigkeit als solcher. Die zu synthesi-

rende Einheit ist das Vermögen, und dies erscheint sich schlechthin als solches, es sieht sich eben: die synthetische Einheit ist das Be-wußtseyn, oder Sehen des Vermögens selbst im Verknüpfen der Mannigfaltigkeit in sich dem Einen, und so ist die Mannigfaltigkeit Eins; ausser der Verknüpfung aber, indem das Vermögen sich an-sieht, als sie auch nicht verknüpfen könnend, ist sie ein Mannigfal-tiges als solches. (216,15-22)

Im Bewußtsein als synthetischer Ort des faktischen Sehens sind nun der Reflex, das Schema des Vermögens als die Einheit, und die synthetische Periode, das von ihm ständig begleitete Produkt des Vermögens, als man-nifaltiges Schema zusammen anwesend, vereinigt und jedoch unterscheid-bar. Daher ist das Bewußtsein die gesuchte »synthetische Einheit« der »Einheit als solcher, und der Mannigfaltigkeit als solcher.« Mit der De-duktion des Bewußtseins aus dem Sehen schließt Fichte die 17. Vorle-sung. 5.2.2. Zum Als des Vermögens: die Attention Die 18. Vorlesung folgt der Vorigen ohne Zäsur, was schon an der fortlau-fenden Absatzzählung sichtbar wird. Die 17. und die 18. Vorlesung bauen also deutlich aufeinander auf. Fichte beginnt mit der folgenden sehr wich-tigen Bemerkung, die, nachdem die Erscheinung des Vermögens als sol-chem abgeleitet wurde, die Frage nach der Art und Weise, wie dieses Vermögen tatsächlich erscheint, einführt:

6.). Nun ist, wie mehrmals erinnert worden, dieses Als nur Reflex eines Faktum, das drum voraus gesezt wird. Das Vermögen in Be-ziehung auf das mannigfaltige kann drum nicht erscheinen als er-

schaffend dasselbe, denn es ist dieses schon zufolge des Faktum. Als was soll nun das Vermögen erscheinen? (216,25-28)

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Das hier erwähnte Faktum ist offenbar die Vollziehung des Vermögens selbst, das, als Vermögen, erst nach seiner Vollziehung erscheinen kann. Da diese Vollziehung aber eine synthetische Mannigfaltigkeit ist und au-ßerdem die Mannigfaltigkeit der synthetischen Periode schon erzeugt worden ist, kann sich das Vermögen, wenn es sich im Reflex wahrnimmt, nicht unmittelbar auch als Ursprung dieser Mannigfaltigkeit erscheinen: »Als was soll nun das Vermögen erscheinen?«,145 d.h. welche Tätigkeit des Vermögens wird von ihm selbst als seine eigene anerkannt, in der es sich in der Synthesis des Bewußtseins manifestiert? Was die Art und Weise betrifft, in der das Als des Vermögens gegeben ist, als Reflex des Faktums nämlich, ist sogleich ausgeschlossen, daß das Vermögen darin als Schöpfer der Mannigfaltigkeit erscheinen kann, denn faktisch folgt das Als des Vermögens auf ihre Schöpfung. Fichte gebraucht nun zwei Termini, um den Akt des Vermögens, wie er allein erscheinen kann, zu definieren: sich hingeben und attentieren. At-tentieren heißt achtgeben, auf etwas achten, ein Verbum, das eine aktive Selbstbestimmung zur Passivität bzw. zur Rezeptivität ausdrückt, denn indem wir achtgeben, wirken wir so auf uns ein, daß etwas Äußeres auf uns wirken kann. Das Vermögen erscheint nun als die Fähigkeit, sich dem Mannigfaltigen hinzugeben, das es demzufolge in sich aufnehmen kann. Gegenüber dem Mannigfaltigen bestimmt sich das Vermögen aktiv zur Passivität, damit es sich auf das Mannigfaltige richten kann, um zuzulas-sen, daß dieses in ihm Gestalt annimmt.

Was thut nun das Vermögen, schaffen nicht: aber sich hingeben, dem sich selbst machen. Attentire, so ergiebt sich in dir das richtige Bild selbst. Ohne Attention, kein Bild; wiederum: kein sich selbst-machendes Bild, keine Attention. Hier zeigt sich dieses Zusam-menfallen des Machens durch Freiheit, und des Machens durch Seyn. (217,14-18)

Darin findet man die bereits erwähnte logisch gleichrangige, doppelte Tätigkeit der Erscheinung, sich frei und durch ihr Sein zu vollziehen. In der Tat kommt die Erscheinung erst dadurch zur Erscheinung, daß sich ihr das Vermögen hingibt – dies ist der freie Aspekt in der Vollziehung der Erscheinung. Aber sie kann nur zur Erscheinung kommen, weil sie sich zugleich im Vermögen konstituiert. Das Vermögen gibt sich also frei einer

145 GA II 12, 216,28.

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Erscheinung hin, indem es ihr Erscheinen zuläßt, und stellt durch diese Haltung das Moment der Freiheit vor, aus der die Erscheinung hervorgeht. Aber im selben Zusammenhang konstituiert sich die Erscheinung von sich aus in dem Sein, das sie vom Vermögen erhalten hat, ohne daß das Ver-mögen irgendwie die Konstitution der Form des Bildes, dem es zugewandt ist, ändern könnte. Fichte erläutert dies anhand eines Beispiels, mit dem er demonstriert, wie durch aufeinanderfolgende Vorstellungen das Bild einer Sache entsteht. Dabei kommt er Erklärungsweisen nahe, die im Rahmen der kubistischen Malerei anschaulich werden.

Wenn eine Vorstellung z.B. die des Ofens aufgefaßt wird, Stük für Stük, so ist man sich recht gut bewußt seines Vermögens die Auf-fassung schliessen zu können, wo man will, sie drum, soweit man sie fortsezt, fortzusetzen mit absoluter Freiheit; also das Bewußt-seyn des Vermögens: Doch soll in ihr selbst alles beisammen seyn, alles bei einander seyn, und nur durch diese Totalität, und dieses Beieinanderseyn des Mannigfaltigen der Ofen selbst constituirt werden. (217,8-14)

Es wird gemeint, daß die Vorstellung von einem Ofen – die entsprechend der Regel der synthetischen Periode zugleich perzeptiv und begrifflich ist – auf der Grundlage der Verknüpfung sukzessiver Wahrnehmungen zu-sammengesetzt wird, die das Vermögen bei der freien Steuerung seiner Aufmerksamkeit zustande gebracht hat. Man kann folglich am Ofen völlig frei verschiedene Einzelmerkmale oder mehrere Gesamtansichten aus unterschiedlichen Entfernungen oder auch verschiedenen Perspektiven sehen, indem man um ihn herumgeht und ihn zuerst von vorn, dann von hinten und von der Seite betrachtet. Jedesmal aber, wenn man seine Stel-lung fixiert und einen Blick auf den Ofen wirft, konstituiert sich das Bild von allein, ohne weiteres Zutun des Betrachters weiter, denn er kann die jeweiligen Elemente – Farbe, Form, eventuelle perspektivische Aberratio-nen – beim Wahrnehmungsprozeß nicht beliebig ändern. Überdies ist das komplexere Bild, das sich zusammen mit dem entsprechenden Begriff formt, gerade das des Ofens (und nicht z.B. eines Tisches), und zwar des besonderen Ofens im Vorlesungsraum (und nicht etwa desjenigen, der im Wohnzimmer Fichtes steht), und das wiederum ganz automatisch, d.h. vollkommen unabhängig von der freien Ordnung, in der man die Wahr-nehmungen auffaßt. Beide Reihen der Konstituierung des Bildes, sowohl die, durch die die Erscheinung sich frei herstellt, als auch diejenige, durch die sie sich auf der Grundlage des eigenen Seins konstituiert, sind also im

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Prinzip unbegrenzt. Daher kann man die Blickwinkel beliebig variieren, wobei das Sein des Objekts immer eine Seite offenbart und eine andere verbirgt, die als mögliches Element der weiteren Inanspruchnahme der eigenen Aufmerksamkeit zu denken ist. Die Konstituierung dieses Phä-nomens hängt also nicht von der Freiheit des Betrachters ab, sondern al-lein von Gesetzen, die dem Sein angehören und der Art und Weise, wie dieses seine Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Die kubistische Malerei gibt uns eine Vorstellung dieser Synthese von Freiheit und Notwendigkeit bei der Konstitution des jeweils betrachte-ten Phänomens. In ihm werden nämlich Freiheit und Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte deutlich dargestellt, aus denen die synthetische Vorstel-lung des Objekts entsteht, indem mehrere Gesichtspunkte zugleich auf der Leinwand festgehalten werden, das dargestellte Bild aber unbestreitbar ein einziges und deutliches Objekt, beispielsweise eine Violine, ist. Es sind ihre eigenen Gesetze einer schematischen Konstitution, die es uns erlau-ben, sie als Violine zu erkennen. Diese Gesetze sind von der Freiheit des Betrachters unabhängig, auch wenn die Möglichkeit, daß ihm ein Objekt erscheint, notwendig von der Aufmerksamkeit des Betrachters abhängt. Fichte synthetisiert die Funktionsweise des Vermögens und des-sen Zusammenhangs mit dem Sehen in vier Punkten, die er als Vorberei-tung des Conversatoriums zwar erst im Anschluß an die 18. Vorlesung vorlegt, die aber schon hier zur Kenntnis gebracht werden sollen:

1.) Sehen = Zusammenfallen des Schema und Seyn; in gewöhnli-cher empirischer Anschauung zu erfassen: 2). Im Vermögen fallen beide durchaus zusammen; denn das Vermögen ist nichts mehr denn ein Schema. Das Vermögen ist drum schlechthin sichtbar: es kann nicht seyn, ohne sichtbar zu seyn. 3.). Nicht seyn, sage ich: es ist also? Ja nothwendig: im Sehen eben, und durch das Sehen selbst: Dem Schema muß etwas nicht schematisches correspondi-ren; und wie du gesagt hast, es sey ein Schema, so hast du das ge-sagt: Das Vermögen also muß etwas seyn, thun, vollziehen; als

reines und absolutes Vermögen jedoch, weil es ausserdem nicht sichtbar wäre. – . verknüpfen ein Mannigfaltiges, was nun dadurch, daß an ihm allein das Vermögen gesehen wird, selbst mit aufge-nommen wird ins Sehen. 4.) ist ein hingeben an die Verknüpfung.. (220,11-21)

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5.2.3. Die Analyse des Bewußtseins ist vollendet Nachdem das Bewußtsein aus seinen konstitutiven Bestandteilen zusam-mengesetzt werden konnte, wodurch die in der Einleitungsvorlesung an-gekündigte Analyse des Bewußtseins geleistet ist, soll man nun – so Fich-te – über den durchschrittenen deduktiven Weg nachdenken und von dort aus die Beziehung zwischen Faktizität und Genesis einer veränderten Bewertung unterziehen. Auch wenn aus der genetischen Ordnung rekon-struiert werden konnte, daß das erste Faktum die Vollziehung des Vermö-gens in der synthetischen Periode ist und der Reflex von dieser ausgeht, gilt es zu erkennen, daß in der Reihenfolge der faktischen Bedingungen der Möglichkeit hingegen das näherliegende und somit erste Faktum gera-de die Synthese des Bewußtseins, d.h. unser faktisches Sehen ist. Alles, was zur Rekonstruktion seiner synthetischen Einheit diente, erweist sich nun als Bestandteil des Bewußtseins:

8.). Wir haben bisher stets vorausgesezt, daß zufolge der absoluten Sichvollziehung der ursprünglichen Freiheit ein Faktum sey, als das erste, eben der früher beschriebne synthetische Periode = Wis-sen: und daß dieses Faktum schlechtweg, zufolge des Soll eines Als seinen Reflex bei sich führe, was entspricht der zulezt be-schriebnen synthetischen Einheit des Sehens; welches beides, in dieser absoluten Vereinigung giebt das Bewußtseyn, als die wahre und höchste synthetische Einheit; die auch allein in sich Selbststän-

digkeit hat, da die Theile sich gezeigt haben, als durchaus nicht für sich bestehend. […] Jezt aber haben wir ja ihren Einigungspunkt, das Bewußtseyn selbst: nur in ihm und dessen Einheit sind ja die Theile. (217,18-32)

Aus dieser erneuten Reflexion über die Beziehung zwischen der Synthesis des Bewußtseins und ihren konstituierenden Bestandteilen geht auch her-vor, daß sich die Synthesis – im Gegensatz zum Vorgehen der Wissen-schaftslehre – auf den ersten Blick nicht als Synthesis darbietet, sondern als reine Einheit. Nur durch das durchgeführte Verfahren hat man das Bewußtsein als Zusammensetzung zweier konstituierender Teile, des Re-flexes und des Faktums des Vollziehens des Vermögens (oder der synthe-tischen Periode) verstehen können. In diesem Verfahren mußten sogar zwei Synthesen künstlich getrennt werden: eine Synthesis, die als Einheit der Einheit als solcher und des Mannigfaltigen als solchem das Bewußt-sein ist, und eine zweite, die synthetische Periode. Beide ergeben sich

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gleichzeitig der gewöhnlichen Bewußtseinserfahrung, ohne daß die dahin-ter wirkende synthetische Struktur offenbar wird. Fichte äußert sich dar-über wie folgt:

Wir müssen drum die Sache so ansehen: Das Bewußtseyn ist, dies allein ist vollendetes und selbstständiges und erstes Faktum, und zwar ist es in diesem seinem Daseyn Resultat einer Zusammenwir-kung des Erscheinens Gottes, zufolge des Als, und des selbstständi-gen Seyns der Erscheinung. Dieses Bewußtseyn theilt sich nun schlechthin durch sich selbst in zwei Grundtheile, die Erscheinung, als sich machend in ihrem Seyn, und dieselbe als sich machend mit absoluter Freiheit In das Faktum, und den Reflex desselben, als Schema eines Vermögens: beides durchaus nur im Bewußtseyn, und nicht ausser dem selben; und als unmittelbar Produkt dessel-ben, und durchaus keines andern. (217,32-218,5)

Was man nach Fichte durch dieses Verfahren gewinnt, ist die Evidenz, daß das Bewußtsein nicht irgendetwas Einfaches, sondern etwas Zusam-mengesetztes ist, und in diese Zusammensetzung als ihr Grundelement die Erscheinung Gottes eintritt. Gerade die Unfähigkeit des gewöhnlichen Bewußtseins sich seiner eigenen Konstitution bewußt zu werden, hindert es an der Erfassung seines fundamentalen Charakters. Dieser allein aber garantiert nach Fichte, daß das Wissen nicht ein reines, sich allein im em-pirischen Bewußtsein abspielendes Ich-Produkt ist, sondern daß es in der realen Seinswurzel der Erscheinung verankert ist. Fichte möchte auf diese Weise also wiederum beweisen, daß die Wissenschaftslehre gegen den Vorwurf des Nihilismus gefeit und sie im Gegenteil die einzige Lehre ist, die einen ursprünglichen Zusammenhang zwischen Wirklichkeit und Wis-sen herstellt. Man erinnere sich daran, was Fichte selbst in der 13. Vorle-sung erklärte: »Ohne auf Gott zu fussen hat eine sonst scharfsinige Theo-rie des Bewußtseyns keinen Grund und Boden«.146 Andererseits gründet aber gerade auf dieser Undurchsichtigkeit des Bewußtseins für sich selber die Möglichkeit, sich etwas bewußt zu sein. Im Prozeß der Erhebung des Bewußtseins zu sich selbst, den nur der Wissenschaftslehrer durchführt, ist man daher nicht nur einfaches Be-wußtsein geblieben, sondern ein Bewußtsein zweiter Potenz geworden, da man sich zum Bewußtsein des Bewußtseins hat erheben müssen. Fichte erklärt:

146 GA II 12, 198,8-10.

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Dieses mannigfaltige und die synthetische Einheit desselben nun ist selbst das Bewußtseyn, haben wir gesagt, das wenn es ist eben ist, diese in sich aufgehende Einheit ist: die drum weder sich er-scheint, noch eben darum die mannigfaltigen Bestandtheile in ihr erscheinen können. Also, wie das ursprüngl[iche] Bewußtseyn ist, sind zwar diese Bestandtheile, denn sie selbst sind das Bewußt-seyn: aber sie erscheinen nicht, ebensowenig wie das Bewußtseyn selbst erscheint, indem ja sodann nicht Bewußtseyn, sondern Be-wußtseyn des Bewußtseyns wäre, was wohl auch seyn mag, was aber ein ganz anderes wäre, von dem wir hier nicht reden. (218,16-23)

Da das Objekt der bisherigen Untersuchung die Struktur des Bewußtseins als solchem war, hat Fichte damit aber noch nicht gezeigt, welche Bezie-hung das Bewußtsein zu den mannigfaltigen in ihm vorkommenden Vor-stellungen herstellt. Es wurde zwar die Form des Bewußtseins erhellt, aber noch nicht sein wirkliches Funktionieren in Bezug auf seinen Inhalt. Es bleibt also noch zu klären, was geschieht, wenn das Bewußtsein ein Be-wußtsein von etwas wird. Dafür benötigt Fichte das Prinzip des tatsächli-chen Mannigfaltigen, denn die Mannigfaltigkeit, von der bisher die Rede war, war nur die der synthetischen Periode als genetischer Bedingung der Möglichkeit für die Konstitution des Bewußtseins.

Das Bewußtseyn ist die Einheit der Einheit als solcher und der Mannigfaltigkeit als solcher, im absoluten Aufgehen in sich selbst […]. Es ist in ihm die absolute Sichtbarkeit des Vermögens, als die Einheit, und dies verbreitet Licht, und Sehen im Bewußtseyn: es ist in ihm ein Mannigfaltiges, an welchem das Vermögen sich bricht, und spiegelt, und dies giebt dem Bewußtseyn seinen Gehalt. (218,23-33)

Fichte schließt also den ersten Teil der Wissenschaftslehre mit der Erklä-rung, daß die erste Aufgabe gelöst sei. Dabei eröffnet er aber auch eine weitere Untersuchung nach dem Prinzip der Möglichkeit der – um es mo-dern auszudrücken – verschiedenen intentionalen Zustände des Bewußt-seins. Die Bedingung der Möglichkeit der Intentionalität wurde bereits in der Abhandlung über das Vermögen als Hingabe und Attention, d.h. Ach-tung, angedeutet, wie aber dieses Vermögen wirklich dazu kommt, sich mit unterschiedlichen Gehalten erfüllt zu finden, wie also das Bewußtsein in seiner Blindheit für die eigene vielfältige Konstitution das Sehen eines Mannigfaltigen bewirken kann, das als außerhalb seiner selbst wahrge-

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nommen wird, ist noch nicht deutlich geworden. Fichte erläutert also den gegenwärtigen Standpunkt und führt den nächsten Schritt ein, indem er erklärt:

Wir haben den Einen Haupttheil unsres Versprechens erfüllt, und das, was ich selbst als den schwersten Punkt der WL. angab, voll-zogen, das Bewußtseyn selbst zum Bewußtseyn erhoben: Die Durchsichtigkeit durchsichtig gemacht. Und zwar ist das abgeleitete die blosse reine Form des Bewußtseyns; durchaus noch kein bestimmtes, kein Bewußtseyn von einem Etwas, im Gegen-satze eines andern Etwas, ohnerachtet der Grund aller Etwasheit sich wohl an dem Mannigfaltigen gefunden hat. – . Wo sind wir denn eigentlich – wir suchen ein Princip; und zwar soll dies ein Princip der Gegensetzung und Spaltung seyn. Eine faktische haben wir noch nicht. (219,5-12)

Die 18. Vorlesung endet mit einem kurzen Vergleich der Wissenschafts-lehre mit den dogmatischen Philosophien, wobei die Wissenschaftslehre als das einzige System dargestellt wird, das das Bewußtsein als ein Zu-sammengesetztes versteht. Dabei präzisiert Fichte auch seine Beziehung zur kantschen Philosophie und seine eigene Auffassung der transzendenta-len Apperzeption. Eine Deduktion der Apperzeption, so Fichte, entstehe nur aus der Frage nach der Erscheinung des absoluten Seins bzw. Gottes als solchem. Denn erst nach der Annahme eines Soll, das fordert, daß das Absolute nicht nur implicite, sondern auch explicite zur Erscheinung kommen soll, haba man schließen können, daß zunächst das mit dem Ab-soluten in der Erscheinung zusammengewachsene Schema als solches, sodann aber dafür auch das das Schema erzeugende Vermögen als solches erscheinen müsse. Erst von daher hätten sich die Bestandteile des Bewußt-seins, sprich die in ihm als solche synthetisierten Elemente – synthetische Periode und Reflex – überhaupt gezeigt. Denn eben in der Erscheinung des Vermögens als solchem in einem Reflex, der das Synthetisieren der synthetischen Periode ständig begleite und daher auch immer zum Be-wußtsein erhoben werden könne, bestehe die Apperzeption. Nun setzt sich Fichte nochmals mit Kant auseinander:

Zurük zu der Kantischen Formel. Die Apperception der syntheti-schen Einheit ist eben das Bewußtseyn in seiner absoluten Form selbst. 1.) Deduktion: Weil das absolute nicht bloß implicite, son-dern explicite ausdrükl[ich] als solches erscheint, welches katego-rische sich hier verwandelt in ein soll. 2.). was ist sie? worin be-

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steht sie? Die Apperception ist die absolute Sichtbarkeit des Ver-

mögens, als einer Einheit, die immer und ewig Eins bleibt und die-selbe, hier in der Mannigfaltigkeit der Synthesis, späterhin in allem unendlichem Wechsel. (219,24-30)

Erneut ist hier die »Mannigfaltigkeit der Synthesis« vom Mannigfaltigen, d.h. von dem mannigfaltigen Inhalt des Bewußtseins zu unterscheiden: Jene ist die unbewußte Synthesis der Glieder der synthetischen Periode mit dem Einheitsprinzip innerhalb des Bewußtseins, das Wissen, dieses hingegen die bewußte Vielheit des gesehenen, das Gewußte. Nun sind aber diese beiden Elemente eng miteinander verbunden, denn das Sehen eines Etwas kann nur dank der oben beschriebenen mannigfaltigen Konsti-tution des Bewußtseins erfolgen. Daher wird dieses Etwas in seinem man-nigfaltigen Wechsel auch weiterhin von der synthetischen Einheit des Vermögensreflexes, d.h. der transzendentalen Apperzeption, begleitet werden können müssen.

Die synthetische Einheit ist die Verknüpfung der Mannigfaltigkeit durch dasselbe Eine Vermögen, das in diesem Verknüpfen schlechthin sichtbar ist, und so auch an ihm das mannigfaltige sichtbar wird. Dadurch wird zunächst die synthetische Einheit, und vermittelst ihrer die Mannigfaltigkeit aufgenommen in die reine und absolute Einheit der Sichtbarkeit des Vermögens. Daran nun, an diesem Mittelpunkte, fehlte es Kant, weil er bloß faktisch ahn-dete. (219,30-220,2)

Hiermit schließt Fichte seine 18. Vorlesung. 5.3. Die Möglichkeit der Genesis: das Gesetz des Soll Dem Text der 18. Vorlesung folgt nach einem langen Querstrich eine halbe Seite, die möglicherweise als Vorbereitung des Konversatoriums vom Samstag, den 2. März 1811 diente.147 Es handelt sich hierbei um einen interessanten Sonderfall, da wir normalerweise keine Hinweise auf den Inhalt der sogenannten Konversatorien haben. Diese waren, wie das lateinische Wort schon andeutet, Stunden freien Gesprächs mit den Zuhö-

147 Einen Teil seines Inhaltes, nämlich die Bemerkungen über das Sehen, wurden bereits in der Analyse der 18. Vorlesung betrachtet.

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rern, in denen diese die Gelegenheit hatten, den Inhalt des Vorgetragenen mit Fichte zu debattieren. Neben der schon oben wiedergegebenen Zu-sammenfassung in vier Punkten unterstreicht Fichte, vermutlich am An-fang dieses Gesprächs, die Schwierigkeit der eben vorgetragenen Gedan-kenreihe, »eigentlich das schwerste«, »das einzig Schwere in der Wissen-schaftslehre«.148 Der Grund für diese Schwierigkeit liegt darin, daß die Intuition dessen, was eben von Fichte erarbeitet wurde, eigener Anschau-ung bedarf und allein von außen betrachtet nicht zu verstehen ist. Über diese Schwierigkeit hat Fichte schon in den einleitenden Vorlesungen berichtet, erst jetzt aber erfährt man sie im Vollzug des eigenen Denkens. Das Ergebnis der Deduktion des Bewußtseins und der transzendentalen Apperzeption als dessen höchster Punkt kann in nichts anderem als in eigener Anschauung bestehen. Deswegen darf man die Gedankenreihe in erster Person vollziehen, da nur so die Evidenz dessen, was durch sie zu-stande kommt, unwiderlegbar einleuchtet. Der Akzent, den Fichte bei dieser Gelegenheit auf dieses Ergebnis legt, ist noch ein weiteres klares Zeichen dafür, daß in diesen achtzehn Vorlesungen ein wichtiges Resultat erreicht wurde. Was noch aussteht, ist das, wodurch sich die Wissenschaftslehre als echte Transzendentalphilosophie erweisen kann, nämlich der Beweis der Möglichkeit dessen, was bisher geleistet wurde. Es soll also den Be-dingungen nachgegangen werden, welche diejenige Reflexion erst ermög-lichen, die zur Darstellung des Sehens des Sehens geführt hat. Dieser Auf-gabe ist der zweite Teil der Wissenschaftslehre gewidmet und dabei wird zunächst die intentionale Struktur des Bewußtseins erwiesen. Jetzt stellt sich Fichte der Aufgabe, das Prinzip des wirklichen Mannigfaltigen und dabei der »Spaltung in Fünffachheit, und Unendlichkeit«149 zu finden und zu erklären. Davor erinnert er jedoch noch daran, daß er diese Aufgabe erstmals in der elften Vorlesung artikuliert hatte:

Erscheinung der Erscheinung Schema 2. – Wir haben gewonnen; aber alles? Das worauf wir ausgingen? Es kommt faktisch ein viel-fach mannigfaltiges, ja unendliches vor. – . Liegt diese Mannigfal-tigkeit in unsrer Ableitung? Nein; rechtlich fortgefahren liegt in ihr die Einfachheit. – Wir bedürfen drum ein neues, in dem bisherigen durchaus nicht liegendes Princip für diese Spaltung! (188,12-16)

148 GA II 12, 220,4f. 149 GA II 12, 221,4.

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An dieser Stelle meinte Fichte, er könne sein Ziel nicht gleich deduktiv verfolgen, sondern müsse »scheinbar ausser der strengsten Reihe, wenig-stens ohne die strenge Reihenfolge zu beweisen, die wichtigsten, und un-bekanntesten Bestandtheile der durch die Deduktion zu liefernden Synthe-sis«150 herausheben. Dieses Verfahren hat zuerst zur Deduktion der syn-thetischen Periode als der Form geführt, die die Erscheinung in ihrem Erscheinen haben muß, damit in ihr das Sein auch explizit zum Erscheinen kommen kann. Die faktische Erscheinung der Erscheinung fällt dement-sprechend mit dem Faktum der synthetischen Periode zusammen, worin die innere Struktur des Wissens zum Ausdruck kommt. Sie wird überdies auch unmittelbar vom Reflex des Vermögens begleitet, das das faktische synthetische Wissen zustande gebracht hat. Im Reflex kommt demnach das schöpferische Vermögen unmittelbar in einem Schema vor. Die sich dabei ergebende Synthesis der synthetischen Periode mit dem Reflex bzw. des Faktums mit dem Schema des Vermögens konnte Fichte dem Sehen gleichsetzen. Darüber hinaus hat er das Bewußtsein als die Einheit dieser synthetischen Einheit als solcher – wie sie nämlich gerade im Vermögens-schema vorkommt – und der sich im Sehen faktisch anbietenden Mannig-faltigkeit als solcher dargestellt. Bei der Frage nach einem Prinzip der Mannigfaltigkeit aber mußte Fichte das rein deduktive Ableitungsverfah-ren der Wissenschaftslehre unterbrechen, wie er nun noch einmal resü-miert:

1.). In dem Zusammenhange bleiben werden Sie gewiß, wenn Sie nie vergessen, daß wir auf dem geraden Wege der Deduktion he-rabgegangen sind bis zu einer selbstständigen Freiheit der Erschei-nung sich zu erscheinen. An dieses Glied unmittelbar hätten wir nun anfügen sollen ein Princip = x. [… das Prinzip] einer Spaltung in Fünffachheit, und Unendlichkeit. Dieses Princip konnten wir nun [scil. damals] unmittelbar nicht verständlich machen. Wir suchen es, und dies ist unser jetziges Geschäft. – . Also eigentlich eine Zwischenarbeit, seitwärts des Weges, um wieder auf ihn zu kommen. (220,23-221,7)

Allerdings wurde schon mit dem Prinzip der Spaltung gearbeitet, es also schon faktisch eingeführt: Es handelt sich um das sich im Schema 2 auf-tretende Als, durch das das Schema eben als Schema unter der Bedingung erscheinen konnte, daß der in ihm erscheinende Gott in ihm als solcher

150 GA II 12, 189,9-11.

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erscheinen konnte. Die im ersten Teil der sog. ›Zwischenarbeit‹ ange-wandte Methode soll jetzt mit der Absicht vertieft werden, das dabei unre-flektiert gebrauchte Prinzip der Spaltung näher zu untersuchen und viel-leicht sogar als Prinzip der faktischen Disjunktion, durch die die Eine Erscheinung mannigfaltig wird, anerkennen zu können. Fichte erklärt:

Im Ganzen ist dieses Princip auch wirklich schon angegeben; das Als des in dem Schema verborgnen, und unsichtbaren. Mit diesem Princip haben wir bis jezt gearbeitet, und aus ihm gefolgert. Als Princip der Disjunktion eines eigentl[ich] faktischen ist es aber noch nicht erschienen. Wir sind drum noch nicht auf den Weg zu-rük; und in den Punkt hinein, den wir suchen; sondern haben die [Zwischen]Arbeit noch fortzusetzen. (221,8-12)

Dabei fordert er dazu auf, »sich an die festen Resultate, die wir gefunden haben, wie z.B. in dem vorigen die Zusammensetzung des Bewußtseyns« zu halten.151 Aus der Untersuchung des Bewußtseins resultierte ja bereits, daß es aus zwei Schemata, einem der Einheit und einem der Mannigfaltig-keit, besteht. Im Bewußtsein selbst aber, wie seiner Beschreibung zu ent-nehmen ist, wird eines dieser zwei Schemata, das der Mannigfaltigkeit, nicht als Schema, sondern als vollkommen unabhängiges Sein wahrge-nommen, dem sich nur das im Reflex vorkommende Vermögen hingeben kann. Das Bewußtsein, und darin besteht der Fehler der dogmatischen Philosophien, erscheint sich zunächst als ein Einfaches, das dem Mannig-faltigen gegenübersteht, und nur die Transzendentalphilosophie vermag seine – wohlgemerkt unbewußte – ursprüngliche synthetische Tätigkeit zu durchschauen. Kant hat sie in seiner Theorie der reinen Anschauungen und Begriffe und der transzendentalen Apperzeption nur faktisch wahrge-nommen, Fichte aber konnte sie in der Wissenschaftslehre, die die Apper-zeption zu deduzieren vermag, auch in ihrer Genesis fassen. Das allein reicht aber noch nicht, wenn das Mannigfaltige dem Vermögen noch voll-kommen fremd erscheint. Unter diesen Bedingungen bleibt nämlich gera-de die synthetische Fähigkeit des im Bewußtsein schematisch vorkom-menden Vermögens noch gänzlich ungeklärt. Fichte erklärt:

151 GA II 12, 221,13-15. Er fährt fort (GA II 12, 16-20): »Weniger an die Mitglie-der durch sie wir herauf gekommen sind. Die Glieder unsers Ganges schliessen ja noch nicht fest an einander; das kann erst sodann erfolgen, wenn das Princip gefunden ist. Es müssen drum in den Zwischenräumen eben zwischen der absoluten Freiheit der Erscheinung, und dem Bewußt-sein noch Lüken liegen, und Unbestimmtheiten.«

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Nur inwiefern diese [Mannigfaltigkeit] durch das Vermögen als

Vermögen, sodaß dasselbe erscheint als auch nicht könnend, ver-knüpft wird, ist sie aufgenommen in das Sehen, also in das Schema als solches, inwiefern sie aber ist, soll sie eben seyn unabhängig vom Vermögen, und so ein wahres gegebnes, und vorgefundnes Seyn seyn. (222,10-14)

Es gilt also nun nachzuweisen, daß das Vermögen »als auch nicht kön-nend« erscheinen kann. Denn gerade aus der Spannung zwischen der all-gemeinen Möglichkeit des Vermögens, sich gemäß der Aufforderung des Soll als Ort der Erscheinung Gottes zu sehen und dem wirklichen Können des Vermögens (Fichte wird es das Kann nennen) wird die faktische Man-nigfaltigkeit entstehen. Bis jetzt ist das Nicht-Können des Vermögens nur so zu verstehen, daß das Vermögen vom Bewußtsein nicht als erschaffend, sondern lediglich als sich hingebend betrachtet werden kann. Allein als sich hingebend wiederum gilt es als sich an ein Sein richtend, das abgese-hen von der Vollziehung des Vermögens als schon immer anwesend aner-kannt wird. Wenn wir aber erkannt haben, daß das Vermögen allein zu-ständig für die Erscheinung der Erscheinung ist, muß in ihm das Prinzip gefunden werden können, infolgedessen alles, was für die Erscheinung konstitutiv ist, auch als durch das Vermögen erschaffen verstanden wer-den kann. Hier tritt der Anspruch des Wissenschaftslehrers auf ein einheit-liches Verständnis der Erscheinung in den Vordergrund und bahnt ihm den Weg zu den folgenden genetischen Schritten:

Wir haben […] einen Begriff […] der Einheit, der absoluten Ein-heit des Vermögens mit der synthetischen Einheit der Verknüpfung

des Mannigfaltigen […]. Diesen Begriff muß man nun sich nicht tod lassen sondern ihn lebendig und anschaulich machen, indem man einsieht, und von der Überzeugung ergriffen wird, daß unser gewöhnliches Sehen, was wir Zeitlebens getrieben haben, wirklich und in der That nichts anders ist, denn eine solche Einheit. (221,23-33)

Es wurde bisher gesehen, daß dem Vermögen ein Bild von sich selbst erst in der Form des Reflexes eines Daseins erscheint. Dieses Dasein entsteht seinerseits aber erst, wenn das Schema 2 als Schema angeschaut wird, d.h. wenn das Schema unmittelbar einem Dasein, von dem es eben nur Schema ist, entgegengesetzt wird. Am Ende dieses Prozesses der Projektion er-scheint aber das Schema als Vorstellung eines von ihm unabhängigen

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Daseins. Daraus entspringen zwei Begriffe: zum einen der der Vorstellung als formale Einheit der Erscheinung, zum anderen der des Seins, das in der Vorstellung als ihr Inhalt in Form eines Reflexes erscheint. Die reale Ein-heit beider im Schema 1 und ihre einheitliche Erscheinung im Schema 2 gehen aber vollkommen verloren.

Darum tritt auch in derselben Reflexion heraus die Vorstellung, die ganz und gar übereinstimmen soll mit dem Seyn, und ein Seyn, das ganz und gar übereinstimmen soll mit der Vorstellung. Das leztere ist das Produkt der absoluten Freiheit besonders, und die erste das Produkt des Reflexes besonders. (222,18-22)

In dieser Beschreibung verbleibt ein konstituierender Aspekt des Bewußt-seins – der mannigfaltige Inhalt bzw. dasjenige, dessen sich das Bewußt-sein in der Vorstellung bewußt ist – noch nicht als Schema erklärt, da er als ein rein unabhängiges Sein vorkommt. Dies widerspricht aber der Idee einer schöpferischen Tätigkeit, die der Erscheinung unter der Annahme, daß sie eine wahrhafte Erscheinung des Seins sei, zuerkannt wurde und durch die das Vermögen als Möglichkeit der Erscheinung, sich zu erschei-nen, in den Blick geriet. Man könnte auch behaupten, daß Fichte die Be-schreibung des Bewußtseins als Einheit von zwei Schemata faktisch schon dargestellt hat, daß also das, was jetzt diesem so beschriebenen Bewußt-sein nicht als Schema vorkommt, Fichte bzw. dem Wissenschaftslehrer zuvor sehr wohl als Schema erschienen ist. Allerdings mag sich Fichte nicht dieser faktischen Kenntnis bedienen, um die Ableitung des Als als Prinzip der Spaltung zu leisten – obwohl das, der Methode nach, auch vollkommen gerechtfertigt wäre –, sondern er bevorzugt es, die Reihe der Schemata rein deduktiv fortzusetzen. Die Anwendung des Als und die daraus entstandene Erhebung des Bewußtseins zum Bewußtsein wird also als ein Faktum betrachtet, von dem nun die Bedingungen der Möglichkeit, die Genesis, gezeigt werden müssen. Die aktuelle genetische Frage lautet also: Wie ist es möglich, sich von dem bereits beschriebenen gewöhnlichen Bewußtsein zum Bewußt-sein des Bewußtseins zu erheben, in dem der im gewöhnlichen Bewußt-sein undurchschaubare Schematismus durchschaubar wird? Eine Frage, die auch verspricht, die Mittel zu liefern, dank derer das, was uns in der Struktur des zustande gebrachten Bewußtseins des Bewußtseins noch nicht als Schema erschien – nämlich die in ihm zusammengefaßte Man-

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nigfaltigkeit – als ein vom Vermögen erschaffenes Schema zu verstehen ist.

Dieser Theil also, der Inhalt, nicht die Form des Bewußtseyns ist es, der uns als Schema einleuchtet, in dem Bewußtseyn aber nicht also. Dennoch muß, zufolge des allgemeinen Als, auch dieses Sche-ma als solches, in irgend einem Bewußtseyn erscheinen, da er ja ein solches ist. Es ist die Aufgabe dieses, durch die Aufgabe cha-rakterisirte, von dem jezt beschriebnen Bewußtseyn, in welchem dieses in Frage gezogne Schema nicht als solches erscheint, ohne Zweifel unterschiedene, und besondere Bewußtseyn zu beschrei-ben; eine neue Aufgabe. (222,22-28)

Die Bedingung der Möglichkeit der synthetischen Struktur des gewöhnli-chen Bewußtseins wurde anhand der Erklärung der ihm innewohnenden intentionalen Polarität zwischen Sehen und Gesehenem dargestellt. Nun müssen also die Bedingungen der Möglichkeit des transzendentalen Be-wußtseins untersucht werden, d.h. eines Bewußtseins, das – wie das des Wissenschaftslehrers – die Erklärung seiner eigenen Struktur und Funk-tionen leisten konnte. Nur in diesem philosophischen Bewußtsein trat nämlich das Schema des Vermögens als solchem auf, allerdings ohne daß dabei auch der ganze Schematismus des Bewußtseins erklärt wurde. Nun kann aber die Forderung, daß alle Schemata als solche erscheinen sollen, nur unter der schon formulierten allgemeineren Forderung stehen, daß Gott als solcher erscheinen solle. Denn wie gesehen kann sich die Er-scheinung Gottes als solchem nur dadurch manifestieren, daß jedes Sche-ma als Schema gesehen und daher von ihm abstrahiert werden kann. Fich-te wiederholt dieses Konzept noch einmal und erklärt dadurch die gegen-wärtige Aufgabe in einer allgemeineren Art:

1.) Der […] Gegensatz steht so: Ohne Sichvollziehung der absolu-ten Freiheit der Erscheinung ist überhaupt kein Schema, in der Sphäre der Fakticität […]. Durch diese Sichvollziehung aber wird im Schema nothwendig etwas verdekt, und unsichtbar. 2.). Gegensatz: nun soll aber das absolute, schlechthin als solches erscheinen, nicht verdekt durch irgend ein Schema; es müßte drum alles Schema, ohne Ausnahme als Schema erscheinen können, da-mit eben das absolute, als das allein erscheinende in allen diesen Schematen ersehen, und aus allem Schematismus, in dem es nur dunkel und verdekt ist, herausgehoben werde. (222,31-223,6)

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Es konnte also die Struktur des Bewußtseins erläutert werden, wobei aber eine gewisse Undurchsichtigkeit des Bewußtseins festgestellt wurde, weil es gemäß der angebotenen Erklärung noch nicht dazu in der Lage ist, sich aller vom Vermögen hergestellten Schemata als solchen bewußt zu wer-den, sondern sich selbst nur als ein von außen bedingtes Vorstellungsver-mögen wahrnimmt. Wenn nun das schematische mannigfaltige Sein auch tatsächlich als ein Schema zu verstehen ist, so nur infolge der Annahme eines Soll, das dieses Als einführt. Es wurde allerdings schon angenom-men – und hierin besteht der Sinn des Gegensatzes –, daß Gott eindeutig in allen Schemata erscheinen soll. Es zeigt sich hieran der doppelte Cha-rakter des Schemas, das einerseits das ist, wodurch Gott zur Erscheinung kommt, und daher ein Mittel der Verbreitung des Lichts und der Sichtbar-keit ist, andererseits aber das unmittelbare Erscheinen Gottes verhüllt und daher verantwortlich für die Undurchschaubarkeit des Erscheinungsgrun-des ist, also für das Faktum, daß die Erscheinung nicht unmittelbar als Erscheinung Gottes wahrgenommen werden kann. Das Schema selbst kommt im Sehen nicht als Schema vor, es ist also nicht unmittelbar als solches sichtbar und geht vollkommen in dem Gesehenen auf. Deshalb kann das Schema nur dann als solches erscheinen, wenn gefordert wird, daß das absolute Sein als das wirklich Erscheinende in der Erscheinung anerkannt werden soll:

Kurz: schlechthin alles Schema ohne Ausnahme, muß als Schema ersehen werden können; ist der aufgestellte allgemeine Satz. – . Können habe ich gesagt: denn das als selbst gründet sich auf ein blosses Soll, kein Muß. Was daher aus diesem Satze folgt, ist ein bloß mögliches, keinesweges ein nothwendig wirkliches. (223,6-9)

Es bleibt also zu verstehen, unter welchen Bedingungen das Bewußtsein sich zur Einsicht der Wissenschaftslehre erheben kann, in der dasjenige, was gewöhnlich nur als Sein gilt, auch als Schema betrachtet werden kann. Die Lösung dieser Frage fällt mit der Erklärung der Möglichkeit zusammen, auf welche Weise die Wissenschaftslehre selbst das Bewußt-sein zum Bewußtsein erhoben hat, ohne dabei dieses Faktum in der De-duktion benutzt zu haben. Die Untersuchung des Als, um es als Prinzip der faktischen Disjunktion in Fünffachheit und Mannigfaltigkeit zu ver-stehen, fällt also mit der Suche nach der Rechtfertigung des Verfahrens und der Ergebnisse der Wissenschaftslehre zusammen, da das durch das Soll eingeführte Als vom Wissenschaftslehrer benutzt wurde, ohne daß er

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über diese Verfahrensmethode ausdrücklich reflektierte. Wenn nunmehr das Als und somit das Schema als solches gesehen wird, wird die Methode der Wissenschaftslehre selbst erklärt.

Wir haben jezt in der W.L. die Frage zu beantworten: Wie ist es möglich daß schlechthin alles Schema als solches ersehen werde: Die WL. selbst ist ein solches ersehen: die W.L. erklärt drum in ihr selbst ihre Möglichkeit d. i. sie führt den Beweiß ihrer selbst, und so haben Sie denn hier den schon oben in der allgemeinen Ein-leitung aufgestellten Satz näher nach seiner faktischen Möglich-keit. (223,18-23)

Nun formuliert Fichte noch einmal »die Aufgabe im Allgemeinen: wie vermag ein Schema das da ist, ursprünglich nicht als Schema ist, als Schema zu erscheinen?«152 Bekanntlich hat Fichte die Entstehung des Schemas 2 schon vorher erklärt, so daß er nun den Prozeß nur mit einer knappen Beschreibung zu wiederholen braucht:

Wie die Freiheit sich vollzieht, ist das Schema: und so ist ganz ge-wiß wenigstens die Vollziehung verdekt, unsichtbar, und mit dem Schema concrescirt, und es ist drum ein schematisches das nicht als solches erscheint. (223,27-30)

Diese Erklärung genügt jetzt aber nicht mehr, denn Fichte möchte auch die Schematisierung des Vollziehungsprozesses zeigen. Da es um ein lebendiges Werden geht, kann das Schema dieser Vollziehung wiederum nur in Form eines Vermögens erscheinen. Wie schon gesehen, ist der Be-griff von Vermögen derjenige, mit dem ein Zustand auf den Vollzie-hungsprozeß, der hinter ihm wirkte und ihn zustande gebracht hat, zu-rückgeführt und damit verstanden werden kann. Fichte argumentiert:

– Sollte nun […] diese Vollziehung selbst schematisirt, und als Schema schematisirt werden, so könnte sie es nur als Vermögen: es folgt drum aus dem als nothwendig ein Schema des Vermögens, und durchaus nichts anderes; und so wird denn alles oben gesagte, daß das Vermögen absolut nur Schema sey, und daß ein absolutes Schema nur Vermögen seyn könne, und daß eben auf dem Schema-tismus des Vermögens schlechthin als solchen, aller Schematismus, und alles Bewußtseyn sich gründe, recht klar. – . (223,30-224,3)

152 GA II 12, 223,24f.

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Nun besteht die Bedingung der Möglichkeit, diese Vollziehung zu sche-matisieren, in einer Disjunktion im Bewußtsein, derzufolge der gewöhnli-che und der transzendentalphilosophische Standpunkt entgegengesetzt werden. Diese Disjunktion kommt jetzt zur Sprache. Im gewöhnlichen Bewußtsein ist das Sehen durch das in ihm synthetisierte Mannigfaltige gefesselt. Um sich auf den Standpunkt des Als erheben zu können, muß sich das Bewußtsein vom Gesehenen befreien und den reflektierenden Blick auf das schematisierende Vermögen richten. Fichte schlägt am Ende seiner 19. Vorlesung ein Bewußtseinsmodell vor, demzufolge die beiden sich ausschließenden Bewußtseinsstandpunkte zu einer so radikalen Tei-lung innerhalb des Bewußtseins führen, daß er sogar von zwei Bewußtsei-nen sprechen kann:

Zuförderst die Aufgabe ihrer Form nach näher angesehen. Inwie-fern ein Schema ist, nicht als Schema, ist es eben nicht als solches. Beides ist contradiktorisch entgegengesezt, und schließt sich aus. Wenn, wie es im beschriebnen Falle war, das Vermögen verknüp-fend ist ein Mannigfaltiges; so geht das Sehen in diesem Vermögen schlechthin auf, und das Bewußtseyn ist geschlossen. Soll nun das Mannigfaltige selbst wieder als Produkt des Vermögens erschei-nen, so geht dieses Bewußtseyn über das erstere hinaus, und ist ganz ein anderes. Durch die vorausgesezte Möglichkeit ein Schema pp [scil. als Schema zu betrachten] wird drum eine absolute Dis-junktion im Bewußtseyn selbst, es werden zwei verschiedene, und gegenseitig sich ausschliessende Bewußtseyn gefordert […]. (224,4-12)

Eine Disjunktion im Bewußtsein macht es also möglich, die Bewußtseins-struktur zum Bewußtsein zu erheben, die dem gewöhnlichen Bewußtsein noch verborgen bleibt. Diese auf dem Als basierende Disjunktion muß jetzt durch die Antwort auf die folgende, zu Beginn der 20. Vorlesung formulierte Frage gerechtfertigt werden: »Wie vermag ein Schema, das in Einem Bewußtseyn erscheint als Seyn: in einem andern B[ewußtseyn] als Schema zu erscheinen«?153 Eine Frage die von der Voraussetzung ab-hängt, daß: »Das Schema […] schlechthin als solches ersehen werden«154 soll. Dabei ist die Aufmerksamkeit vornehmlich darauf gerichtet, die Be-

153 GA II 12, 224,34f. 154 GA II 12, 225,1-3.

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dingungen der Möglichkeit für den Freiheitsakt zu finden, wodurch dem Bewußtsein das Schema als Schema erscheinen kann. 5.3.1. Die Disjunktion im Bewußtsein Wie bereits gesehen, gründet Fichte sein Verfahren auf eine künstliche Verdoppelung des Bewußtseins. Es werden also zwei Bewußtseine darge-stellt: Dem einen, dem gewöhnlichen, erscheint das Mannigfaltige als Sein, während es sich dem zweiten, dem philosophischen, als Schema darstellt. Selbstverständlich sollte man streng genommen besser von un-terschiedlichen Bewußtseinsstandpunkten oder Bewußtseinsebenen als von zwei Bewußtseinen sprechen, denn das Bewußtsein kann nur eins sein, in dem aber eine Disjunktion stattfindet, die aus der unterschiedli-chen Perspektive resultiert, von der aus es auf seine eigene Tätigkeit schaut. Wie Fichte aber schon erklärt hat und wie man weiter unten deutli-cher sehen wird, spricht er hier von zwei Bewußtseinen,155 weil die beiden Standpunkte einander vollkommen ausschließen. Deutlicher als sonst zeigt Fichte hier mit der Rede von zwei Be-wußtseinen, wie stark der Hang ist, den Begriff von Bewußtsein zu hypo-stasieren und es mit einer Substanz zu identifizieren, statt es in seinem aktiven Sinn, nämlich als Bewußt-zu-Sein, zu verstehen. Nichtsdestoweni-ger darf man nicht vergessen, daß das Bewußtsein in Wahrheit nur eine weitere Bestimmung des Vermögens ist und daß es als solches auch be-reits abgeleitet wurde. In dem jetzt zu untersuchenden Bewusst-Sein soll darüber hinaus das Vermögen expliziert werden, sich nicht nur eines Et-was bewußt zu sein, sondern sich auch seines Bewußt-Seins des Etwas selbst wieder bewußt zu werden. Dieser zweite Aspekt fällt mit dem Se-hen des Sehens zusammen und ist jetzt näher zu beschreiben. Die Frage lautet also: Unter welcher Voraussetzung kann das Sich-bewußt-Werden der Vollziehung des Vermögens möglich sein? Die Komplexität dieser Aufgabe besteht darin, daß alles, das von nun an deduziert wird, mit der eben schon abgeleiteten Struktur des Bewußtseins übereinstimmen soll und somit selbst als Glied des Bewußtseins anzuerkennen ist. Nur inner-halb des Bewußtseins selbst ist das Sehen des Sehens zu erklären. Da das

155 Fichte selbst wird jedenfalls, wenn er die Aufgabe für gelöst hält, von Formen

des Bewußtseins reden. Vgl. GA II 12, 229,27f.

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zweite Bewußtsein ein Sehen ist, und Sehen wiederum nichts anderes als Etwas-Sehen, d.h. – gemäß der Definition des Sehens – ein Zusammenfal-len von Sein und Schema sein kann, soll das im ersten Bewußtsein ver-borgene Schema für das zweite Bewußtsein zu einem Etwas werden. An-ders ausgedrückt soll das Schema als ein objektiver Pol dargestellt werden können und damit in eine Vorstellung als ein Sein mit dem Charakter eines Schemas eintreten:

In diesem [zweiten Bewusstsein] ist das Schema als Schema durch-drungen – ; daß dies nun ein Vermögen sey, und Schema dieses Vermögens als Schema, wissen wir; im Bewußtseyn selbst aber ist weder Vermögen, noch Schema, noch Schema als Schema sichtbar, sondern dieses alles in seiner Concretion ist das formale Sehen

selbst. Daß dieses Schema als Schema den nothwendig durch-drungnen und durchsichtigen Charakter, die Qualität liefere wissen wir gleichfals. Nun muß ferner in derselben synthetischen Einheit des Bewußtseyns dem Schema als solchen entgegentreten ein Seyn

mit demselben Charakter: dies giebt nun dem Bewußtseyn das Et-was; dasjenige, woran die Durchsichtigkeit sich gleichsam bricht, von dem sie getragen wird, und von dem sie reflektirt. (225,15-24)

Da am Ende der Deduktion der allgemeinen Bewußtseinsstruktur festge-stellt wurde, daß das »Bewußtseyn […] sich nun schlechthin durch sich selbst in zwei Grundtheile, die Erscheinung, als sich machend in ihrem Seyn, und dieselbe als sich machend mit absoluter Freiheit« teilt,156 muß jetzt nach den beiden Grundteilen gefragt werden, aus denen das soge-nannte zweite Bewußtsein besteht. Es soll also zunächst erklärt werden, wie sich die Erscheinung in ihrem Seyn als Schema generiert, so daß in ihm das Schema als ein etwas vorkommen kann. Das kann nach Fichte nur vermöge einer weiteren Bestimmung der Erscheinung mittels ihrer Unter-werfung unter das Gesetz des Soll erfolgen, d.h. unter diejenige Form, durch die in der Erscheinung selbst die Erscheinung Gottes als solchem möglich ist. Dafür muß zunächst das Soll als solches erscheinen, und da jedes Als nur in Folge eines Soll eintreten kann und das Als die Form des Schemas ist, taucht mit der Erscheinung des Soll als solches auch das Gesetz des Schematisierens überhaupt auf. Fichte erklärt dies folgender-maßen:

156 Vgl. GA II 12, 217,35-218,5.

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Was nun dies durch das Sehen bloß reflektirte innere sich machen der Erscheinung sey und woher dasselbe komme läßt sich sogleich sagen: es ist die Bestimmung der Erscheinung durch das absolute Erscheinen Gottes in ihr in der Form eines soll: Das absolute soll schlechthin als solches erscheinen, drum das Schema, dessen Schematicität sich erst verbarg, als ein Schema erscheinen. Es ist die Bestimmung der Erscheinung durch das absolute Erscheinen Gottes selbst, wodurch sie das Schema als Schema darstellt. W[as] D[as] E[rste] W[äre] und die Eine Seite dieses neuen Bewußtseyns, die objektive. (225,31-226,3)

Die Erscheinung in ihrem Sein geht zum Schema über, indem sie sich dem Gesetz des Soll unterwirft. Demzufolge erscheint das Schema als Schema kraft einer weiteren Bestimmung der Erscheinung unter der Vorausset-zung, daß dieses Gesetz als solches erscheint, worin das Absolute bzw. Gott erscheint. Anders gesagt: Da das Sehen des Absoluten in der Er-scheinung unmittelbar nicht vollziehbar ist und das Absolute nur durch Entzug des Schemas, als das in der Erscheinung wirklich Erscheinende, als solches betrachtet werden kann, muß diesem Entzug die Anerkennung des Schemas als solchem vorangehen. Gerade diese Anerkennung aber ist eine Bestimmung der Erscheinung. Das Gesetz des Soll gilt demnach als wirkende Erscheinung des Absoluten und verwirklicht sich gerade im Erscheinen des Schemas als solchem. Dafür soll das göttliche Gesetz des Soll nun auch als solches erscheinen – nur unter dieser Voraussetzung kann es überhaupt übernommen werden. Deshalb fällt die objektive Seite des Bewußtseins zweiter Potenz mit der Erscheinung des Gesetzes des Soll als solchem zusammen. Nun gilt es, den anderen Pol dieses zweiten Bewußtseins abzulei-ten. Es ist dies der Freiheitsakt, durch den das Vermögen das Schema als Schema betrachten kann. Das zweite Bewußtsein soll einer anderen Tätig-keit als derjenigen folgen, die im ersten Bewußtsein auftrat. Im ersten Bewußtsein fiel diese Tätigkeit mit dem freien Sichhingeben des Vermö-gens an ein gegebenes Sein zusammen. Das Sehen, das daraus hervorging, war somit das faktische, so daß in ihm Sein und Schema zum Faktum zusammenfielen. Nun darf aber das Sehen des Schemas nicht das nur fak-tische Sehen sein, denn diesem bleibt die Sicht des Schemas als solchem verborgen. Das Sehen des Schemas kann deshalb nur als Ergebnis einer angesichts des Soll geleisteten Reflexion über das erste Faktum entstehen. Dafür bedarf es eines neuen Freiheitsakts, demzufolge sich die Freiheit der Erscheinung dem Gesetz des Soll hingeben kann. Die erste zu beantwor-

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tende Frage lautet also, welche Bedingung diesen Freiheitsakt ermöglicht, die zweite, was das – nach dem ersten grundlegenden Freiheitsakt des Vermögens, sich überhaupt zu vollziehen – für ein neuer Freiheitsakt ist. Diese zweite Frage, die Fichte ausdrücklich für die »allerbedeutendste« der Wissenschaftslehre hält, formuliert er wie folgt:

Jenes sich machen in der Erscheinung soll nemlich das Resultat des Erscheinens Gottes, als eines Soll, eines Gesetzes für die Freiheit seyn; ein solches aber wird Gesez, und hat gesezgebende Kraft, wird ein Muß, nur in wiefern sich die Freiheit ihm hingiebt. Es muß daher für die Bedingung der Möglichkeit eines solchen Seyns der Erscheinung ein gewisser FreiheitsAkt schon vollzogen seyn. Und zwar wohlgemerkt, ist dazu keinesweges hinlänglich die Voll-ziehung der Freiheit überhaupt, denn daraus erfolgt bloß der erst beschriebne Reflex, in welchem das, was jezt als Schema heraustreten soll, als Seyn erscheint, sondern ein anderer neuer, dem ersten durchaus entgegengesezter. Was für einer? Dies ist die neue, und wie ich glaube, für die W.L. allerbedeutendste Frage! (226,8-17)

Dieser Freiheitsakt ist offenbar von anderer Art als die ursprüngliche freie Vollziehung des Vermögens, aus sich ein Bild zu erzeugen. Denn das Ergebnis der Vollziehung ist zunächst allein die Entstehung eines Bewußt-seins, das sich als Reflex eines reinen Faktums und seinen Inhalt als Vor-stellung eines ihm gegenüberstehenden Seins wahrnimmt. Der jetzt ge-suchte Freiheitsakt hingegen ist derjenige, aufgrund dessen sich das ge-wöhnliche (faktische) Bewußtsein zum transzendentalen (genetischen) Bewußtsein erhebt. Fichte beschäftigt sich hier offenbar mit der Form des genetischen Fragens selbst. Man könnte auch sagen, daß er damit eine Erklärung für genetische Untersuchungen anbietet. Das erste Bewußtsein wäre nämlich ein solches, das sich mit dem reinen Faktum zufrieden gibt; dem zweiten hingegen reicht die Faktizität nicht aus, es will darüber hin-aus zur Genesis gehen. Fichte formuliert die Aufgabe nochmals eindeuti-ger: »Der FreiheitsAkt, zufolge dessen ein Schema, das in einem andern Bewußtseyn sich für ein Seyn giebt, heraustritt als ein Schema, [ist nun] zu beschreiben.«157 Auf der Suche nach einer Antwort beschreibt Fichte nun zunächst noch einmal das faktisch sehende Bewußtsein als ein Zusammenfallen von

157 GA II 12, 226,22f.

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Faktum und Reflex, um sodann im Gegensatz dazu das genetische Be-wußtsein beschreiben zu können:

1.) Das was in einem Bewußtseyn als Seyn gesehen wird […] und das wir zur Erleichterung x. nennen wollen, wird denn doch in der That als ein Seyn gesehen; zufolge des Gesetzes dieses Bewußt-seyns selbst, das in sich aufgeht, und vollendet ist, und in dem, und dieser Lage die Erscheinung selbst durchaus aufgeht: und es kann in dieser Lage durchaus nicht anders gesehen werden. Woher diese Unmöglichkeit[?]: Antw[ort]. Die Erscheinung geht auf in ihre absolute SichVollziehung und in den Reflex derselben: also in das Faktum; der Reflex sieht dieses Faktum, dies ist in ihm reflektirt, soweit und nicht weiter: In diesem absoluten Beruhen in der Fakti-cität liegts, daß x. nicht anders erscheinen kann denn als ein Seyn. Seyn nemlich bedeutet hier factum. (226,24-33)

Nun ist aber bekanntermaßen das Gegenteil eines Faktums seine Genesis. Die Frage, unter welchen Bedingungen eine Genesis betrachtet werden kann und welcher Akt des Bewußtseins dazu nötig ist, beantwortet Fichte wie folgt:

Der Gegensatz zeigt uns in welchem neuen Akt des Sehens allein das Schema als Schema, […] die im Fakto sich verbergende Sich-vollziehung, erscheinen könnte: in einem solchen Sehen nemlich, das durchaus nicht faktisch ist, demnach in einem genetischen: in einem solchen, das die bloße Möglichkeit eines Faktum als solchen anschaute und voraussezte. Gäbe es nun etwa eine solche absolute Anschauung der einzigen Möglichkeit, so wäre aus dieser als Princip sehr leicht möglich die begehrte Einsicht […]. (227,9-16)

Und endlich fügt er zur Erklärung der Möglichkeit dieser Einsicht folgen-des hinzu:

– So allein, sage ich, würde die begehrte Einsicht möglich: wir schliessen zurük. Nun aber soll sie schlechthin möglich werden: es muß drum eine absolute Anschauung der alleinigen Möglichkeit eines Faktum geben. (227,19-22)

Die Befreiung des Bewußtseins von seinem unmittelbaren faktischen Zu-stand fällt also mit der Frage nach der dafür unentbehrlichen Bedingung, d.h. nach der einzigen und alleinigen Möglichkeit seines faktischen Zu-stands zusammen. Wenn ein Faktum nicht rein als solches angenommen,

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sondern unter dem Aspekt der es bedingenden Möglichkeit betrachtet wird, wird es unmittelbar in seinem schematischen Aspekt erscheinen. Daher kann man schließen, daß die allererste Bedingung für die Genesis eines Faktums gerade darin besteht, sich die Frage nach der Bedingung seiner Möglichkeit zu stellen. Die Möglichkeit, nach der Möglichkeit zu fragen, ist demzufolge die Art und Weise des intentionalen Bewußtseins, durch das es seine eigene Freiheit vollzieht. An dieser Stelle ist es aber Fichtes Anspruch, nicht nur eine Ge-nesis zu leisten, sondern das genetische Verfahren selbst genetisch zu analysieren und es damit grundsätzlich zu erklären. Die Frage gilt hier also der Möglichkeit der Genesis selbst oder der Möglichkeit, nach der Möglichkeit und damit nach den unterschiedlichen Modalitäten zu fragen. Eine faktische Genesis des Bewußtseins wurde übrigens schon angeboten und stimmte mit der Ableitung des Bewußtseins als Bestimmung der Er-scheinung überein, die Fichte am Ende der achtzehnten Vorlesung bot. Diese Genesis endete mit der Beschreibung des Bewußtseins, dessen Grund wir noch immer mit dem Wort Tathandlung benennen können. Denn das Bewußtsein ist einerseits Ergebnis einer zweifachen Bestim-mung der Erscheinung, die selbst durch die ursprüngliche Freiheit des Vermögens entsteht, sich zu vollziehen oder nicht, und darin die Hand-lung offenbart. Andererseits aber ist das Bewußtsein durch diese freie Vollziehung des Vermögens tatsächlich mit der ganzen synthetischen Periode da, wobei sich die Handlung in einem fixierten Resultat nieder-schlägt, eben der Tat, dem Faktum, als dessen reiner Reflex das schaffende Vermögen erscheint. Um Fichtes gegenwärtige Zielsetzung besser zu erklären, soll an dieser Stelle kurz auf die Behandlung des Themas in der zweiten Darstel-lung der Wissenschaftslehre aus dem Jahre 1804 zurückgegriffen werden, in der Fichte den Begriff der Genesis mit dem der Tathandlung ausdrück-lich gleichsetzt.158 Der Terminus Genesis hat aber in der Tat zwei Bedeu-tungen, von denen nur eine der Tathandlung entspricht. Einerseits bedeutet Genesis zwar genetischer Grund, der zu einer Tatsache führt und auf den insofern ein Faktum zurückzuführen ist. Diese erste Bedeutung stimmt mit der der Tathandlung überein. Dabei konnte Fichte in der zweiten Darstel-lung der Wissenschaftslehre 1804 an seine ursprüngliche schon in der Aenesidemusrezension geäußerte Idee anknüpfen, daß die Vorstellung, da

158 Vgl. Anm. 43 dieser Arbeit.

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sie eine reine Tatsache des Bewußtseins ist, keineswegs auch der Grund des Bewußtseins sein kann. Andererseits meint Fichte aber mit Genesis auch das genetische Verfahren überhaupt, d.h. die ganze Untersuchung nach dem genetischen Grund und demzufolge die Methode und die Ge-dankenschritte, die den genetischen Konstitutionsprozeß eines faktischen Zustands zeigen. Genesis heißt also einerseits Bedingung der Möglichkeit einer Tatsache, andererseits aber auch die Suche nach dieser Bedingung, d.h. nach dem Gedankengang, der zur Darstellung der Bedingung der Möglichkeit einer Tatsache führt. Nun geht aber Fichte in der 19. und 20. Vorlesung in Richtung einer höheren Genesis einen gedanklichen Schritt weiter, indem er nach der Möglichkeit des genetischen Verfahrens selbst fragt. Die Erklärung des genetischen Prozesses, der zur Ableitung des Bewußtseins und dem-nach zum Sehen des Sehens geführt hat, wäre nur ein besonderer Fall davon. Die Antwort, die er am Ende der 20. Vorlesung formuliert, lautet folglich: »es muß drum eine absolute Anschauung der alleinigen Möglich-keit eines Faktum geben.«159 Worauf gründet sich nun diese absolute An-schauung selbst, die die Möglichkeit einer vom gewöhnlichen Standpunkt grundverschiedenen Ansicht eröffnet? Wieder verweist die Antwort auf das der Erscheinung innewohnende Gesetz des Soll, nach dem in der Er-scheinung Gott explizit, d.h. als solcher zu erscheinen hat:

3.). […] Diese Anschauung liegt ihrer eignen Möglichkeit nach schlechthin in der Erscheinung, zufolge des Gesetzes, daß in ihr das absolute als solches erscheinen soll, und sie macht, zufolge dieses Gesezes, wirklich und in der That sich ganz von selbst, wo nur die Bedingung dieses sich machens gegeben ist. (227,29-228,5)

Anschließend fügt Ficht noch einen vierten Punkt hinzu, mit dem er die Zuhörer in die nächste Aufgabe einführt und die 20. Vorlesung abschließt.

4). Diese Bedingung nun, irgend einen FreiheitsAkt, durch den die Erscheinung sich dem Gesetze nur hingiebt, und demselben eine Sphäre verschaft, sollten wir eben beschreiben, und durch das jezt gesagte haben wir diese Beschreibung nur möglich machen wollen. (228,6-9)

159 GA II 12, 227,21f.

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Denn das Gesetz des Soll gilt wieder nur als Bedingung dafür, daß ein zweiter Freiheitsakt sich vollziehen kann, dessen Ergebnis die weitere Bestimmung der Erscheinung in Form der Anschauung der alleinigen Möglichkeit ist: Der Freiheitsakt selbst wurde aber bisher noch nicht be-schrieben. 5.3.2. Der Freiheitsakt: ideale und faktische Welt Eingangs der 21. Vorlesung bietet Fichte eine klare Zusammenfassung der beiden Arten, wie das Erscheinen an der Erscheinung zu verstehen ist. Dabei ergeben sich die so wichtigen Definitionen des idealen und des faktischen Seins der Erscheinung: Das ideale Sein ist das, in dem Gott erscheint und dadurch der Erscheinung ihr selbständiges Sein gewährlei-stet; im faktischen Sein erscheint die Erscheinung selbst und übt so ihre Freiheit aus:

Die Erscheinung hat nemlich nach unsrer ganzen bisherigen Darstellung zwei Weisen zu seyn: ihr Seyn als Erscheinen Gottes selbst, welches geht bis zu ihrer eignen Selbstständigkeit, ihr Seyn an Gott: = ihrem immanenten Seyn, idealem Seyn, das durchaus nicht erscheint; und ihr Seyn durch sich selbst und die Vollziehung ihrer Freiheit, ihr faktisches Seyn, in der durchaus erschaffenen Sphäre ausser Gott. […] In dieser sey nichts denn das Sehen des

Faktum; und die Erscheinung, als in dieser Sphäre befindlich, gehe drum drin auf. (228,18-26)

Hier wird die Differenzierung wieder aufgenommen, die Fichte in der achten Vorlesung zwischen dem Erscheinenden und dem Erschienenen in der Erscheinung machte. Dort war das Erscheinende dem absoluten Sein in der Erscheinung gleichgesetzt, während das Erschienene nur eine weite-re Selbstbestimmung dieser Erscheinung war. Fichte bemerkte in diesem Zusammenhang, daß darin nur die Erscheinung, nicht aber das Sein selbst zur Erscheinung kommen könne.160 Nun werden diese beiden Aspekte der Erscheinung entsprechend ideales und reales Sein genannt. Das erste, wie zuvor auch das erscheinende Sein oder Gott, erscheint eigentlich nicht,

160 Vgl. GA II 12, 178,2-4: »Das Seyn erscheint denn in der That nicht. Ist doppel-sinnig. – . Es ist das erscheinende: aber nicht das erschienene, nicht das von der Erscheinung abgesonderte, und gleichsam abgestoßne, und abgesezte.«

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denn es kommt in der Erscheinung nicht zum Vorschein; das zweite dage-gen erscheint faktisch, ist von der göttlichen Sphäre ganz getrennt und macht die von Gott ganz unabhängige faktische Welt aus. Fichte geht nun weiter, indem er die Rede der vorigen Vorlesung aufgreift und den Frei-heitsakt, der sich zum Sehen des idealen Seins erhebt, hinterfragt:

Sollte drum das gesuchte andere Sehen entstehen, so müßte die Er-scheinung nicht darin [scil. im Sehen des Faktums] aufgehen, sondern ihr faktisches Seyn schlechthin durch eigne Freiheit, über diesen Umkreis erheben. Dies wäre der gesuchte absolute Frei-

heitsakt; dies müßte sie: aber auch absolut nichts weiter: Wie er sich nur losgerissen hätte aus jener Gefangenheit, so träte unmittel-bar die Wirksamkeit des Gesetzes ein, das im idealen Seyn nur ein Soll war, im faktischen zufolge dieses Akts ein Muß wird, und er-zeugte schlechthin die gesuchte Anschauung der alleinigen Mög-lichkeit des Faktum. (228,29-229,6)

Es gilt nun, bei der Deduktion des absoluten Freiheitsakts die Beziehung des faktischen Seins der Erscheinung zum idealen Sein vermittels des Soll zu zeigen. Die Selbstbestimmung der Erscheinung fällt mit ihrer freien Aneignung des Gesetzes des Soll zusammen, derzufolge ein zwingendes Muß entsteht. Der Freiheitsakt ist insofern kein willkürlicher, sondern freie Unterwerfung unter ein Gesetz, das einmal angenommen sich in eine Notwendigkeit verwandelt. Dadurch wird das faktische So-oder-so-Sein vermöge des idealen Seins und der sich in ihm zeigenden Anerkennung der alleinigen Möglichkeit erweitert. Nun ist aber die Möglichkeit der Anschauung der alleinigen Mög-lichkeit, die im oben erwähnten dritten Punkt vom Ende der 20. Vorlesung als Bedingung der Möglichkeit der Genesis dargestellt wurde, nirgendwo anders zu suchen als in der Erscheinung selbst und in dem ihr innewoh-nenden Gesetz, daß das Absolute oder Gott als solcher erscheinen soll. Indem also das Gesetz des Soll wirksam wird und dadurch daß dieses Gesetz frei angenommen wird, befreit sich tatsächlich die Erscheinung von der ersten nur scheinbar freien Betrachtung des Faktums als eines So-oder-so-Seienden und tritt die zweite notwendige Einsicht der alleinigen Möglichkeit des Faktums ein. Faktische und ideale Welt klaffen hier also einerseits eindeutig auseinander, andererseits wird aber durch die Vollzie-hung des Vermögens, das in der Wissenschaftslehre bis zur Enthüllung des schematischen Charakters des Seins fortgesetzt wird, eine Brücke zwischen ihnen geschlagen – eine Brücke, die in der freien, weiteren

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Selbstbestimmung des Vermögens besteht, dank der Übernahme des Ge-setzes des Soll die ideale Welt in der faktischen Welt zu realisieren.

Dies, sagte ich, wäre der gesuchte absolute FreiheitsAkt. […] Es ist lediglich ein Bestimmen des faktischen Seyns der Erscheinung,

durch ihre absolute innere Freiheit. Daß X. als Faktum erschien, war Resultat des Aufgehens der Erscheinung in diesem faktischen Sehen; soll ein anderes Sehen an dessen Stelle eintreten, so muß die Erscheinung eben nicht mehr allein darin ihr faktisches Seyn haben, sondern sie muß dasselbe mit Freiheit erweitern. Ihr fakti-sches Seyn, aber auch lediglich ihr formales, und reines Seyn; nicht ein so oder so seyn, denn dies tritt ohne alle Freiheit durch das Gesez hinzu. Dieses neue faktische Seyn läßt sich auch nur re-lativ bestimmen; es ist ein neues, ein andres, denn das Aufgehen im faktischen Sehen; ein gegen das erste erweitertes. (229,7-20)

Damit ist die Entstehung des Schemas als Schema als Erweiterung des faktischen Seins dargestellt. Dieser Sachverhalt läßt sich anhand der berühmten Anekdote über die Art und Weise, wie Newton zum universellen Gravitationsgesetz kam, beson-ders schön veranschaulichen. Der Legende nach fiel Newton, während er einmal gedankenversunken unter einem Apfelbaum saß, ein Apfel auf den Kopf, und kam er dadurch zum allgemeinen Gesetz der Gravitation. Man könnte jetzt das fichtesche Modell der zwei Bewußtseine auf diese Ge-schichte anwenden: Das erste Bewußtsein Newtons ist dasjenige, das vom Fallen des Apfels geweckt wird. Er erhielt einen Anstoß und konnte bald den Apfel als Ursache für diesen Anstoß identifizieren. Allein durch das reine Fragen nach dem Grund für die Störung, d.h. durch die Reflexion auf seine Empfindung, entstand ihm ein zweites Bewußtsein, durch das er den Apfel als Ursache bestimmen konnte. Das ist offenbar eine Erweiterung des faktischen Daseins des Apfels, denn dieser ist an sich betrachtet keine Ursache von irgend etwas, sondern eben nur ein Apfel. Das zweite Be-wußtsein erlaubte Newton nun, die Bedingung der Möglichkeit des Auf-pralls des Apfels auf seinem Kopf unter dem allgemeinen Gesetz zu sub-sumieren: ›Äpfel fallen von Bäumen auf die Erde‹. Er blieb aber nicht bei der Feststellung der Tatsache, daß Äpfel ›so oder so‹ wahrgenommen werden können, also entweder an Bäumen hängend oder von diesen fal-lend, sondern fragte nach der Möglichkeit dieses faktischen So-oder-so-seins. Eine Frage, die aber nur von der Annahme ausgehen konnte, daß

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Äpfel an Bäumen hängen und von diesen fallen können sollen: Worin besteht aber die alleinige Möglichkeit dafür? Das faktische Fallen des Apfels wird als Erscheinung eines allgemeineren Phänomens gesehen, wodurch auch das Phänomen erscheint, ohne aber darin als solches zum Vorschein zu kommen. Nun soll es aber auch darin erscheinen und sich als dessen Bedingung der Möglichkeit enthüllen. Demzufolge mußte New-ton eine Kraft annehmen, welche den Apfel in Bewegung setzen konnte, die aber dann auch notwendigerweise nicht nur Äpfel, sondern alle Objek-te betrifft und darüber hinaus nicht nur die Objekte auf der Erde, sondern alle Objekte des Universums in eine wechselseitige Beziehung setzt. Da-mit hat Newton das Faktum eines ›fallenden Apfels‹ unter seinem schema-tischen Aspekt betrachtet. Er hat also etwas, das anfangs von der Empfin-dung der Störung überhaupt nicht zu unterscheiden war, dank der Schema-ta Ursache und Kraft betrachten können. Und dies erlaubte ihm sogar, eine allgemeine Regel zur Beschreibung des Schemas Kraft in der be-rühmten Formel: Gm1m2/r

2 zu formulieren, wobei G einer Konstante, r der Distanz zwischen den Zentren der beiden Objekte und m1 und m2 den Massen der beiden Objekte entsprechen. Wie aber ist diese Operation überhaupt möglich gewesen? Fichte antwortet, dieses Gesetz oder Schema gelte nur unter der Annahme, daß alles Schematische an der Erfahrung entdeckt werden könne, und dies hänge wiederum von der Annahme ab, daß das Absolute als solches erscheine. Das heißt – mit den Worte Fichtes:

Daß es nun eine solche absolute Freiheit der Erscheinung, ihr for-males Seyn zu erweitern […] geben müsse, ist unter unsrer Vor-aussetzung des absoluten Soll bewiesen. Denn nur unter Bedingung einer solchen Freiheit erscheint das Schema als solches, und so das absolute als solches. Nun soll schlechthin pp [scil. das Schema als solches erscheinen, damit Gott als solcher erscheinen kann] also [kann die Erweiterung des formalen Seins stattfinden]. – . (229,21-25)

Newton hat die offene Frage nach der Möglichkeit des Fallens eines Ap-fels unter das Soll gesetzt. Das hat ihm erlaubt, das Phänomen in seiner Allgemeinheit zu betrachten: Soll der Apfel fallen, dann muß er einer bestimmten Kraft unterworfen sein. Es ist also das Soll, das das Erschei-nen des Schemas als Schema ermöglicht. Dieses Soll ist aber laut Fichte gerade das göttliche Gesetz, wodurch das Absolute am Ende der Enthül-lung aller Schemata als solche erscheinen kann. Somit kann Fichte schlie-ßen: »Unsere Aufgabe ist gelös’t. Es ist gezeigt, wie ein Schema, das in

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einer Form des Bewusstseyn nicht als solches erscheine, in einer andern, als solches erscheinen könne«161 Dies ist offenbar eine sehr wichtige Erklärung, die Fichte noch-mals unterstreicht, denn nun kann er den Weg der strengen Deduktion wieder aufnehmen, den er in der elften Vorlesung verlassen mußte: »4.) […] [D]urch diese Lösung ist denn zugleich das bis jezt gesuchte Princip = X. gefunden, und wir sind auf den Weg der strengen Deduktion zurük-gekommen.«162 Daran, daß er in den letzen elf Vorlesungen auf der Suche nach diesem Prinzip war, hat Fichte mehrmals erinnert, vor allem in der Rekapitulation eingangs der 19. Vorlesung, gleich nach der Deduktion des Bewußtseins, als er den zweiten Teil der Zwischenarbeit – die Rechtferti-gung des Bewußtseins des Bewußtseins nach der Erklärung der Bewußt-seinsstruktur – einleitete.163 Nun ist dieser zweite Teil zum Ende gekom-men und kann dank des von ihm entdeckten Prinzips X der Übergang von Schema 1 zu Schema 2 näher erklärt werden:

Bis zur Ableitung einer selbstständigen Freiheit in der Erscheinung ging unsre Deduktion. Von da an war unsre Voraussetzung, daß die unmittelbare Sich Vollziehung dieser Freiheit ein Schema geben würde; welches das das ganze Wesen der Erscheinung ausdrükende Schema, von uns II. genannt, seyn würde; mit dessen Vollziehung aber auch der ganze Proceß der Erscheinung zu Ende seyn: auch es niemals zu solchen Phänomenen, als wir sie faktisch vorfinden, einem Bewußtseyn, u.sw. kommen würde. (229,31-230,2)

Vormals war nämlich das Ergebnis der Deduktion auch allein deswegen unbefriedigend, weil im Schema 2, wenn dieses als unmittelbarer Frei-heitsvollzug zu gelten hätte, keine Spur eines möglichen Ableitungsprin-zips, weder der faktischen Mannigfaltigkeit noch des Bewußtseins, zu finden war. Die Suche nach diesem Prinzip hat die ganze Zwischenarbeit

161 GA II 12, 229,26-28. 162 GA II 12, 229,29f. 163 Vgl. GA II 12, 220,23-221,12: »In dem Zusammenhange bleiben werden Sie

gewiß, wenn Sie nie vergessen, daß wir auf dem geraden Wege der Deduktion herabgegangen sind bis zu einer selbstständigen Freiheit der Erscheinung sich zu erscheinen. An dieses Glied unmittelbar hätten wir nun anfügen sollen ein Princip = x. […] einer Spaltung in Fünffachheit,

und Unendlichkeit. Dieses Princip konnten wir nun unmittelbar nicht verständlich machen. Wir suchen es, und dies ist unser jetziges Geschäft. – . […] Mit diesem Princip haben wir bis jezt gearbeitet, und aus ihm gefolgert. Als Princip der Disjunktion eines eigentl[ich] faktischen ist es aber noch nicht erschienen. Wir sind drum noch nicht auf den Weg zurük; und in den Punkt hinein, den wir suchen; sondern haben die Arbeit noch fortzusetzen.«

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geleitet. Jetzt, da ein Disjunktionsprinzip in der Disjunktion des Bewußt-seins entdeckt ist, leuchtet ein, daß die damalige Vorstellung von der Be-ziehung zwischen Schema 1 und Schema 2 unzureichend war. Die freie Vollziehung des Vermögens kann nämlich nicht unmittelbar in einem schematischen Produkt aufgehen, sondern sie kann nur dessen weitere Selbstbestimmung ausüben, wie Fichte erklärt:

– Jezt sehen wir, daß diese Voraussetzung [scil. daß die unmittel-bare Sich Vollziehung dieser Freiheit ein Schema geben würde; welches das das ganze Wesen der Erscheinung ausdrükende Sche-ma, von uns II. genannt, seyn würde] darin, daß dies unmittelbar die Vollziehung der Freiheit gebe, gänzlich unrecht habe. – Es schiebt sich uns ein andres Mittelglied ein: Die unmittelbare Sich

Vollziehung der Freiheit der Erscheinung ist durchaus nicht irgend

ein Schema: sondern sie ist eine Selbstbestimmung ihres eignen

formalen Seyns; zufolge welches Seyns nun erst, nicht durch Frei-heit, sondern nach dem Gesetze ein gewisser schematischer Zu-stand entsteht. – (230,2-8)

Die Freiheit des Vermögens wirkt also nur bis zur unmittelbaren Selbstbe-stimmung des Vermögens selbst, sich einem Gesetz zu unterwerfen. Dar-über hinaus wird seine Vollziehung ganz automatisch dem produktiven Gesetz des Soll zufolge verfahren, das sich in ein Muß verwandelt. Der Fehler lag also darin, daß die Vollziehung der Freiheit als unmittelbar produktiv betrachtet wurde, wodurch aber der Prozeß der Erscheinung der Erscheinung ein unwiderrufliches Ende finden würde. Das Prinzip und das Mittelglied versprechen dagegen, das Abbilden von Schema 1 in Schema 2 als einen lebendigen Prozeß zu zeigen. Worin aber besteht die Tätigkeit des Mittelglieds? Sie besteht gerade in der Selbstbeschränkung des Ver-mögens, d.h. in der Verwirklichung seiner Möglichkeit, sich dem Gesetz des Soll frei zu unterwerfen. Erst dadurch kann ein Schema 2 entstehen, das nicht ein unmittelbares Ergebnis des Vermögens ist, sondern erst in-folge seiner Selbstbeschränkung entsteht. Die Projektion des Schemas 2 durch das Vermögen ist also nicht die unmittelbare Folge der Freiheit des Vermögens, sich zu verwirklichen oder nicht, sondern die Folge eines vollkommen neuen Freiheitsakts, der es erlaubt, seine eigene Freiheit freiwillig zu beschränken. Dennoch bleibt das Schema 2 ein Ergebnis des Vermögens, sich mittels seiner Selbstbeschränkung – und deshalb auto-nom – ein Gesetz zu geben. Es ist somit erklärt, weshalb das Vermögen nie nach außen tätig ist, denn damit würde es in einem einzigen Produkt

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vollkommen zu Ende kommen. Tatsächlich aber kann es immer nur nach innen, d.h. auf sich selbst, wirken und die Selbstbestimmung des eigenen formalen Seins vornehmen. Hierin manifestiert sich das Gesetz des Soll und dadurch wiederum das Vermögen, wodurch endlich das Schema 2 als schematisches Urganzes entsteht, in dem sich das Sicherscheinen der Er-scheinung auch tatsächlich abspielt.

Dieses formale Seyn scharf zu denken: Es ist überhaupt nichts, denn das was wir aussprachen, die Bestimmung, Beschränkung der absoluten Freiheit, nach einem Gesetze, dem Gesetze des Vermö-gens, sie zu beschränken. Das Seyn ist in der Wurzel eben nichts anderes, als Beschränktheit der ungebundenen Freiheit auf die und die Form der Beschränktheit; und nur insofern, und im Gegensatze mit der ungebundenen Freiheit ist es Seyn. (230,8-13)

Die weitere Bestimmung der Erscheinung ist es also, die Freiheit des Vermögens zu beschränken: Erst durch die freie Gefolgschaft des Geset-zes des Soll entsteht ein Muß. Es erscheint deshalb ein faktisches Sein, das sich nun dem Vermögen entgegensetzt und das, weil es ganz automatisch allein dem Gesetz zufolge entstanden ist, in der sich-erscheinenden Er-scheinung als fremd empfunden wird. Das Sein ist also tatsächlich als vom Vermögen selbst erzeugt zu verstehen, nur eben nicht durch ein Erschaf-fen des Vermögens eines Etwas, sondern vielmehr durch das selbständige Sichbeschränken seiner Freiheit. Hierin besteht aber auch die Beziehung der beiden Welten, der idealen und der faktischen, denn durch diese Selbstbeschränkung wird die ideale Welt der absoluten Freiheit durch einen Freiheitsakt in der fakti-schen Welt verwirklicht. Dann aber beruht die Möglichkeit der faktischen Welt auf der idealen Welt. Der Grund für diese Verwirklichung ist die Forderung nach der Erscheinung Gottes, denn nur unter der Vorausset-zung, daß Gott in der Erscheinung erscheinen soll, wird das Schema als Schema anerkannt und damit schließlich ein Akt der absoluten Freiheit in Gang gesetzt. Die Selbstbeschränkung des Vermögens geschieht also erst durch die Annahme des Gesetzes des Soll, wodurch sich dieses Gesetz der Freiheit in ein Muß, d.h. in ein Gesetz der Notwendigkeit verwandelt. Das Soll, das schon als Erscheinung Gottes verstanden wurde, gilt demnach als notwendige Voraussetzung der Wirklichkeit, die also auf dem absoluten Sein bzw. Gott beruht. Fichte kann nun behaupten:

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Das ideale und das faktische Seyn der Erscheinung, also die ideale, und faktische Welt, sind hier genau geschieden. Der Mittelpunkt beider ist die absolute Freiheit der Erscheinung; diese ist schlecht-weg zufolge des Erscheinens Gottes, und so ideal; und wenn sie sich vollzieht, so ist dadurch ein faktisches. Wie nun dieses leztere mit der Freiheit im idealen Sinne gränze, wußten wir bis jezt noch nicht, haben es aber jezt erfahren. Die absolute Vollziehung der Freiheit geht nicht nach aussen, sondern in sich selbst zurük; es ist ein Selbstbestimmen. (230,24-31)

Und daran kann er die folgende nähere Erklärung der Freiheit anknüpfen:

Die Freiheit ist drum theils bestimmend, theils bestimmt. Inwiefern sie überhaupt bestimmend ist, ist sie begrenzt, ein Vermögen sich zu bestimmen, und liegt in der idealen Welt. Inwiefern sie durch die Vollziehung dieses Vermögens bestimmt ist, ist sie ein fakti-sches, gewordnes Seyn, und liegt in der faktischen; und so greifen diese beiden Welten ein in einander; und der Grund des Zusam-menhangs ist ein entstehen eines seyns schlechthin aus nichts durch die erstere. (230,31-231,2)

Hier verfährt Fichte sehr ähnlich wie in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, in der er die Möglichkeit der Entstehung der Vorstel-lung im Bewußtsein, d.h. des Sehens eines unabhängigen Seins, in der Beschränkung der Tätigkeit des Ich erkannte und sie mit der Übertragung eines Teils seiner Tätigkeit auf das Nicht-Ich begründete. Nur wird diese Beschränkung in der Wissenschaftslehre gleich auf das praktische Mo-ment, auf das der Erscheinung innewohnende Soll, gegründet. Dieses praktische Moment, das Gesetz des Soll, ist aber keineswegs von der Er-scheinung als solcher abzuleiten, sondern in und von der Erscheinung selbst als Gesetz des unmittelbaren Erscheinens Gottes anzuerkennen. An diesem Punkt wird deutlich, daß das praktische Moment nicht mehr allein die Möglichkeit der Vorstellung bestimmt, sondern schon als Möglichkeit der Konstitution der Erscheinung als genuiner Erscheinung Gottes gilt. Damit werden die theoretischen und die praktischen Aspekte des Bewußt-seins, d.h. die theoretische und die praktische Bestimmung der Erschei-nung, als Eins dargestellt, denn die Bedingung der Möglichkeit beider beruht auf ein und demselben Grund, nämlich dem Gesetz des Soll. Die-sem Gesetz entspricht die ideale Welt, die von der Erscheinung in der realen Welt verwirklicht wird. Gerade aus der Dialektik zwischen der Annahme des Soll und der eigentlichen Möglichkeit seiner Verwirkli-

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chung wird die gesuchte Spaltung sich ergeben und werden Grund und Form der Disjunktion hervortreten. Hiermit endet die 21. Vorlesung. 5.3.3. Der Grund der Disjunktion: das Soll und das Kann Die 22. Vorlesung eröffnet Fichte mit einer Zusammenfassung der vorhe-rigen:

Soviel ist wohl eben schon eingesehen: Das Erscheinen Gottes ist, ist in der Erscheinung, und das wahre und lezte Seyn der Erschei-nung selbst. Nun ist die Erscheinung in Beziehung auf ihr eignes faktisches Seyn durchaus frei: in dieser Vereinigung mit der Frei-heit verwandelt sich nun das, was in der idealen Welt allerdings Seyn ist, in Gesez für die Freiheit. (231,21-26)

Dabei fügt er die Beziehung zwischen idealer und realer Welt hinzu, die einer näheren Erläuterung bedarf. Denn die Erscheinung des absoluten Seins, das in der idealen Welt auf einmal erscheint, erscheint in der fakti-schen Welt im Grunde nur stückweise und deshalb in einer Mannigfaltig-keit. Trotz der Einheit des Soll sind etwa die Gesetze, die man unter der Annahme eines Soll betrachtet, mehrere. Das Soll ist nämlich einerseits als Bedingung dafür beschrieben worden, das, was faktisch als Muß er-scheint, zu begründen, denn nur dadurch, daß die faktische Bestimmung des Vermögens als Schema 2 anerkannt wird, kann sich die Erscheinung vollziehen und damit Erscheinung Gottes sein. Andererseits aber ist das Soll auch die Bedingung der Möglichkeit des Bewußtseins, sich von sei-nem nur faktisch betrachteten Inhalt loszureißen, um sich selbst als Sche-ma zu betrachten. Das Grundgesetz des Soll ist in beiden Fällen das glei-che. Es verwirklicht sich jedoch im Bewußtsein in zwei unterschiedlichen faktischen Gesetzen, denen zwei verschiedene Resultate folgen. Man könnte also sagen, daß die Erscheinung des göttlichen Gesetzes, nämlich des Soll, eins ist, seine Verwirklichung aber doppelt. Hier findet sich wie-der die gleiche Struktur, die in der Beschreibung der Beziehung zwischen Erscheinung und Erscheinung der Erscheinung zur Anwendung kam. Die einheitliche Erscheinung des göttlichen Gesetzes führt demnach zu seiner Verdoppelung in der Erscheinung dieser Erscheinung, denn die Form bleibt eine, es handelt sich um ein Soll, der Inhalt des verwirklichten Ge-setzes aber ändert sich. Dazu erklärt Fichte:

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Wenn sonach das Gesez erscheint, nicht als Eins, sondern als in sich geschieden, und mehrere Gesetze, so muß dieses einen andern Grund haben; und es kommt uns drauf an, diesen Grund in seinem eigentl[ichen] Mittelpunkte zu erfassen, indem ja wohl dieses der eigentl[iche] Disjunktionspunkt seyn dürfte den wir suchen. – (231,31-232,4)

In der bisherigen Entwicklung der Wissenschaftslehre war das Als für die Disjunktion verantwortlich. Nun aber wird deutlich, daß das Als nur eine Folge des Soll ist. Das Als ist also das Zeichen einer schon geschehenen Disjunktion und nicht dasjenige, was die Disjunktion verursacht: Der Grund für die Disjunktion ist dagegen im Soll zu finden. Wie aber das Soll als Disjunktionsprinzip überhaupt wirken kann, ist noch nicht klar, denn allein als ein Ideales kann es keine faktische Spaltung innerhalb der Reali-tät bewirken. Dafür bietet Fichte die folgende Lösung an: Das Soll sei kein positiver, sondern vielmehr nur ein negativer Grund der Spaltung, demzu-folge diese aus der relativen Unfähigkeit der Erscheinung entstehe, das Soll gleichzeitig in allen seinen Formen anzunehmen:

Woher nun diese faktische Trennung des an sich und in der Ideali-tät Einen Soll? Daher, weil die Freiheit dem Soll nicht mit Einem Schlage genügen kann, indem sie nothwendig aufgeht in einem be-stimmten Zustande der Anschauung, der den entgegengesezten ausschließt; darum verwandelt sich das Soll, nicht an sich, sondern in seiner Anwendung im Fakto, in ein mehrfaches. Nicht das soll drum, sondern die Unangemessenheit des faktischen kann zu dem Soll ist der Grund der Disjunktion. (232,12-18)

Die so gefundene Form des Prinzips der Disjunktion wird folgendermaßen weiter erläutert:

Hier hat sich nun vor der Hand eine Duplicität der mögl[ichen] Be-stimmung des faktischen Seyns der Erscheinung gefunden; […] ein solches Seyn der Erscheinung; zufolge des ihr die Anschauung eines Faktum, und ein solches, zufolge des ihr die Anschauung der alleinigen Möglichkeit eines Faktum entsteht. Anders, denn da-durch, daß unter dieser Bedingung eine gewisse Anschauung ent-stehe, lassen sich die verschiedenen Arten des faktischen Seyns der Erscheinung nicht bestimmen. (232,23-30)

Die hier erwähnten »verschiedenen Arten des faktischen Seyns der Er-scheinung« sind die beiden faktisch verschiedenen Ergebnisse der Unter-

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werfung unter das ideale Gesetz des Soll. Auch das genetische Moment zieht nämlich ein Faktum nach sich, und zwar dasjenige, das Schema als solches in einer Anschauung zu betrachten. Und entsprechend liegt dem faktischen Moment auch, dem unphilosophischen Bewußtsein allerdings unbekannt, das Soll als sein genetischer Grund zugrunde. Beide Verwirk-lichungen des einen Gesetzes des Soll sind also alternativ, denn die menschliche Freiheit kann dem Soll nicht in beide Richtungen gleichzeitig folgen. Dies ist auch schon dadurch evident, daß die Genesis dem Faktum im Bewußtsein notwendigerweise nachfolgt und beide Momente einander ausschließen. Man könnte nämlich sagen – und das wird auch in den näch-sten Vorlesungen von Fichte näher erklärt –, daß das Bewußtsein nur je-weils einem Akt seine Aufmerksamkeit zu schenken vermag und von die-sem und jedem einzelnen seiner Akte immer voll und ganz erfüllt wird. Das Soll ist demnach der genetische Grund für die Disjunktion, das Kann hingegen die faktische Ursache, die für die Entstehung der Disjunktion zuständig ist. Wie aber gleich zu zeigen sein wird, ist das Kann nicht nur Ursache der Disjunktion der beiden Ansichten – der genetischen und der faktischen –, sondern auch zugleich der Grund für die Entstehung der Mannigfaltigkeit. 5.3.4. Die Entstehung der Unendlichkeit Die bisherige Charakterisierung der Erscheinung und ihrer Beziehungen zum absoluten Sein erweist sich nämlich als problematisch. Da das Sche-ma als solches erschienen ist und somit die Erscheinung mittels des Geset-zes des Soll als Erscheinung Gottes anerkannt werden konnte, würde die Unabhängigkeit der Erscheinung ganz in diesem Gesetz aufgehen und damit vollkommen verloren gehen. Dagegen wurde aber von Anfang an postuliert, daß die Erscheinung eine gewisse Selbständigkeit haben muß, damit sie eine wahre Erscheinung des absoluten Seins sein kann. In der neunten Vorlesung erklärte Fichte: »Wir müssen drum der Beschreibung hinzusetzen, dass sie ausser jenem, was sie ist durch Gott, auch noch ein durch sich selbst habe«,164 und löst damit einen Widerspruch, der darin bestand, die Erscheinung als ein Vermögen, sich selbständig zu bilden, zu denken. Den jetzigen Widerspruch formuliert Fichte dagegen so:

164 GA II 12, 181,20-22.

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Das Schema X. war Resultat eines machen; alles Machen aber, als eben eine Vollziehung der Freiheit trägt seine Vollendung und Ganzheit, und so sein Ende und seine Vergänglichkeit in sich. Das absolute Schema (Schema II.) ist auch drum, wegen dieser Eigenschaft des Machens, die wir vorher nur nicht überlegt haben, gewiß nicht gemacht, noch machbar […]. – Nun soll es doch ein sich machen der Erscheinung in sich selber, und ein sich selbst machen eines vollendeten Sehens zufolge des ersten geben […]. Hier ist ein absoluter Widerspruch: Das unbe-dingte Seyn kann nie gemacht werden; das machen giebt nothwen-dig ein zu vollendendes, und drum bedingtes Seyn […]. (233,31-234,8)

Der Widerspruch besteht also einerseits zwischen der Vergänglichkeit der Produkte der Freiheit des Vermögens und der Folge des Sichbildens der Erscheinung, die, da das Ergebnis die Erscheinung Gottes in sich trägt, auch selbst Erscheinung Gottes sein muß. Mit Schema 2 darf demnach der allgemeine Inhalt der Erscheinung der Erscheinung benannt werden. Dies kann aber nie vollendet sein, da sich sonst das Bild Gottes im vollendeten Erzeugen des Vermögens erschöpfen würde. Es stellt sich also wieder das Problem vom Anfang: Wie können Gott und die Welt nebeneinander ste-hen, ohne daß eines von beiden dem jeweils anderen preisgegeben wird? Hier zeigt sich aber die Kehrseite des Problems, denn nun gilt es, Selb-ständigkeit und Unbedingtheit der Erscheinung schlechthin zu retten, weil nur so die Erscheinung eine wahre Erscheinung Gottes sein kann, ohne daß die absolute Jenseitigkeit Gottes auf diesen Vollzug reduziert wird. Diesmal kann also die Lösung des Widerspruchs nur darin bestehen, daß die Erscheinung, d.h. das Vermögen, als eine unendliche Tätigkeit ver-standen wird, die in ihrer Schematisierung das Schema 2 nie ganz voll-bringen kann. Damit wird die Vollziehung des Vermögens nie vollständig und bleibt der Erscheinung immer weiterer Spielraum für die Aktualisie-rung seiner selbständigen Tätigkeit. Fichte behauptet:

Das Seyn verwandelt in der Freiheit sich in ein Soll: Also, es müste in der Freiheit das Gesez seyn, jenes Schema zu machen. […] [Es] leuchtet denn ein, daß das Kann des Machens mit jenem soll in ab-solutem Gegensatze stehe, daß dasselbe Soll durchaus nie vollzo-gen werden kann. Ist drum ein solches soll, wie es allerdings seyn muß, so kann es die Freiheit treiben nur zu unendlichem Machen,

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und dafür ein Muß werden; in Absicht seines eigentlichen Inhalts aber bleibt es in alle Unendlichkeit fort ein Soll. (234,10-19)

Die Unendlichkeit in der Tätigkeit des Vermögens zeigt sich zum einen in der Rolle des Soll als Forderung nach der immerwährenden Aufgabe, das Schema zu realisieren, zum anderen im freien Vermögen als dem Streben, eine unendliche Aufgabe zu realisieren. Demzufolge kann Fichte schlie-ßen:

Jenes Schema ist drum für die Freiheit eine unendliche, nie zu er-reichende Aufgabe, der sie sich noch nicht einmal, wie manche sich ausgesprochen haben, annähern kann, sondern die nach aller Unendlichkeit eben so unendlich bleibt, als sie im Beginn war. – Drum nicht etwa jenes Schema ist ein unendliches […] oder das soll […], sondern das Schematisiren der Freiheit ist dem zu Folge ein unendliches. (234,19-24)

Das Schema 2 ist also einerseits der reale Vollzug des Sichbildens der Erscheinung, nicht aber in den jeweiligen einzelnen Bildern selbst, da diese für sich genommen nur tote Schemata sind und lediglich als Ver-schiebung der Vollziehung der Aufgabe des Soll, also als Anstoß für die Fortsetzung des Bildens gelten. Andererseits aber gilt das Schema 2 auch als ideelles Ziel des Sichbildens der Erscheinung und ist damit ein ideelles Bild, das sich nur in einem ewigen Sicherzeugen zeigt. Gerade seiner reinen Idealität wegen kann von keiner Annäherung an das Bild die Rede sein, weil dieses an sich schon immer als unerreichbar gedacht wird. Die Zielsetzung wirkt demnach als selbständiger teleologischer Motor der Erscheinung, sich weiter ins Unendliche fortzuschematisieren. Dies be-gründet die Autonomie des Lebens des Vermögens und gewährleistet, daß die Erscheinung in ihrem Erscheinen wahres Bild und Schema Gottes ist. Das Schema 2 stellt also keine unendliche Annäherung dar, sondern ist vielmehr als ein ewiges schematisches Fortbilden zu verstehen. Die Er-scheinung verwandelt das Soll dadurch, daß sie in und von der Aufgabe lebt, das sich selbständig vorgeschriebene Soll zu vollziehen, in ein auto-matisch wirkendes Müssen. Denn sie zwingt sich immerfort, Schemata aus sich selbst zu erzeugen, ohne sich mit den Ergebnissen ihrer Produktion je zufrieden geben zu können. Das Soll wirkt also als Gesetz der Erschei-nung Gottes für die Freiheit des Vermögens in der Form eines unstillbaren teleologischen Triebs, ein vollendetes Schema Gottes zu vollziehen. Da es aber dieses Schema nie ganz hervorbringen kann, resultieren gerade aus

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der Spannung zwischen Soll und Kann ein unendliches Schematisieren und unendliche Schemata. Mit dieser Deduktion der Mannigfaltigkeit, ja der Unendlichkeit der Sphäre der Erscheinung, schließt Fichte seine 22. Vorlesung. 5.3.5. Analyse des Soll Die 23. Vorlesung leistet eine für das weitere Verständnis notwendige Analyse des Soll in seinen bislang vorgekommenen Formen. Wie Fichte einleitend erklärt, sind im Soll drei Aspekte, eine »[d]reifache Ansicht des soll. [zu unterscheiden:] 1.) absolut: 2) in der Freiheit überhaupt, muß einer Unendlichkeit. 3) in der Einheit: soll einer Mannigfaltigkeit, die mit dem kann zusammenfällt«.165 Das Soll hat sich in seinen Anwendungen nicht mehr einheitlich gezeigt, sondern mehrdeutig. Es ist erstens absolut, d.h. es drückt einen Befehl aus, der von nichts und niemandem bedingt, sondern von jedem äußerlichen Zwang frei ist. Demzufolge kann man das Soll zweitens als Gesetz der Freiheit betrachten, wenn man seine Absolutheit als Möglich-keit der selbständigen Bestimmung des Vermögens versteht, denn hier drückt das Soll das Gesetz des Vermögens aus, dem es sich aus sich selbst heraus frei unterwirft. Aus dieser Perspektive drückt das Soll das Gesetz der Freiheit des Vermögens überhaupt aus. Das Vermögen aber verwan-delt sich, nachdem es sich gemäß der Formel ›soll es…, so muß…‹ be-stimmt hat, in ein zwingendes Muß, dem absoluten Gesetz des Soll folgt also eine unendliche Reihe des Müssens. Drittens drückt sich das Soll in jedem einzelnen Produkt seiner Gesetzlichkeit und deshalb in der Realisie-rung der unendlichen Reihe durch das Kann aus. Hier ist das Soll offenbar mit dem synthetisiert, was vom Vermögen realistisch zustande gebracht werden kann, denn es hat sich faktisch erst dank des Kann verwirklicht und erscheint demzufolge mit diesem vereinigt. Nun erklärt Fichte, daß »der zweite Punkt als der vereinigende der bedeutendste«166 sei, denn in ihm finde die Brücke zwischen dem einheitlichen Freiheitsgesetz und seiner faktischen mehrfachen Realisierung statt: Ein Gedanke, der im

165 GA II 12, 235,1-3. 166 GA II 12, 235,3.

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folgenden weiterentwickelt wird. Zunächst stellt Fichte den oben ange-führten Widerspruch nochmals dar:

[1.] Das Seyn des absoluten Schema verwandelt sich in der Freiheit in ein Gesez für sie [die Freiheit], in ein soll; die Freiheit soll jenes absolute Schema machen. [2.] Dies kann sie nun schlechthin, und absolut nicht, denn jenes Schema, da es unbedingt ist, ist nicht zu machen. [3.] Drum hat das Soll in dieser seiner wahren Bedeutung absolut nicht Kausalität; es bleibt ein Soll, das niemals ein Muß wird, und jenes absolut seyende Schema tritt als solches niemals, auch nicht in einem gewissen Grade, in einer Annäherung, oder dergl[eichen] ein in die Sphäre der Freiheit. (235,10-17)

Daraus folgt die Unmöglichkeit für das Soll, kausal zu wirken, d.h. die reale Ursache zur Verwirklichung des absoluten Schemas zu sein. Denn das Vermögen kann, obwohl das absolute Schema sich als ein freies Ge-setz des Realisierungsvermögens darstellt, gerade weil das Schema absolut ist, nie zu einem ihn erschöpfenden Realisierungsprodukt gelangen. Und da aus dem Soll keine vollständig befriedigende Folge hervorgeht, kann es aus dieser Perspektive nicht als kausal betrachtet werden. Anderseits muß aber das Soll mindestens eine Kausalität haben können, die der Möglich-keit des Vermögens, ein Soll anzunehmen und zu realisieren, entsprechte. Daß die Aufforderung des Soll nicht vollkommen erfüllbar ist, heißt näm-lich nicht, daß diese schlechthin unausführbar sei. Demzufolge erklärt Fichte, daß das Soll mindestens eine gewisse begrenzte Kausalität ausübt, die zwar nicht dem Schema in seiner Absolutheit entspricht, dennoch aber von dem absoluten Schema ideal angeleitet ist und zu einem unendlichen Schematisieren führt:

Nun muß dieses Gesez, dieses soll in der Freiheit dennoch die Kau-salität haben, die es kann: Dies aber ist diejenige, daß es die Frei-heit, die das Schema schlechthin vollziehen soll, und nicht kann, in dieser unerreichbaren Aufgabe treibe zum unendlichen fortvollzie-hen, dessen was sie kann, des machens eines Schema. Aus dem Soll folgt wirklich und in der That in der Freiheit ein unendliches Schematisiren. Durch die Bestimmung durch das absolut uner-reichbare Soll ist die Freiheit ein unendliches, nie zu erschöpfendes Vermögen. (235,17-23)

Dadurch hat Fichte das faktisch Unendliche als unendliche Tätigkeit des Vermögens auf seine Genesis zurückgeführt. Die Unendlichkeit entsteht

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also aus der inneren Dialektik des Vermögens zwischen seinem freien Verlangen, das absolute Schema ganz zu realisieren – hierfür nimmt das Vermögen das Soll an – und seiner faktischen Unfähigkeit, es auf einmal ganz hervorzubringen.

5.3.6. Die ›ewige Jagd‹ des Kann nach dem Soll Den oben formulierten Schluß entwickelt Fichte in fünf Punkten weiter. Im ersten Punkt erklärt er, inwieweit dadurch der Begriff der Unendlich-keit dialektisch deduziert wurde:

1.) Der Begriff der Unendlichkeit ist deducirt: Es ist dieser die Synthesis der Bejahung der absoluten Endlichkeit mit der Vernei-nung derselben. Jedes Faktum ist in sich und durch sein Wesen endlich: wie es vollzogen ist, ist es vorbei, das faktische Princip aber soll unendlich seyn: d.h. es soll nach jedem geendigten Fak-tum ein andres Faktum vollziehen, das eben auch sein Ende errei-chen wird, und so ins unendliche fort: Und so ist denn jedes Glied in der Reihe endlich, sie ist durch und durch endlich; und man schüzt sie vor der wirkl[ichen] Endung nur dadurch, daß man immer mehr endliches hinzusezt, und mit diesem Geschäfte nicht aufhört. (235,23-31)

Das einzig annehmbare Konzept einer aktuellen Unendlichkeit in der Form einer Verwirklichung der ideellen Unendlichkeit des absoluten Seins ist dasjenige einer unendlichen Sukzession von Endlichem. Diese ist eine »Synthesis der Bejahung der absoluten Endlichkeit mit der Verneinung derselben«, denn einerseits ist jedes Element der Reihe notwendig endlich und stellt damit für sich genommen eine zu Ende gekommene Vollziehung des Vermögens dar, andererseits aber ist die Reihe ins Unendliche fortzu-setzen und dadurch die endliche Vollziehung des Vermögens negiert. Wiederum ist die Reihe, in ihrer idealen Ganzheit betrachtet, auch voll-kommen, so daß die Beziehung zwischen ihr und ihren Elementen derje-nigen zwischen einer Linie und der unendlichen Zahl an Punkten, aus denen sie besteht, gleicht. Jedes Glied muß also, da das Vermögen durch seine Hervorbringung offenbar das Gesetz des Soll noch nicht ganz erfüllt hat, nach seiner Realisierung unmittelbar verlassen werden, denn das Ge-setz fordert ständig eine weitere Produktion. In ihren einzelnen Schritten ist also die Erscheinung der Erscheinung endlich, wodurch sie die Realität

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des Resultats angesichts der Idealität der Aufgabe verkörpert. In ihrer Allgemeinheit ist sie dagegen unendlich, wodurch sie sich als authentische Erscheinung Gottes vermöge des Gesetzes des Soll zeigt. Im zweiten Punkt vertieft Fichte diesen Begriff der Unendlichkeit, um seinen Realitätscharakter zu betonen und dabei das Können als Ort der Ableitung anerkennen zu können:

2.). Der Begriff der Unendlichkeit ist nicht als ein leeres, sondern als einer wahren Realität entsprechend abgeleitet. Die Erscheinung als faktisches Princip ist unendlich. Welches ist der Punkt der Ab-leitung[?]: das Verhältniß des nicht Könnens, und doch sollens,

zum wirkl[ichen] Können, und die Synthesis dieser beiden. Weil das faktische Princip schlechthin in aller Unendlichkeit nicht kann, was es doch in aller Unendlichkeit soll, dehnt sich sein Vermögen aus zu einer Unendlichkeit. Das Soll ist das Eine, und das Kann jagt dem soll ewig nach. (236,9-16)

Der eben abgeleitete Begriff der Unendlichkeit ist demnach als eine Syn-thesis von Nicht-Können und Können des Vermögens angesichts des Sol-lens zu sehen. Was das Vermögen nicht kann, ist eine Vollziehung des absoluten Schemas in einem Schlag. Gleichwohl kann es unendlich viele endliche Glieder hervorbringen. Nun tut das Vermögen das, was es soll, in der einzigen Form, die es kann, und dadurch bestimmt es sich zum wirkli-chen Vermögen. Das garantiert auch, daß die unendlichen Welterschei-nungen, etwa die Wahrnehmungen und die Vorstellungen, obwohl sie an sich nur tote Reste der lebendigen, schematisierenden Tätigkeit des Ver-mögens sind, eine authentische Wurzel im absoluten Sein haben. Im dritten Punkt beweist Fichte, daß das, was das Vermögen tat-sächlich hervorbringt, notwendigerweise eine Reihe von unterschiedli-chen, voneinander isolierten Schemata ist. Es wird damit das abgeleitet, was er in der achten Vorlesung schon erklärte: das Vermögen ist ein Ver-mögen, sich selbst zu schematisieren. Jetzt sieht man aber auch, daß dieses Sichschematisieren eine ins Unendliche fortgehende Tätigkeit ist, die gemäß dem Gesetz des Soll fortschreitet. Das bislang nur faktisch darge-stellte Produzieren des Vermögens ist demnach auf sein genetisches Ge-setz zurückgeführt:

3.). Jedes Glied in dieser unendlichen Reihe ist ein faktisch vollzo-gnes Schema. = a. Dieses füllt, während es da ist, das ganze Seyn der Erscheinung aus. Damit aber ist es auch zu Ende, und es wird

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zufolge des treibenden Soll vollzogen werden ein zweites Schema b. / in welchem die Erscheinung sodann wieder aufgehen wird, u.s.w. Beide schliessen sonach, als die Erscheinung ausfüllend einander aus, und wenn das Eine ist, ist das andere nicht; und so fort durch die ganze unendliche Reihe. Es ist und drum eine wahre Disjunktion und Spaltung in den Fakten, und zwar eine unendliche: und so ist denn das absolute Soll Princip einer Spaltung des fakti-schen Wissens ins unendliche. (236,16-24)

Das Soll bewirkt demnach, daß das Vermögen aus einem einzigen Ur-schema heraus unendliche, einander sich ausschließende Schemata dar-stellt. Dieses Gesetz erweist sich, wie bereits gesagt, als der wahre Grund für die Spaltung. Nun begründet Fichte gleich den Grund nicht der Dis-junktion, sondern der ihr folgenden absoluten Trennung in die unter-schiedlichen Schemata und deren Auseinanderschließen. Dieser liegt näm-lich nicht im Soll, gleichwohl aber in der Art und Weise, wie sich die Erscheinung auf die jeweiligen Schemata bezieht. Jedes Schema erfüllt das Vermögen, d.h. das Bewußtsein, gänzlich, so daß, wenn dieses sich eines ersten Schemas bewußt ist, es sich nicht gleichzeitig eines zweiten bewußt sein kann. Der Übergang vom einen zum anderen Schema fällt unter die weitere Forderung, das Gesetz des Soll zu erfüllen, und somit mit dem Untergang des jeweils vorherigen Schemas zusammen. Im vierten Punkt erklärt Fichte, wie die unterschiedlichen Sche-mata unmittelbar zur Erscheinung kommen, nämlich als ein Sein oder besser als ein Dasein. Nach dem, was aber Fichte schon vorher ausführte, ist es wohl auch möglich, jedes faktische Dasein unter seinem schemati-schen Aspekt zu betrachten. Eine Betrachtung, die er als die »Anschauung der alleinigen Möglichkeit des Faktums« definierte, denn ein unter seiner Bedingung der Möglichkeit betrachtetes faktisches Dasein erscheint eben nur unter seinem schematischen Aspekt. Dabei zeigt sich aber die unendli-che Reihe der Schemata in zwei unendliche Reihen verdoppelt, und zwar in die Reihe der faktisch Daseienden und in die ihren entsprechenden Schemata.

4.) Jedes dieser Glieder a. b. u.sw. wird, indem die Erscheinung bloß in der Fakticität aufgeht erscheinen, als ein Seyn; bei jedem aber wird, nach dem früher aufgestellten Princip die Erscheinung sich erheben können zur Anschauung der alleinigen Möglichkeit eines Faktum, und so wird denn in diesem neuen Sehen a. b. u.sw. erscheinen als Schema. (236,24-28)

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Das Soll ist demzufolge sowohl Grund für die unendliche Reihe dessen, was faktisch als Sein vorkommt, als auch Bedingung für das Sicherheben zur Anschauung der alleinigen Möglichkeit dieser Daseienden und daher darüber hinaus noch der Grund für die unendliche Reihe der Schemata. Es verursacht somit eine doppelte Disjunktion, eine unendliche Reihe von Elementen, die jeweils aus zwei Perspektiven zu betrachten ist, die einan-der spiegeln. Die Freiheit der Erscheinung besteht nun in der Möglichkeit, sich zunächst frei in einem gewissen faktischen Schema a zu verwirkli-chen, das in erster Linie auch nur in einer Wahrnehmung erfaßt werden kann. Sodann kann das Vermögen weiter entweder eine zweite faktische Wahrnehmung b hervorbringen oder sich in die Betrachtung von a als Schema versetzen. Letzteres ist dann im Grunde die Genesis der ersten Wahrnehmung a, d.h. die Betrachtung des schematischen Faktums in Hin-blick auf seine alleinige Möglichkeit. Fichte beendet diesen vierten Punkt mit der folgenden Bemerkung:

Diese neue Veränderung der Ansicht der Schematen, welche auch eine wahrhaftige Spaltung ist, und sich ausschliessende Zustände im Bewußtseyn bildet, wird angewendet werden können, ins un-

endliche fort: und so fällt denn das unendliche wieder in die Zwei oder Dreifachheit, wie wir sie bis jezt kennen, und diese mit der Unendlichkeit zusammen, und beide SpaltungsPrincipe greifen ein in einander, und sind eigentlich nur Eins. (236,28-34)

Nun schließen sich diese beiden Reihen, die faktische und die genetische, einander vollkommen aus, denn man kann nicht etwas wahrnehmen und zugleich das Schema dazu durchschauen. Dadurch ergibt sich die zweite, auf dem Soll gründende aber vom Kann bewirkte absolute Spaltung. Da aber zwischen den beiden Reihen (der faktischen und der genetischen) auch eine – freilich noch nicht geklärte – Beziehung bestehen muß, er-kennt Fichte das Soll eigentlich als dreifaches Prinzip der Spaltung an. Wie er schon angedeutet hat, doch jetzt erst zur vollkommenen geneti-schen Darstellung bringen kann, erstreckt sich diese Dreifachkeit (die er zu einer Fünffachheit erweitern möchte) offenbar über die Unendlichkeit und umgekehrt. Das kann eben darum so sein, weil das Prinzip der Entste-hung der Unendlichkeit und der Zwei- bzw. Dreifachheit ein und dasselbe Gesetz, nämlich das des Soll ist. Es ist das Soll, das sowohl zur unendli-chen Reihe der Fakten führt, als auch die Sichterweiterung zur Anschau-ung der alleinigen Möglichkeit ermöglicht, wodurch die Erscheinung sich

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aus einer Reihe von Fakten zur genetischen Reihe ihrer Schemata erhebt. Dies erklärt Fichte eindeutig in dem folgenden fünften und letzten Punkt:

5.) Das Princip von beiden ist das soll in seiner doppelten Bedeu-tung; theils als absolutes, indem es durchaus in dem eigentlichen Sinne seiner Forderung keine Kausalität hat, in einem andern nicht gefoderten Sinne aber sie hat: Princip der Unendlichkeit: – . theils dasselbe inwiefern es Princip ist in einer schon vollzognen Freiheit des wirklichen Sehens, und hier Kausalität haben kann, in Wech-selwirkung mit der Freiheit, oder auch nicht kann, falls der bedingende FreiheitsAkt ausbleibt – . (236,34-237,5)

Nach dieser von Fichte in fünf Punkten geleisteten Erläuterung der im Soll begründeten Disjunktionen ist es möglich, die unterschiedlichen Bezie-hungen zu rekapitulieren, die das Soll dank seiner Synthesis zuerst mit dem wirklichen Können des Vermögens und danach mit einem zweiten absoluten Freiheitsakt zur Kausalität hat. Zunächst hat das Soll: 1) als absolut angenommen keine Kausalität, weil das reine Schema des absolu-ten Seins, worin die von ihm wirklich geforderte Aufgabe liegt, nie erfüllt werden kann; dennoch hat es 2) auch eine gewisse Kausalität, sobald es mit dem Kann synthetisiert wird und sich in ein Muß verwandelt, wobei es sich als Grund für die faktisch unendliche Reihe der Schemata erweist (erste Spaltung in der Unendlichkeit); sodann kann aber das Soll, unter der Bedingung, daß es wieder von der Freiheit der Erscheinung angenommen wird oder nicht, 3) Kausalität haben und damit das faktische Sein zu seiner Genesis zurückführen, wobei sich wieder ein Muß – die genetische Reihe der Schemata als solche – ergibt (zweite Spaltung in der Zwei- bzw. Drei-heit); schließlich kann es dennoch aber 4) auch keine Kausalität haben, falls es nicht von der Freiheit der Erscheinung angenommen wird. Im ersten Fall ist das Kann dem Soll entgegengesetzt. Im zweiten und dritten Fall gilt das Kann dagegen als faktisches Prinzip der Spaltung, woraus notwendigerweise zwei unendliche Reihen folgen: die Reihe der An-schauungen des Seins und die Reihe der höheren Anschauungen der Schemata, die der ersten Reihe entspricht. Diese drei Möglichkeiten der Verwirklichung des Soll fallen wegen der Begrenztheit des Kann absolut auseinander. Im vierten Fall ist allerdings auch von einem freien Können die Rede, das aber nur negativ zu betrachten ist, und zwar als Freiheit des Vermögens, sich zur Anschauung der alleinigen Möglichkeit des Faktums nicht zu erheben. Da aber das Prinzip des Soll hier nicht eintreten kann, führt diese Freiheit zu keiner weiteren Bestimmung der Anschauung.

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5.3.7. Die Bedingung der Wirkung des Soll: das Bild des Soll Der Rest der 23. und die ganze 24. Vorlesung sind der Beziehung zwi-schen dem absoluten und dem wirklichen Soll sowie der Thematisierung der Begründung des Sollgesetzes im absoluten Sein gewidmet. Es wird festgestellt, daß sich auch das Soll in einem Bild darstellen muß, damit es als solches erkannt und angenommen werden kann. Die Ableitung der beiden unendlichen Reihen hat zur Erkenntnis und Anerkenntnis geführt, daß der Grund aller Realität das Soll ist. Da aber die vom Soll gebotene Wiederholung des Urschemas sich wegen seiner Absolutheit faktisch nie zu realisieren vermag, fragt Fichte, was nun tatsächlich in der Reihe je-weils zur Realisation gebracht werde: »[W]as [vermag] denn nun in der faktischen SichVollziehung der Erscheinung an die Stelle des durch das soll absolut gebotnen, aber schlechterdings nicht zu vollziehenden absolu-ten Schema treten?«167 Darauf antwortet er wie folgt:

Die Erscheinung ist doch überhaupt […] Princip eines Schema; und dies zwar nicht mit unmittelbarer Freiheit, denn diese ist bloß eine Selbstbestimmung, sondern, sobald diese nur da ist, durch ihr unmittelbares Seyn, d.i. nach dem Gesetze. Nun ist dieses Gesez hier das absolute soll: und so ist denn das von ihr zu vollziehende Schema, das sie auch wirklich vollziehen kann, ein Schema des

Soll. (237,17-22)

Die Erscheinung, als ein reines Vermögen betrachtet, vollbringt ein Sche-ma und gilt demnach als sein Prinzip. Das kann das Vermögen aber nur dank des höheren Prinzips vollbringen, ein absolutes Schema zu realisie-ren – eine Aufgabe, die vom absoluten Soll vorgeschrieben wird. Das Gesetz des Soll ist jenes, wodurch die Erscheinung jeweils seine eigene Freiheit beschränken kann. Absolut genommen kann aber das Soll nie als ein Gesetz für das freie Handeln der Erscheinung faktisch eintreten, denn es gilt nur für die ideale, nicht für die reale Welt. Wenn sich nun das Ver-mögen tatsächlich einem Gesetz unterwerfen kann, vermag dieses Gesetz nur in Form eines Bildes des absoluten Soll angeschaut zu werden. Da das, was die Erscheinung in ihrer Weiterbestimmung vollbringen kann, nicht das absolute Schema sein kann, kann dies allein ein Schema des Soll sein, dessen Realisation wiederum nur anhand eines Bildes möglich ist,

167 GA II 12, 237,12-15

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das in einer Anschauung des Gesetzes vergegenwärtigt wird. Es handelt sich dabei also um:

Ein Schema des soll […] nicht etwa das soll selbst: Das soll in seinem wirkl[ichen] faktischen Seyn […] ist ein ein Faktum be-stimmendes Gesez, wie z.B. das oben beschriebne Soll der An-schauung der alleinigen Möglichkeit unter Bedingung des Frei-heitsfaktum war: Das absolute Soll ist in diesem Sinne in der Fakti-cität nie Gesez, und tritt nie ein in dasselbe. Nur sein Schema: Dies wäre sonach Bild oder Anschauung eines Gesetzes: und zwar eines absoluten und unbedingten, eines Gesetzes, das nicht wieder ausser sich Gründe hätte, sondern eines ohne allen Grund, also die An-schauung eines absoluten soll […].(237,23-30)

Alles, was sich also unter der Annahme des Gesetzes des absoluten Soll verwirklichen kann, ist nicht das Soll selbst, sondern sein Schema, das in einer Anschauung der absoluten Gesetzgebung aufgefaßt wird. Die fakti-sche Realität ist demzufolge die Verwirklichung dieses Schemas, und ein Schema ist wiederum das, was anstatt des absoluten Soll in der Faktizität zunächst angeschaut und angenommen, sodann verwirklicht wird. Sobald sich das Vermögen, d.h. die Freiheit der Erscheinung, sich zu bilden, voll-zieht, ergibt sich notwendigerweise ein Bild des Soll, denn die Sich-beschränkung der Erscheinungsfreiheit unter der Annahme des absoluten Soll führt zunächst dazu, daß das Soll in einem praktischen Gesetz an-schaulich wird. Die Bedingung der Möglichkeit für die Entstehung der faktisch unendlichen Wirklichkeit besteht also in einem urpraktischen Moment, nämlich im Bilden eines Schemas des absoluten Soll oder in der Entstehung des Bildes eines Gesetzes, in dem das Soll angeschaut werden kann. Es handelt sich dabei um ein praktisches Moment, weil in ihm gerade das Soll auftritt, um das Handeln des Vermögens zu orientieren. Es fällt aber noch nicht in die Sphäre der Sittlichkeit als solcher – auch wenn Fichte es später das »sittliches Princip«168 nennen wird – weil dieses Bild des Soll jeder möglichen Vollziehung des Vermögens und daher jeder möglichen Trennung zwischen einer praktischen und einer theoretischen Sphäre zuvorkommt, denn: »Wie die Erscheinung sich vollzöge, wäre sie die Anschauung eines solchen reinen Soll«169 Diese Praxis ist also als

168 GA II 12, 240,11f. 169 GA II 12, 237,33f.

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etwas Ursprüngliches zu charakterisieren und demzufolge ist dem Wort praktisch das Präfix ur- voranzustellen, denn das Bild des Soll ist nicht allein als Gesetz des moralischen Handelns zu betrachten, sondern als Ge-setz der Praxis schlechthin, d.h. auch jener, die zum theoretischen bzw. wissenschaftlichen Erkennen führt. Das bedeutet, daß die beiden Momente der Veranschaulichung des absoluten Soll in einem Bild – das mit der Formulierung eines faktischen Gesetzes zusammenfällt – und die An-schauung des Schemas als unmittelbare Folge dieses Gesetzes zusammen-fallen. Fichte äußert sich darüber wie folgt:

Also: Das absolute Soll selbst verwandelt in der faktischen Form sich in die Anschauung eines absoluten, und reinen Soll. – Jenes soll war das absolute Schema selbst, nur in der Verbindung mit der Freiheit, jenes absolute Schema aber war Ausdruk Gottes, so wie er ist in ihm selbst. Also – das Bild Gottes tritt in der Fakticität nicht anders heraus, denn als ein absolutes Gesez, und indessen als ein

reines, ohne allen materialen Gehalt. (238,12-17)

Nun wirft man laut Fichte mit der Auffassung eines solchen Gesetzes in seiner Reinheit einen Blick in das synthetische Moment der Einheit und der Unendlichkeit und demzufolge in das genetische Moment der Entste-hung der Unendlichkeit aus der Einheit. Denn das reine Soll, d.h. das Soll in seiner Absolutheit betrachtet, ist an sich einheitlich, aufgrund seiner Inhaltslosigkeit aber auch unendlich wiederholbar, ohne erfüllt werden zu können, woraus eine unendliche Reihe von faktisch nacheinander entste-henden Realisationen des Gesetzes resultiert. Der Einheit des Soll ent-spricht somit eine Unendlichkeit von Realisationen, weil ihre faktische Veranschaulichung in einer Reihe von Bildern geleistet wird, die aufgrund der Gesetzmäßigkeit verwandt sind. Mit der folgenden Aussage schließt Fichte die 23. Vorlesung.

Die Fakticität ist eine unendliche; das Gesez tritt drum in ihr heraus in die Unendlichkeit. Das Gesez, als reines Gesez ist eine durchaus formale Einheit. Es kann drum in den ins unendliche fort zu wie-derholenden endlichen Schematen nur wiederholt werden in seiner Einheit. Hier sind Einheit, und Unendlichkeit zuerst vereinigt; und diese Vereinigung, die an mehrern Stellen unseres Systems vor-kommen wird, ist bedeutend. (238,18-23)

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Zur näheren Analyse des bereits dargestellten Begriffs vom Bild des Soll und der Bedingungen seiner Entstehung unterscheidet Fichte zu Beginn der 24. Vorlesung »zur Bestimmung des Vermögens«170 noch einmal zwei Folgen des Soll. Die erste Folge des Soll ist, daß »das Vermögen […] ein unendliches Vermögen zu schematisieren« wird.171 Es gibt aber, so Fichte, eine zweite wichtige Folge, und zwar, »daß auf dieser nun eben das ganze materiale, der Inhalt des Bewußtseins beruhen möge«.172 Sie ist das eben erwähnte »Bild […] eines absoluten Soll«.173 Es wurde schon abgeleitet, daß die freie Vollziehung notwendig zu nichts anderem führen kann als zur Entstehung eines Schemas seiner selbst. Jetzt erklärt Fichte, daß, da sich das Vermögen nur aufgrund des Soll vollziehen könne, diese Vollzie-hung nichts anderes als eine Folge der aktiven Umwandlung des absoluten Soll in ein Gesetz sei.

Setzen Sie nun, das absolute Vermögen der Erscheinung vollzieht sich, wie es ja kann, was wird erfolgen? […] Ein Schema seiner

selbst: […] Was aber ist es: es ist ein soll; – deutlich gedacht: sein Vermögen ist bestimmt durch ein Gesez, das es schlechthin nicht vollziehen kann: sein Seyn ist eben das stehen dieses Gesetzes: dies sonach müste schematisirt werden. Bild eines soll. (239,9-16)

Die Abhängigkeit der Vollziehung des Vermögens vom absoluten Soll führt Fichte an dieser Stelle sogar zur Gleichsetzung von Vermögens und Soll. Inwiefern kann man aber rechtmäßig behaupten, daß das Vermögen ein Soll ist? Nur dann, wenn man den Charakter des Vermögens als die Kraft der Erscheinung definiert, die unerfüllbare Aufgabe des Soll als eine dauernde Aufgabe für sich selbst zu übernehmen. Die Veranschaulichung dieser immerwährenden Aufgabe ist nun aber notwendigerweise ein Bild des Soll, aufgrund dessen das Vermögen seine Vollziehung frei bestimmt. Ein – nicht das – Soll zu sein heißt also, daß das absolute Gesetz für und durch das Vermögen ein Gesicht bekommt und alles, was das Vermögen eigentlich vermag, ist, dem absoluten Soll dieses Gesicht zu verschaffen. Das Vermögen wird also jetzt nicht mehr als vollkommen leer betrachtet, sondern es erhält ein Gesetz als seinen Inhalt, das in einem Bild des Soll zu seiner Anschauung kommt. Das Vermögen wird demzufolge ein ge-

170 GA II 12, 239,3f. 171 GA II 12, 238,30f. 172 GA II 12, 239,5f. 173 GA II 12, 239,20f.

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setzgebendes Vermögen, dessen Schematisieren dem Soll in der Form eines Bildes desselben folgt. Sein Schematisieren heißt so viel wie Sich-weiter-Bilden aufgrund der ständigen Anschauungen von Bildern des absoluten Soll, d.h. anhand seines selbständigen, gesetzmäßigen Aufneh-mens und Erfüllens von Aufgaben. Nach diesen richtet das Vermögen seine Tätigkeit aus, das Bild wird somit Inhalt des Vermögens. Fichte erklärt:

Ein Vermögen, an sich nichts, wie oben gezeigt worden, bekommt dadurch sein bestimmtes stehendes Seyn, sein so seyn, seinen Cha-rakter, ohne den es eben kein Seyn hat, und auch nicht einmal schematisirt werden könnte. Dieses Seyn tritt im Schema heraus, also es tritt heraus das Bild (ich kann noch nicht sagen, und soll noch nicht sagen; der Begriff) eines absoluten Soll. (239,16-21)

Damit kann Fichte aber endlich schließen, daß, da die freie Vollziehung des Vermögens sein Selbstschematisieren ist und sich das Vermögen nur einem Bilde des Soll gemäß vollziehen kann, das allererste Schema des Vermögens eben das die Richtung vorgebende Bild des Soll sein muß. Vor jedem anderen Schema muß also ein Schema und ein Bild des absolu-ten Soll für das Vermögen da sein, das allein die effektive Möglichkeit des Vermögens zur Sichvollziehung, d.h. zum Sichschematisieren, ausdrückt. Dieses Bild ist demnach die unmittelbare Folge der Selbstbeschränkung des Vermögens unter Maßgabe des absoluten Soll und stellt die Bedin-gung der Möglichkeit seiner authentischen Selbstbestimmung, seines Selbstbildens, dar. Daraus folgt nun auch: Da alles, was in der Erscheinungswelt vorkommt, nur als Produkt des schematisierenden Vermögens entsteht und dies notwendig der Entstehung eines Bildes des Soll folgt, ist die ganze Welt von dem Gesetz des freien Soll geprägt und bleibt kein wahrer Raum für die absolute Notwendigkeit, d.h. für ein absolutes, nicht vom Soll be-dingtes Muß. So nämlich Fichte:

1. die unmittelbare SichVollziehung der Erscheinung giebt das Bild eines absoluten, und reinen Soll. Das ist der absolute Inhalt schlechthin alles Bildwesens, was jemals eintreten kann im Bild des absoluten Gesetzes. ([…] In der W.L. ist durchaus kein unbedingtes Muß, kein Natur-gesez, und so auch keine absolute Natur. Die absolute Grundlage alles Seyns ist für sie Freiheit; und deren Gesez ein soll, keines-

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weges ein Muß. Die Freiheit als vollzogen, d.i. als das Faktum, die Freiheit in sich vernichtet gedacht, wird das Soll zum Muß: also unter Bedingung.) 2.). Dies also müste das erste Schema seyn seinem Inhalte nach: ein Bild eines absolut reinen Soll. (240,7-19)

Die Notwendigkeit, die das Müssen ausspricht, ergibt sich demnach nur als Folge des freien Sichbestimmens des Vermögens, sich dem Gesetz des Soll zu unterwerfen. Sie erfolgt also nur als Selbstbeschränkung der Frei-heit und besitzt insofern keine Ursprünglichkeit. Die Welt ist Verwirkli-chung der Freiheit des Vermögens, solange sie dem Bild des Soll folgend gebildet wird. Demzufolge ist die Welt ein Komplex von Bildwesen, die ihrerseits einen allgemeinen Grundinhalt, nämlich das Bild des Soll, wei-ter gestalten. Da aber die Welt vom transzendentalen Standpunkt aus be-trachtet nirgends anders als im Bewußtsein vorkommt, hat Fichte damit realisiert, was er anfangs der Vorlesung erklärte, nämlich daß auf dem Bild des Soll »das ganze materiale, der Inhalt des Bewußtseyns […] beru-he«.174 5.3.8. Vom Bild des Soll zum Soll des Soll Nun stellt Fichte eine weitere genetische Frage: »Wie wird nun ein solches Schema, falls es zu demselben kommt, vollzogen[?]« Das bedeutet, daß das oben nur angenommene Faktum der Entstehung des Bildes des Soll näher zu untersuchen ist und also diese Frage, entsprechend dem üblichen fichteschen Verfahren, auf die Begründung dieses Faktums, d.h. auf die Bedingung seiner Möglichkeit, abzielt.

Daß eben das Bild eines Soll entsteht, worin ist dies begründet? Offenbar im Seyn, und so seyn der Erscheinung selbst: sie ist ein soll, und zufolge dieses Seyns wird ein Bild des Soll: schlechthin und durchaus zu Folge dieses Seyns. Hier hat die Freiheit nichts zu thun. (240,21-24)

Daß die Erscheinung ein Soll ist, bedeutet, daß das Vermögen in seiner vom absoluten Soll vorgeschriebenen Aufgabe und daher im dadurch geschaffenen Bild des Soll vollkommen aufgeht. Falls sich nun das Ver-

174 GA II 12, 239,5f.

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mögen, sich zu schematisieren, tatsächlich vollzieht, kann es als Schema seiner selbst nur ein Schema des Soll erzeugen, in dem es aufgegangen ist. Die Freiheit spielt aber bei der Entstehung dieses Bildes keine Rolle, denn sie besitzt keine Macht über den Inhalt der Bilder, sondern sie tritt allein im Übergang des Vermögens ein, sich zu vollziehen oder nicht, während das, was aus dieser Vollziehung resultiert, ganz automatisch erfolgt. Dar-aus folgt, daß in der oben dargestellten Auflistung der Kausalitätsarten des Soll ein Punkt noch fehlt, nämlich, daß das absolute Soll samt der Voll-ziehung des Vermögens auch ein Bild von sich verursacht. Um den Aspekt des Soll zu bezeichnen, der zur Entstehung eines Bildes seiner selbst führt, wählt Fichte den Ausdruck Soll des Soll und erklärt entspre-chend die doppelte Kausalität des Soll dadurch, daß er zwei Aspekte sei-nes Sichdarstellens unterscheidet und hervorhebt:

Das Soll hat also […] eine doppelte Kausalität in demselben Einen Schlage: es stellt sich selbst dar: [1.] sich: es tritt heraus: [2.] es stellt sich dar: es ist der Grund dieses seines Schema; doch nur der bedingte. Durch dieses Bild ist es als solches: in der lezten Rük-sicht kann man sagen: es ist ein soll des Soll. ein soll seiner selbst. (241,9-15)

Eine kurze Rekapitulation der Ableitungsstruktur ist nun notwendig ge-worden, um sich die Rolle des Soll zu vergegenwärtigen. Die Einheit Got-tes äußert sich in der Erscheinung, die in ihrem ursprünglichen In-sich-geschlossen-Sein nur als ein Vermögen, sich selbst zu erscheinen, denkbar ist. Das Vermögen kann nun entweder sich frei vollziehen oder auch nicht. Falls es sich aber vollzieht, bestimmt es sich unmittelbar in zwei Reihen zugleich weiter: in der Reihe der Anschauungen und in derjenigen der darauf bezogenen Schemata oder des Denkens, wobei ihr Zusammenfallen das Sehen ist. Aufgrund des Sehens kann nun die Erscheinung sich selbst erscheinen, wobei die Struktur dieses Sicherscheinens aus der oben erklär-ten Synthesis des Bewußtseins als Einheit der Mannigfaltigkeit als solcher (der sich im Durch der synthetischen Periode zeigenden Vorstellungen) und der Einheit als solcher (des Reflexes des Ich denke) besteht. Diese Sicherscheinung hängt in doppelter Weise vom Gesetz des Soll ab, das sich aber wiederum in der einzigen Annahme ausdrückt, daß Gott als sol-cher erscheinen soll. Die zweifache Wirkung der Annahme dieses Geset-zes besteht darin, daß 1) nur als Vermögen der Sicherscheinung die Er-scheinung als eine wahrhaftige Erscheinung Gottes denkbar ist und 2) nur

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unter der Annahme der Voraussetzung, daß Gott als solcher erscheint, das Vermögen sich frei vollziehen kann, wobei es sich nun a) entweder der faktischen Reihe frei hingeben oder b) zur genetischen Reihe, d.h. zur Betrachtung der alleinigen Möglichkeit des Faktums in der Form des Schemas als Schema und, zu diesem Zweck, zum Vermögen als solchem erheben kann. Daher ist jede Bestimmung der Erscheinung als ein Bild Gottes zu verstehen. Die Bestimmung der Erscheinung ist aber nicht un-mittelbar Bild Gottes, sondern eben mittelbar, und zwar, dem absoluten Soll zufolge, dank des Vermögens, zunächst ein Bild des Soll, sodann ein Bild seiner selbst aufgrund des vom Bild des Soll ausgedrückten Gesetzes hervorzubringen. Da also das authentische Sein des Vermögens als mit dem Soll zusammenfallend anerkannt wird, ist das Bild des Vermögens selbst ein Bild des Soll, so daß Gott nur mittels des Gesetzes des Soll tat-sächlich erscheinen kann. Nun geht Fichte den Schritt weiter, der zur Formulierung des Soll des Soll führt:

Das Vermögen kann sich vollziehen oder auch nicht: – doch soll es

sich vollziehen; denn es soll zu einer Erscheinung Gottes als sol-cher kommen: auch kann es sich vollziehen: Das soll ist sonach in dieser Rüksicht faktisch, übereinstimmend mit dem Kann. Wenn es nun zufolge dieses ersten soll sich vollzöge: wozu würde es kom-men, zu einem Bilde des Soll: und so ist denn das erste soll füglich zerronnen, gewonnen ein Soll des soll; ein absolutes soll eines Als des soll. / Soll: theils absolut, theils – Soll des Soll. (241,16-22)

Das Soll des Soll gilt also als jene spezifische und – nachdem das Vermö-gen sich tatsächlich vollzogen hat – notwendig anzunehmende Bedingung der Möglichkeit, in deren Folge das Vermögen ein Bild des Soll vollbrin-gen kann und damit das absolute Soll mit dem Kann zur Synthesis bringt. Damit Gott erscheint, soll nämlich zunächst das Soll erscheinen und in einem Bild hervorgebracht werden. Erst aufgrund des Soll des Soll ist das Vermögen in der Lage, jenes unentbehrliche Bild des Soll hervorzubrin-gen, vermöge dessen es das absolute Soll in ein Gesetz für seine eigene Weiterbestimmung verwandelt. Das Soll ist also jenes Prinzip der Voll-ziehung des Vermögens, dank dessen die ganze von ihm erzeugte Unend-lichkeit der endlichen Produkte als Bild des Bildes des Absoluten zu ver-stehen ist. Die unterschiedlichen Bedeutungen des Soll werden am Ende der 24. Vorlesung, die eine Wiederholung des Vorgetragenen aus dem

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Verdacht seiner Unklarheit175 heraus ist, nochmals deutlich zusammenge-faßt:

Und so wird denn hier klar eine Doppeltheit des Soll selbst: Das Soll ist theils absolut, rein, ohne alle Zusammenstimmung mit dem kann, im absoluten Widerspruche mit ihm, seinem Inhalte nach. Das soll ist ferner faktisches Princip, bestimmend das Faktum, und so durchaus zusammenfallend mit dem Kann; seiner Form nach. […] Wir können gleich hinzusetzen […] daß es noch eine dritte ge-mischte Beziehung des Soll auf die Freiheit giebt: diese in Absicht der Unendlichkeit. Es kann ins unendliche fort, zufolge der forma-len Freiheit; aber es kann nie die Unendlichkeit selbst vollziehen, zufolge des Wesen jedes Faktum das allemal endlich ist. Hier liegt der Widerspruch in der Synthesis: Faktum, und Unendlichkeit, und wird gelöst nur durch das unendliche Princip der endlichen Thaten. (241,23-242,2)

175 Vgl. den folgenden Hinweis, den Fichte eingangs der 24. Vorlesung bringt: »Ist nicht ganz deutlich geworden, darum auf eine andere Weise wiederholen.« (GA II 12, 239,8)

6. Das Erscheinen der Erscheinung als solcher Die folgende 25. Vorlesung ist dem Erscheinen der Erscheinung als sol-cher gewidmet. Fichte wird der Frage nachgehen, wie die Erscheinung mit ihrem Charakter, Erscheinung zu sein, vorkommen kann. Daß sie nicht schlechthin erscheint, sondern auch als Erscheinung, hängt wiederum allein von der Annahme ab, daß Gott in der Erscheinung nicht nur er-scheint, sondern in ihr als erscheinend vorkommt. Dafür muß innerhalb der Erscheinung ihr Erscheinen als Erscheinung isoliert werden. Fichte bezeichnet diese Bedingung als Als der Erscheinung, um es dem ange-nommenen Erscheinen Gottes entgegensetzen zu können:

Zufolge des früher zum Theil abgehandelten Grundsatzes soll die Erscheinung schlechtweg als solche, eben als Erscheinung, aus-drüklich mit diesem Prädikate, nicht etwa in einer andern Gestalt verstekt, so wie sie jezt in dem absoluten Soll verstekt ist, erschei-nen; denn Gott als solcher und als erscheinend in der Erscheinung soll schlechtweg erscheinen. Dieses aber ist bedingt durch jenes. (242,23-27)

Das Erscheinen Gottes als solchem wird nun gerade durch das Erscheinen der Erscheinung als solcher bedingt. Während also die Erscheinung Got-tes absolut bedingungslos ist, hängt die Tatsache, daß seine Erscheinung

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nun auch als Erscheinung, d.h. als solche erscheine, mit der Aufgabe zu-sammen, daß die Erscheinung als solche zur Erscheinung gebracht werde. Umgekehrt ist aber das Erscheinen des Als der Erscheinung nur unter der Annahme möglich, daß Gott als solcher erscheint, denn von der Erschei-nung zur Erscheinung der Erscheinung kann man nur mittels eines Soll gelangen, demzufolge nämlich Gott als solcher erscheinen solle. Fichte erklärt gleich anschließend, inwiefern die Forderung, daß die Erscheinung als solche erscheine, selbst von dem Erscheinen Gottes als solchem abzu-leiten sei:

– Dieses Soll eines als der Erscheinung ist absolut, hervorgehend aus dem unmittelbaren Erscheinen Gottes; und so absolut bestim-mend das Seyn, oder die Freiheit der Erscheinung. Wenn daher die Freiheit überhaupt vollzogen wird muß das Soll in dieser Rüksicht, als fodernd das als der Erscheinung, schlechthin Kausalität haben. – . (242,27-31)

Durch die Unterwerfung unter das Gesetz des Soll vervielfältigt sich die Vollziehung der Freiheit und das Soll erhält eine zusätzliche Kausalität. Einerseits kommt – wie gesehen – durch die Vollziehung der Freiheit des Vermögens unmittelbar ein Bild des Soll zu Stande, andererseits muß dieses Bild aber zugleich ausdrücklich mit dem Charakter der Bildlichkeit erscheinen, wenn das Erscheinende in der Erscheinung gerade mit der Erscheinung Gottes zusammenfallen soll. Die bildliche Folge der freien Selbstbeschränkung des Soll muß nämlich zugleich mit dem Bild des Soll erscheinen:

Wir haben erst ersehen: wie die Freiheit überhaupt sich vollzieht, hat das Soll Kausalität zur Erscheinung eines Bildes seiner selbst, des Soll: Dies ist erwiesen, und bleibt drum wahr. Hier sehen wir, zufolge desselben absoluten soll muß auch die Erscheinung als sol-che erscheinen, sobald die Freiheit sich vollzieht. Durch unmittel-bare Kausalität der Freiheit sind beide Kausalitäten bedingt: also sie fallen im Falle daß ihre Bedingung gegeben sey, schlechthin zu-sammen, und sind Eins. auf Einen Schlag. – . (242,31-243,3)

Fichte faßt nun diesen neuen genetischen Schritt folgendermaßen zusam-men:

Dies aber ist klar: Gott erscheint schlechthin, und eben so schlecht-hin erscheint er als solcher. Aus dem ersten folgt das Bild des Soll,

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aus dem zweiten das Bild der Erscheinung selbst; beides unmittel-bar, sowie nur die Erscheinung sich vollzieht. – . (243,10-13)

Daraus ergeben sich nun mehrere wichtige Bemerkungen, die im folgen-den näher analysiert werden. Zunächst bietet Fichte eine Korrektur der bisher dargestellten Reihenfolge der Prinzipien, sodann untersucht er den Inhalt des Bildes der Erscheinung, d.h. das Was des Als der Erscheinung. 6.0.1. Die Folge der Prinzipien: Soll, Soll, Als Wegen des vorherigen Schlusses kann jetzt anerkannt werden, daß das Soll der wahre Motor jeder Tätigkeit des Vermögens und damit jeder wei-teren Bestimmung der Erscheinung ist. Dadurch zeigt sich aber auch, daß das Als, das als Prinzip der Mannigfaltigkeit anerkannt wurde, in der Tat dem Soll vollkommen untergeordnet ist. Das Als ist ohnehin das Zeichen einer Spaltung. Dennoch hat Fichte gezeigt, daß der Grund dieser Spal-tung nicht im Als selbst liegt, sondern in der Vollziehung der Freiheit nach dem Gesetz des absoluten Soll. Diese ursprüngliche Spaltung durch das Soll führt wiederum einerseits zum Bild des Soll, andererseits zum Bild der Erscheinung selbst. Nur dann kann das Als als differenzierendes Prin-zip eintreten, um die Charakterisierung beider zu ermöglichen und sie dabei zu unterscheiden. Ohne Soll wäre darum kein Als möglich, denn das Soll bewirkt die Spaltung, während das Als sie lediglich nach ihrer Voll-ziehung ans Licht bringt. Fichte spricht sich darüber wie folgt aus:

Nun hat sich schon oben, da wir das Als einseitig, und abgesondert betrachteten, dasselbe gezeigt, als ein DisjunktionsPrincip; dies wird sich hier bestätigen, und wie wir hoffen, die Zwei=, oder Dreiheit zur Fünffachheit werden.. Das materiale Soll aber ist, wie es von uns beschrieben worden, schlechthin einfach, und einer wie-tern Bestimmung, und Disjunktion durchaus unfähig. Das Als als Princip eines Mannigfaltigen wird drum in Beziehung darauf ein subordinirtes Princip: Was in den verschiednen Formen des als durch die Erscheinung hindurch erscheint, ist immer das Soll, das Eine. Dieses nur ists, was, falls unsere Voraussetzung von der Fünffachheit sich bestätigt, in einer fünffachen Gestalt erscheint, oder durch SichErscheinung als solche auf eine fünffache Weise gebrochen wird. Die Principe stehen in ihrer herabgehenden Reihe also: Seyn, Soll, Als. (243,23-244,5)

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

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Das Soll wird also in der Wissenschaftslehre als Bedingung der Möglich-keit des Als und daher als einheitliches Prinzip der Mannigfaltigkeit ge-funden. Gemäß der faktischen Ableitungsreihe der Prinzipien kam es erst nach dem Als vor. Allein nach der näheren Analyse des Soll kann nun Fichte die Prinzipien in der korrekten, d.h. genetischen Reihe darstellen. Das absolute Sein, Gott, äußert sich unmittelbar im Gesetz des Soll, wo-nach in der Erscheinung die Wurzel ihrer eigenen Freiheit liegt und sie daher vom Vermögen, falls es sich tatsächlich vollzieht, angenommen werden kann. Dafür muß sich das Soll zu allererst in einem Bild des Soll verkörpern. Als solches aber wird die Erscheinung Gottes nur dann aner-kannt, wenn sich das Vermögen vermittels seiner Freiheit vom faktischen Sein losreißt, um das Dasein der Erscheinung in seiner Schemenhaftigkeit zu betrachten. Dies kann wiederum erst unter der Bedingung geschehen, daß das Vermögen sich dem Gesetz des Soll unterwirft, das fordert, daß Gott als solcher erscheint. Hiermit tritt das Als als Disjunktionsprinzip auf, um den Unterschied zwischen dem Sein und seinem Schema festzu-stellen. Denn mit dem Als erscheint im Gesetz des Soll das Bild Gottes als solchem, denn es fordert, daß Gott als solcher und dafür die Erscheinung als solche erscheint. Wenn nämlich die Erscheinung als solche erscheint, kann sie vom Absoluten eindeutig getrennt und, da sie sich aus dem Soll ableitet, im Absoluten selbst als dessen Erscheinung begründet werden: Das Bild des Soll und das Bild der Erscheinung kommen unter der An-nahme des absoluten Soll also gleichzeitig vor. 6.0.2. Das Bewußtsein des Bewußtseins Nach der oben wiedergegebenen systematischen Bemerkung kehrt Fichte zur Deduktion zurück und widmet sich der Untersuchung des oben einge-führten Begriffs des Als der Erscheinung sowohl seiner Form als auch seinem Inhalt nach. Seine Form ist nun offensichtlich die eines Schemas. Das Als der Erscheinung ist die Folge der Vollziehung der Freiheit des Vermögens, sich zu schematisieren, wodurch die Erscheinung aus dem oben genannten relativ realen Sein in das schematische Sein übergeht. Da es um ein Vermögensprodukt geht, kann das Als der Erscheinung formell auch nur ein Schema sein. Andererseits ist der Inhalt dieses Schemas ge-mäß seiner eigenen Definition der der Erscheinung als solcher. Nun aber soll in diesem Erscheinungsschema gerade sein tätiger, erscheinender

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Charakter als solcher betrachtet und entsprechend schematisiert werden. Die Erscheinung wird in dieser Hinsicht als Vermögen zu erscheinen ge-faßt, so daß der Inhalt der Erscheinung als solcher eben ein Bild des Ver-mögens ist. In einem dritten Punkt nach der Darstellung der Form und des Inhalts des Als der Erscheinung setzt Fichte nun dieses Als der Erschei-nung dem vorher bereits behandelten Reflex des Bildes gleich. Dies wird deutlich, weil ohne die faktische Entstehung einer Erscheinung der Er-scheinung, d.h. eines Bildes, das der Vollziehung des Vermögens folgt, dieses Produkt nie als Erscheinung anerkennbar wäre. Sobald sich aber das Vermögen überhaupt vollzieht, fallen das Bild der Erscheinung und die Anerkennung dieses Bildes als Erscheinung zusammen. Demnach kann das zweite als Reflex des ersten, d.h. als das, was unmittelbar seine Bildlichkeit widerspiegelt, anerkannt werden. Dieser Reflex entsteht nun allein aus der Vollziehung des Vermögens, und – wie schon einmal gesagt – es bedarf zu seiner Entstehung keines besonderen, neuen Freiheitsakts mehr, sondern er ergibt sich von selbst. Dies liegt eben im Konzept des Reflexes begründet. Dadurch kann Fichte das Bewußtsein unter einer neuen Ansicht fassen, nämlich als die Einheit des Vollziehung des Ver-mögens und seines Reflexes:

4.) Die auf diese Weise [...] abgeleitete synthetische Einheit des

Bildes, und seines Reflexes ist nun das oben beschriebne formale Bewußtseyn, wie, wer es oben nicht klar eingesehen hätte, hier zum Ueberflusse einsehen kann. (245,3-6)

Man ist sich, so könnte man sagen, tatsächlich bewußt, daß jeder Bewußt-seinsinhalt bzw. jede Vorstellung ein Bild ist und daß dieses Bild im Be-wußtsein allein dank einer Tätigkeit entstehen kann. Der Reflex deutet auf diese Tätigkeit als solche, die in einem Schema in der Form eines Vermö-gens wirksam ist, Bilder entstehen zu lassen, die wiederum als Bilder anerkannt werden können. Demzufolge kann man einerseits den bildlichen Aspekt jedes Bewußtseinsinhalts von einer angeblichen objektiven Reali-tät unterscheiden und der Vorstellung ein gewisses Nichtsein zuschreiben; andererseits aber kann man das Bewußtsein als über den Bildern schwe-bend wahrnehmen.

Das Bild allein wäre, wie wir oben sagten, in sich aufgegangen tod: – Doch der Reflex tritt ihm gegenüber, ein blosses Vermögen zu

diesem Bilde, in welchem das Bild unmittelbar ist, und selbst abge-bildet. Dadurch entsteht das das Objekt nicht seyn, nicht in demsel-

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ben aufgehen, darüber schweben, welches in allem Bewußtseyn sich zeigt. (245,6-11)

Das Bewußtsein gilt also zum einen als Ort der Wirkung des Sehvermö-gens, das sich über den gegebenen Bildern bzw. Objekten schwebend sieht, zum anderen aber auch als Ort, an dem die Bilder, nachdem sie wahrgenommen wurden, gespeichert und wieder ans Licht gebracht wer-den können. Weiter unten wird Fichte entsprechend die reproduktive Ein-bildungskraft und das Gedächtnis als Bestimmungen des Bewußtseins darstellen. Nun erklärt er aber zunächst:

In dieser Erörterung ist, aus Gründen, die sich sogleich zeigen wer-den, besonders wichtig, die Objektivität, als ein durchaus nothwen-diges Bestandtheil des formalen Bewußtseyns; und [besonders wichtig ist auch] der eigentliche Grund derselben Objektivität, das was sie macht. (245,20-22)

In dieser neuen Beschreibung des Bewußtseins gelten als seine zwei pola-ren Glieder das Bild, das sich als ein gegenüberstehendes Seinsobjekt darstellt, und das Schema eines Vermögens als ein vom Bild unabhängiges und über ihm schwebendes Sehvermögen, das sich im Sehen des Bildes bestimmt. Das Sehen wird nun als Schema eines Vermögens dargestellt, das sich an einem Objekt bestimmt, dieses aber keineswegs zu erschaffen vermag. Es ist ein sich vollkommen durchdringendes Schema, denn das Sehvermögen ist dem Sehen selbst ganz durchsichtig, inhaltslos und daher nicht wahrnehmbar. Darum kann dagegen ein Objekt, sofern es undurch-sichtig ist, wahrgenommen, also gesehen werden und fällt die Entstehung des Objekts damit zusammen, daß das Sehvermögen sich selbst an einem bestimmten Punkt undurchsichtig wird. Ein Faktum, das Fichte mit dem Ausdruck Sichbrechen des Sehens bezeichnet und die Grenze des Vermö-gens zeigt.

Das Sehen ist ein sich durchdringendes Schema eines Vermögens zu einem durchaus bestimmten […]. [Es ist] Vermögen zu ihm, diesem gerade, das also ist, keinesweges etwa ein erschaffen des-selben, daher seine Objektivität, sein beruhen auf sich, und das da-

rüberschweben des Sehens. An dieser Bestimmtheit = Objektivität bricht sich das Sehen: d.h. endigt sich, es, oder das Vermögen, das ja ein Vermögen zu diesem bestimmten, also hier selbst ein be-stimmtes ist, ist hierin zu Ende, und dadurch begränzt. (245,23-31)

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

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Durch diese Argumentation wurde nun die Struktur der Erscheinung als solche abgeleitet und beschrieben, wobei die Erscheinung selbst nichts anderes als dieses Beschriebene ist. Daraus kann man aber noch nicht schließen, daß die Erscheinung sich auch als solche, nämlich als Erschei-nung und nicht nur als daseiendes Objekt, erscheinen kann. Obwohl die Erscheinung im Bewußtsein faktisch als solche, d.h. in einem Bild und als ein Bild erscheint, erscheint dabei das Als der Erscheinung selbst noch nicht. Gemäß der obigen Beschreibung kann man das Bewußtsein als eine Polarität sehen, die sich aber ihrer beiden Pole nicht bewußt ist, weil es in den jeweiligen Bildern, d.h. in ihrem objektiven Pol, vollkommen aufgeht. Das Resultat ist die Wirkung eines bestimmten Sehvermögens, ohne daß dieses sein Wirken selbst sehen kann. Wir stehen also – genauso wie am Anfang und selbst nach der Ableitung der Erscheinung – vor dem Pro-blem, daß wir keine Möglichkeit des Sicherscheinens der Erscheinung finden können. Zwar konnten wir weitaus tiefer in die Beschreibung der Entfaltung der Erscheinung vordringen und ihr allgemeines Schematisie-rungsvermögen als Sichsehvermögen bestimmen, doch ist dieses Sehen sich selbst vollkommen durchsichtig und insofern unsichtbar und bricht es sich nur am Objekt, das nun im Bewußtsein allein dominiert. So nämlich Fichte:

In diesem durch den Reflex schlechtweg zu Stande gebrachten syn-thetischen Zustande ist, und zwar die Erscheinung als solche; ihr Seyn als solches, mit diesem eigenthümlichen Charakter, aber sie erscheint nicht als seyend. Sie sieht aber sie wird nicht gesehen. (245,33-246,2)

Wie, d. h. unter welcher Bedingung kann nun das Als der Erscheinung wahrgenommen werden? Wenn das gewöhnliche, oben beschriebene Be-wußtsein sich selbst nicht unmittelbar zum Objekt machen kann, um das eigene Sehen zu sehen, bedarf es dazu eines zweiten Bewußtseins, das das erste zu seinem Objekt macht. Dieses zweite Bewußtsein muß selbstver-ständlich die gleiche Form wie das erste haben, allerdings mit einem ganz anderen Inhalt. Denn es macht das erste Bewußtsein und das darin sich abspielende Sehen zu seinem Betrachtungsobjekt. Die Tätigkeit dieses zweiten Bewußtseins wird von Fichte in folgender Weise beschrieben:

[S]o findet sich denn hier in der That, daß ein solches neues Be-wußtseyn, wie wir fordern, falls es etwa durch Freiheit zu Stande käme, wäre ein Uebergang derselben aus einem gewissen Seyn,

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dem Sehen, zu einem schematischen Zustande, dem Sehen des Se-hens, zugleich auch in einem andern Sinne aus einem gewissen schematischen Zustande, demselben Sehen, das ja schematisch ist, zu einem Seyn, dem Vermögen, und der Gewalt über dieses Sehen innerhalb des schon begonnenen Schematismus überhaupt; daß also in dieser Region der Uebergang auf eine doppelte Weise be-stimmt ist. (246,18-25)

Fichte erklärt hier, welcher doppelten Umwandlung sich das Bewußtsein unterwerfen muß, um sich seiner selbst bewußt zu werden. Das Bewußt-sein als Bewußt-Sein ist selbst ein Sein, das mit dem Sehen und dem Ge-sehenen zusammenfällt. Es ist sich nämlich zunächst des gesehenen Ob-jekts bewußt, wobei sein eigenes Sehen selbst als ein Sein zu verstehen ist. Wenn nun selbst das eigene Sehen ihm bewußt wird, da es eben als sol-ches erscheinen muß, wird das Bewußtsein in seinem schematischen Aspekt wahrgenommen und fällt es mit diesem Bewußtseinsschema zu-sammen. Der schematische Zustand drückt folglich das Dasein eines be-stimmten Vermögens aus und zwar eines Vermögens, das in der Lage ist, das Sehen des Bewußtseins zu betrachten, und das daher das Sehen in seiner ›Gewalt‹ hat. Worauf gründet sich aber das Bewußtsein des Bewußtseins, d.h. die Möglichkeit des Bewußtseins, sich seiner selbst bewußt zu werden? Da es hierbei um ein Als des Bewußtseins geht, kommt nur das Prinzip des Soll, das allein zum Als führen kann, dafür in Frage. Übrigens hat man auch erst mit der Darstellung eines solchen Seins, d.h. des Bewußtseins des Bewußtseins, den Anspruch erfüllt, die Erscheinung als solche bzw. das Als der Erscheinung beobachten zu können. Es ist dies ein Ergebnis, zu dem man nur unter der Annahme kommen konnte, daß in der Erschei-nung Gott als solcher erscheinen sollte: Allein hinsichtlich dieser Aufgabe konnte die Erscheinung je als solche erscheinen, nur so konnte das Cha-rakteristische ihres Erscheinens als Erscheinung von der Erscheinung überhaupt abgezogen und als Rest das Göttliche sichtbar werden. Fichte schließt also die 25. Vorlesung, indem er die Entstehung des Bewußtseins des Bewußtseins aus dem Soll folgendermaßen erklärt:

So müste das neue Bewußtseyn, sagte ich. Ich setze hinzu. Es muß drum ein solches Bewußtseyn seyn können wenigstens; denn das was dadurch allein möglich ist, daß nemlich die Erscheinung er-scheine, als seyend, soll schlechthin seyn, da ja in dem Seyn der-selben wiederum erscheinen soll Gott als erscheinend. Das neue

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Bewußtseyn gründet sich auf das soll, und seine besondere Form, in der wir es eben hier betrachten, als Soll eines als; das soll, sage ich, das Freiheit voraussezt, und nur in Verbindung mit der Freiheit ein soll ist. Die dadurch angesprochne Freiheit vollziehe sich nur; und es wird, durch das Soll, das dadurch zu einem faktischen Ge-setze wird, zu einem solchen Bewußtseyn ohne weiteres kommen. (246,27-35)

Nachdem Fichte im Soll und daher in der Freiheit, ein Soll anzunehmen, die Bedingung der Möglichkeit zur Entstehung eines Bewußtseins des Bewußtseins entdeckt hat, widmet er die nächste 26. Vorlesung seiner näheren Beschreibung. 6.0.3. Der Reflex des Reflexes Es wurde bisher festgestellt, daß ein zweites Bewußtsein unentbehrlich ist, damit die Bewußtseinsform, die aus den beiden soeben beschriebenen Polen des Bildes und des Reflexes besteht, sichtbar wird. Dieses zweite Bewußtsein muß selbstverständlich die gleiche Form wie das erste haben und demzufolge besitzt es notwendigerweise dieselben zwei Bestandteile, nämlich Bild und Reflex. Der einzige Unterschied zum ersten besteht darin, daß im zweiten das Vermögen des ersten Bewußtseins zum Bild wird und entsprechend der Reflex ein unmittelbarer Reflex des ersten Reflexes sein muß:

Das erste Sehen war der Reflex des unmittelbaren Bildes; und durch die absolut synthetische Vereinigung dieser beiden entstand auf die beschriebne Weise das erste Bewußtseyn. Das jetzt zu be-schreibende neue Sehen müßte seyn der Reflex des Reflexes. (247,7-10)

Es ist aber nun zunächst daran zu erinnern, daß der Reflex des Bewußt-seins als unmittelbares Bild eines Vermögens betrachtet wurde, weil er gerade als Folge der Untersuchung nach dem Erscheinen des Vermögens als solchem entstand. Dieses sich im Reflex zeigende Vermögen wurde dann vollkommen zum Sehen des Bildes und entsprechend als Sehvermö-gen wahrgenommen. Dabei wurde die Struktur des Bewußtseins als syn-thetischer Ort der Vollziehung eines Vermögens erkannt, das sich einem außer ihm daseienden Objekt hingibt. Ein nun näher zu erklärendes zwei-

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tes Bewußtsein muß sich auf dieses erste Bewußtsein richten, um es zu analysieren. Diesem zweiten Bewußtsein muß deshalb zunächst klar wer-den, was für ein Vermögen im ersten Bewußtsein für die Entstehung des Gesehenen zuständig war: Der Inhalt des zweiten Bewußtseins muß die Bedingung der Möglichkeit der Tätigkeit des ersten Vermögens ans Licht bringen. Wie drückt sich aber das Vermögen im ersten Bewußtsein aus? In der 19. Vorlesung176 wurde schon festgestellt, daß im Bewußtsein das Vermögen nicht als erschaffend, sondern vielmehr als sich hingebend erscheint.177 Jetzt soll diese Form des Sicherscheinens des Bewußtseins gerechtfertigt werden, die Bedingung der Möglichkeit dafür wird gerade der Inhalt des Bewußtseins des Bewußtseins sein. Fichte argumentiert, daß die Voraussetzung für das Sichhingeben ein Stillstehen des Vermögens sein muß:

Jenes erste Vermögen war keinesweges ein Vermögen zu schaffen (das Schaffen blieb eben verborgen im Produkte); es war bloß ein stillstehen als Vermögen dem geschaffenen Produkte gegenüber […]. (247,13-16)

Diese Erklärung hilft nun, das Schema des Vermögens, sich seiner bewußt zu sein, zu erklären, also zu verstehen, wie dieses im Bewußtsein des Be-wußtseins und daher im Reflex des Reflexes vorkommen kann: Gerade hierin erscheint das Vermögen des Vermögens. Ganz ähnlich zum ersten Vermögen kann auch dieses nichts erschaffen, und da das Resultat des Vermögens ein Stillstand war, muß das Vermögen des Vermögens die Bedingung der Möglichkeit des Stillstehens des ersteren darstellen. Ein produktives Vermögen kann aber nur dann zum Stillstand kommen, wenn es innehält. Wenn also das Resultat des Vermögens das Still-Stehen war, muß das Vermögen des Vermögens die Fähigkeit des Vermögens, über-haupt zu diesem Stillstand gelangen zu können, und daher den Akt des Sich-still-Haltens ausdrücken. Das Vermögen des Vermögens fällt inso-fern mit der Freiheit des ersten Vermögens, sein sonst fortlaufendes Pro-

176 Vgl. oben Kapitel: Die Beschreibung des Freiheitakts: ideale und faktische

Welt. 177 Vgl. GA II 12, 222,14-18 (Hervorhebung durch Verfasser): »Darum erscheint

die Freiheit, wie oben erinnert, in der etwanigen Reflexion auch nur als ein sich hingeben, kei-nesweges als ein Erschaffen, indem nur der Reflex im Schema aufgeht, die ursprüngl. Freiheit des Erschaffens durch die Vollziehung des Vermögens der Erscheinung überhaupt hier aber gar nicht erscheint, sondern nur ihr Produkt.«

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

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duzieren anzuhalten, zusammen. Folgendermaßen erklärt Fichte dieses Konzept:

So ist auch dieses zweite Vermögen des Vermögens keinesweges ein erschaffen des ersten […]. Was nun ist es: offenbar Freiheit jenes stillestehens des ersten Vermögens dem ersten Objekte ge-genüber, oder auch nicht: ein sich stille halten jenem Objekte ge-genüber, worauf ohne dieses sich halten das Vermögen nicht gehen würde: Die Gewalt jenes stillestehenden Vermögen vor dem Ob-jekte über sich selbst. Dies wäre der neue Reflex, der, wie der das ganze bedingende FreiheitsAkt vollzogen würde, von selbst sich einstellte. – . (247,16-24)

Dem zweiten Bewußtsein erscheint also das im ersten Bewußtsein sich vollziehende Vermögen nicht mehr nur als Freiheit, sich überhaupt zu vollziehen oder nicht, sondern darüber hinaus auch als Freiheit, vor dem Produkt seiner Vollziehung innezuhalten oder auch nicht. Das zweite Be-wußtsein schwebt also über dem ersten wie dieses über dem Objekt und sieht das Vermögen, wie es vor dem Objekt stillsteht. Indem nun aber dieses zweite Bewußtsein tatsächlich etwas sieht, muß auch in ihm das darin sich vollziehende Vermögen in einem Reflex erscheinen, nämlich in dem von Fichte genannten Reflex des Reflexes. Genauso erschien das erste Vermögen seiner Vollziehung folgend sich selbst unmittelbar in einem Reflex, womit das Sehen eines Bildes zusammen mit einer trans-zendentalen Apperzeption entstand. Was kann nun der Inhalt dieses Re-flexes des Reflexes sein? Es ist eben ein Reflex des Sichanhaltens, d.h. ein Schema der Macht des Vermögens, innezuhalten, die das Vermögen über sich ausüben muß, damit ihm ein objektives Bild entstehen kann. Während also im ersten Bewußtsein das Stillstehen des Vermögens unbewußt und demnach unbemerkt war – weil es mit dem Bild des Objekts verschmolzen war –, wird diese Selbstbeschränkung des Vermögens im zweiten Be-wußtsein zum Betrachtungsobjekt und erscheint entsprechend als eine gewisse Gewalt, d.h. als eine gewisse auf sich selbst ausgeübte Macht des Vermögens. Diese Macht nun, die als Reflex eines weiteren Vermögens des Vermögens vorkommt, wird Reflex des Reflexes genannt. Man kann sich nun aber eine andere Frage stellen und zwar, ob denn diese Reflexion des Bewußtseins auf sich selbst nicht der Anfang eines unendlichen Regresses sei. Das erste Sehen, bemerkt Fichte, nimmt sich zu Recht als ein Schweben über dem Objekt wahr. Wenngleich das Bewußtsein des Bewußtseins aus nichts anderem besteht als aus einem

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weiteren schwebenden Sehvermögen, das das erste Sehen zu seinem wahrgenommenen Objekt macht, kann man vermuten, daß die Bedingung der Möglichkeit dieses zweiten Bewußtseins wiederum in einem dritten Bewußtsein zu finden ist und so weiter bis zur weiteren Aufdeckung von n Metaebenen des Bewußtseins als notwendige Bedingungen der Möglich-keit der jeweiligen n-1-Bewußtseinsebenen, ohne daß je in diesem Regres-sus irgend ein Ende erreicht werde. Es ist hier aber gleich anzumerken, daß Fichte dieses Problem gar nicht thematisiert. Und mit Recht, denn eigentlich kommt schon im zweiten Bewußtsein die Ganzheit vor, derer ein Bewußtsein sich überhaupt bewußt sein kann. Auf einer vermutlichen dritten Ebene, einem Bewußtsein des Bewußtseins des Bewußtseins, würde sein Reflex des Reflexes des Reflexes wie schon auf der zweiten Bewußt-seinsebene nichts anderes als »[d]ie Gewalt jenes stillestehenden Vermö-gens vor dem Objekte über sich selbst«178 sein können. Offensichtlich kann man den Regreß in den unendlichen Metaebenen der Selbstbetrach-tung des Bewußtseins nicht aufgrund eines logischen Schlusses unterbre-chen, allerdings genügt es zu bemerken, daß jede weitere Reflexion kein neues Wissen über die Struktur des Bewußtseins mit sich bringen würde. Und damit erweist sich dieses Hinterfragen zwar als theoretisch möglich, gleichwohl aber sinnlos. Fichte geht jetzt noch einen Schritt weiter, wenn er die Beziehung zwischen Reflex und Einsicht hinterfragt:

Dieser ist ein Sehen, ein in sich selbst aufgehendes, sich selbst durchdringendes Schema: es hat sein gesehenes, sein Objekt an dem es sich bricht; eben das erste Vermögen, oder Sehen. Ist dies wirklich für das Sehen ein objektives, ohne sein Zuthun seyendes, worüber es schwebt? (247,24-27)

Es handelt sich dabei um eine fundamentale Frage, denn nur durch eine positive Beantwortung kann der Gefahr vorgebeugt werden, daß das Er-gebnis der Reflexion des Bewußtseins auf sich selbst eine reine Erdich-tung sei, womit sein Sehen gar kein wahres Sehen und die ganze Erklä-rung der Bewußtseinsstruktur sich als beliebig erwiese. Fichte antwortet also:

178 GA II 12, 247,21.

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

237

Offenbar, denn es selbst ist der Reflex vom Bilde, und ist als dieser, keinesweges dadurch, daß er selbst wieder reflektirt wird, was er ja nicht müßte. Schwebt es drüber[?]: allerdings; indem es sich ansieht, als dasselbe seyn könnend oder auch nicht. – Wo-durch ist nun dem Sehen, das vorher selbst Sehen war, aber nicht sichtbar, die Sichtbarkeit eingesezt[?]: durch die Freiheit. (247,27-31)

Wichtig ist Fichte hier die Feststellung, daß keiner der oben angezeigten Bewußtseinsinhalte von irgendeiner willkürlichen, sich nach außen rich-tenden Tätigkeit des Wissenschaftslehrers abhängt. Die Entstehung der Einsicht in die Struktur des Bewußtsein hängt allein von der bewußten Übung ab, das Bewußtsein dazu zu führen, über sich selbst zu reflektieren und dafür sein gewöhnliches Verfahren zu suspendieren. Dabei wird gera-de das Vermögen sich anzuhalten eindeutig sichtbar. Denn das gewöhn-lich unbewußte Sichanhalten wird nun bewußt geübt, indem das Bewußt-sein sich nicht nach einem Objekt, sondern nach sich selbst richtet. Alles, was der Betrachter, ja der Wissenschaftslehrer, macht, ist also, vor dem Sich-Stille-halten, das zu einem Vor-dem-Objekt-Stillstehen führt, sich still zu halten, um dabei das Wirken des Vermögens feststellen zu können. Da gewöhnlich das Reflektieren in den Verdacht gerät, es sei eher ein seine Folgen erschaffender als ein diese bestätigender Zustand – worin auch der Grund der anfangs zusammengefaßten Polemik gegen Schelling lag –, fügt Fichte die folgende Bemerkung hinzu, um jede Willkürlichkeit im Ergebnis des Reflexionsprozesses endgültig zu beseitigen.

Die ganz gewöhnl[iche] Reflexion. Ich sehe und thue es; wo liegt denn nun das Thun: und wie sonderbar ist die ganze Behauptung. – . Welches von den Bestandtheilen des Ganzen, oder etwa das Gan-ze, mache ich denn, und behaupte ich zu machen? Keins. Das gan-ze Bild macht sich ja selbst: was nun kann ich denn dabei thun. Le-diglich mich also machen, d.i. mich stille halten, und in derjenigen Lage, da sich in mir das Bild machen könne. Dies ist auch der Aus-druk des Bewußtseyns in wirklicher Reflexion. – Sehen des Sehens = Sehen des Vermögens, als solchen; d.i. als sich haltend in der synthetischen Einheit. – . (247,32-248,7)

Reflektieren ist also für Fichte nicht ein erschaffendes Thun, sondern eine Bewußtseinstätigkeit, die sich auf sich selbst nur mit der Absicht richtet, sein sonst automatisches Funktionieren anzuhalten, damit seine eigene Struktur ans Licht kommen kann. Und nach einer Bemerkung, welche die

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Untersuchung des Inhalts des Bewußtseins des Bewußtseins beschließt, wendet sich Fichte der »höhern Frage«179 nach der Realität des eben An-geschauten zu:

Dieses sich halten des Vermögens erscheint hier bloß als hinge-schaut, durch den Reflex des Reflexes; und so ist es beschrieben worden. – Hat denn nun diese Anschauung Realität, und giebt es etwas ihr correspondirendes. Giebt es wirklich und in der That ein solches sich Halten der Erscheinung, durch absolute Freiheit, wie sich das leztere von selbst versteht. (248,9-13)

Entscheidend ist also, ob dieses abgeleitete Vermögen, sich anzuhalten, einer realen Macht entspricht und nicht eher ein bloß irreführendes Ergeb-nis der Reflexion ist. Ist eine wahre Existenz dieses Vermögens jenseits seiner schematischen Wahrnehmung in dem Reflex des Reflexes nach-weisbar? Bis jetzt, so Fichte, wurde die Vollziehung des Vermögens nur als ein ins Unendliche führendes Vollbringen seiner selbst dargestellt. Das Ergebnis des Sich-selbst-Schematisierens wurde als ein bloßes Aus-sich-Herausgehen verstanden. Das Sichanhalten ist dagegen das Zeichen einer Gegenbewegung, die insofern einem anderen, bisher unbekannten Prinzip des Vermögens unterstellt sein soll. Daher schließt Fichte:

[E]s wäre drum dies allerdings ein anderes Princip, und eine wei-tere Bestimmung der Freiheit überhaupt als eines Vermögens; zu-folge dessen wir sagen könnten: die Freiheit hat nicht nur das Ver-mögen sich zu vollziehen, sondern auch das, sich zu halten, sich anzuhalten: es versteht sich innerhalb der Sphäre der SichVollzie-hung, eben dem schematischen Zustande. (248,15-19)

Um dem geraden Weg der Deduktion zu folgen, muß man sich hier zu-nächst daran erinnern, wodurch das Vermögen bestimmt wird. Erst durch das Soll und vermöge einer Synthesis mit ihm wurde die sonst leere Frei-heit der Erscheinung zu einem Vermögen bestimmt. Fichte faßt nun die drei bekannten Weisen, wie sich das Soll verwirklicht und kausal wirkt, noch einmal zusammen: »teils zur Sichvollziehung, der Freiheit überhaupt (sie soll sich vollziehen, damit Gott wirklich erscheint) nach welcher das Resultat ist ein Bild des absoluten Soll; theils zum Als, und zur Unend-

179 GA II 12, 248,8.

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

239

lichkeit«180 Nun muß aber der Unterschied zwischen diesen drei Kausalitä-ten und den Faktoren, die ihre Wirkung bedingen, näher untersucht wer-den. Im Unterschied zur Kausalität des Soll – in Hinblick auf die Entste-hung eines Bildes seiner selbst – hängen die Kausalitäten des Soll mit Rücksicht auf das Als und auf die Unendlichkeit mit der Vollziehung des Vermögens überhaupt zusammen. Denn sowohl die Unendlichkeit der objektiven Bewußtseinsinhalte als auch das Als, das diese unter ihrer al-leinigen Möglichkeit betrachten läßt, entstehen notwendigerweise erst nach der Entstehung eines Bildes der Erscheinung, d.h. des Schemas 2. Das Als ist nämlich das Prinzip, welches das Schema 2 zugleich als Schema und als Sein dieses Schemas wahrnehmen läßt, wobei keines von beiden ohne die Voraussetzung dieses Bildes der Erscheinung wahrzu-nehmen wäre. Die Unendlichkeit kann dagegen erst nach der Synthesis des Könnens und des Nichtkönnens im Anschluß an die Forderung zur Verwirklichung des absoluten Schemas des Soll vorkommen. Somit folgt sie aus der Feststellung der Unzulänglichkeit des Produkts des Kann aus dem Drang, darüber hinaus fortzugehen, um ein dem Bild des absoluten Soll angemessenes Produkt zu vollbringen. Anhand dieser Beschreibung entsteht aber die Frage, wie man aus dem unendlichen Fortfluß der Bilder zu ihrer Betrachtung in der Form des Als gelangen könne – ein Problem, das Fichte wie folgt beschreibt:

Die beiden lezten setzen ein Bild und Bilden voraus: nach dem Ge-setze der Unendlichkeit soll es beim ersten Bilde nicht bleiben, sondern immerfort weiter, ohne Unterlaß, wobei sich freilich nicht begreift wie es je auch zu einem Bilde kommen könne, noch dem des Als, soll dies als solches erscheinen. Sie haben sich sonach in den Standpunkt der Voraussetzung zu stellen, daß nach dem soll in der ersten Bedeutung ein Bild sey. (249,8-13)

Fichte bemerkt hier, daß das oben beschriebene Resultat dieser beiden Bestimmungen des Soll, namentlich die Entstehung einer unendlichen Reihe einerseits und ihre Betrachtung unter dem Prinzip des Als anderer-seits, nach der Art und Weise, wie die Vollziehung des Vermögens bisher gedacht wurde, ganz unmöglich ist. Wie kann man die einzelnen endli-chen Elemente der Unendlichkeit als solche fixieren, wenn doch die Voll-ziehung des Vermögens mit Recht als ein unaufhaltbares Fortfließen ge-

180 GA II 12, 249,2-4.

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240

dacht wird? Und woher kommt die Möglichkeit eines Als, ohne daß ein einzelnes schematisches Bild fixiert werden könnte? Fichte zeigt diesen Widerspruch in folgender Weise auf:

Ich sage: es widerspricht sich. Denn nun tritt nach vollzognem er’s-ten soll das soll ein in seiner zweiten Bedeutung: als unendlich, und als Als. Hätte es nun als Unendlichkeit Kausalität, so käme es nie zu einem Als, nicht einmal zu einer Einheit des Bildes, und so zu einem Bilde überhaupt, sondern nur zu einem unendlichen Stro-me von Bildwesen. Soll es drum als Als Kausalität haben, so müste dieser Strom stehen, und anhalten. Das kann er nicht für sich: denn das Princip der Unendlichkeit ist auch da; und überhaupt hat kein Soll Kausalität unter Voraussetzung der Freiheit. Die Freiheit müste drum jenen Strom anhalten, damit es zu einem wirklichen Als käme; sie müste ihn drum anhalten können, und ein Vermögen dazu haben. (249,14-22)

Fichte fährt also damit fort, das nun als notwendig erwiesene zweite Prin-zip der Vollziehung des Vermögens abzuleiten, nicht nur einen Fortfluß zu produzieren, sondern sich auch anzuhalten:

[S]o wäre denn das Soll im zweiten Sinne überhaupt […], bestim-mend das Vermögen schlechtweg, und setzend in der Freiheit ein Vermögen schlechtweg der im schematischen Zustande befindli-chen Erscheinung, sich entweder anzuhalten, wo sodann das als er-folgen würde; oder sich gehen zu lassen, wo sodann der Fortschritt zur Unendlichkeit erfolgen würde. (249,23-33)

Die Deduktion, daß ein Vermögen »sich anzuhalten […] oder sich gehen zu lassen«, da sein muß, wird sich nun auch in der Realität erweisen, nachdem Fichte seine Möglichkeit schon aus einer theoretischen Betrach-tung des Bewußtseins erschlossen hat. Damit beendet er die 26. Vorle-sung, nicht aber ohne eine Zusammenfassung des Inhalts des Schlusses der gesamten Vorlesung zu geben:

Und so steht denn diesem Beweise zufolge die Sache so: Die abso-lute durch das blosse Seyn der Erscheinung aus Gott seyende Frei-heit derselben ist bestimmt durch dieses, in der Synthesis mit ihr zum Gesetze gewordne Seyn, und so ein stehendes Vermögen: zu-erst überhaupt zu vollziehen ein Schema des soll, sodann unter die-ser Bedingung (unter welcher nun jenes verborgne Vermögen erst frei wird,) sich in diesem Zustande anzuhalten oder nicht. Je nach-

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

241

dem Eins von beiden erfolgt, entsteht nach dem Gesetze entweder ein Als des ersten Bildes […]; oder ein unendlicher Fortstrom von Bildwesen, in welchem durchaus kein Anhalt und so auch keine Einheit ist. […] Aus dem ersten folgt Bewußtseyn, und Bewußt-seyn des Bewußtseyns, in einer Verbindung wieder nach strengsten Gesetzen die wir nächstens prüfen wollen.. (249,29-250,10)

Die faktische Entstehung des Bewußtseins und des mit ihm notwendig verbundenen Bewußtseins des Bewußtseins ist also bedingt durch die Existenz eines Prinzips des Vermögens, sich anzuhalten. Dabei sind aber die Gesetze der Reflexion des Bewußtseins über sich selbst noch in ihrer Vollständigkeit zu untersuchen. Das Als folgt insofern einem zweiten freien Vermögen, das dem einfachen Vermögen der Erscheinung, sich weiter zu schematisieren, zwar untergeordnet, dennoch entgegengesetzt und demzufolge nicht von jenem ersten abzuleiten ist. Dieses zweite Ver-mögen aber muß, gemäß dem faktischen Dasein des Bewußtseins und seiner schon angegebenen Darstellung in einer synthetischen Periode, in der das Als tatsächlich vorkommt, existieren.

Die Erscheinung muß sich nicht anhalten, sondern sie thut es mit Freiheit: aber falls irgend ein Bild, oder Sehen seyn soll, muß sie es, und wo dies ist, thut sie es sicher: und so hat dieses Halten nicht unbedingte, sondern nur bedingte Nothwendigkeit. (250,10-13)

Festgestellt wurde aber nun, daß in der oben dargestellten Folge der drei Prinzipien Sein, Soll und Als die unendliche Forderung des Soll und die Erscheinung eines faktischen Bildes nach dem Als zwei einander entge-gengesetzte Momente sind, die sich nach weiteren Bestimmungen der Freiheit darstellen. Denn dem Soll folgend ist das Bilden der Erscheinung ein unbegrenztes Fortfließen, das eben damit zusammenfällt, daß sich das Vermögen dem Gesetz des Soll hingibt. Dagegen ist das Als das Merkmal eines Prinzips, das erst nach einem Stillehalten des Bildes, d.h. zufolge eines neuen Vermögens, das Sichhingeben anzuhalten, auftauchen kann.

Folge: Seyn, Soll, als: auch dieses Als, im Gegensatze mit dem Soll, ein Vermögen sich zu halten, (neues Princip) Vermögen unter dem HauptVermögen: weiter bestimmtes. – . Sich anhalten als schematisches Seyn. (250,14-16)

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

242

6.0.4. Das Faktum des Sichanhaltens zu Beginn der 27. Vorlesung erklärt Fichte wieder, daß es das Soll des Als ist, welches die Existenz eines Vermögens der Erscheinung, sich anzuhal-ten, fordert. Unter der Annahme eines Bewußtseins und damit der synthe-tischen Periode, die das Als miteinbezieht, muß dieses Vermögen tatsäch-lich existieren und sich auch verwirklicht haben. Aufgrund der Existenz eines Bewußtseins muß man also auf das Faktum des Sichanhaltens des Vermögens der Erscheinung schließen. Der zusätzliche Schritt besteht nun darin, dieses Faktum näher zu erklären, um festzustellen, was es mit sich bringt und in welcher Form es sich überhaupt erscheint.

Ueberlegen wir […] genauer, was in diesem Faktum des sich hal-tens im schematischen Zustande, und in dem Reflexe desselben liegt. Im schematischen Zustande, sagen wir, so haben wir den Be-weiß geführt: die Freiheit überhaupt ist vollzogen, und es ist ein Schema. Wie ist dieses nun in Absicht der Form […]? (251,7-11)

Die Folge des Sichanhaltens, das Fichte hier als »schematischen Zustan-de« bezeichnet, kann nur ein Bild sein. Daß sich die Erscheinung in einem schematischen Zustand hält, heißt nämlich, daß sie zum Bild wird und sozusagen als Bild verweilt. Welche Eigenschaften muß aber dieses Bild haben, wenn man ihm die oben beschriebene Entstehungsart zugrunde legt? Zunächst erklärt Fichte, daß dieses Bild nur unendlich sein kann, da es aufgrund eines Soll entsteht und das Soll, wegen seiner Absolutheit, eine unendliche Aufforderung darstellt, die sich wiederum nur in einer unendlichen Kausalität verwirklichen kann. Wenn das Bild durch das Sichanhalten des Vermögens begrenzt sein muß, muß es jedoch auf ir-gendeine Weise auch unendlich sein:

Das Soll für das Faktum, die Kausalität desselben auf dies Faktum ist schlechthin unendlich. Also […] wo sie sich anhalte, und da-durch dem Bilde eine äussere Grenze geben möge, so ist dasselbe denn doch in sich gewiß ein unendliches, denn das Gesez an das Faktum ist absolut ein unendliches, und die Erscheinung kann, daß ich mich so ausdrüke, auch nicht ein minimum vollziehen, das nicht in sich selbst unendlich sey. (251,11-21)

Nun kommt die Frage auf, wie eine solche unendliche Begrenztheit, die überhaupt ein widersprüchliches Konzept zu sein scheint, zu denken ist.

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

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Unendliche Begrenztheit kann man Fichte zufolge verstehen, indem man an den Unterschied zwischen der Innerlichkeit und der Äußerlichkeit des Bildes denkt. Das Bild ist nämlich »nach außen vollendet, nach innen aber unendlich«,181 Vollkommenheit heißt insofern zwar begrenzt sein, jedoch nicht in sich endlich: Das Bild muß begrenzt sein, dennoch ist es auch unendlich weiter bestimmbar. Auch das Vermögen, sich anzuhalten, so Fichte weiter, bringt wie jedes Vermögen durch seine Vollziehung notwendig auch einen Reflex mit sich. Dieser kann aber nie das Sichanhalten des Vermögens wiederge-ben, denn einmal vollzogen ist das Sichanhalten selbst nicht mehr als sol-ches wahrzunehmen. Was der Reflex wiedergeben kann, ist also nur ein Schema des Sichanhaltens, welches das Sichtbarwerden eines Vermögens, sich anzuhalten, ist. Andererseits wird aber der Reflex beim Bilden stets automatisch vorkommen, weswegen Fichte die Entstehung des einzelnen Bildes aus dem sich frei vollziehenden Vermögen genetisch erklären kann:

Also – es bildet sich ab ein Vermögen allenthalben über den un-endlichen Punkten, die in dem wirkl[ichen] producirten Bilde sind, sich anzuhalten: wenn das Vermögen sprechen könnte […], so würde es sagen: ich habe freilich dieses ganze vorliegende Bild vollzogen; aber ich hätte ins unendliche fort, bei dem Theile des-selben, und dem und dem anhalten, und so es auch nicht vollziehen können. (251,31-252,2)

Damit erläutert Fichte den oben dargestellten Unterschied zwischen der innerlichen Unendlichkeit und der äußerlichen Vollkommenheit des Bil-des. Einmal vollzogen ist das Bild in seinen äußerlichen Grenzen fixiert. Da es aber im Bewußtsein nicht als eine absolute Singularität, sondern notwendig als Synthesis einer Mannigfaltigkeit erscheint, ist anzunehmen, daß das Bildungsvermögen sich während des Bildungsprozesses bei allen unterschiedlichen Teilen dieser Mannigfaltigkeit beliebig anders hätte anhalten können, was wiederum zu unendlich vielen möglichen Gestal-tungen derselben Synthesis geführt hätte. Übrigens kann man ein Bild immer weiter bestimmen, d.h. näher anschauen oder auch präziser be-schreiben, ohne dadurch seine Grenze zu ändern. Dabei kann es auch ge-schehen, daß das Bild selbst, obwohl äußerlich noch unverändert, ein an-deres wird, d.h. vollkommen anders begriffen wird. Hier spielt die Freiheit

181 GA II 12, 251,22f.

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

244

tatsächlich auch in der Entstehung des Bildes eine Rolle, wodurch das Vermögen endlich ausdrücklich als schöpferisch vorkommt. Denn offen-bar erschöpft sich das Vermögen nicht ganz in der Entscheidung, sich zu vollziehen, wodurch das Bild ganz mechanisch allein dem Gesetz des Soll folgend sich bilden würde, sondern es kann das Bild weiter und immer anders bestimmen. Nach der obigen Deduktion der Freiheit des Vermö-gens, sich anzuhalten, wird sein Vollziehen ständig von dieser Möglich-keit begleitet, die demzufolge seine Freiheit ausdrückt, sich dem Gesetz der Konstruktion des Bildes hinzugeben oder auch nicht. Damit erscheint ein Bild der Erscheinung nicht nur als Folge eines Gesetzes, denn dazu braucht es auch das Mitwirken der Vermögensfreiheit, sich bei der Voll-ziehung des Vermögens anzuhalten und somit die Bestimmungen des Bildes zu fixieren oder sich nicht anzuhalten und sich dem Gesetz des Bildens weiter hinzugeben. Mit den Worten Fichtes:

Das Bild in dem ganzen Umfange seines Daseyns ist drum keines-weges Produkt des Gesetzes, sondern Produkt einer Zusammenwir-

kung des Gesetzes, und der sich hingebenden Freiheit: Das erste gibt freilich das was, wozu die Freiheit nichts beiträgt: diese das daß, indem dies bedingt ist, durch ihr sich hingeben mit Unter-drükung des mögl[ichen] Aufhörens des anhaltens. Dieses Vermö-gen des Anhaltens, und des sich hingeben ist nun allen Punkten der Unendlichkeit gegenüber ganz dasselbe Eine formelle: und so die das mannigfaltige begleitende, und in dieser Begleitung eins blei-bende synthetische Einheit: die da eben ist, mehr haben wir bis jezt nicht von ihr gesagt; und in unsrer Reihe der erste Reflex des Seyns des Bildes eben selbst ist. (252,11-20)

Um zu einem Bild zu kommen, muß sich das Vermögen zunächst nicht angehalten haben, sondern sich dem Gesetz, welches das Bilden bestimmt, hingegeben haben. In einem zweiten Moment muß sich dagegen das Ver-mögen vom Bildungsprozeß losgerissen haben und dabei das Bild als etwas Vollkommenes entstehen lassen haben. Nun aber muß es, so wie es einen Reflex des Vermögens, sich hinzugeben, gab, auch einen Reflex des Vermögens sich anzuhalten geben, denn dieses Vermögen muß ebenfalls ausdrücklich als solches, d.h. in einem Schema erscheinen. Fichte fragt demnach:

2.) Was ist nun das für ein Schema? Zuvörderst: offenbar ver-schließt durch das sich anhalten die Erscheinung sich gänzlich der unmittelbaren Kausalität des Soll, und hebt dieselbe rein auf. In

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

245

diesem Zustande sonach müßte die Erscheinung in diesem neuen Schema erscheinen. (253,7-10)

Die Erscheinung muß sich also im Schema des sichanhaltenden Vermö-gens als gegen das Gesetz des Soll wirkend erscheinen. Durch dieses Vermögen wird zwar die Wirkung des Soll aufgehoben, es wird aber auch die Folge dieser Kausalität in einem fortdauernden Produkt fixiert und behalten. Demzufolge deckt Fichte eine erhellende Parallele zwischen dem vorigen Vermögen des Hingebens und dem gegenwärtigen Vermögen des Sichanhaltens auf, um hieran die Kooperation beider in der Entstehung eines wirklichen Bildes zu zeigen. Er erklärt nämlich, 1) daß die Kausali-tät des Soll und das Vermögen der Erscheinung, sich dieser Kausalität hinzugeben, die Bedingung der Möglichkeit der Entstehung eines Bildes überhaupt ist; 2) daß aber erst dank einer weiteren Bestimmung der Frei-heit der Erscheinung, sich gegen diese Kausalität wenden zu können, tat-sächlich ein Bild bestehen bleiben kann.

Fassen Sie diesen scharfen Unterschied. Nach der ersten Ansicht wird der Inhalt des Bildes durch die unmittelbare Kausalität des Gesetzes, der die Freiheit sich bloß hingab: und es wäre ohne diese Kausalität zu keinem Bilde gekommen. Jezt ist diese Kausalität nicht, aber das durch sie hervorgebrachte Bild ist und bleibt, durch das sich halten der Erscheinung, in diesem bildlichen Zustande. Das Bild ist nicht gerade durch die Erscheinung, aber nachdem es einmal ist, ist es fort, und wird gehalten durch die Erscheinung. (253,10-16)

Wenn also das Vermögen der Erscheinung bei der oben beschriebenen ›Entstehung‹ des Bewußtseins nicht als das Bild erschaffend erschien – dies ergab das Dasein eines unschematisierten, vom Vermögen unabhän-gigen Seins –, wird nun im Reflex des Sichanhaltens eine aktive Tätigkeit des Vermögens gezeigt, die zwar kein Grund des Bildes ist, jedoch die Möglichkeit seines Bestehens als Bild darstellt. Der Reflex des Sichanhal-tens ist somit das Verbleiben des Bildes in der Erscheinung, ohne daß dabei das Gesetz des Bildens wirkte. So nämlich Fichte:

Reflex des Reflexes: ein absolutes halten, und tragen des Bildes, ohne ein sich hingeben an die Kausalität, und völlig unabhängig von derselben. Der erklärte Zustand der Verschlossenheit des äus-sern Sinnes, und dennoch Bilder haben, haltende Bildungskraft, durch die das Repräsentiren des Gegenstandes, auch ohne seine

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

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Anwesenheit möglich wird. – Dort ein fortfliessen der Erscheinung mit dem mannigfaltigen: hier ein stehen desselben über ihm, ohne allen Fluß, das eben durch Verschlossenheit für die Kausalität. (254,3-9)

Nun richtet Fichte seinen Blick wieder auf das sich hingebende Vermö-gen. Nach der Erklärung der Struktur der Entstehung der einzelnen Bilder als Zusammenwirken zweier unterschiedlicher Vermögen, die ihrerseits von zwei entgegengesetzten Prinzipien abhängen, gewinnt auch der Reflex des Bildes, durch den sich das ursprünglich vollziehende Vermögen selbst erscheint, einen völlig anderen Sinn. Im Reflex hat man das Vermögen schon als Freiheit erfaßt, sich dem Gesetz des Soll hinzugeben oder nicht. Nachdem aber abgeleitet worden ist, daß es mit diesem Hingeben zugleich notwendig auch zu einem Sichanhalten kommt und erst das Zusammen-wirken beider ein Bild verursacht, erfaßt man dasselbe just als das Sich-dem-Bild-Hingeben selbst. Erst durch das Achtgeben bzw. Attentieren, sagte Fichte zuvor, kann die sich-selbst-machende Erscheinung erschei-nen. Nun erklärt er die Tätigkeit des Achtgebens dadurch näher, daß erst durch das Achtgeben ein Bild als vollkommen wahrzunehmen sei.

Hingeben können oder auch nicht; an was: vorher an die Kausalität des Soll, der man sich doch hingibt, um zu einem Bilde nur zu kommen: hier an das nicht mehr fliessende, sondern in seiner gan-zen Bestimmtheit dastehende Bild. Das leztere Vermögen, aus-drüklich, wie ich es ausgesprochen habe, liegt in diesem Reflexe, und wird angeschaut. (254,16-20)

Es wird natürlich nicht die Notwendigkeit bestritten, sich dem Gesetz des Soll hinzugeben, wenn ein Bild tatsächlich entstehen muß. Nur muß man dabei auch verstehen, daß dieses Vermögen auch nach dem ihm entgegen-gesetzten Sichanhalten weiter wirken kann. Da aber das Soll durch das Sichanhalten aufgehoben wurde und das Ergebnis der Unterbrechung des ihm folgenden unendlichen Fortfließens ein festes Bild ist, kann das Ver-mögen sich nun auch diesem Bild selbst hingeben. Es wird dadurch die Bedingung der Möglichkeit der intentionalen Bewußtseinsstruktur erklärt, die vom sich-hingebenden Vermögen abhängt. Demzufolge besteht die dem Bewußtsein innewohnende Intentionalität vor der Spaltung in Subjekt und Objekt, wie sie sich dann im Bewußtsein zeigen wird. Der näheren Untersuchung dieses sich-hingebenden Vermögens ist nun die nächste Vorlesung gewidmet, in deren Verlauf Fichte die weitere Bestimmung des

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

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Attentierens und des Sichanhaltens als reproduktive Einbildungskraft und Gedächtnis charakterisiert. In diesem Zusammenhang werden aber zuvor auch Raum und Stoff deduziert. 6.0.5. Reproduktive Einbildungskraft, Gedächtnis, Raum und Stoff Fichte analysiert nun zunächst die Form und den Inhalt des Hingabever-mögens, das hier als Bedingung der Möglichkeit der Intentionalität be-schrieben wurde. Es handelt sich um ein Vermögen der Erscheinung, wo-durch sie sich selbst hingeben kann. Denn es wurde ja bereits deutlich, daß das Vermögen sich nun dem Bild zuwendet, wobei das Bild nirgendwo anders als in der Erscheinung liegt und in der Tat nichts anderes als die Erscheinung selbst ist. Darin befindet sich also auch der Grund für die Reflexion der Erscheinung. Da nun erst aufgrund der Vollziehung dieses Vermögens tatsächlich ein Bild erscheint und da schon gesehen wurde, daß das Mitwirken dieses Vermögens eine unumgängliche Bedingung für die Entstehung des Bildes ist, kann man annehmen, daß das Vermögen in seiner Vollziehung das Bild tatsächlich erschafft, wohingegen das bloße Sichanhalten allein noch zu keinem Bild führte.

Bemerken Sie: die Erscheinung ist, und sie ist und hält sich im schematischen Zustande: dies ist, und bleibt, und steht fest. Nun hat dieselbe noch überdies ein Vermögen an diese sich hinzugeben, oder auch nicht, nicht etwa in Absicht des Haltens, denn dieses steht. Wie denn also. Sie kann sich auch nicht vollziehen; wenn sie drum sich vollzieht, so schaft sie diese sichVollziehung selbst, und in der Form, und alles was in ihr liegt, durchaus aus nichts. Sie ist drum ein Princip in der Erscheinung: sich selbst, und durch sich selbst etwas andres schlechthin zu erschaffen. W[as] D[as] E[rste] W[äre]. (254,28-255,6)

Damit ist endlich die schöpferische Kraft der Erscheinung ins Blickfeld getreten, denn die Form des analysierten Vermögens zeigt sich nun als schöpferisch. Nach dieser Betrachtung des formalen Aspektes des Vermö-gens widmet sich Fichte dessen inhaltlicher Analyse. Der Inhalt eines Vermögens zeigt sich aber in seinem Reflex bei seiner Vollziehung. Fichte fragt nun entsprechend: »Welches Vermögen [wird] in ihr reflektirt[?]«,182

182 GA II 12, 255,7.

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

248

und zielt damit auf die Wirkung ab, die sich im Vollziehen des Vermögens hat entfalten müssen. Da das Bild als etwas Synthetisches erscheint, muß man annehmen, daß das Vermögen eben der Grund dieser Synthesis ist und daß es deshalb um ein zusammensetzendes Vermögen geht. Nun ist aber laut Fichte keine Synthesis ohne die entsprechende Analyse möglich, so daß ein Vermögen, zusammenzusetzen, mit einem Vermögen, zu teilen, zusammenfallen muß. Folgendermaßen kann nun Fichte das zusammen-fassen, was das Vermögen wirklich vermag:

Also – das Vermögen erscheint, als könnend folgendes an dem ge-haltenen Bilde. 1.) theilen ins Unbedingte fort. […] 2.). diese Theile anders, und anders aneinandersetzen. (255,12-21)

Aus der Möglichkeit dieser unendlichen Teilung, die aber nie tatsächlich bis ins Unendliche fortzusetzen ist, leitet Fichte nun zunächst den Raum als Bedingung für die Kontinuität der Handlung, sodann den Stoff ab, der der Teilung zur weiteren Verfügung steht und selbst noch nicht geteilt als ein undurchdrungenes Ganzes übrig bleibt. Von der Möglichkeit des freien Zusammensetzens leitet Fichte dagegen die reproduktive Einbildungskraft ab, die eigentlich jenes beson-dere Vermögen ist, die Teile genau so wieder zusammenzusetzen, wie sie sich im ursprünglichen Bild ergaben. Darin, also in der Art und Weise, wie in diesen zwei Bildern die Beziehung zwischen ihren Teilen wahrzu-nehmen ist, besteht der einzige wichtige Unterschied zwischen dem Bild und seinem durch die reproduktive Einbildungskraft geschaffenen Abbild. Im ersten Fall wird sie nämlich als notwendig, im zweiten als zufällig, d.h. als eine rein willkürlich gewählte Zusammensetzung der Bildteile unter unendlich vielen anderen gleichberechtigten Möglichkeiten ihrer Zusam-mensetzung, wahrgenommen. Dieses Vermögen stellt Fichte weiter als Grund für das Gedächtnis dar, das nicht ein reiner Bilderspeicher, sondern vielmehr die Fähigkeit ist, einen bestimmten Kompositionsprozeß zu wie-derholen. Das Gedächtnis wird demzufolge die Möglichkeit einschließen, das Handeln der reproduktiven Einbildungskraft zu lenken. Nun ergeben sich nach Fichte notwendig das teilende und zu-sammensetzende Reproduktionsvermögen auf der einen Seite und das Sichanhalten des Vermögens der Erscheinung auf der anderen Seite zu-sammen. Diese können somit in einem gedacht werden, d.h. in einem Sehen oder auch in einem Durch. Wenn nämlich beide immer zusammen

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

249

auftreten, ist das eine durch das andere zu verstehen und umgekehrt, was Fichte als lebendiges synthetisches Band definiert:

Diese beiden entgegengesezten Zustände können vereinigt werden nur in einem sehen; als einer Synthesis von Mannigfaltigem; und einem durch: daß also dieses lebendige Durch, was sich auch in unsrer Darstellung schon gezeigt hatte, das synthetische Band würde. (256,4-7)

Lebendig ist es, weil die Synthesis dieser Mannigfaltigkeit in keinem ein-zelnen der beiden ineinandergehenden Elemente aufgeht, sondern eben erst infolge der unaufhaltsamen Bewegung zwischen diesen beiden und ihren gegenseitigen Verweisen entsteht. Darin besteht also das Sehen, nicht etwa im leeren Sehvermögen noch im reinen Sehen des Etwas, son-dern im Sehen von Etwas in einer bestimmten Art und Weise, d.h. etwas eben so und – wie hinzuzufügen ist – nicht anders zu sehen. Fichte er-kennt nun in dem neutralen Prinzip der Synthesis dieser beiden Vermögen das Selbstbewußtsein oder das Ich. Das Ich ist dieses synthetische Prinzip als solches, d.h. in einem bestimmten Schema aufgefaßt, das notwendig in beiden Vermögen immer mit abgebildet ist und insofern nicht anders als so, d.h. in dieser einzigen synthetischen Art und Weise erscheinen kann.

Die formale Einheit dieser synthetischen Einheit könnte wieder nur seyn dasselbe Vermögen, als das sehen, und so sehende; und zwar als dasselbe, was unten objektiv in seinen zwei Bedeutungen, und frei von der einen zur andern Bestimmung übergehend, abgebildet ist. Also das Ich: das Selbstbewußtseyn müste hier eintreten. (256,7-11)

Die Wichtigkeit dieses Schlusses unterstreicht Fichte gleich danach, wenn er den nächsten Schritt einleitet:

Wir hätten, falls dieses sich bestätigt hier einen Punkt, wo das Bewußtseyn selbst in der Deduktion als nothwendig erscheint hier in einem Sehen, wo es drum gewiß in allen seinen Bestandtheilen abgeleitet wird. Bisher haben wir es, durch unser Denken uns helfend, mehr nur nach äussern Bestandtheilen beschrieben, als innerlich construirt. Drum ist es nöthig, diesen Punkt mit grösserer Schärfe: und in seiner absoluten Tiefe zu erfassen. Es reicht dazu hin die scharfe Analyse des soeben vorgetragenen. (256,14-20)

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

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Das Bewußtsein, das im ersten Teil dieser Darstellung der Wissenschafts-lehre im Zuge der Frage nach dem Erscheinen des Vermögens als solchem genetisch rekonstruiert wurde – wobei aber der Eindruck einer künstlichen Aneinanderreihung seiner Teile erweckt werden konnte und es in seinem wirklichen Wirken nicht unmittelbar erschien – kommt jetzt seinem ge-wöhnlichen Verständnis viel näher. Es sind nun seine Funktionen deutli-cher zu erklären, um zu einer Darstellung des Ich aus der Sicht des Seh-vermögens zu kommen. Aus dem Verhältnis zwischen dem unendlichen Bild und dem unendlichen Vermögen entstehen nun die Definitionen des Sehens, der Sichtbarkeit, des Lichts und des Objekts. Das Vermögen, ein Bild ins Unendliche weiter teilen zu können, kann, wie schon gesagt, nie ganz vollzogen werden, weil es sich im Reflex der jeweiligen Vollzüge ergibt, wobei sich ein Vermögen des Vermögens zeigt. Nun ist eben dieses Ver-mögen des Vermögens das Sehen selbst, das aber nur in einem Schema vorkommt, da es in seiner Realität nicht darstellbar ist. Fichte erklärt näm-lich:

Dies kann offenbar nur im Schema seyn, keineswegs in der Wirklichkeit; es ist drum ein sich als Schema durchdringendes Schema; oder Sehen: – Resultat; nur das Vermögen zum unendli-chen ist blosses Vermögen. Soll dieses seyn, so kann es nur seyn in seinem Schema: d.i. im Sehen. Seyn eines unendlichen Vermögens und Sehen ist drum Eins; es ist nur in absoluter Sichtbarkeit, nie-mals in der Wirklichkeit. (256,27-32)

Nachdem Fichte »nur das Vermögen zum unendlichen« als »blosses Ver-mögen« charakterisiert hat, kann man das wirkliche Sehen nicht mehr als bloßes Vermögen betrachten, weil es eben in der oben eingeführten Form des So-Sehens aus der Synthesis des leeren Sehvermögens und daraus, sich an einem Objekt zu brechen, entsteht. Dieses Sichbrechen, insofern es um ein Unterbrechen des unendlichen Vermögens bei dessen endlicher Verwirklichung geht, charakterisiert Fichte nun als Unvermögen und kommt so zur folgenden neuen Definition des Sehens:

Sehen ist wirkliches Vermögen und Unvermögen in absoluter Syn-thesis. Im jezt beschriebnen absoluten Sehen vermag das Vermö-gen und thut wirklich, beschreiben nemlich sein Vermögen, und dies giebt dem Sehen den formalen Theil, das Licht; dann sein fak-

tisches Unvermögen, das doch idealiter Vermögen ist. Das lezte

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

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giebt das, an welchem das formale Sehen sich bricht, und in ihm begrenzt ist. (257,4-9)

Damit kann Fichte das Objekt nicht mehr vom Sehen unabhängig betrach-ten, sondern muß es als einen Teil des Sehens selbst anerkennen, als ein Moment, mit dem die absolute Durchdringlichkeit des Sehens gemäß der Reflexion der Erscheinung auf sich selbst aufhört, von sich selbst durch-drungen zu werden. Das wirkliche Sehen des Objekts, das jeweils auch nur ein So-und-nicht-anders-Sehen sein kann, ist als ein Zustand der rela-tiven Selbstundurchsichtbarkeit der Erscheinung zu verstehen. Daß es zu einer gewissen Undurchsichtbarkeit der Erscheinung kommt, ist das Zei-chen dafür, daß die Grenzen des Sehvermögens, sich selbst durchsichtig zu sein, erreicht worden sind. Das Sehvermögen vermag sich in seiner räumlichen Teilung nicht mehr fortzusetzen, und das verbleibende unend-lich Teilbare wird als ein ganzes Undurchsichtiges wahrgenommen. Das Objekt fällt insofern mit der Erfahrung der Grenzen des Sehens zusam-men, vom Sehen selbst als solche betrachtet. Somit wird das Objekt im Sehen selbst aufgenommen. Etwas ist zu sehen und wird damit überhaupt erst gesehen.

Also: das Objekt des absoluten Sehens ist – die Undurchdringlich-keit der Erscheinung für sich selbst, vermöge der Unmöglichkeit einer unendlichen Theilung: Hier hebt das Sehen an, und ist abso-lut, und rein (keines zu seinem Seyn bedürftig) und ist schlechthin nothwendig. (257,9-12)

Nun ist damit die Mannigfaltigkeit des Gesehenen nicht unabhängig von der Einheit des Sehens zu verstehen. Beispielsweise werden nun die man-nigfaltigen Farben erst aus der Einzelheit des Lichts betrachtet. Nur ist das Licht nicht etwas von der Erscheinung selbst Getrenntes, sondern es kommt eben als Reflex seines Sehvermögens und insofern als Nieder-schlag von dessen Vollziehung in einem von ihm beleuchteten Objekt, d.h. der Auffassung der Grenzen des Vermögens vor. Auf das Einheitsprinzip kann man also nicht von der Mannigfaltigkeit durch Abstraktion und In-duktion schließen, so wie auch das weiße Licht nach seiner Zerlegung in den Regenbogen allein durch die Zusammensetzung der sieben dadurch entstandenen Farben nicht mehr wiederherzustellen ist. Die fruchtbare Singularität des an sich faktisch unsichtbaren Lichts erscheint ganz im Gegenteil als ein absolutes Wunder. Bedenkt man aber, daß man die New-

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

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tonsche Erfahrung der Lichtbrechung durch ein Glasprisma als eine Dar-stellung der Reflexion des Sehvermögens auf sich selbst interpretieren kann – denn das Faktum der Entstehung der Farben kann erstens nur we-gen eines Beobachters möglich sein, dessen Sehen im Experiment not-wendig miteinbezogen ist, und zweitens ist das Licht der Sichtbarkeit dasselbe Licht, das sich innerhalb der Sichtbarkeit bricht und sich dadurch sichtbar wird –, dann versteht man, daß alles von einem einzigen Prinzip, nämlich vom Licht selbst, abhängt, das durch diese Erfahrung an die Grenze seiner eigenen freien Verbreitung kommt. Nun kann man der Me-tapher folgend das Ich oder das Selbstbewußtsein mit diesem Lichtprinzip und entsprechend die mannigfaltigen Objekte, die bildlich im Bewußtsein vorkommen, mit den Farben gleichsetzen. Erst dann wird deutlich, daß nicht das Selbstbewußtsein von den Inhalten des Bewußtseins und als deren Reflex induktiv erschlossen werden kann, sondern daß umgekehrt diese der Reflex der Einheit des Ich sind:

Noch dies, um den Beweiß schlagend zu machen: Die Erscheinung schaut an ihr unendliches Vermögen. Nun ist dieses unendliche Vermögen niemals in irgend einem Faktum gegeben; es entsteht also durch das Sehen selbst, und wird hingeschaut. Es ist hier der umgekehrte Reflex; nicht die Unendlichkeit reflektirt sich in Ein-heit, so daß von ihr die Bewegung ausginge, welches schlechthin unmöglich ist, sondern die Einheit des Sehens reflektirt sich in der Unendlichkeit, weil sie nur unter dieser Bedingung ein Sehen ist; und vom Sehen, als dem absolut ersten geht alles aus. (257,13-19)

Aber worauf beruht nun der Eindruck, es würde auf etwas gesehen, das außerhalb vom Sehvermögen selbst liegt? Darauf, daß die Grenzen des Teilens des Sehvermögens sich notwendig innerhalb einer Selbst-Reflexion des Sehens erfahren werden und daher das Sehvermögen diese Erfahrung weiterhin begleitet. Dies hat wiederum seinen Grund darin, daß das Teilen ins Unendliche fortgesetzt werden soll. Die Grenzen werden dann als unvollkommene Erledigung der Aufgabe und gleichzeitig als Anstoß zu weiterer Erfüllung dieser Aufgabe erfahren: Die Ganzheit der Aufgabe wird dagegen als Stoff verstanden.

Hinschauung. Der absolute Stoff, daran das absolute Sehen sich bricht, ist eben die, dann nicht durch das Vermögen durchdrungne Unendlichkeit. Der Stoff also wird aus dem Sehen hingeschaut. Alles, was wir bisher als ausser dem Sehen befindlich angenom-

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men haben, ist nur im Sehen selbst; dieses aber ist das absolute Faktum. Daß es selbst ist, nur zufolge des soll, ist wohl klar: auf welche Weise, das dürfte eine höhere Untersuchung nöthig ma-chen. Kurz das absolute Sehen mag selbst wohl der Reflex seyn von etwas, wovon, wird ausgemittelt werden; von dem unendli-chen, wenn es in demselben vorkommt ist es nicht der Reflex, son-dern dieses ist unmittelbar der seinige. (257,20-29)

Jetzt kann man laut Fichte die vorher abgeleiteten Vermögen des Haltens und des Teilens aus der Perspektive des bereits dargestellten sich reflektie-renden absoluten Sehens betrachten. Dies ist der Grund für das Vermögen der Erscheinung, sich selbst zu erscheinen, so daß das ganze Instrumenta-rium, wodurch dies faktisch geschieht, eigentlich selbst als eine Projektion innerhalb des absoluten Sehens zu verstehen ist. Es ist nicht das Sehen, das sich dem Vermögen verdankt, sich dem Soll zu stellen und sich ihm hinzugeben, und das demnach als Reflex der Vollziehung des Vermögens erscheint, sondern vielmehr sind die beiden Vermögen, sich dem Soll zu stellen und sich ihm hinzugeben, und ihre Vollziehung erst im Licht des Sehens möglich.

[2).] Hier ist nur dies hinzuzusetzen: Dieses Sehen liefert in das erst beschriebene Sehen des unendlichen Stoffes erst die Licht-form: Das leztere ist drum nicht ohne dieses, alle sind synthetisch vereinigt, und der Quellpunkt von welchem der ganze Zustand aus-geht, wäre nun die Anschauung des Vermögens zu theilen ins un-bedingte, worin nun das unbedingte, und unendliche selbst ent-halten ist. Also, das Halten, und das Vermögen der Theilung wäre nun selbst, wie vorher die Unendlichkeit, projicirt, und hingeschaut durch das absolute Sehen, und diese wären sein Reflex, keineswe-ges, wie es vorher erschien, das Sehen der Reflex dieser. W[as] D[as] Z[weite] W[äre]. (258,4-12)

Damit ist aber auch die Grundlage für die Mannigfaltigkeit der Bilder angesichts der Einheit des Sehvermögens vollkommen dargestellt. Dar-über hinaus wird deutlich, inwiefern die Bilder eben als Bilder, d.h. mit dem Charakter der Bildlichkeit, sprich ihrer Vorläufigkeit oder auch mit dem Charakter, reine Phantasiebilder zu sein, im Bewußtsein vorkommen können. Denn einerseits ist das Vermögen, ins Unendliche zu teilen, das-jenige, was ununterbrochen wirkt; andererseits aber ist dieses Vermögen nie an sich, sondern nur an seinen Produkten anzuschauen. Überdies ist zu bemerken, daß das Vermögen des Teilens notwendig mit seinem zu tei-

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lenden Ganzen wahrzunehmen ist. Und angenommen, daß das Vermögen dieses Ganze frei teilen kann, so muß man auch annehmen, daß sich dieses Vermögen seiner unterschiedlichen Teilungsmöglichkeiten sozusagen im voraus bewußt sein muß und daß diese sich wiederum nur als Bilder zei-gen können. Das Sehvermögen ist insofern der Grund für die mannigfalti-gen Bilder. Erst aus deren Synthesis besteht das Bild eines Objekts als eines wahrgenommenen Objekts. Fichte folgert:

[3).] Das Vermögen soll gesehen werden, als ein freies Vermögen, so oder so zu theilen ins unbedingte fort; es müssen drum in die-sem Bewußtseyn, als Einem vorkommen mehrere Theile, ins unbe-dingte, indem nur an dieser Mehrheit, und in der Indifferenz der Freiheit des Theilens für sie, das Vermögen als solches sich aus-spricht. Also: ein Sehen des ganzen, und ein anderes Sehen, das selbst wieder in sich enthält mehrere Sehen von mehrern Theilen, soweit eben die Theilung, geht, ist befaßt in Einem gemeinsamen Sehen. Was ist dies nun für ein Sehen? Alles Sehen ist Bild eines Ver-mögens; der Gegenstand, der Träger, das woran dieses Eine Sehen sich bricht wäre drum gewiß das Vermögen der Erscheinung. – . (258,23-32)

Im faktischen Sehen kommt daher das Vermögen zwar einerseits als Trä-ger der Bilder vor, andererseits ist es aber ein leeres Vermögen, da es sich in keinem seiner Bilder ganz erschöpft. Dabei wird seine absolute Freiheit gegenüber dem Objekt aufrecht erhalten:

Nun, wohlgemerkt, ist dieses Sehen ja das Sehen des unten liegen-den mannigfaltigen Sehens, und dieses leztere ist sein Objekt: es selbst bricht sich in ihm, und das ist seine Grenze. Wenn drum in diesem Sehen das Vermögen ausgesprochen wird, wird es zwar ge-sehen durch das Eine Sehen hindurch, als sein Objekt, aber es wird nicht gesehen in ihm, nicht durch dieses Eine Sehen projicirt, und hingeschaut. – . Sonach ist dieses Vermögen reines Vermögen, Vermögen zu nichts von alle dem, was unten liegt, und wird ange-schaut: eins, rein, auf sich selbst ruhend: blosses Vermögen und nicht mehr. Die Erscheinung, rein aus sich projicirt, aber als Ver-mögen überhaupt, nicht zu diesem oder jenem. Nun soll die Er-scheinung seyn, die unter anderm eben sichtbar Eine, und dieselbe. Durch diese Synthesis den Charakter des sich haltens gegen das Mannigfaltige in ihr selbst: und des sich bestimmens. (258,32-259,9)

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Hiermit schließt Fichte seine 28. Vorlesung, fügt aber noch hinzu, daß nunmehr die Erscheinung des Ich als solches zu besprechen sei. 6.0.6. Die Ichform Die 29. Vorlesung ist einer näheren Untersuchung des reinen Sehens und der Ursache für seine Spaltung in die Mannigfaltigkeit gewidmet. Dabei werden zunächst die Gegenüberstellung Ich – Objekt, sodann die Formen, in denen sich diese Gegenüberstellung artikuliert, nämlich die Kategorien und ihr entsprechendes Anwendungsfeld, die Erfahrungswelt, dargestellt. Nach einer einleitenden Wiederholung des Vorgetragenen macht Fichte die folgende, eindeutige Bemerkung, die einen weiteren Fortschritt der Deduktion einleitet:

Uns leuchtet dieses absolute Sehen ein, als schlechthin durch sich selbst erzeugend seine objektive Gestalt: so möchte es in seiner in sich aufgehenden Wirklichkeit sich nicht erscheinen. Dies der Punkt des Aufmerkens. (260,19-22)

Das Problem besteht nun darin, daß die Art und Weise, wie das absolute Sehen bis jetzt aufgefaßt wurde, keineswegs der wirklichen Form seiner Sicherscheinung entsprechen kann. Denn in seinem Sicherscheinen, d.h. vermöge einer wirklichen Reflexion auf sich selbst, die Fichte als ein In-sich-Aufgehen des Sehens beschreibt, kommt das absolute Sehen notwen-digerweise in der Ichform vor.

Das Sehen ist, ist die Voraussetzung, in sich aufgehend; und in die-sem Seyn bricht es sich an sich selbst, also im wirklichen unmittel-

baren Sehen bricht es sich an sich selbst: also es sieht sich selbst wirklich und in der That. Das Eine, und reine Sehen ist eine unmit-telbare sich selbst Anschauung des Sehens: es trägt schlechthin durch sich die Ichform. (260,23-27)

Die Selbstanschauung bringt wiederum notwendig ein Angeschautes mit sich, d.h. ein Faktum des Sehens, womit die Manifestation der Ichform samt der Objektform notwendig wird. Freilich erscheint sich das absolute Sehen unabhängig von jedem gesehenen Objekt, da das Objekt seines Sehens nur die Form des Sehens selbst ist. Gerade aufgrund des Bewußt-seins dieser Unabhängigkeit erscheint jedoch seine absolute Freiheit nur

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negativ, d.h. frei von jedem Gesehenen, nicht mehr von allem schlechthin losgelöst.

Das Sehen schaut an sich d.i. nicht überhaupt irgend ein seyendes, sondern sich das sehen; es schaut also eben an, es findet ein Fak-

tum des Sehens, und sich als das seyende in diesem Sehen, d.i. als das sehende Dies ist der Inhalt der Anschauung. […] Nun ist dieses Sehen das absolut Eine und reine Sehen, und der Grund alles Sehens. Demnach wird dieses Seyn des Ich erblikt als schlechthin unabhän-gig von allem Sehen; es ist wenn es auch nicht gesehen wird. […] [E]s ist unabhängig von allem gesehenen Sehen. (161,1-18)

Das Dasein des Ich als Träger der oben dargestellten Reflexion und als formales, darin aufgefaßtes Objekt erhält dadurch nun den Charakter einer selbständigen Existenz, und folglich erscheint sich das absolute Sehen in seiner Selbstanschauung als eine Substanz, die aber notwendig mit Akzi-denzien zusammengeht. Gerade darin, daß das absolute Sehen sich in seiner Auffassung als Ichform als ein sehendes Ich wahrnimmt, besteht das wesentliche Akzidens des Ich, nämlich daß es sieht. Im Sichsehen sieht also das absolute Sehen sich als sehend. Damit ist auch die Genesis der Kategorie der Substantialität dargestellt.

Es [scil. das Sehen] findet ein sehen, als Faktum, in demselben Schlage, da es sich findet. Beides Eins: drum das seyende im Se-hen, nur dies. Sehen des Seyns. Das Seyn ist unabhängig vom Se-hen: also es konnte auch nicht sehen: dennoch in facto vereint: es sieht. Substanz: Accidenz. Vereinigung in Einem faktischen (hinge-sehenen) Sehen, und in der synthetischen Einheit desselben. Unab-

hängiges Seyn; nicht erst durch das Faktum hindurch werdend: – dennoch vereint im facto. (261,21-26)

Nun erklärt Fichte das Gesagte mit dem Buchstabenschema b a c , welches

das Resultat der Reflexion des absoluten Sehens abbildet. Mit a wird hier das sich reflektierende absolute Sehen bezeichnet, wobei diese Ichform unmittelbar mit ihrer Grundspaltung in b, dem sehenden Sehen, und c, dem gesehenen Sehen, zusammenfällt. Nun kann man aber gleichzeitig b als Ichform des Sehens im Sinne der Subjektform und c als Objektform verstehen, und stellen sich diese dem absoluten Sehen in einer unmittelba-ren gegenseitigen Beziehung dar. Das führt aber zur Entstehung der Kate-

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gorie der Substanz, weil das absolute Sehen sich eben als sehend sieht, wobei das Sehende an ihm als sein Akzidens wahrgenommen wird. Im Sichsehen bricht das absolute Sehen mit seiner Ichform und erscheint demzufolge in einer Verdoppelung, d.h. zugleich als Subjekt und als Ob-jekt seiner Selbstbetrachtung.

E s , [...] sieht, so findet sichs im Fakto b a c. Dieses hingestellte

Sehen als ein Sehen, muß eben hingestellt werden, als sich brechend in einem, als habend sein Objekt: Was denn für Eins: eben dies: es sieht sich selbst: es ist zugleich Subjekt und Objekt. es ist das sehende und das gesehene, schaut das absolute Sehen an. Hier erst tritt die Trennung klar heraus. Die ganze Synthesis ist nicht an sich, sondern sie ist nur der Inhalt des absoluten Sehens, als Sehen eben seiner Form nach. […] a. Duplicität: Princip, Ge-

brochenheit: in dieser leztern nur ist b. c. (261,26-34)

Es ist bemerkenswert, daß diese erst jetzt abgeleiteten Begriffe von Sub-jekt und Objekt bei Anwendung auf das Ergebnis der Reflexion selbst in der Reflexion als ein und dasselbe vorkommen, weil sich das absolute Sehen als ein Ich faßt, welches das Sehen als sein eigenes Akzidens und sich selbst zum Objekt hat. Dieses vollständige Ineinanderaufgehen des sehenden Ich und des gesehenen Objekts ist aber erst unter der Vorausset-zung einer Spaltung im absoluten Sehen zu verstehen. Nun nimmt Fichte eine wichtige Präzisierung hinsichtlich des Gesehenen im Sichsehen des Sehens vor. Sobald a sich nämlich als Prinzip der Spaltung und der wech-selseitigen Beziehung zwischen sehendem Sehen b und gesehenem Sehen c versteht – in der das Sehen in seiner doppelten Ansicht als Subjekt und Objekt vorkommt – muß dieses Prinzipsein auch als schöpferisch erschei-nen. Denn nur dann kann das Sehen nicht nur sich, sondern auch sich als solches, d.h. als Sehen in seiner Selbstanschauung sehen. Das absolute Sehen a versteht sich nach der Reflexion zu Recht als Ich, wobei dieses Ich zugleich seine ursprüngliche schöpferische Tätigkeit darstellen muß. Das heißt, daß zusammen mit der ersten Reflexion, die zum Sichanschau-en des Sehens führt, unmittelbar auch eine zweite Reflexion, nämlich die Sichanschauung des Ich, stattfinden muß. Dieser zweiten Reflexion zufol-ge tauchen zwei neue Glieder, d und e, auf, da sich das Ich als schöpferi-sches Prinzip zeigt. Gerade in d erscheint demnach der Charakter des Prinzipseins des Ich, indem es sich als Prinzip der unendlichen Teilung erweist, die zur Entstehung einer Mannigfaltigkeit führt. Das e ist im Ge-

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genteil das Gebiet der Entstehung der Mannigfaltigkeit, d.h. die ganze Welt in ihrer reinen Nicht-Ichheit betrachtet, die durch die einheitliche kategoriale Grundstruktur d auf die Einheit des Ich zurückzuführen ist.

Ich habe gesagt: das absolute Sehen sieht sich: aber es ist ja nicht ein bloß faktisches Sehen, sondern es ist, wie wir wissen, absolut schöpferisches Princip.. […] Es wird objektiv hingeschaut und gefunden als Princip. Nicht etwa Princip seines Seyns, denn dies ist schon faktisch: sondern innerhalb seines Seyns. – Ist Einheit: also [Princip der] Mannigfaltigkeit, [der] Theilung; Princip eines Mannigfaltigen innerhalb dem Einen. absolutes Princip: also ins unendliche. Es schaut sich: das stehende b. drum an, als unbeding-tes Princip pp [scil. des Mannigfaltigen] welches nicht geht, falls es nicht, sich schematisch vollziehend, mehrere ansieht: was wieder bedingt ist durch die Anschauung eines stehenden festen. d – e. (262,1-11)

Somit hat Fichte aus dem absoluten Sehen zunächst das Ich als schöpferi-sches Prinzip, sodann die Bedingung der Möglichkeit einer Beziehung zwischen dem Einheitsprinzip und der mannigfaltigen Welt ableiten kön-nen. Mit d und e werden nun die Glieder der oben angeführten wechselsei-tigen Beziehung zwischen dem sehenden und dem gesehenen Sehen, d.h. zwischen b und c, in ihrem faktischen Sich-aufeinander-Beziehen betrach-tet, wobei d das Ich als Prinzip der unendlichen Teilung und e die un-durchdrungene Welt, d.h. die noch zu teilende Materie ist. Die Ichform des absoluten Sehens artikuliert sich somit in einem Ich, dem nun aus-drücklich ein Nicht-Ich gegenüberstellt wird. Da die beiden oben dargestellten Reflexionen, die jeweils zu den beiden Gliedpaaren führen, gleichzeitig stattfinden, ergeben sich die fünf Elemente, die Fichte mit den Buchstaben a, b, c, d, e bezeichnet hat, als Glieder der Spaltung der absoluten Erscheinung ins Mannigfaltige. Nun fügt Fichte hinzu, daß gerade diese, hier in ihrer Genesis dargestellte Fünf-fachheit in dieser Artikulation faktisch in einer äußeren Anschauung als von dem absoluten Sehen projiziert erkannt wurde.

Wir haben drum das absolut Eine reine Sehen. Dies mag selbst Re-flex seyn von etwas bis jezt unbekanntem. Dieses gesezt, bricht es sich an sich selbst: und es entsteht schlechthin in Einem diese Fünf-fachheit: aus ihm projicirt: in der Anschauung gefunden. (262,13-16)

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Und schließlich merkt er an, daß diese Fünffachheit, worin die ganze ge-netische ›Entstehung‹ der Welt dargestellt werde, auch aus einer Drei-fachheit von Prinzipien zusammengesetzt werden könne, nämlich aus dem absoluten Sehen, der dem Objekt entgegengesetzten Ichform und dem Ich als Prinzip der faktischen Mannigfaltigkeit.

Drei Principe: absolute Genesis, das ganze: – Fakticität, in welcher a. sehen ist, nicht gesehenes, schlechthin unsichtbar. – . zwei Glie-der. – Principheit innerhalb der Fakticität wieder zwei Glieder. Die so zusammengesezte Einheit der Anschauung. (262,16-19)

Mit einer zusammenfassenden Schlußbetrachtung korrigiert Fichte aus-gangs der 29. Vorlesung die bis hierhin mögliche, aber dennoch falsche Auffassung der Selbstanschauung des absoluten Sehens in der Ichform in Hinblick auf die Zeit. Gemäß der oben geführten Ableitung konnte man den Eindruck gewinnen, daß diese Selbstanschauung in einem gewissen Moment in der Zeit geschähe und daß das Prinzip zu eben diesem Zeit-punkt unendliche Gegebenheiten der Welt bildlich vorstellen würde. Da aber das absolute Sehen keineswegs in der Zeit stattfindet und nur die Folge seiner schon immer geschehenen Spaltung in der Zeit liegt, ist diese Auffassung des Prinzips vollkommen falsch: Zeitlich begrenzt ist dem-nach nur noch die Wirkung des Prinzips, die sich darin zeigt, die derart entstandene Unendlichkeit mittels der Kategorien, die sich in der Art der Auffassung des Nicht-Ich durch das Ich zeigen, jeweils zu einer syntheti-sierten Mannigfaltigkeit zu vereinigen. Erst dann entsteht das Bild einer wirklichen, materiellen Welt – von Fichte mit dem Buchstaben e bezeich-net –, die aber keine Unendlichkeit oder Unbestimmtheit an sich trägt, sondern nur als Pendant eines entsprechenden, unendlich ordnend schöp-ferischen Prinzips d vorkommt, das seinerseits seine Ordnung auch unter dem Begriff der unendlichen Teilbarkeit und somit der unerschöpften Unbestimmtheit entfaltet.

Sie haben bisher die gehaltne objektive Grundlage der Unendlich-keit ohne Zweifel für ein Bild irgend eines einzelnen ZeitMoments gehalten […]. Dies fällt jezt nun wohl klärlich weg. Das Sehen, von welchem wir jezt gesprochen haben, ist das absolut Eine und reine Sehen. Dies kann wohl ohne Zweifel nicht wiederholt wer-den, noch in eine Zeit fallen. In die Zeit dürfte wohl erst fallen das aus diesem Sehen hervorgehende Princip der Mannigfaltigkeit. Die gehaltne objektive Grundlage e. werden Sie sich drum am besten

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denken eben als die ganze vorliegende ins unendl[iche] theilbare Welt, d.i. die materiale. (262,21-30)

Die folgende 30. Vorlesung beginnt mit einer weiteren Ableitung und Erklärung der Kategorien aus der Einheit des Prinzips. Ähnlich wie in der Grundlage von 1794 wird zunächst die Substantialität, sodann die Kausa-lität und schließlich die Wechselwirkung als Struktur der Beziehung zwi-schen den kategorischen Paaren Substanz-Akzidens einerseits und Ursa-che-Wirkung andererseits abgeleitet. Diese vier sind nun die »Kategorien: deren synthetische Einheit das Ich [ausmacht].«183 Damit kann Fichte schließen: »Wir wollten die Einheit der beiden Teile d – e. Es findet sich daß unser a, die rein absolute Einheit des Sehens, nebst den noch hinzuge-kommnen Gliedern b – c. diese Einheit sey.«184 Daher geht Fichte nun daran, die vorher dargestellte Beschreibung der Entstehung des Bildes durch die oszillierende Bewegung der Erscheinung, sich dem Gesetz des Soll hinzugeben und zugleich auch wieder nicht, gründlich zu revidieren. Das Problem besteht dabei darin, genau zu unterscheiden, was in einem solchermaßen entstehenden Bild tatsächlich dem Gesetz und was der Frei-heit der Erscheinung zu verdanken ist.

Giebt sie [scil. die Erscheinung] sich hin unmittelbar an ein Princip der Unendlichkeit, hält sie den Fluß derselben an, und der-gl[eichen]. Wies früher aussahe. O nein; alles dieses ist nicht in der Erscheinung, wie sie an sich ist, durch ihr Seyn an Gott ist […], sondern es ist lediglich im Sehen. Wie die Erscheinung schlecht-weg sich hingiebt, entsteht das Sehen a. und durch dieses allein werden hervorgebracht die aufgezeigten Bestandtheile ins gesamt, und sind nur in ihm. Daß das Sehen überhaupt ist, und als Faktum vorkommt, davon liegt der Grund in der Freiheit der Erscheinung; wie es ist, nemlich so, davon liegt der Grund im absoluten Gesetze. (263,29-264,5)

Das, was Fichte zuvor unabhängig vom Sehen abgeleitet hat, entsteht also nur unter der Bedingung des Sehens und sogar im faktischen Sehen selbst, d.h. erst, nachdem es tatsächlich gesehen ist. Es ist demnach nicht die Erscheinung, wie sie an sich, in ihrer Absolutheit ist, die die Entstehung eines Bildes bewirkt, weil ihr erst im Sehen und vom Sehen die Bewegung

183 GA II 12, 263,16f. 184 GA II 12, 263,19-22.

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des Sicherscheinens zugeschrieben wird. Nun aber hängt das Faktum des Sehens mit der Sichvollziehung der Erscheinung, also der freien Vollzie-hung seines Vermögens, sich zu schematisieren, zusammen und resultiert die Art und Weise, wie das Sehen tatsächlich erscheint, d.h. letztendlich sieht, aus dem absoluten Gesetz, dem sich das Vermögen der Erscheinung frei hingibt. Beide aber, sowohl die Freiheit der Erscheinung als auch das absolute Gesetz, das, wie wir später sehen werden, den Anstoß zur Ver-wirklichung dieses Freiheitsakts gibt, sind wiederum nur vom Faktum des Sehens her zu betrachten, also letztendlich von der Tatsache her, daß sich die Erscheinung zu einem sehenden Ich bestimmt.

Daß was in ihm [scil. dem absoluten Gesetze] vorkommt, faktisch seyend erscheint (eben nur gesezt durch das Faktum des Sehens, und keinen andern Grund innerhalb des Sehens für sein Seyn anzu-führen vermögend, als daß es eben gesehen wird), daß es ein Ich ist, so und so bestimmt. usw. Hier erst an diesem Punkte geht alle Entwiklung der Erscheinung an. (264,5-9)

Das Faktum des Erscheinens der Erscheinung bringt also dadurch die Entstehung eines Ich mit sich, daß sein Grund nur im freien Vermögen der Erscheinung besteht, sich entsprechend einem absoluten Gesetz zu sche-matisieren, welches von irgendeinem Ich ganz unabhängig ist. Die weitere Entwicklung der Erscheinung aber, daß diese sich im Sicherscheinen als sehend innerhalb der Sichtbarkeit und als eben diese Sichtbarkeit verbrei-tend auffaßt, ist nur vom Ich her möglich: Denn gerade die Ichform ist der Kern der Selbstauffassung des absoluten Sehens als Sehen. Entsprechend wird nur im Ich die Sichtbarkeit als solche aufgefaßt, die Erscheinung gesehen und dadurch unendlich, d.h. durch eine unendlich freie Bilderpro-duktion weiterbestimmt. Das Ich taucht also nur als Form der Bestimmung der Erscheinung auf. Aber die Erscheinung wiederum kann erst vermöge des Ich weiterbestimmt werden. Anders gesagt: Ohne absolutes Sehen ist kein Ich, ohne Ich ist aber kein faktisches Sichtbarwerden des Sehens, mithin sind keine Bilder da. Darüber läßt Fichte nun nur noch die folgende letzte Bemerkung fallen:

Das Beschriebne ist die absolute Sichtbarkeit, über welche hinaus kein Sehen geht, sondern innerhalb dessen nur noch d. alles man-nigfaltige Sehen sich entwikelt. Dieses Sehen bringt unter anderm e. die gehaltne Unendlichkeit mit. Sie müssen sich drum e garnicht denken als eine Unendlichkeit und eine Zeit in ihr, wozu die erste

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jezt widerlegte Voraussetzung Sie wohl verleiten konnte. Eine sol-che Mannigfaltigkeit in der ZeitReihe konnte nur möglich seyn nemlich d. Dieses aber sezt wenigstens e als stehend voraus. e ist also die durch das absolute Sehen in Einem Schlage gegebne Welt, mit ihrer Unendlichkeit zugleich. (264,10-18)

Das d ist also Prinzip des faktischen Sehens, ein Ich, das sich unmittelbar mit einer unendlichen Welt als ein Ganzes innerhalb der Sichtbarkeit er-gibt. Die Unendlichkeit der Welt wird aber in dieser Entgegensetzung intensiv, nicht extensiv, also als ein ganzes, dem faktischen Sehen un-durchsichtiges Dasein und nicht als eine unendliche Reihe von Elementen betrachtet, wobei die absolute Durchsichtigkeit ganz auf die Seite des Ich fällt. Durchsichtigkeit des Ich und Undurchsichtigkeit der Welt ergeben sich also nur innerhalb der Sichtbarkeit, d.h. innerhalb der Reflexionsbe-wegung des absoluten Sehens. Der nächste genetische Schritt besteht nun in der Suche nach der Herkunft des Gesetzes selbst: »So ists, nach dem Gesetze? Die natürliche Frage ist: woher nun dieses Gesez selbst?«185 Und folgendermaßen fährt Fichte fort:

Wir wissen: es ist das Gesez eines Als; eines blossen Schema eines im Hintergrunde Liegenden; die Frage heißt nun so: was ist dieses im Hintergrunde, welches durch das Gesez der Sichtbarkeit sich ausdrückt: dasselbe, was wir oben so sagten: dieses ganze – das, was in ihm ist, freilich aus ihm selbst reflektirt, ist selbst ein Re-flex. Wovon nun; was liegt diesem Reflexe zu Grunde. (264,28-33)

Darauf antwortet Fichte: »Offenbar die Erscheinung selbst, in ihrem ur-sprünglichen Seyn aus Gott, wie denn auch oben gesagt wurde, daß alles Als auf sie gehe: also die Erscheinung in ihrer Unsichtbarkeit«.186 Jedes Als nämlich sei zuletzt auf die ursprüngliche Voraussetzung zurückzufüh-ren, daß das absolute Sein dasjenige sei, was in der Erscheinung tatsäch-lich erscheint und das in ihr als solche anzuerkennen sei. Um diese Ant-wort zu verdeutlichen, verfolgt Fichte den Gedankengang in vier weiteren Punkten, die wie folgt zusammengefaßt werden können: Im Hintergrund des Gesetzes befindet sich, nach dem Gesagten, die Erscheinung in ihrer Unsichtbarkeit, die nun vermöge des Gesetzes

185 GA II 12, 264,27f. 186 GA II 12, 265,1-3.

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sichtbar werden soll. Das ist aber nur möglich, wenn die Erscheinung »eben als Urbild sichtbar«187 wird, was aber notwendig einer Erweiterung des Sehens bedarf, weil das Sichtbarwerden eines unsichtbaren Urbildes eben mit dem Erweitern des Sehens auf einen ihm zunächst unzugängli-chen Bereich zusammenfällt. Da die Grundform des Sehens aber schon vollkommen dargestellt wurde, kann das Sehen nicht anders als in dieser Form erweitert werden. Nun kann »[i]m Falle einer solchen Erweiterung, […] das erweiternde faktische Princip« nur »die Erscheinung selbst in absoluter Freiheit«188 sein und das »jezt beschriebne Sehen soll, (nicht seiner absoluten Form nach, sondern seinem Inhalte nach) seyn Reflex des wahren Seyns der Erscheinung im Hintergrunde«.189 Auf der Suche nach der Verwirklichung dieses Prinzips stellt Fichte in einem fünften Punkt die entscheidende Frage: »Liegt nun etwa in dem Schema dieser Erscheinung (in dem hier vorkommenden Ich) etwas, das in diesem Sehen nicht reali-sirt ist[?]«190 Eine positive Antwort auf diese Frage würde nämlich den genauen Ort des erweiternden Prinzips innerhalb der Erscheinung und zugleich die Richtung anzeigen, in welche die Sichtbarkeit zu erweitern wäre. Fichte antwortet entsprechend: »ja. b. [das] Seyn schlechthin unab-hängig vom Sehen: und als Princip.«191 Das oben dargestellte b steht – wie gesehen – im Zusammenhang mit c, nämlich als ich-förmiges sehendes Sehen, das einem gesehenen Sehen gegenübergestellt ist. Jedoch nimmt sich das Ich in seiner Selbstanschauung auch als ein unabhängiges Sein und als Grund für die Sichtbarkeit des Nicht-Ich bzw. der Welt wahr, was unter anderem zur Formulierung der Kategorie der Substanz geführt hat. Somit kann Fichte schließen: »die Erscheinung müste realiter, nicht zu einem Sehen, sondern zu einem Seyn Princip seyn können; das [scil. die-ses Sein] eben ists, wovon dieses ganze Sehen seinem Inhalte nach der Reflex ist.«192 Die Erscheinung wird also durch ihre Selbstbestimmung nicht einfach zum Sehen, sondern vielmehr zum Sehensprinzip im Ich, das eben selbst ein unabhängiges Sein hat bzw. ist und dessen Reflex nun das gesehene Sehen – zunächst als Objekt seiner Selbstanschauung des Ich, sodann als mannigfaltiger Inhalt der Anschauung der Welt – ist. Da aber

187 GA II 12, 265,6. 188 GA II 12, 265,13f. 189 GA II 12, 265,18-20. 190 GA II 12, 265,20-22. 191 GA II 12, 265,22f. 192 GA II 12, 265,23-25.

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ein Reflex immer die Folge einer Tätigkeit ist, soll sich das Ich nicht mit seinem bloß unabhängigen Dasein begnügen, sondern muß sich »als han-delnd« ansehen.193 Fichte fügt noch hinzu: »Es entsteht aus seiner Kausali-tät nicht mehr bloß eine Teilung im gegebenen e, »sondern eine neue Schöpfung in dasselbe hinein.«194 Das Ich schaut sich demnach als ein praktisches Prinzip an.

Und so hätten wir denn hier eine Mannigfaltigkeit innerhalb der Einen Grundform der Sichtbarkeit. Der absolute Grund ist die Ver-änderung des Grundseyns der absolut freien Erscheinung. A. und z.B. α β γ. – . Das ursprüngl[iche] Seyn der Erscheinung trägt nun bei sich seinen Reflex; wie dieses drum sich ändert, ändert sich dieser, nicht der allg[emeinen] Form nach (das Schema bleibt im-mer das Ich, obwohl es unsichtbar wird, und in den Hintergrund tritt.); aber die Ansicht dieses Ich ändert sich, wie das Seyn. – . (266,1-7)

Hiermit schließt Fichte die 30. Vorlesung. 6.1. Die Bedingung der Möglichkeit des faktischen Ich Nach der Deduktion des Ich aus der Reflexion des reinen Sehens, wodurch das Ich als dessen weitere Bestimmung erscheint und insbesondere als »der absolute Reflex der Erscheinung« anerkannt wird, sollen nun Prinzip und Gesetz der Begrenzung des absoluten Sehens zum Ich erklärt werden: »Wie ist diese weitere Bestimmung des Sehens möglich, ist jetzt unsere Aufgabe«.195 Da das wirkliche Sehen als Reflex des sich brechenden Seh-vermögens vorkommt, das nun außerdem in seiner Unendlichkeit begrenzt sein muß, muß es ein Prinzip dieser Begrenzung geben, das tatsächlich zu einer Bestimmung des Sehens führt. Die Mannigfaltigkeit des Gesehenen muß in der absoluten Erscheinung selbst begründet sein und die Erschei-nung soll ausdrücklich als Erscheinung Gottes erscheinen, was bisher noch nicht geschehen ist. Denn im Gegenteil hat man im Ich nur noch einen Stellvertreter, der, wie den mehrfachen Mißverständnissen der Wis-senschaftslehre zu entnehmen ist, die Gefahr mit sich bringt, ihn über-

193 GA II 12, 265,28. 194 GA II 12, 265,28-30. 195 GA II 12, 266,20f.

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

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haupt nicht als Schema Gottes, sondern als absolut und selbständig zu verstehen.

Das Sehen macht sich selbst in der Erscheinung, nach dem absolu-ten Gesetze; die Freiheit der Erscheinung thut dabei garnichts, denn was sie sollte, sich begränzen, das kann sie nicht. / . Es ist ge-sezlicher, nothwendiger Reflex der Erscheinung: unter der Bedin-gung nemlich, daß dieselbe erscheine. (267,6-10)

Offenbar ist die Wandlung des Sehens zum Ich und dadurch zum Gesehe-nen durch eine Begrenzung des unendlichen Sehvermögens bedingt. Das Prinzip dieser Begrenzung kann aber nicht in ihm selbst liegen, weil das Vermögen an sich schlechthin unendlich ist. Das Faktum, daß es tatsäch-lich gesehen werde, erzwingt also die Voraussetzung eines zweiten Prin-zips, das diese Unendlichkeit beschränkt, womit Fichte die vorherige An-nahme korrigiert, daß das Sehen absolut sei. Er sagt nämlich:

Dort sezten wir das Sehen als absolut voraus. Jezt nicht also: jezt soll es selbst in seiner Möglichkeit erklärt werden: also die innre Begränztheit, als der eigentliche factor des Sehens, als dasjenige Princip, was reales Vermögen auflöset in Sehen, muß erklärt wer-den. Zusammensichtung der Unendlichkeit zur Einheit. (266,32-267,2)

Nun ist dieses gesuchte Prinzip selbst das Gesetz der Sichvollziehung der Erscheinung entsprechend der Forderung, daß sie sich selbst als solche erscheine. Denn das Ich ist der Ort des Sicherscheinens der Erscheinung und gerade dadurch, daß das Ich sich ausdrücklich als Ich auffaßt, er-scheint die Erscheinung als solche. Das Prinzip der Beschränkung des Sehens fällt nun, so Fichte, selbst mit dem Gesetz zusammen, das die Erscheinung überhaupt zur Sicherscheinung bzw. das Schema 1 zum Schema 2 führt. Bis jetzt aber hat dieses Gesetz noch nie die Welt des Sichtbaren betroffen, sondern nur die Erscheinung in ihrer absoluten Un-sichtbarkeit und vor jeder möglichen Sicherscheinung. Es handelt sich nämlich um dasjenige Gesetz, dem das Vermögen der Erscheinung, sich zu vollziehen oder nicht, notwendig folgen bzw. sich hingeben sollte, falls es sich tatsächlich vollziehen würde. Jetzt betrachtet Fichte die Wirkung, d.h. die Kausalität dieses Gesetzes nach der ursprünglichen Vollziehung des Vermögens als das Gesetz der weiteren Selbstbestimmung der Er-scheinung. Ein und dasselbe Gesetz ist also das Prinzip, das gleichwohl

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

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doppelt wirkt: einmal in der unsichtbaren Welt bei der anzunehmenden ursprünglichen Vollziehung der Erscheinung im Übergang von Schema 1 zu Schema 2, ein zweites Mal in der sichtbaren Welt, in der das Vermögen der Erscheinung, das dank des Gesetzes zu einem unendlichen absoluten Sehen geworden ist, nun zu einem endlichen, faktischen Sehen wird:

Also – das Gesez hat eine doppelte Kausalität auf die Erscheinung, theils inwiefern sie jenseit alles Sehens ist, theils, inwiefern sie sieht.. Unsichtbarkeit, und Sichtbarkeit, wird genau von einander geschieden, und die leztere vermittelst ihres Grundgesetzes durchdrungen, und aus demselben konstruirt […]. […] Und so wird es denn immer klärer, daß in dem beschriebnen Sehen wohl überhaupt gar kein Faktum, sondern nur ein Gesez ge-wisser Fakten beschrieben seyn möge, daß dieser Reflex, bei dem die Erscheinung gar nichts thun soll, wohl selbst nur Reflexibilität / [d.h. das] Gesez einer freien Reflexion seyn möge […]. (269,8-21)

Es gibt also keinen fundamentalen Unterschied zwischen der Bestimmung der Erscheinung in der unsichtbaren oder der sichtbaren Welt, beide hän-gen vom selben Gesetz ab, das seinerseits Ausdruck der Erscheinung ist, Gotteserscheinung als solche zu sein. Das Sehen kann man nicht anders als ein absolutes Faktum, also unabhängig davon verstehen, daß das Sich-dem-Gesetz-Hingeben der Erscheinung nachvollziehbar ist. Nachdem sich aber das Vermögen der Erscheinung, sich zu erscheinen, tatsächlich voll-zogen hat, wirkt dieses Vollziehungsgesetz notwendig weiter und führt das Sehen selbst zum Sehen seiner selbst, womit sich seine Unendlichkeit in unendliches Gesehenes aufbricht. Es handelt sich also um das Gesetz der Reflexion, die sich, falls es frei ins Unsichtbare vollzogen wurde, zwingend wiederholt und im Ich sichtbar wird. Der erste Übergang von der Erscheinung zur Sicherscheinung ist nicht notwendig, der zweite hin-gegen kann nicht ausbleiben, sobald sich jener erste einmal vollzogen hat, weil er demselben Gesetz gehorcht und dessen Wirkung ausdrücklich vermittelt. Mit der folgenden Erklärung und einem kurzen polemischen Wink gegen Schellings Hypothese, daß man das Werden im Werden be-trachten könne, schließt Fichte die 31. Vorlesung:

Das Sehen wird nicht gemacht, sondern es ist, falls es ist. Es ist ein absolutes Faktum. Absolutes: Die Erscheinung ist nothwendig: falls Gott ist: das Sehen? keinesweges. Es wird widersprochen 1.) der falschen Ansicht der W.L. 2). dem Schellingianismus.. [das das] werdendes Seyn durchdringt[. Dagegen sind] Welt, und Sehen =

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

267

ein Schlag. II. Es [scil: das Sehen] ist nicht allein, sondern weiter bestimmt. – . III. Dies ist das von der W.L. voraus gesezte Faktum. (269,22-27)

Daß die Wissenschaftslehre das Faktum des Sehens voraussetzt, heißt also demnach, daß Welt und Sehen, also die Welt und das Bewußtsein, das diese mit der Vollkommenheit seiner praktischen und theoretischen Fä-higkeiten anschaut, gleichzeitig vorkommen. Demzufolge ist die Ge-schichte der Entstehung des Bewußtseins als ein Teil der Welt überhaupt nicht zu rekonstruieren. Welt und Intelligenz kann man nur als schon im-mer zugleich anwesend und aufeinander bezogen verstehen, ohne daß die Sichtbarkeit von jener oder das Sichtbarwerden von dieser abzuleiten sei. Realismus und Idealismus zeigen sich dadurch als jeweils unvollkommene philosophische Ansichten, die als solche erst von der Wissenschaftslehre vollkommen enthüllt werden. 6.1.1. Die Materie der Welt Eine lange Bemerkung der 31. Vorlesung ist dem Begriff der Qualität gewidmet. Die Qualität wird hier von Fichte als »absolute Einheit des unendlichen […] das eigentliche objektive, woran das Vermögen absolut sich bricht«196 definiert. Die zwei Glieder d und e wurden schon als Ich und Nicht-Ich bzw. Welt beschrieben. In welcher Beziehung aber stehen sie zueinander? Das e kommt als die Ganzheit der Qualitäten vor, die der Teilung unendlich zur Verfügung bleibt. Das Teilen oder die unendliche Analyse der Qualitäten seitens des Ich ist aber wiederum nur ein Ergebnis des Strebens, seine eigene Zerspaltung angesichts der mannigfaltigen Qualitäten auszugleichen. Demzufolge ist das Teilen »Ausdruk der Ge-brochenheit«,197 weil durch eine theoretisch unendliche, gleichwohl prak-tisch immer begrenzte Analyse der Qualitäten die Unterscheidungen zwi-schen den jeweiligen Qualitäten minimiert werden, ohne daß sie aber tat-sächlich jemals aufgelöst werden können. Bei den jeweiligen Etappen der Teilung und dem Festhalten des Gesehenen entstehen nun die mannigfal-tigen Ansichten derselben einen Welt e:

196 GA II 12, 267,17-19. 197 GA II 12, 267,22.

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

268

Das lezte Resultat des Sehens, das womit die ganze Synthesis sich schließt, und woran sie selbst sich bricht ist e. Das der unbedingten Theilung von d aus festhaltende Eine Mannigfaltige. – welches, da dies das absolute Sehen ist, das zwar erweitert, aber nie aufgeho-ben werden kann, gleichfals absolut bleibt: die Eine Welt, das Uni-versum der Qualitäten an der Materie. (267,24-28)

Die Welt zeigt sich somit als ein innerlich unendliches Ganzes, die Ab-straktion aus dieser Betrachtung führt zum Begriff des äußerlich unendli-chen Raums. Dabei zeigt sich die Kehrseite dessen, was zuvor erklärt wurde, daß nämlich der »Stoff eben die Konkretion der Unendlichkeit [ist], die stets und immer übrig bleibt«.198 Ist die Materie im Gegensatz zum unendlichen Raum abgeleitet worden, wird nun der Raum als Ab-straktion von der unendlichen Materie dargestellt. 6.1.2. Der Grund für den Übergang von der absoluten zur sichtbaren Erscheinung Wie üblich wiederholt Fichte die Konklusion des zuvor Gesagten am An-fang der darauf folgenden Vorlesung und leitet so den nächsten Schritt ein. Die 32. Vorlesung beginnt demzufolge mit einer zusammenfassenden Bemerkung über die oben betrachtete doppelte Kausalität des Gesetzes des Soll:

Scharfe Unterscheidungen. Das Gesez eine doppelte Kausalität auf die Erscheinung I. theils in ihrem Seyn als blosses Vermögen, d.h. eben durch und durch bestimmte, nicht etwa unbestimmte, und

leere Freiheit. […] Unendlichkeit des machens; II theils im sich se-

hen desselben, in der Form des als: der gerade Gegensatz: absolute Begränztheit des unendl[ichen] Vermögens. Grenze drum, und was aus ihr folgt, Qualität, lediglich aus dem Sehen, und zwar zufolge des Gesetzes, das hier eine faktische Kausalität wird, ein bedingtes Muß des Sehens wird. A giebt a b c d e (269,30-270,10)

198 GA II 12, 255,20f.

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

269

Aus der weiteren Bestimmung des Sehens ergibt sich nun die Qualität als faktische Sichtbarkeit der Welt. Der Übergang von A als der Erscheinung in seiner Absolutheit zu e als dem Erscheinen der Welt in ihrer Mannigfal-tigkeit fällt mit der Entstehung der Qualitäten zusammen. Diese stellen nun die verschiedenen faktischen Grenzen des absoluten Sehvermögens a dar, an denen sich dieses tatsächlich bricht und zugleich nicht mehr bloß als Sichtbarkeit b einem Undurchsichtigen c gegenübergestellt ist, sondern sich nun als wirklich sehendes Sehen oder Ich in d wahrnimmt. Diese Bestimmung ist von dem Gesetz der Reflexion geleitet. Allerdings erin-nert Fichte auch daran, daß dieses Gesetz allein, d.h. ohne das Mitwirken eines ursprünglichen freien Akts, keine selbständige Ursache sein kann. Das Gesetz ist ein Prinzip, wodurch zunächst die absolute Erscheinung A, sodann das Sehen bestimmt wird. Es ist sozusagen die Bedingung der Möglichkeit der Bestimmung beider oder die ihres Wie, also das, wodurch ihre Vollziehung zu einem wirklichen Ergebnis kommt. Daß aber nun das Sehen zu einer solchen Bestimmung kommt, ist notwendig immer auch von einem Freiheitsakt der Erscheinung, d.h. des A bedingt. Das Prinzip genügt zur Entstehung des Prinzipiats eigentlich nicht, solange sich ihm keine schöpferische Tätigkeit unterwirft. Ein Gesetz ist an sich tot, wenn es nicht von einem Akt belebt wird, wodurch letztendlich das Gesetz selbst zur Erscheinung kommen kann. Daher schließt Fichte:

Es muß drum irgend einen FreiheitsAkt von A. aus geben, unter dessen Bedingung allein die Synthesis zu Stande kommt. Welcher dieses sey? Das Gesez giebt die Begrenzung, also die Möglichkeit des Objekts an dem das Sehen sich breche: was giebt denn die Form des Sehens, das unmittelbare Schema des Vermögens eben, das an der Begrenzung seiner selbst sich bricht. (270,17-22)

Das Gesetz gibt also laut Fichte dem Sehen die Gelegenheit, überhaupt zu einem Inhalt zu gelangen. Wenn man nun – wie hier gesehen – dieses Gesetz mit der dem absoluten Sehen innewohnenden Struktur der Reflexi-on gleichsetzt, kommt dadurch das Sehen in Freiheit zu einer Grenze, wodurch es sich in der Form eines Objekts, d.h. eines einzelnen Gesehe-nen sichtbar wird. Nun bestimmt Fichte näher, was es mit der oben darge-stellten Spaltung in die fünf Elemente a, b, c, d und e auf sich hat. Es ist nämlich nicht die absolute Erscheinung selbst oder ihr Vermögen in seiner Unendlichkeit, sondern vielmehr ihr Schema, d.h. das Vermögen gemäß seiner Selbstschematisierung gemeint. Eben dieser Übergang vom reinen

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

270

Vermögen zu seiner Schematisierung ist jetzt von Interesse, weil sich eben darin der Freiheitsakt des Vermögens selbst zeigt.

1.) A. ist aufgestellter Maassen unendliches Vermögen: in reiner einfacher Form des Seyns, ohne alle Duplicität. Die Beschreibung wendet sich nicht an diese einfache Form, sondern sie wendet sich an das Schema derselben, an die Verdoppelung, und begränzt die-se. Diese Verdoppelung selbst, der schematische Zustand eben überhaupt wäre sonach die Bedingung des Einfalls des Gesetzes; und der Uebergang in demselben aus der einen einfachen Form, in die schematische, der FreiheitsAkt der Erscheinung A. A (270,27-271,4)

In der oben angebotenen Formel A/A gilt das obere A als die absolute Erscheinung bzw. als ihr Vermögen in seiner Unendlichkeit und Unsicht-barkeit betrachtet. Das untere A stellt dagegen das Schema des Vermögens zufolge des Gesetzes dar, das unmittelbar einschließlich seiner weiteren fünffachen Bestimmung (a, b, c, d, e) vorkommt. Bisher wurde diese Ver-doppelung, d.h. der Übergang von der Erscheinung zur Erscheinung der Erscheinung einfach aufgrund des faktischen Daseins der Welt angenom-men. Jetzt fragt Fichte dagegen nach der Bedingung seiner Möglichkeit: »Ist ein solcher Übergang überhaupt möglich? Liegt er im Vermögen der Erscheinung, und wie beweisest du das?«199 Die positive Antwort folgt gleich danach: »Die Erscheinung soll sich ja erscheinen als solche, ein Schema ihrer selbst werden: sie kann es drum: diese Bestimmung gehört zur Bestimmung des Vermögens«200 Man erinnere sich nun an den Unter-schied zwischen dem absoluten Sein und der absoluten Erscheinung: Das absolute Sein ist absolute Freiheit und kann in den unendlichen Möglich-keiten, die in seiner Potenz liegen, auch erscheinen – und tatsächlich ist es auch erschienen, wie rückschließend von der faktischen Wahrnehmung der Welt her anzunehmen ist. Das geschieht aber vollkommen grundlos, denn das absolute Sein darf sich dabei keinem Gesetz unterwerfen, sonst würde es sogleich seinen Charakter verlieren, absolute Freiheit zu sein. Die absolute Erscheinung ist auch frei, allerdings allein darin, was das Daß, nicht aber darin, was das Wie ihrer Erscheinung betrifft. Sie kann sich also sowohl erscheinen als auch nicht, wenn sie aber erscheint, kann

199 GA II 12, 271,5f. 200 GA II 12, 271,6-8.

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

271

sie dies nur wegen eines festen Gesetzes. Und eben darin, daß sie dies soll, besteht der Grund dafür, daß sie es auch kann. Ihr Können ist insofern ein solches, das vom Sollen und vermöge seines Gesetzes geleitet wird. Allein das Sollen genügt also, um zu können, denn, da die Er-scheinung als solche erscheinen soll, muß es auch ein Vermögen dazu geben, das zunächst die wirkende Möglichkeit zu erscheinen ausdrückt. Sodann muß aber dieses Vermögen auch selbst schematisiert werden kön-nen, damit das Schematische der Erscheinung der Erscheinung dem sche-matisierenden Vermögen selbst zugeschrieben werden kann und die Er-scheinung endlich nicht nur als mit dem Vermögen verschmolzen, sondern auch tatsächlich als reine Erscheinung erscheinen kann. Die Selbstschema-tisierung des Vermögens ist also eine Bedingung der Möglichkeit des Erscheinens der Erscheinung als solcher, wobei Fichte folgendes hinzu-fügt: »Doch ist das soll in dieser Hinsicht bestimmend lediglich das Ver-mögen: die Erscheinung kann. sie muß nicht: das Sehen bleibt auch hier ein absolutes Faktum: durchaus getrennt von dem Seyn an Gott.«201 Da aber das zu schematisierende Vermögen bekanntlich den Charakter der Unendlichkeit hat, führt seine Schematisierung vorerst zu keinem Bild, weil schon vorher bewiesen wurde, daß dazu das unendliche Vermögen zunächst angehalten werden muß. Darin besteht also der Beweis, daß eben das Gesetz die Begrenzung des Vermögens verursacht, wodurch das Soll zur faktischen Bedingung der Entstehung des Bildes wird. Jetzt konfrontiert Fichte aber seine Zuhörer mit der folgenden Frage: »Was folgt nun aus dieser Zusammenwirkung [des Vermögens und des Gesetzes]?«202 Nun, da es nicht mehr darum geht, die reine schemati-sche Struktur des Erscheinens, sondern die des praktischen Vermögens abzuleiten, das tatsächlich die Erscheinung zur Erscheinung der Erschei-nung führt und Fichte selbst und seine Zuhörer als Wissenschaftslehrer faktisch dazu geführt hat, entsteht nicht dieselbe fünffache Gliederung wie vorher. Es erscheint dagegen eine Gliederung im Vermögen, nachdem dieses in den schematischen Zustand eingetreten ist und das Schema wahrnimmt. Fichte antwortet nun auf die oben gestellte Frage wie folgt:

Auf den ersten Blik wird wohl jeder sagen: die Synthesis a. folgt: […] es folgt noch etwas weit höheres, und zusammengeseztes: […] es kann drum allerdings das in A liegende Gesicht entstehen. Wel-

201 GA II 12, 271,11-13. 202 GA II 12, 271,24.

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ches ist sein Inhalt: absolutes Vermögen schlechthin, als solches unbedingt: die Grenze, der es bedarf um der Form des Sehens willen muß nun selbst durch dieses Vermögen gesezt werden: eben durch ein nun erst mögliches Nachbild, und Schema der wirklichen Begrenzung. (ein erst mögliches; das Urbild ist gegeben.) Richtet im allgemeinen sich nach dem Gesetze der Synthesis also α β γ δ ε. (271,24-272,13)

Die griechischen Buchstaben α, β, γ, δ, ε symbolisieren die fünf Grund-glieder der weiteren Bestimmung der erscheinenden Erscheinung, wie sie nicht an sich, sondern im Schema und ausdrücklich mit dem Charakter, Schemata zu sein, d.h. als ihre Nachbilder, vorkommen, die die fünffachen Züge der erscheinenden Erscheinung wiedergeben. Es handelt sich also um dieselben fünf Glieder a, b, c, d, e, wie sie aber in einem Ich vorkom-men, nachdem das Vermögen die Erscheinung zum Erscheinen gebracht hat. Indem nun die Glieder der Spaltung im Ich selbst erscheinen, werden sie aber nicht mehr nur äußerlich betrachtet, sondern gelten als seine Standpunkte. Es würde nicht zu einer äußerlichen Begrenzung, zu einer An-schauung der fünffachen Struktur des Vermögens kommen können, wenn die Urglieder einer fünffachen Spaltung nicht schon im Vermögen selbst enthalten wären. Es wurde nämlich schon festgestellt, daß das Bildungs-vermögen der Erscheinung nur sich selbst bilden konnte. Jetzt gilt darüber hinaus, daß es dazu der Mitwirkung eines zweiten Prinzips bedarf, näm-lich des Gesetzes des Soll, das die unendliche Tätigkeit des Vermögens zu einer Rückwirkung, und zwar zu einer Reflexion auf sich selbst drängt. Das Vermögen kann nämlich durch den Anstoß des Gesetzes nichts, was nicht schon immer in der ursprünglichen Möglichkeit der Erscheinung angelegt war, also nichts anderes als sein eigenes Gesicht nachbilden. In seinem Nachbild kommt dieses Gesicht nämlich nicht vor, wie es an sich ist, sondern nur als solches, d.h. in der Form des Als, und in einem Wis-sen, das faktisch von einem Prinzip dieses Wissens abhängt. Demzufolge entstehen dem Ich fünf Standpunkte, die dem Eintreten des Vermögens in den schematischen Zustand entsprechen. Fichte fährt fort:

Die Begrenzung durch das Gesez ist nur möglich, inwiefern sich die Freiheit der Erscheinung A. derselben durch Eintreten über-haupt in den schematischen Zustand hingibt. Hinwiederum, ein

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

273

Schema des ursprünglichen Vermögens ist nur möglich inwiefern die Unendlichkeit desselben durch irgend ein aus der Begrenzung stammendes Schema gebrochen wird. Beide Synthesen sind drum schlechthin synthetisch vereinigt; eins ist nicht möglich ohne das andere. (272,26-273,2)

Faktisch könnte die absolute Erscheinung also ohne die Selbstbegrenzung seines freien Sehvermögens auf die fünf Standpunkte α, β, γ, δ, ε nicht erscheinen. Umgekehrt hätte man aber nie zur Anerkennung von α, β, γ, δ und ε als der Struktur der Bestimmung und der folgenden Spaltung der Erscheinung kommen können, wenn sich die Erscheinung nicht tatsächlich schematisiert und nicht a, b, c, d, e als ihr Gesicht anerkannt hätte. Es handelt sich um eine notwendige Reflexion, die faktisch nur in einem wissenden Ich stattfinden kann und die Verdoppelung der Erscheinung zum Erscheinen bringt. Denn die ersten fünf Elemente (a, b, c, d, e) stellen das Ergebnis der Selbstbestimmung des Vermögens dar, wobei die zweite Reihe, nämlich α, β, γ, δ und ε das Schema des Vermögens nach seinem Eintreten in den schematischen Zustand gemäß seiner Selbstschematisie-rung im Ich darstellt. Ohne die Erklärung, daß beide nur zugleich erscheinen und sich gegenseitig bedingen, wäre die Spaltung in eine Struktur des Vermögens an sich auf der einen Seite und seine schematische Erscheinung auf der anderen absolut unvereinbar, und man würde sich wie bei Kant einem unerklärbaren Hiat zwischen einer Welt an sich und einer Welt der fakti-schen Erscheinung gegenüber sehen. Der Hiat erklärt sich hier dagegen aus dem erscheinenden Schema der Erscheinung, weil dieses nichts ande-res ist als Nachbild einer dem Vermögen innewohnenden unsichtbaren Struktur und nur als deren Projektion im Wissen zu betrachten ist. Dabei ist diese Struktur selbst nur rückwirkend als im Vermögen notwendig anzunehmen und als immanentes Prinzip seines Schemas zu verstehen, das aber erst nach seiner schematischen Äußerung und vermöge des Ein-tretens des Ich in die entsprechenden schematischen Standpunkte erkenn-bar ist. Der Schematismus wäre also nichts anderes als die Verkörperung von a, b, c, d und e in α, β, γ, δ und ε und die Bewegung des schematisie-renden Vermögens nichts anderes als das schwebende Nachbilden der absoluten Erscheinung in deren wirkendem Bild im Ich vermöge seiner freien Unterwerfung unter das Gesetz des Soll. Entsprechend erklärt Fich-te:

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

274

Diese Form geht aus auf ein Schema des absoluten Vermögens, wie es ist in ihm selber; dies aber ist Eins, und sie ist drum auch Eins und ewig sich gleich bleibend. Daß es aber mit ihr zu einem Faktum komme, ist bedingt durch ein aus der wirklichen Beschrän-

kung durch das Gesez zu entnehmendes Bild. (273, 3-6)

6.1.3. Die Schranke und das Bild des Vermögens Am Beginn der 33. Vorlesung faßt Fichte das zuvor Gesagte zusammen und fügt auch ausdrücklich hinzu, daß das Vermögen selbst, indem es durch das Soll beschränkt werde, als solches zur Erscheinung komme, und zwar als eine immer weiter zu aktualisierende Möglichkeit, die selbstge-setzte Schranke zu überwinden. Ein Bild des Vermögens entstehe somit aus der inneren Dialektik zwischen Vermögen und Gesetz, derselben Dia-lektik, die auch die Entstehung der jeweiligen Weltbilder bedinge:

Das Soll, als Gesez des Faktum eines Bildes, kann die Erscheinung nicht ergreifen, ausser wenn sie mit Freiheit sich derselben hingibt. Es läßt kein anderes sich hingeben denken, als daß sie durch sich selbst ihr unendliches Vermögen in den schematischen Zustand überführe, wie sie dies schlechthin kann. Daraus entsteht nun kein

Bild; denn das Schema ist unendlich; aber dem Faktischen Gesetze ist es nun hingegeben: Dies giebt die Schranke; und zufolge dieser eintretenden Bedingung entsteht ausser dem unmittelbaren Bilde des Faktums, in welchem ein seyendes Ich das erste Produkt war, zugleich ein Bild des Vermögens eben als solchen, als durchaus erhaben über die bestimmte Schranke, die hier uns im Bilde vorschwebt, und so im blossen Bilde die Anschauung hält. (273,19-28)

Wenn sich die Erscheinung dem Gesetz hingibt, entsteht nämlich noch kein Bild, sondern geht nur die absolute Erscheinung in ihren schemati-schen Zustand über, was zur Anerkennung ihrer unmittelbaren Weiterbe-stimmung unter den fünffachen Gliedern α, β, γ, δ und ε führt. Dabei zeigt sich die absolute Erscheinung dank ihres Vermögens unmittelbar fähig, sich ins Unendliche fort zu produzieren, d.h. sich weiterzugestalten, wenn es sich nur dem Gesetz hingibt.

Die Erscheinung, in ihrem absoluten Seyn an Gott nochmals schär-fer angesehen. Sie ist Freiheit, durch das Bild Gottes, das in ihr

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

275

Gesez wird, bestimmt. Diese Freiheit, in Beziehung auf eine sichVollziehung gedacht, ist ein faktisches sich-Bilden, aus sich, von sich durch sich selbst, und in Beziehung auf dieses Bilden ist das Gesez unendlich. (274,6-10)

Nun erklärt Fichte, daß eben in dieser Form des unendlichen Bildens – wie sie jetzt erscheint – die Erscheinung sich als Bild Gottes zeigt. Bei dieser Erklärung taucht aber zugleich ein neues Problem auf, wie nämlich dieser unendliche Bildungsprozeß mit dem Sehen zu vereinigen sei. Denn »die Unendlichkeit [schließt] durchaus das Sehen, als ein in sich geschloßnes« aus,203 wohingegen das unendliche Produzieren der verkörperten Erschei-nung Gottes in der Form eines sehenden Ich sehr wohl vorkommt:

Die Frage ist also nach einem stetigen Uebergange ohne Sprung, dergleichen bisher wir gemacht haben mögen, von diesem unendli-chen Bilden zum Sehen: und dieser Uebergang liefert die eigent-l[iche] Deduktion des Sehens überhaupt. (274,20-23)

Das absolute Leben Gottes erscheint also nur vermöge eines sehenden Prinzips, das die unsichtbare, fortfließende und lebendige Tätigkeit an-schaut und damit in einer sichtbaren Form fixiert und darstellt. Nun wird durch diese Operation nichts erschaffen, wohl aber etwas gestaltet und in einem Bild angeschaut. Denn das Bildende und die Bilder tauchen gleich-zeitig und unmittelbar aufeinander bezogen auf, ersteres als Prinzip des Bildens, zweiteres als dessen Prinzipiat.

Im Sehen und durch das Sehen, und lediglich dadurch, wird das un-endl[iche] sich bilden zu dem ganz neuen Princip des unendlichen. /. a.) jenseit fließt ja das Leben fort, ohne Anhalt: es ist nicht Prin-cip, sondern reine That. woher denn nun dies: aus dem Sehen. b) Princip ist nichts an sich, sondern es ist die Form der Sichtbarkeit des Sehens: und das Princip entsteht im sich sehen der Erschei-nung, als eines unendl[ichen] Bildens. (275,1-6)

Dieses Prinzip ist – ohne daß Fichte es schon ausdrücklich benennt – das Ich, das nun, als faktische Bedingung, das Sehen des Bildes Gottes da-durch ermöglicht, daß es sich in einer unmittelbaren Selbstanschauung selbst als Bild Gottes versteht. Nachdem die genetische Möglichkeit der

203 GA II 12, 274,15f.

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

276

Entstehung des Ich und seines Sehens dargestellt wurde, bleiben nämlich noch die faktischen Bedingungen seiner Möglichkeit zu klären. Dazu wer-den nun die schon bekannten genetischen Etappen der Selbstbestimmung der absoluten Erscheinung in ihrer faktischen Reihe erfaßt. Das absolute Sehen als das der Erscheinung innewohnende Prinzipsein, das vorher mit a bezeichnet wurde, besteht eigentlich zunächst in einem faktisch daseien-den Prinzip. Von einem Ich wird es nämlich nicht in seiner Form an sich (a), sondern als a vorgefunden. Als a kann es erst dann gesetzt werden, wenn vom Ich der in sich vorgefundene Standpunkt des absoluten Sehens a hypostasiert worden ist. Obwohl also in der genetischen Reihe notwen-dig zuerst a vorliegt, kommt in der faktischen Reihe zuerst a vor, das nun wiederum durch die Hypostasierung dieses Standpunkts zur Setzung eines a führt. Dieser Übergang ist offenbar nicht notwendig, er geschieht aber unter der Annahme, daß ›Gott als solcher in der Erscheinung erscheinen soll‹, wodurch alles, was faktisch in der Erscheinung vorgefunden wird, als Erscheinung Gottes angesehen wird; a, der faktisch gefundene absolu-te Standpunkt, soll also zu a, dem absoluten Sehen schlechthin werden:

3). jezt über die faktische Möglichkeit eines solchen Sehens die wir übergingen. Die Erscheinung soll sich sehen, als Princip eines bildens. Nach dem oben geführten Beweise aber ist das absolute Sehen der Form nach durchaus ein faktisches Sehen, ein vorfinden. Es muß drum jenes erste Sehen α./. – in der höchsten Allgemein-heit – vorfinden ein wirkliches Principseyn a. / Kürzer; das absolu-te Sehen kann sich nicht unmittelbar und unbedingt a priori als Princip ersehen, […] sondern es muß sich faktisch also finden. Fin-den, als Princip, inwiefern dies eben mit dem finden vereinbar ist. Das sehen aber ist faktisch: also es muß sich vorfinden, als sehend eben in einer gegebnen Anschauung: die rein und lediglich durch die faktische Grenze zu Stande gekommen seyn soll. (275,7-17)

Nun ist aber ein Finden, das sich im Finden mit dem Prinzip gleichsetzt, eigentlich als nichts anderes als ein Setzen bzw. ein Sichsetzen des Prin-zips zu denken, so daß Fichte sagen kann: »Durch das erstere [a] ist das lezte [a] schlechthin gesezt«.204 Das Prinzip aber, da es erst durch das Gesetz eines Soll zustande kommt, das zur Anerkennung der Unendlichkeit des absoluten Seins führt, muß selbst auch unendlich sein. Das Ich soll sich also, wenn überhaupt in

204 GA II 12, 275,19.

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

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der Form des absoluten Sehens a betrachtet – das nun das unerschöpfte Vermögen der Erscheinung ausdrückt, die jeweilige Schranke zu überge-hen, um die Sichtbarkeit zu erweitern –, als ein unendliches Prinzip an-schauen müssen. Das Prinzip soll sich entsprechend unendlich weiter in der Form des a vorfinden und fortsetzen: »Die Erscheinung soll sich se-hen, nicht nur überhaupt als Princip, sondern als Princip ins unendliche; […] inwiefern es sich überhaupt sieht als Princip, also in der Stelle a.«205 Wie ist das überhaupt möglich? Fichte antwortet darauf:

Besinnen wir uns, wie verhält es sich denn in der Wahrheit; ist denn, obwohl der ganze Inhalt des Gesichts a. aus dem faktischen Gesetze stammt, die Erscheinung dennoch wirklich, und in der That Princip seines Seyns? Allerdings, nicht des Was, sondern des Daß überhaupt, und das zwar dadurch, daß sie sich hingiebt. Durch A. Ein Bild dieses Vermögens, und zwar als unendlichen Vermö-gens sich hinzugeben, oder nicht, wäre das gesuchte. Als Princip ihrer Selbstbestimmung ist sie [scil. die Erscheinung] unendliches Vermögen. (276,4-10)

Das bedeutet, daß das Prinzip zunächst in seinem Prinzipsein betrachtet werden soll, wobei man aber bemerken muß, daß es eben ein Prinzip der eigenen Hingabe an das Gesetz des Soll und ausgerechnet das Daß dieses Sichhingebens ist. Damit stellt sich dieses Prinzip als Bild der ursprüngli-chen freien Sichbestimmung des Vermögens der absoluten Erscheinung, sich zu vollziehen oder nicht, heraus: es ist gerade das, was a priori das Was des Prinzips setzt. Denn das Ich kann nichts anderes als dessen Bild und in dieser Bildform sein.

Dies ist nun ein Bild des Vermögens, also allerdings ein durchaus a priorisches, so wie auch das Princip war. Dieses aber ist möglich nur einer faktischen Begrenzung gegenüber, einem a posteriori-schen. Nur sich anschauend, als frei in Beziehung auf eine gegebne momentane Anschauung; und ins unbedingte fort auf unendliche, nach demselben Grundsatze gebildete, schaut es sich an als Vermö-gen, an diesem objektiven allein wird jenes Bild gebrochen. Und so ist denn hier, durch Synthesis innerhalb des Sehens ein Bild der Unendlichkeit möglich geworden, das an sich durchaus unmög-lich war. Die concrete Unendlichkeit ist unsichtbar, und bildlos: Als unbedingte Reihe geschloßner Anschauungen aber wird sie

205 GA II 12, 275,22-24.

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

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sichtbar. Eben diese gediegnen Momente sind der Hintergrund, an welcher das Bild derselben sich bricht. – a a a in infinitum. – . Das Eine so alles geliefert durch die absolute a Sichtbarkeit der Erscheinung (276,11-25)

Dabei hat sich gezeigt, wie das Ich – als faktisches Prinzip des Sicher-scheinens der Erscheinung – in seiner Selbstschematisierung fünffach in seinen schematischen Grundstandpunkten α, β, γ, δ und ε sowie unendlich in der immerwährenden Möglichkeit der Setzung des absoluten Sehens a vorkommt. Beide schematischen Anschauungen ergeben sich dadurch, daß sich das Vermögen, nunmehr faktisch in einem tätigen, mächtigen Ich verkörpert, dem Gesetz des Soll unterwirft und nach der Erscheinung Gottes als solchem fragt. Wobei alles, was zu irgendeinem Bild, also einer Erscheinung führt, als Schema davon zu verstehen ist, daß Gott durch sich selbst zur Erscheinung kommt. Mit dem folgenden Satz kann Fichte die 33. Vorlesung beenden.

Satz: Das Princip erblikt sich nothwendig theils als mannigfaltiges (fünffaches) theils als unendliches Princip. Die Sichtbarkeit des Princips ist Princip der Disjunktion. Die Disjunktion ist keineswe-ges in der Sache, sondern nur im Sehen: und zwar nicht im reinen; denn dies ist Sehen des Einen Princips: sondern nur in der fakti-schen Bedingung dieses Sehens. des Principseyn selbst. (277,3-7)

6.2. Die Deduktion des Faktums der Wissenschaftslehre Das Ende der 33. Vorlesung ist offenbar ein Schritt in Richtung der Ablei-tung des Prinzips in seiner Wirkung. Dieses Prinzip ist nun notwendig das faktische Ich, das sich in seiner Sichanschauung als ins Unendliche sich weiter setzend und sich dabei fünffach spaltend sieht. Nun sollen alle Glieder, die sich in der Entwicklung der Wissenschaftslehre bis zu diesem Punkt zeigten, in ihrer faktischen Entstehung im Ich und für das Ich der Wissenschaftslehre überhaupt abgeleitet werden. Selbstverständlich kön-nen sie erst dann in einem schematischen Bild, d.h. ausdrücklich in der Form einer Projektion des Ich vorkommen, wenn sie im Ich in ihrer fakti-schen Bedingtheit noch einmal gefunden werden. Entsprechend beschäfti-gen sich die Vorlesungen 34 bis 37 damit, diese Schemata darzustellen

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

279

und zugleich eine Erklärung für die faktischen Bedingungen ihrer Aner-kennung anzubieten. Rückblickend wird die Möglichkeit des ganzen Ge-dankenwegs der Wissenschaftslehre bis zu der faktischen Notwendigkeit der ursprünglichen Voraussetzung, nämlich des Urschemas als Urerschei-nung Gottes und der Benennung ihrer faktischen Bedingungen der Mög-lichkeit in einem wirklichen Ich, abgeleitet. Darin besteht die letzte Bewe-gung der Wissenschaftslehre, der Rückschluß, mit dem sie zu ihrem Ende kommt. 6.2.1. Das Bild des Bildes der Erscheinung: das Schema 3 Zu Beginn der 34. Vorlesung bietet Fichte eine nähere Analyse des Prin-zips der Erscheinung und seiner Beziehung zur Unendlichkeit. Außerhalb der Erscheinung des Prinzips in einer faktischen unendlichen Reihe, in der das Ich sich immerfort in der Form des absoluten Sehens wiederfindet und setzt, soll das Prinzip wiederum in einem eigenen Bild erscheinen können – einem Bild vom Bilde der Erscheinung, das Fichte Schema 3 nennt. Um zur Anerkennung dieses Schemas zu gelangen, bemerkt Fich-te zunächst, daß das Vermögen, ohne in einen unendlichen Produktions-prozeß überzugehen, auch allein in sich ruhen könne, denn es könne sich vollziehen, sei dazu aber nicht gezwungen. Das Vermögen – so Fichte – »sieht sich auch als Princip eines nicht Hingebens an die Unendlich-keit.«206 Durch eine dichte dialektische Argumentation schließt Fichte zunächst aus, daß dieses Nichthingeben, das nun gesehen wird und dem-zufolge zu einem Objekt des Sehens wird, etwas Einfaches ist. Ansonsten gäbe es nur eine Entgegensetzung zwischen Unendlichkeit und Einheit und wäre, da es kein Sehen der Unendlichkeit gibt, das Sehen nur Sehen des Einen, wogegen die Erfahrung spricht.

Das Nichthingeben ist ein Objekt des Sehens; etwas an dem das Sehen sich bricht. Wäre es nur ein einfaches (gäbe es nur den Ge-gensatz Unendlichkeit, oder NichtUnendlichkeit, d.i. Einheit) so ginge in dieser Einheit das Sehen eben auf, und bräche sich nicht: das nicht Hingeben an den Fluß der Unendlichkeit muß drum selbst ein Mannigfaltiges seyn: indem das Princip sich an sich bricht an

206 GA II 12, 277,12f.

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

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einer Weise des nicht hingebens, müssen noch andere in ihm lie-gen, die dermalen nur möglich, nicht wirklich sind. (277,13-19)

Um aber ein Mannigfaltiges zu sein, das allerdings nicht unendlich ist, muß in ihm ein endliches Disjunktionsprinzip angelegt sein. Fichtes näch-ste Aufgabe ist folglich, dieses Prinzip zu suchen, das allerdings nur am Übergangspunkt von der absoluten Erscheinung, »der Erscheinung aus ihrem Seyn aus Gott«207 zu ihrem schematischen Zustand oder dem »Seyn«208 zu finden ist. Zwischen dem Erscheinen der Erscheinung als solcher und der Tatsache, daß die Erscheinung wegen ihrer Unendlichkeit nicht unmittelbar in ein Bild übergehen kann, besteht nun ein aufzuheben-der Widerspruch, der dadurch gelöst werden könnte, daß sich die Erschei-nung »in ein Princip« verwandelte.209 Daher kann Fichte schließen:

Ich habe gesagt, und erwiesen; es ist ein freies Princip, welches die Erscheinung bilden kann, und soll: und das, wenn es etwa sein Vermögen vollzieht, sie bilden wird, aber durch sein blosses Seyn ist es durchaus kein unmittelbares Bild von ihr. Das unmittelbare Bild hat sie nur in ihrem Vermögen, durchaus ohne alle faktische Realität: das Princip kann drum durch sein blosses Seyn nur etwa genannt werden Schema 3. Bild vom Bilde der Erscheinung: und ist von diesem Bilde durchaus geschieden. (278,11-17)

Die Deduktion der Schematisierung dieses Prinzips hängt also wieder damit zusammen, daß die Erscheinung als solche erscheinen soll; da die Erscheinung ein Prinzip des Bildens ist, muß in ihrem Bild ihr Prinzipsein selbst abgebildet werden. Andererseits wird das Principsein der Erschei-nung erst dadurch, daß es in diesem dritten Schema tatsächlich als Prinzip schematisiert wird, anerkannt.

[E]s ist ein Produkt des absoluten Soll eines Faktum überhaupt, sich richtend an die Erscheinung, und derselben gebend diese Form des Princips denn die Erscheinung selbst ist ja wohl dieses Princip. (278,19f.)

Dabei zeigt sich in der Form des Ich die Erscheinung selbst als Prinzip, wobei Fichte nun zunächst erklärt: »[D]ie Erscheinung ist wirklich, und in

207 GA II 12, 277,24. 208 GA II 12, 277,24. 209 GA II 12, 278,5.

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der That, und realiter Princip eines Bildens ihrer selbst: eines sich wie sie ist, Anschauens; zufolge des Erscheinens Gottes in ihr, welches ihr Gesez wird, sich anzuschauen«,210 und dann schließt: »Wir haben etwas sehr bedeutendes gewonnen. Ein Princip, d.i. die Erscheinung in der Form des Princips, das da schlechtweg ist, unabhängig von unserm Sehen, und dem denken unsrer W.L., ein wahres reales Objekt«.211 Das Schema 3 ist also die Hypostasierung des Prinzipseins der Erscheinung als faktisches Prin-zip seines Sichbildens, das als solches zum Objekt geworden ist. Mit der Entstehung eines Bildes der Erscheinung, das als Princip der faktischen Entstehung ihres eigenen Bildes anerkannt wird, ist der Übergangsschritt von der absoluten Erscheinung in die Faktizität oder von der idealen in die faktische Welt vollzogen.

A. geht auf im Soll, ist drum ein reines Vermögen, nicht mehr: ein bloß ideales Seyn: komt da durchaus zu keinem Faktum. Nun soll es schlechtweg zu einem Faktum kommen, und zwar, was allein Faktum ist, zu einem Bilde. Es soll, sage ich, nichts treibt es; kei-

nesweges: es soll nach dem absoluten Gesetze: Zu einem Bilde kann es nicht: aber zu einem Princip des Bildes: wie es nun ist. – . es ist das Mittelglied zwischen der faktischen, und idealen Welt; das Glied wodurch die leztre, absoluter Schöpfer wird. (279,4-10)

Die Entstehung dieses Bildes hängt nun damit zusammen, daß das Ich als Bild des Bildes der Erscheinung des Absoluten gesehen wird, wobei not-wendig auch ein Bild dieses Bildseins des Ich – wie man unten sehen kann – als ein viertes Schema entstehen wird, d.h. als ein weiteres Bild des Ich, das die faktische Bedingung der Möglichkeit dieser Anerkennung ist. Denn was bislang nur noch implizit galt, daß nämlich das Prinzip gerade mit dem Ich zusammenfällt, macht Fichte nun endlich explizit. Die abso-lute Erscheinung A kommt also dem Soll zufolge zum Ich als Prinzip des Bildes. Das Bild der absoluten Erscheinung kann aber kein faktisches Bild sein, sondern nur ein tätiges Prinzip des weiteren Sichbildens der Erschei-nung, das allein die Unendlichkeit der abgebildeten Erscheinung wieder-geben kann.

Resultat: die Erscheinung ist schlechthin Princip (richtig verstan-den) zufolge ihres Seyns aus Gott […]. Es wird sich bald finden,

210 GA II 12, 278,25-27. 211 GA II 12, 278,32-34.

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daß dieses Princip das bekannte Ich ist. Also die Erscheinung ist schlechtweg Ich zufolge ihres Seyns aus Gott. (279,11-14)

Nun bemerkt Fichte, daß das Ich tatsächlich erst in dieser Form und ver-möge dessen, was Fichte »soll eines Faktum«212 nennt, erscheint. Es ist ein Soll, das zu einem Faktum, zu einem faktisch wirkenden Prinzip führt. Selbst die Wirkung des Ich-Prinzips wird vom Soll herbeigeführt. Das Ich, das als Prinzip eines Bildes der absoluten Erscheinung zugleich ihr fakti-sches Abbild ist, muß auch tatsächlich zu einem faktischen Bild der Er-scheinung gelangen, indem es sich selbst abbildet. Es ist, wie Fichte sagt, ein »Princip des Faktum: auch selbst Faktum«.213 Da das Soll aber das Gesetz der Freiheit ist, muß dieses faktisch dem Soll unterworfene Ich frei sein: »dieses zweite soll richtet sich in ihm, dem Princip selbst, an eine in demselben immanente Freiheit, die sich vollziehen kann, oder auch nicht«.214 Man sieht sich dabei vor einer doppelten Kausalität des Soll, »theils [zur] Hervorbringung des Princip selbst, theils sich richtend an das schon seyende Princip in seinem seyn«,215 was zu einem faktischen Bild davon und dadurch zu einem faktischen Bild der absoluten Erscheinung selbst führt. Dabei muß die absolute Erscheinung freilich, um sich einem faktischen Soll zu unterwerfen, schon in die schematische Form eingetre-ten sein, denn »[e]rst unter dieser Bedingung würde sie von dem Gesetze ergriffen, und träte ein in die Form des Princips, würde ein wahres wirkli-ches reales Princip«.216 Fichte kann also schließen:

Also zuförderst: ob wir gleich gesagt haben, das Princip ist wirk-lich, und in der That, so ist es doch nicht unbedingtes, und rein ideales, sondern es ist bedingtes, und bloß faktisches Seyn, d.i. ein solches, das auch nicht seyn könnte, dagegen A. nicht nicht seyn kann. Es ist Produkt einer Wechselwirkung der absoluten Freiheit jenseit aller Fakticität, und des Gesetzes, in der Form, wie es auf diesen Fall eintritt. Es ist zugleich Faktum, das absolute, zugleich Grund aller andern Fakticität. (279,35-280,4)

212 GA II 12, 279,15. 213 GA II 12, 279,10. 214 GA II 12, 279,18-20. 215 GA II 12, 279,21f. 216 GA II 12, 279,32-34.

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Der faktischen Entstehung eines Bildes des Prinzips ist aber noch die Be-dingung vorauszuschicken, daß das Prinzip in seiner Sichanschauung tatsächlich als ein Objekt wahrzunehmen sei, denn der Eintritt in die schematische Form fällt mit dem Eintreten in die Sichtbarkeit zusammen. Eben dieses entstandene Objekt ist seinerseits aber nun genau das, was das unendliche Sehvermögen faktisch begrenzt. Fichte unterstreicht diese Wechselwirkung zwischen der faktisch objektiven Darstellung des Prin-zips und dem reinen Sehen folgendermaßen:

Das Sehen der Form nach d.i. der Eintritt der Erscheinung in A bedingt das Seyn des Princips […]. Wiederum das Seyn des Prin-cips bedingt das Sehen, als Faktum; denn nur dieses giebt ihm das begrenzende Objekt. Wir können drum sagen: wie gesehen wird, ist das Princip; aus dem absoluten Sehen folgt ein faktisches Seyn. und umgekehrt, wie das Princip ist wird es gesehen. Beide sind im absoluten Faktum vereinigt, und nur beide in dieser ihrer absoluten Vereinigung sind ein Faktum. (280,15-22)

Diesen Schluß charakterisiert er nun als Synthesis von Realismus und Idealismus, d.h. Idealrealismus oder Realidealismus:

Das absolute Sehen hat einen realen Gegenstand, und es ist nicht etwa blosser Schein, dergl[eichen] gar nicht möglich ist; ernster Realismus, nicht Nihilismus; wiederum das absolutfaktische Seyn, ist schlechthin sichtbar, – (nicht etwa ein erschautes Ding an sich): Idealismus. (280,22-25)

Schließlich wird dieses Bild des Prinzips in einem Ich, der Objektivierung des Prinzipseins im Schema 3, tatsächlich selbst als Schema und in einem besonderen Bild angeschaut und führt diese Anerkennung unmittelbar zur Entstehung eines weiteren Schemas, des Schemas 4, worin eben das Schematisierende am Prinzip vom Ergebnis seiner schematischen Selbst-betrachtung unterschieden und fixiert wird.

Das Verhältniß ist drum also; das Seyn ist schlechthin begleitet von einem Schema, und ist nicht ohne dieses Schema – . (Schema 4) Dieses Schema aber ist auch nur ein Schema, nicht etwa die Sache selbst. Das Seyn macht die lebendige Kraft Ursache zu werden eines Bildes. Diese liegt im Schema nicht selbst: das Schema ist durchaus und ganz leidender Reflex, sondern sie liegt im Seyn. (281,9-13)

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Mit der Ableitung des notwendigen Sich-zusammen-Ergebens des Seins des Prinzips in einem Schema 3 und dessen Bildes in einem Schema 4 schließt Fichte die 34. Vorlesung. 6.2.2. Reflexibilität und Reflexion: Schema 4 und Schema 5 In der 35. Vorlesung nimmt sich Fichte vor, sowohl die Anschauung des Schemas 3 als auch die Art und Weise, wie das unmittelbare Sichergeben dieses Schemas mit seiner folgenden Schematisierung in einem Schema 4 vorkommt, näher zu untersuchen. Der Form nach ist die Auffassung des Prinzips in einem Schema 3 ein faktisches Sehen, da ein Ich nur in der sichtbaren Welt begegnet. Was den Inhalt dieses Sehens angeht, ist dieser der Reflex der freien Vollziehung des Vermögens, sich zu schematisieren, der zu einem Schema 3, einem Bild des Bildes der absoluten Erscheinung führte. Oder auch, wie Fichte selbst sagt, »es ist ein blosses Sehen des Sehens; der Form des Sehens: des allgemeinen Sehens, objektive in ein Princip zusammengedrängt: und mehr nichts«.217 Nun bemerkt aber Fich-te, daß das Prinzip eben nur ein Prinzip des Sehens ist, und nicht als das Sehende selbst gilt, d.h. daß »das Sehende in ihm die Erscheinung selbst«218 ist und das Prinzip nur die Möglichkeit der Bestimmung der Erscheinung durch das faktische Gesetz anbietet. Das Prinzip drückt also die Selbstbestimmung der absolut sehenden Erscheinung zu einer Reflexi-on aus, wodurch nun das Schema 3 als Bild des Bildes der Erscheinung entsteht. Nach der Erklärung ihrer Form ist nun »der Inhalt der Anschau-ung zu entwikeln«:219

Durch das Bilden des Princip soll die Erscheinung sich erscheinen, wie sie an sich ist. […] Aber ich bitte doch zu bedenken; setzet, das Princip vollziehe seine Freiheit, so wird unmittelbar ein Sehen ent-stehen der Erscheinung wie sie ist: Dieses sehen wird wie alles Se-hen faktisch seyn, und so das Princip in demselben sich verbergen. Und so sieht denn wenigstens der Form nach die Erscheinung sich nicht wie sie ist: denn sie ist in diesem Falle Princip, und als sol-ches sieht sie sich nicht. (282,27-283,1)

217 GA II 12, 282,3-6. 218 GA II 12, 282,8. 219 GA II 12, 282,24.

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Das Problem besteht darin, im faktischen Sehen ein Bild der absoluten Erscheinung, wie sie an sich ist, anschauen zu können, während ihr Prin-zipsein – und daher das Prinzipsein ihres Bildes – im Schema 3 zu er-scheinen hat. Demnach

soll die Erscheinung ganz dargestellt werden: das ermangelnde müste sonach etwa durch einen neuen FreiheitsAkt hinzugefügt werden: aber auch in diesem würde das Princip verschwinden; und die erste Anschauung verschwinden; und so käme es zwar in dis-creten, und ausser einander liegenden Theilen zum Bilde des Gan-zen: aber nicht zur Einheit des Bildes. (283,6-10)

Dazu bedarf es eines Freiheitsakts im Sehen, der dem Schema 3 sein Prin-zipsein sichtbar macht, um in ihm das Bild der absoluten Erscheinung als solche erscheinen zu lassen. Damit es sich als Prinzip in einem Bild wahr-nehmen bzw. anschauen kann, muß vom Prinzip eine Reflexion vollzogen werden. Denn, wie Fichte sagt:

Eine SichAnschauung des Princips einer gegebnen Anschauung als solcher, heißt Reflexion. Also – das P[rincip] ist schlechtweg, zu-folge des faktischen Soll, nicht bloß, wie wir es erst genommen ha-ben, Princip einer Anschauung der Erscheinung: sondern zugleich Princip, das da kann, und soll sich selbst reflektiren in solchen An-schauungen. (283,15-19)

Dabei findet sich aber im Prinzip, sobald es wirkt, eine Disjunktion, die Fichte im ersten von drei Punkten beschreibt, in denen er das Sichtbar-werden des Prinzips erklärt. Eine Disjunktion muß nämlich entstehen, denn das Prinzip,

a). […] indem es Princip ist, sieht es sich nicht […]; und indem es sich als Princip sieht, sieht es nicht unmittelbar, ist es nicht schaf-fend das Sehen: also die beiden FreiheitsAkte fallen nothwendig aus einander. (283,28-31)

Durch die Einheit des Prinzips ergibt sich eine auseinanderfallende Zwei-heit der beiden Tätigkeiten, die das Ich-Prinzip ermöglicht, nämlich ent-weder zu sehen oder zu reflektieren. Beide Akte sind aber wiederum in ein und demselben Prinzip verwurzelt, so daß, wo es gesehen wird, auf diese Tätigkeit auch reflektiert werden kann und umgekehrt, wenn auf sie re-flektiert wird, es zu einem Bild als Ergebnis der Reflexion kommt. Die

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

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Reflexion führt nämlich zu einem schematischen Produkt, das gleich an-geschaut wird. Entsprechend kann Fichte erläutern, wie sich das Prinzip in seiner Sichanschauung als Ich erscheint:

b.). Das Princip erscheint in der Reflexion offenbar nicht unmittel-bar, sondern in einem Schema: Schema 4. […] c.) Das Princip erblikt in der Reflexion sich als solches: dasselbe, was da sieht, in der Reflexion, sich, ist zugleich in dem ersten Se-hen das Sehende: es bricht sich eben an sich selbst, als Subjekte des Sehens: es ist drum Ich. (284,4-9)

Die allzu idealistische Färbung dieser letzten zusammenfassenden Formu-lierung, derzufolge das Prinzip selbst das Ich sei, wird aber gleich korri-giert: »Im Princip liegt nicht das Ich: sondern nur das Vermögen einer Anschauung Ich.«220 Das Prinzip ist also vor der Reflexion kein Ich, son-dern es bestimmt sich zum Ich erst durch die Reflexion, die wiederum zur Anerkennung der Reflexibilität am Prinzipsein selbst in einem Schema 4 führt. Dabei schaut sich das Prinzip als Subjekt des Sehens dieses Sche-mas 4 in einem Schema 5 an, das sich nun mittels der Reflexibilität als ein Ich betrachtet. Das Prinzip, so kann man folgern, ist also an sich kein Ich, wird aber zum Ich durch seine freie, dem Gesetz des Soll folgende Voll-ziehung. Denn das Prinzip soll in sich die absolute Erscheinung, wie sie tatsächlich ist, d.h. sich nicht nur als Erscheinung, sondern auch selbst als Prinzip des Sicherscheinens, darstellen und muß dafür zunächst die Refle-xibilität ans Licht bringen. Die Schematisierung der Reflexibilität des Prinzips gilt also einerseits als Bild der ursprünglichen Reflexibilität in der Erscheinung selbst (daher ergibt sich ein Schema 4), andererseits aber führt die Vollziehung der Reflexion, die von der Reflexibilität ermöglicht wird und deren Sehen sich an dieser Reflexibilität selbst bricht, zu einer Sichanschauung des Prinzips als solchem in einem fünften Schema und in der Form des Ich.

Die Reflexibilität ist nicht unmittelbar das Princip selbst, sondern nur sein Schema: und wird, falls sie angeschaut wird, angeschaut, als sein Schema. Das Princip ist Schema 3. Dasselbe in der Refle-xibilität, oder die Reflexibilität desselben wäre drum Schema 4. – . Die Anschauung des Princips, welche unter andern […] die Refle-xibilität anschaut, kann dieselbe nicht anders anschauen, als wie sie

220 GA II 12, 284,13.

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ist: aber sie ist Reflexibilität desselben, Anschauung desselben nur im Schema: sie muß drum das UrPrincip hinter sie, und in ihr sche-matisirt anschauen […]. Kurz: in dieser Anschauung wird durch die Form der Reflexibilität hindurch, und durch dasselbe bestimmt, das Princip und alles andre gesehen: dies ist der Exponent, und der erste Faktor des ganzen Gesichts. Die Reflexibilität war Schema IV. Die Anschauung ist offenbar wieder ihr Schema. also Schema V. (284,32-285,11)

Es sei eine Bemerkung zur Wahl des Wortes Reflexibilität statt Reflexivi-tät ergänzt, da zwischen beiden Termini ein wichtiger Unterschied besteht. Wenn nämlich Reflexivität nur die Möglichkeit zu reflektieren bedeutet, bezeichnet das Wort Reflexibilität die logische Stufe davor, und zwar die Bedingung der Möglichkeit der Reflexion. Nun gilt das Schema 3, inso-weit es das Prinzip der Bestimmung der Erscheinung ist, ein Schema der Reflexibilität darzustellen (Schema 4), zur Anerkennung des Vollzugs der Reflexion. Diese führte ihrerseits zum Schema 4 in einer Anschauung ihres Ergebnisses (Schema 5), das nun mit der faktischen Anschauung des Prinzips der Reflexion, d.h. eines faktischen Ich zusammenfällt. 6.2.3. Der Inhalt der Reflexibilität des Prinzips Die 36. Vorlesung eröffnet Fichte mit der Darstellung der Grundaufgabe: »Was liegt in der Reflexibilität des Princips«?221 Da innerhalb der Refle-xibilität das Prinzip gesehen wird, entsteht in der Reflexibilität und ver-möge der Reflexion ein Mannigfaltiges als Ergebnis der Beschränkung der Unendlichkeit, die den Grund des Sehens überhaupt darstellt. Nun ist eine Mannigfaltigkeit selbst aufgrund der Reflexibilität im Prinzip anzuerken-nen und entsteht im Prinzip eine Einzelheit, welche die Eigenschaft des Prinzips als solche ausdrückt und ihr eine Mannigfaltigkeit gegenüber-stellt. Anders gesagt ist die Reflexibilität die Bedingung der Möglichkeit der Entgegensetzung von Ich und Nicht-Ich. Fichte erklärt demzufolge:

Das Princip bliebe eben nicht mehr Eins, wie es unsrer Einsicht nach war, sondern ein unbedingt mannigfaltiges: und nur ein Theil davon wäre das unmittelbar angeschaute Princip: dagegen das übri-ge ebenso Princip bliebe, nur nicht unmittelbar, sondern durch das

221 GA II 12, 285,19.

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erste hindurch, und von ihm angeschaute Princip. Individuum, durch die Beschränkung innerhalb der Anschauung des Princips. –Form der Reflexion. Ich: so auch der Reflexibilität: IchPrincip: da-gegen alles andere Nicht=Ich. (285,32-286,3)

Damit hat man den gewöhnlichen individuellen Standpunkt erfaßt und von der Reflexibilität als Schema der absoluten Erscheinung abgeleitet:

Das Princip wird gesehen, als erfüllend und zusammensetzend das mannigfaltige mit absoluter Freiheit der Reihenfolge.. Durch die Beschränkung müste diese Freiheit beschränkt werden. So ists: in absolut ursprünglicher Auffassung faßt jedes Individuum das mannigfaltige in der Grundanschauung des Raumes auf nach seinem Standpunkte im Raume: ausgehend von dem ihm nächsten, u.s.f. Jeder andere würde dasselbe aufgefaßt haben, nur in einer an-dern Reihe. In der Reihenfolge drükt sich sonach ab die Be-schränktheit des Individuum. (286,4-11)

Die Freiheit des Prinzips innerhalb der Reflexibilität, auf sich selbst zu reflektieren, ist der Grund für die Grundspaltung in ein Ich und ein ihm entgegengesetztes Nicht-Ich. Es ist unmittelbar einsichtig, daß beide in ein und demselben Prinzip verwurzelt sind, daß aber das Nicht-Ich vom Ich notwendig als ihm entgegengesetzt gesehen wird, denn das Ich entsteht erst nach einer faktischen Reflexion als Bild des Prinzips im 5. Schema. Auf der Ebene der individuellen Auffassungen des Prinzips, kraft einer ebenso individuell geleisteten Reflexion, ergibt sich nun eine Mehrheit von Standpunkten, die darin besteht, die Reihen der Zusammensetzung des mannigfaltigen Nicht-Ich anders gestalten zu können.

Wie er sich frei macht durch Reproduktion von jener ursprüngli-chen Auffassung, so gewinnt er freilich wieder die allgemeine Frei-heit; aber er hat doch so aufgefaßt, und dies eben führt ihn auf sei-ne individuelle Beschränkung […]. Andere anders; jede mögliche Reihe faktisch einen anderen Standpunkt des allgemeinen Auffas-

sungsvermögens oder Princips: was nun freilich allemal seinen be-sondren Standpunkt haben muß, also in einer Individuenwelt, durch dieses Gesez der Reflexibilität auf faktisch gegebne Reihen-folge zerfällt. (286,11-19)

Die Reflexion, die zum Schema 5 führt und sich in diesem Bild des Prin-zips erschöpft, ist also das, was tatsächlich die Existenz einer Mehrheit von Individuen erlaubt. Die Reflexibilität ist demzufolge die Bedingung

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

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der Möglichkeit der Mannigfaltigkeit der Welt, d.h. ihrer mannigfaltigen Ansichten. Fichte faßt also im Schema 5 das Prinzip der Anschauung überhaupt auf. Der nächste Schritt ist die Erklärung, auf welche Art und Weise die Reflexibilität, die bis jetzt als Bedingung der Möglichkeit der Entstehung des Ich gesehen wurde, tatsächlich aufgefaßt werden kann und wie ein empirisches Ich innerhalb dieser Reflexibilität tatsächlich gesehen wird. Zur Beantwortung dieser beiden Fragen argumentiert Fichte:

1.) Das absolut faktische Sehen reflektirt nothwendig sich selbst, um die Reflexibilität zu bilden. Nachdem wir nun dies wissen, kön-nen wir, statt zu sagen; wie wird das Princip überhaupt gesehen, gleich damit anfangen: wie wird das Individuum Ich gesehen. […] 2.). [Es ist] Bekannt: zuförderst als seyend: Stoff: ein weiterhin un-begreifliches, das da eben ist, wie es ist, und damit gut: sodann als sehend, eben die materielle qualitative Welt: sodann als freies Ver-mögen in diesem Sehen; ein theilen, anders zusammensetzen; kurz als Vermögen der Reproduktion. Dies ist nun leicht, und bekannt.. (287,25-34)

Das Ich wird also tatsächlich als individuelles Prinzip gesehen, das aus Stoff und Vermögen besteht. Als Stoff gilt es, weil wegen der Reflexion ein Ich tatsächlich als solches gesehen wird, das sich erst vermöge des Sichanhaltens des unendlichen Sehvermögens ergibt, was wiederum zur Entstehung des Stoffes im allgemeinen führt. Als Vermögen gilt es hinge-gen, weil die Entstehung des Ich unmittelbar mit dem Sehen eines ihm entgegengesetzten Nicht-Ich zusammenfällt, das übrigens vom Ich frei geteilt und zusammengesetzt wird. Durch dieses Vermögen wird die mate-rielle Welt aufgefaßt. Nun kündigt Fichte an, sich im folgenden mit der Möglichkeit des Ich zu befassen, ein absolutes Sehen zu erreichen. Denn jetzt sei von In-teresse, wie das Ich überhaupt jene ursprüngliche Voraussetzung, die am Beginn der Wissenschaftslehre faktisch getroffen wurde, namentlich das Setzen von A, formulieren und damit diesen Begriff A in einem Bild auf-fassen könne. Das vermag das Ich zu tun, indem es sich als »schlechtweg durch sich«222 versteht.

Das Princip ist reales Princip, eines absoluten Sehens: Schöpfer eines solchen des Bildes von A. Dies ists nun drum nicht wirklich:

222 GA II 12, 288,13.

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sondern nur als Princip: aber es wird eben gesehen als Princip: es muß drum als solches gesehen werden, im Schema, und in dem hier stattfindenden Schema: – . aber das hier stattfindende Sehen ist ein durchaus an einem Objekte gebrochenes Sehen, und es giebt in dieser Region kein anderes. (287,36-288,5)

Der Unterschied zur vorherigen Auffassung des Ich in seiner unmittelba-ren Sichanschauung besteht nun darin, daß vorher das Ich nur in seiner eigenen Selbstanschauung angeschaut wurde, ohne aber einen Begriff davon und ohne letztendlich ein Bild zu erhalten. Jetzt wird dagegen das Ich als Prinzip des Sehens in einem Bild betrachtet, wodurch es ein Dasein erhält und zur Substanz wird; dabei wird das Sehen ausdrücklich dieser Substanz als ein Akzidens zugeschrieben. Wir befinden uns jetzt, wie Fichte ausdrücklich sagt, in einer Region, in der alles nur in der Form des gesehenen Objekts vorkommen kann. Im Fall des A handelt es sich gerade um ein Bild des absoluten Prinzips oder um ein Bild Gottes, das nun als das Prinzip des Sehens überhaupt, als Licht, verstanden wird und sich vermöge des tätigen Ichprinzips ausbreitet. Die Welt entsteht nun in der Form der Bilder von diesem Prinzip selbst samt ihrer Sichtbarkeit. Das Ich wird demzufolge zu einem Objekt in einer Welt von Ob-jekten, mit der ihm eigenen Eigenschaft, die Objektivität dieser Welt selb-ständig und frei gestalten zu können.

Das Princip wird in diesem Zusammenhange des Schematismus gebildet als Princip eines Sehens heißt darum: es wird gebildet als Princip eines sichtbaren, und schlechthin, wie nur gesehen wird, zu ersehenden Objekts: als Princip des hineinbringens eines neuen in die objektive Welt eines allgemeinen Sehens. Nicht unmittelbar, wie etwa oben, sondern nur mittelbar, durch Hervorbringung eines Objekts, kann es hier als Princip des Sehens erscheinen, weil es hier ein unmittelbares Sehen überhaupt nicht giebt. – reale prakti-

sche Thätigkeit. (288,5-12)

Wie verwirklicht sich nun diese Tätigkeit und was bringt sie eigentlich zustande, anders gefragt: »Worin kann nun das hervorgebrachte Objekt bestehen?«223 Zunächst erklärt Fichte, daß der Begriff, der die Entstehung dieses Bildes verursacht, nur ein Zweckbegriff sein kann. Dieser könne aber nicht die Entstehung der qualitativen Welt bewirken, weil es sich

223 GA II 12, 288,18.

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dabei um ein Um-Ordnen handele und eben in der Herstellung dieser Ord-nung und in nichts anderem die praktische Tätigkeit bestehe. Nun hat die praktische Tätigkeit nur eine subjektive Gültigkeit, derzufolge die Ord-nung, die vermöge ihres Zusammenstellens entsteht, zwar eine objektive, jedoch nur individuelle Gültigkeit hat. Denn diese Gültigkeit hängt davon ab, daß ein Zweckbegriff tatsächlich formuliert wird und als Anleitung für die praktische Tätigkeit bei der Entstehung einer gewissen Ordnung der angeschauten Welt wirkt. Diese Tätigkeit wirkt nicht nur auf die objektive Welt, sondern auch rückwirkend auf das Subjekt. Demzufolge ist die dar-aus entstandene Anschauung in Hinblick auf ihre Reihenfolge notwendig individuell und daher auch zeitlich begrenzt. Fichte erklärt:

Daß dieses [Ordnen] dennoch binde, die individuelle Anschauung, ist klar, weil jedes seine bestimmte Reihe hat, und wenn die ob-jekt[ive] Reihenfolge ihm verändert wird, wird ihm eben auch die subjektive verändert. Die Welt der Qualität ist unveränderlich; die der Reihenfolge modifikabel. vestigia hominum. (288,25-28)

Nun warnt Fichte nur noch davor, dieses Bild falsch zu interpretieren, denn: »An sich ist ja durchaus kein Funke von Wahrheit in diesem Bilde. Das Seyn ist in Gott. Die Erscheinung ist durch und durch Bild: zuförderst Gottes, sodann ein Bild Gottes als solchen zu seyn ihrer selbst«.224 6.2.4. Die Welt der vielen Ichs und die Natur Die Anschauung des Ich, so Fichte weiter, fällt in der oben dargestellten Argumentation mit der Anschauung des Prinzips zusammen. Dies trifft aber nur zum Teil zu, denn es bleibt die Reflexion unberücksichtigt, die zur Entstehung dieser Selbstanschauung führt. Schon bei der Einführung des Schemas 5 wurde betont, daß dieses das Ich in der Form der Anschau-ung der Reflexibilität darstellt. Jetzt muß es als solches gesehen und dabei die Reflexion und ihr Produkt unterschieden werden.

Das Ich ist ja die Reflexibilität, und die Anschauung des wirklichen Ich muß drum erscheinen, als Produkt einer Reflexion […] Der Re-

224 GA II 12, 288,30-33.

Das Erscheinen der Erscheinung als solcher

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flexion aber steht gegenüber eine Intuition. Beides muß erscheinen in diesem Verhältnisse. und als disjungirt: – . (289,5-9)

Zunächst stellt sich also die Frage nach der Intuition und dabei wird nicht die Einheit eines Ich betrachtet, sondern die Vermannigfaltigung des Prin-zips nach dem Gesetz des Ich. Das Ich ordnet also auch das Prinzip in einer Anschauungsreihe, die zugleich mit der Entstehung einer Welt von vielen Ichs zusammenfällt.

Was ist nun diese Intuition: offenbar die Anschauung des Princips selbst, aber nach dem Gesetze des Ich; also als eine Welt von Ichen: als sehend, eben die Welt, und sich brechend an ihr, und diese wieder ihre Grundlage, schlechthin zusammen. (289,9-12)

Eine Welt vieler Ichs deutet aber nicht nur eine Mehrheit von unterschied-lichen Individuen, sondern auch die mannigfaltigen Anschauungen an, die jedes einzelne Ich in seinem praktischen Handeln und Wissen von sich selbst hat. Das Ich nimmt sich eben tatsächlich nicht nur als einzeln – anhand der Hypostasierung der transzendentalen Apperzeption –, sondern auch als mannigfaltig – aufgrund der unterschiedlichen Auffassungen der von ihm zusammengesetzten Ordnungsreihen – wahr. Eben darin, daß jedes einzelne Ich– der mannigfaltigen von ihm wahrgenommenen und eingeordneten Anschauungsreihen zufolge – in sich selbst eine ganze Welt unterschiedlicher Ichs einschließt, besteht die Bedingung der Möglichkeit der faktischen Anerkennung von anderen individuellen Ichs. Und da die Quelle der festen Aneinanderreihung von Anschauungen wiederum in der Annahme unterschiedlicher Zwecke liegt, zeigt sich in der Selbstwahr-nehmung des Ich als eines mannigfaltigen einerseits seine Freiheit, sich unterschiedliche Zwecke vorzuschreiben, andererseits der Grund, warum jedes Individuum dieselbe Freiheit auch jedem anderen individuellen Ich zuschreiben kann. Allein also in der eigenen internen dialektischen Kom-plexität, in der das Ich sich in seiner Selbstanschauung zugleich als Ein-zelnes und als Mannigfaltiges bestimmt, zeigt sich eine Struktur, die durch Projektion die Interpersonalität begründet. So sei die folgende Erklärung Fichtes verstanden:

Der Anfang der Reihe ist es selbst: das nicht mehr nur durch an-

dere sichtbare und bestimmte Ich: sondern das unmittelbare, wo-von das Sehen der andern ausgeht: ** dies ist eben eines jeden sein Ich. – /. In dieser Intuition ist das Ich, als Subjekt des Sehens ver-

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schmolzen: und geht auf im Sehen, demselben das Gesez der Folge der Auffassung gebend. Wird nun die Reflexibilität als Reflexion erscheinen, so wird es erscheinen als in sich selbst, und das Gesez der Intuition zurükgehend, und es wird sich sehen: und nun erst alles sehen können, was wir vorher sagten. Durch sich, und seine Freiheit hindurch: – . dasselbe alles nun schreibt es in der Intuition den andern zu. Aeussere Anschauung. innere Anschauung. δ – ε. (289,14-22)

Einen weiteren interessanten Schritt unternimmt Fichte, indem er am Ende dieser Vorlesung den Naturtrieb und den daraus folgenden Begriff von Natur einführt. Der Anstoß, diese Begriffe aufzustellen, wird vom Sehen gegeben, das nun als Gesetz des Prinzips betrachtet wird, »sich so oder so« zu bestimmen.225 Das Sehen gilt demzufolge als Gesetz der Disjunkti-on innerhalb der Reflexibilität, weil dadurch das Ich anders und wieder anders bestimmt wird und dann die unterschiedlichen Blicke, die wieder-um unterschiedliche Ichzustände bestimmen, einander ausschließen. Fich-te warnt aber erneut vor der Täuschung dieser Darstellung der Sache, da es sich dabei nur um Bilder, und zwar um das Bild des Ich und um dasjenige der Reflexion, handelt, während vom Prinzip nichts Wirkliches erzeugt wird.

Nur Bilder solches Handelns solchen innren und äusserlichen Wan-delns sind da: zu folge des faktischen Gesetzes der Sichtbarkeit überhaupt eines Faktum überhaupt, d.i. der blossen Form des Fak-tum, die kein wahres Faktum ist. (289,32-290,2)

Anschließend fügt Fichte aber noch hinzu: »In einer gewissen andern Verwendung erscheint auch dieses Gesez: als Naturtrieb«226 Als Natur-trieb erscheint es, wenn die Gesetze der Entstehung von sichtbaren For-men als solche unabhängig vom Sehen hypostasiert und der Natur in Form eines Bildungstriebs, wie z.B. des Blumenbachschen nisus formativus zugeschrieben werden. Es gibt eigentlich keine Natur als solche, die sich in absoluter Selbständigkeit weiter reproduziert und außerhalb der Gesetze der Sichtbarkeit weiterbildet und damit ihre vielen Gestalten generiert. Die kantsche Intuition, daß die Natur nur dank einer immanenten Finalität zu betrachten sei, wobei diese Finalität allein einem reflektierenden und kei-

225 GA II 12, 289,25. 226 GA II 12, 290,2f.

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neswegs einem determinierenden Urteil zuzuschreiben sei, übernimmt Fichte in seinem Begriff der faktischen Form des Soll. Wenn also die Natur durch dieses praktische Gesetz entsteht, wird sie tatsächlich im absoluten Sein selbst begründet, denn die Autonomie des Gesetzes des Soll stellt die absolute Freiheit Gottes in einem Bild dar. Dies geschieht aber allein in einer bildlichen Form, die als solche, nicht aber an sich selb-ständig ist:

Was ist nun die Natur. Das Soll des Faktum. Wo wird sie Trieb: in A.; warum, weil A eine nicht in einem Schlage zu erfüllende, theils zweifache, theils unendliche Aufgabe hat. Also A steht ganz und gar und unbedingt unter dem Naturtriebe: und in ihm ist nicht Ich, nicht Freiheit, nichts dem ähnliches. Die Natur an sich ist gar nicht faktisch, sondern sie ist bloß das schlechthin Eine zeitlose Princip

der Fakten. Was aber sind ihre Principiate, die Fakten; Bilder, in-wiefern sie faktisch sind durchaus leere Bilder, ohne allen Gehalt. Nur das nicht faktische in ihnen, und das durchaus in ihnen nicht erscheinende, um dessen Willen sie da sind, die Möglichkeit der Realität, i s t . (290,3-12)

Dennoch kann die Natur als ein Prinzip gesehen werden, nicht aber als Grund für ihre vielfältigen faktischen Gestalten, die als reine Bilder erst im Sein begründet werden können. Offenbar wirkt an der faktischen Dar-stellung des bildlichen Faktums der Natur auch ein Ich mit, das sich aber selbst in der Sichtbarkeit und dem Gesetz seines faktischen Sehens und Wissens folgend, die wiederum nicht von ihm selbst hergestellt sind, in einer wechselseitigen Beziehung zur Welt auch als natürliche Welt befin-det. Das Ich selbst bewirkt also ebenfalls die Entstehung der Bilder, aus denen die Natur besteht, was aber keineswegs dazu führt, ihnen auch ir-gend einen Gehalt zu schaffen. 6.2.5. Sittlichkeit und Genie Wenn Fichte in der 36. Vorlesung Form und Inhalt der Anschauung des Prinzips als solchem dadurch unterschieden hat, daß seine weiteren Be-stimmungen in zwei von ihm abhängigen Schemata, der Reflexibilität und dem Ergebnis des Vollzugs der Reflexion, anerkannt werden können, meint er in der 37. Vorlesung, noch einen Schritt weitergehen zu müssen, der von der folgenden Frage eingeleitet wird: »Setzet das Princip vollziehe

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seine Freiheit, ein Bild der Erscheinung zu seyn, wie sie an sich ist, was wird erfolgen?«227 Die Antwort auf diese Frage leitet er mit einer knappen Zusammenfassung der ganzen Bewegung der Wissenschaftslehre ein:

Die W.L. ist ausgegangen von der Voraussetzung einer Erschei-

nung Gottes, und aus dieser Voraussetzung haben wir bisher gefol-gert. Nun hat die W.L. doch wohl selbst gesehen, hingedacht ein Objekt: also dieses ihr Sehen hat an sich selbst sich gebrochen, und ein Schema seiner selbst hingestellt: eben die Erscheinung. Diese ist also in dieser Form gar nichts wahres, und wirkl[iches] sondern eben ein bisher sich nur verbergender Schematismus. (290,19-24)

Die Urerscheinung ist also als ein absolutes Sehen zu verstehen, das ver-möge einer freien, vom Prinzip geleiteten Reflexion, durch welche diese Erscheinung ihr Vermögen, sich zu schematisieren, vollzieht, schließlich zum faktischen Sehen der realen Welt wird. Fichte erklärt:

Durch die Freiheit erscheint die Erscheinung wie sie ist: sie ist rei-

nes absolutes Sehen, ohne alle Gebrochenheit, also Bild Gottes. Durch die Vollziehung der Freiheit müste drum dieses reine Sehen

faktisch und wirklich werden. Eine, gegen das bisher beschriebne Sehen, das sich bricht an sich, als gediegnem und stoffmäßigem Princip, durchaus neue Lichtwelt. Dies wäre das eigentliche mate-riale [Prinzip] der Anschauung: reines Sehen, Bild Gottes. (290,33-291,4)

Hier ist der Unterschied in der Art und Weise, wie die Erscheinung allein durch ihre Freiheit erscheint – nämlich als absolutes Sehen – und wie sie dagegen durch die Vollziehung ihrer Freiheit erscheint – nämlich als fakti-sches, wirkliches Sehen –, deutlich zu bemerken. Die Vollziehung der Freiheit ist dabei nicht der Erscheinung an sich zuzuschreiben, sondern einem faktischen Prinzip. Dieses faktische Prinzip unterwirft das Vermö-gen, sich frei zu schematisieren und sich dadurch weiterzubestimmen oder auch nicht, einem Gesetz. Das Gesetz ist nun bekanntlich das Gesetz des Soll als einziges Freiheitsgesetz. Um seine Freiheit zu vollziehen, muß sich also das Prinzip wiederum ausdrücklich dem Gesetz des Soll unter-werfen. Durch die Annahme des Gesetzes des Soll, so Fichte im obigen

227 GA II 12, 290,15-17.

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Zitat, wird es zum Bild Gottes und kann sich als solches, d.h. eben als »das eigentliche materiale [Prinzip] der Anschauung« wahrnehmen. Nun wäre aber die reine Annahme des Gesetzes des Soll und der Versuch, das Soll als solches erscheinen zu lassen, wegen der Unendlich-keit des absoluten Soll eine unendliche Aufgabe, die in keinem wirklichen Bild zu erfüllen wäre und demnach zu keinem realen Sehen führen könnte. Das absolute Soll muß also, damit es auf die Entstehung eines wirklichen Sehens hinwirken kann, zu einem endlichen Soll, »zu einem Was des soll werden«.228 Das absolute Gesetz der Reflexibilität und der Finalität muß demnach zum Prinzip der Reflexion und des Zweckbegriffs werden. Dazu ist aber das Soll vermöge des Prinzips am Können zu messen, was wie-derum eine Beschränkung des Könnens des Vermögens durch ein Gesetz bedeutet. So nämlich Fichte:

Ein bestimmtes, und endliches Soll könnte es drum werden nur in der Vereinigung mit dem vorhandenen Sehen: welches bekannter-massen das Sehen eines Könnens ist. In der Synthesis mit diesem müste es Gesez werden für dieses. (291,10-13)

Dieses Gesetz ist aber nach Fichte nicht ein willkürlich formuliertes Ge-setz, ein vom Ich »gedachtes Gesez«,229 sondern es ist ein dem nun fak-tisch gewordenen Sehen immanentes Gesetz, »ein Gesez im unmittelbaren Sehen, und durch das unmittelbare Sehen selbst«.230 Dadurch entsteht ein dem Ich immanentes göttliches Auge, dem nun alles, was in ihm in Form eines Bildes vorkommt, nicht mehr als eine mögliche Auffassung des Ich selbst und von seiner Freiheit abhängend, sondern als Ausdruck eines höheren Gesetzes erscheint. Das Gesehene ist demzufolge nichts anderes als das, was es sein soll, und es kann nur als Ausdruck dieses Sollens er-scheinen:

Durch die Befreiung des Princips ist der ganze Zustand des Sehens anders geworden, ein anderer Lichtpunkt, und Auge eingetreten, statt des Sehens des Ich, das reine göttl[iche] Sehen. Das wird jezt Exponent und Faktor des ganzen Sehens: ihm das Gesez gebend: und so wird denn, was vorher, durch die Freiheit des Ich hindurch,

228 GA II 12, 291,7f. 229 GA II 12, 291,13. 230 GA II 12, 291,14f.

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als Können erblikt wurde, durch das Gesez hindurch erblikt, als das, was seyn soll. (291,15-20)

Die faktisch gesehene Welt wird dadurch zur Verwirklichung einer gewis-sen Möglichkeit innerhalb der Sphäre des Könnens, nämlich dessen, was es sein soll. Jetzt begegnet aber das Ich noch einmal als jenes individuelle Prinzip, das tatsächlich die Synthesis zwischen dem Soll und dem Kann leistet: »Ich soll: spricht das freigewordene Princip«.231 Fichte setzt diesen Gedanken wie folgt fort:

Ich bin unendliches Princip des Könnens; aber schlechthin alles Können drükt aus das Sollen und ist bloß der Stoff seiner Sicht-barkeit; alles können kann drum ins unendliche fort angesehen werden durch das reine Sehen hindurch, und so wird es zum Sollen. Nur in dieser Ansicht erhält das soll eine realisirte Unendlichkeit. (291,30-33)

Durch die faktische Anschauung und vor allem durch seine Sichanschau-ung in der Form des Ich wird also das Prinzip tatsächlich zum Prinzip eines faktischen Soll, das nun das göttliche, unendliche Gesetz des Soll in ein unendliches Bilden und dabei in ein entsprechendes Bild Gottes ver-wandelt:

Es ist also durch sein Seyn hinbildend das göttliche in das sinnli-che: und dies ins unendliche; sein Seyn, als ein unendliches Fort-bilden, ist drum in dieser Synthesis wirklich Bild, Schema: des Bil-des Gottes, und im Sehen. (292,4-292,6)

Dabei wird das gewöhnliche Verständnis der Welt umgekehrt. Die Sitt-lichkeit geht gerade nicht aus der Faktizität als einer besonderen Art, sich mit der Welt auseinanderzusetzen, hervor, und die Welt ist kein Feld zur Anwendung der Sittlichkeit, aber auch nicht von dieser unabhängig. Ganz im Gegenteil besteht das Dasein einer Welt nur in der Erscheinung der Sittlichkeit, die wiederum der ideelle Gesichtkreis jedes möglichen fakti-schen Soll ist, welches das Können zum faktischen Sehen führt:

Das faktische soll, ist bloß, damit das reine Soll erscheine: Das reine soll aber ist bestimmt durch sich: es ist der wirkl[iche]. […]

231 GA II 12, 291,27.

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Es ist eine solche Sinnenwelt, und eine solche Gemeine vernünfti-ger Iche, weil ein solches Soll erscheinen und realisirt werden soll. Nicht die sinnl[iche] Weltordnung schaft die sittliche, sondern um-gekehrt: Das faktische Urbild Gottes ist die Sittlichkeit: – und die Sinnenwelt ist bloß der durch seine eignen aufgezeigten Gesetze bestimmte Widerschein derselben. (292,8-22)

Nun soll das Ich-Prinzip nicht nur das absolute Sehen und hier die Darstel-lung des Bildes Gottes ermöglichen, sondern in ihr auch das Bild Gottes ausdrücklich als solches anerkennen. Das ist aber eben, was in der Wis-senschaftslehre geleistet wird. Es wird also nun von Fichte die faktische Bedingung der Möglichkeit der Wissenschaftslehre selbst dargestellt:

Wie das absolute Sehen selbst erscheint, ist es nicht unmittelbar, sondern es ist nur in seinem Schema; sein unmittelbares Seyn aber und der Grund und Träger desselben ist das göttl[iche] Seyn: dieses verschwindet, und es bleibt in seiner leeren Form. […] Gerade das Denken der W.L. das wir oben in seiner Fakticität fanden, hier der Möglichkeit nach: wenigstens dasjenige Denken, was der W.L. zu Grunde liegt. (292,32-293,6)

Dazu rekapituliert Fichte die fünf möglichen Standpunkte, die er in der 32. Vorlesung mit den griechischen Buchstaben kennzeichnete. Das macht den Text leider sehr bruchstückhaft und behindert das Textverständnis. a wird als der Standpunkt des absoluten Sehens betrachtet, das nun in Gott als leerer Begriff hypostasiert wird: »leerer Begriff, ohne Religion«.232 b ist der Standpunkt der Wissenschaft, der bloß dank einer, man würde sa-gen zufälligen, d.h. nicht bewußten Abstraktion vom gewöhnlichen Wis-sen erscheint. Dabei, erklärt Fichte, »[heißt] der Naturtrieb […] Genie«,233 was hier die Unbesonnenheit der Erhebung zu diesem Standpunkt aus-drückt. Beide werden nämlich nicht vermöge der Freiheit des Prinzips angenommen, sondern nur dank des faktischen Soll in seiner niedrigen Form, des Naturtriebs nämlich, erreicht. Der Standpunkt aber, von dem aus die Freiheit zum Ausdruck kommt, ist γ, das »Grundglied alles Zu-sammenhanges«.234 Denn »[m]it diesem Auge gesehen« – geht Fichte fort – »gewinnt diese höhere Welt […] eine ganz andere Ansicht«:235

232 GA II 12, 293,29. 233 GA II 12, 293,26. 234 GA II 12, 293,32. 235 GA II 12, 293,32-34.

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Gott ist das reine Sehen, oder Licht; und Gott ist wo er ist im Lich-te aufgegangen nach seinem Wesen. Wir können dies auf keine Wiese realisiren. würden wir davon sprechen, sind wirs nicht, son-dern stehen ausser ihm. Für uns in Beziehung auf Fakticität, abso-lute Sichtbarkeit Gottes. In ihm keine Freiheit, kein Werden, kein soll: sondern reines lauteres Seyn. Dieses Licht ist nicht in dieser ersten Form als solches, sondern es soll seyn als solches: es soll sich eben sehen, und so sich brechen an sich selbst. Auf diese Weise kommt ein nicht absolutes Seyn, und eine Vermittelung deßelben, ein soll in dasselbe. – . (294,1-9)

6.2.6. Wille und Weisheit Mit der folgenden 38. Vorlesung endet die Vorlesungsreihe. In ihr wird nochmals die Beziehung zwischen dem absoluten und dem faktischen Soll, also dem Sittengesetz, thematisiert, die zur Entstehung des Begriffs vom Willen führt. Es wird dabei näher geklärt, inwiefern ein sittlich han-delndes Ich nur als Schema einer absoluten Erscheinung und vermöge eines vom Prinzip selbst zustande gebrachten Schematismus vorkommen kann. Das faktische Soll, wie Fichte in der vorangegangenen Vorlesung erklärt, »ist bloß, damit das reine Soll erscheine«.236 Es führt also einer-seits zum Sehen, worin eben eine Erscheinung sich darbieten kann, grün-det aber andererseits nur auf sich selbst und ist ähnlich wie das absolute Soll, dessen Erscheinung es darstellt, absolut:

1.). Das faktische Soll ist durch sich selbst Grund eines Sehens; wie es ist, so ist dieses Sehen. Nun ist es selbst absolut, also ist auch dieses Sehen absolut, und das erste absolute Faktum. (294,25-27)

Dieses erste absolute Faktum führt nun zu dem Standpunkt, von dem aus ein Ich als Teil einer materiellen Welt sich als sehend wahrnimmt. Nicht das Ich ist aber das Prinzip dieses Faktums des Sehens, sondern umge-kehrt bringt das Gesetz des Soll ein faktisches Ich zustande, das »als se-hend aus dem allgemeinen faktischen Sehen nur hingespiegelt« wird:

2.). Das ganze faktische soll, faktisch absolut, ist dennoch nicht ab-

solut in Beziehung auf das ideale – des soll: es soll nicht seyn

236 GA II 12, 292,8.

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300

schlechtweg –, sondern es ist nur darum da, um Ausdruk zu werden des absoluten Soll, des unendlichen Bildes Gottes. Das Princip kann sich erheben zum seyn dieses Bildes. Das reine Soll ist drum in der Fakticität eines jeden Individuum, als einem Ver-mögen des faktischen Seyn seiner Selbst. (295,9-14)

Fichte beschreibt nun damit aber eine doppelte Bewegung, denn einerseits besteht jedes Individuum aus nichts anderem als aus dem faktisch gewor-denen absoluten Soll, andererseits soll aber tatsächlich das Prinzip, das nun individuell in einem Ich unter anderen Ichs verkörpert ist, sich zur Betrachtung seiner selbst als Bild der Einheit erheben. Es soll also den Schematismus in seiner Allgemeinheit durchschauen und dabei jenseits seines eigenen schematischen Aspekts die Einheit des absoluten Seins betrachten. Erst vermöge der Vollziehung dieses individuellen Soll reali-siert das Ich die Synthesis zwischen der Unendlichkeit des absoluten Soll und der Endlichkeit seiner faktischen Bestimmung und wird erst dann zu einem Bild Gottes. Fichte notiert:

3.). Das absolute Soll erhält falls es faktisch wird qualitativen Ge-halt, sowie Unendlichkeit, lediglich aus seiner Synthesis mit dem faktischen Schematismus. An sich ist es schlechthin rein und Eins. Das Princip kann sich also erheben zur Einheit: und nur durch diese Erhebung des identischen Princips entsteht die erwähnte Syn-thesis mit der Fakticität. (295,15-19)

Nun muß man aber berücksichtigen, was das Prinzip tatsächlich kann, um sich als Bild Gottes zu sehen, also um sich überhaupt zu einem Bild Got-tes zu erheben und in sich dieses Bild zu realisieren. Fichte zeigt nun zwei Möglichkeiten des Prinzips, seine Freiheit zu äußern:

4.). Das gesamte Kann des Princips, als solchen, – die Sphäre der Freiheit – besteht drum darin, daß es sich entweder hingeben kann an die Bestimmung durch das faktische Soll: (so entsteht in ihm ein absolut schematisches, drum freilich unsichtbares; dunkles, und verfinstertes Sehen) oder daß es sich hingeben kann, an das reine Sehen, so ist in diesem Zustande die Schematicität, und Undurch-sichtigkeit aufgehoben. (295,20-25)

Angesichts des Soll gilt das Kann nochmals als disjungierend für das Prinzip, denn das Prinzip kann sich entweder mit seinem faktischen und unbetrachteten schematischen Zustande, den die Verwirklichung eines

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faktischen Soll darstellt, zufrieden geben – woraus ein »verfinstertes Se-hen« entsteht, d.h. ein solches, das das Schematische an ihm nicht durch-schauen kann –, oder es kann sich auch von diesem faktischen Standpunkt zum Standpunkt des reinen Sehens erheben – auf dem es von jedem fakti-schen Sehen abstrahiert und sich eben als bloßes Mittel der Sichtbarkeit versteht. Nun erkärt Fichte: »Dieses sich hingeben an die Einheit durch die Kraft des Princips, der Fakticität sich nicht hinzugeben, ist nun der Wille«.237 Der Wille ist also der Standpunkt des Prinzips, von dem aus es sich unmittelbar als faktisch handelnd und als faktisches Prinzip der Hand-lung betrachtet.

In sich ist er schlechthin Eins, und sich gleich in alle Unendlich-keit, ohne Wandel. Wie er selbst aber erscheint, erscheint er als ein sich halten, gegen faktischen Hang. – Das durchs faktische Princip unterdrükte faktische Princip. Die N a t u r über der Natur. – . Der Wille ist selbst das faktische Princip und zwar das sich sehend durchdringende. (296,1-5)

Der Wille ist also das einzige Prinzip, aus dem die Wissenschaftslehre tatsächlich entstehen kann. Dieser Schluß verweist zugleich auf den zu Beginn der Wissenschaftslehre problematisierten Gegentrieb, der auf ei-nem natürlichen Hang des Bewußtseins beruht und den allein der Wille aufheben kann. Da der Wille sich aber nur als Gesetz zufolge des Soll vollziehen kann, geht er ganz in diesem Gesetz auf. Demnach führt die Reflexion des Prinzips zu einem Willen zur Anerkennung des Sachver-halts, daß selbst das faktische Soll, das ihn leitet, die Erscheinung eines von ihm unabhängigen und höheren Soll ist. Dies aber schreibt nun, indem es sich faktisch verkörpert, nicht ein reines Soll, sondern ein praktisches Seinsollen vor:

Das wollende [Prinzip] soll also reflektiren: oder vielmehr, da das Soll in seinem Seyn aufgeht, es reflektirt, und so erscheint ihm denn in dieser Reflexion, nicht was es soll, sondern was eben über-haupt seyn soll, wirklich gemacht werden soll. (296,13-16)

Dabei behält das wollende Prinzip immer noch die Freiheit, seinen Willen zu vollziehen, d.h. dem darin faktisch ausgedrückten Gesetz des Soll zu folgen, oder nicht. Dafür erhält das Seinsollen den Anschein eines von

237 GA II 12, 295,35f.

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ihm formulierten Zweckbegriffs, den das Prinzip, falls es sich beim Han-deln dem faktischen Gesetz des Soll tatsächlich hingibt, zu realisieren vermag:

Setzet das rein wollende Princip gäbe noch weiter sich hin: was wird erfolgen? Ich sage: Die Erscheinung eines wirklichen Han-delns des Individuum nach dem, in jenem Bilde aufgestellten Zwekbegriffe, bis zur vollendeten Realisation dieses Begriffes würde erfolgen. (296,18-21)

Wollen und Handeln spiegeln sich demzufolge nach Fichte ineinander wie die innere und die äußere Anschauung ein und desselben Gesetzes des Soll. Ein anderer Ausdruck dafür ist Reflexion und Intuition, denn das Wollen zeigt sich erst aufgrund einer Reflexion des Prinzips auf sich selbst, während der Zweckbegriff unmittelbar die Intuition eines durch eine zielorientierte Handlung zu erreichenden Zustands mit sich bringt. Daher stellt Fichte folgendes Grundgesetz fest: »ein Handeln des Indivi-duum wird nothwendig durch das faktische Soll gebildet, wenn damit das reine Soll ausgedrükt werden soll«,238 denn – wie er weiter erklärt:

Also die künftige zweite Erscheinung ist bedingt durch die Erschei-nung des wirkl[ichen] Handelns, drum muß dies durch das vorige Eine Soll bedingte faktische Princip diese Erscheinung des Han-delns hervorbringen und bringt sie nothwendig hervor. (297,14-17)

Dabei unterscheidet sich der sinnliche von dem sittlichen Menschen. Dem sinnlichen Menschen gilt dieses Gesetz nur als »Ausdruk der Form über-haupt«,239 d.h. daß das faktische Soll von ihm nur äußerlich betrachtet wird und sich eigentlich in ein Muß, in eine äußere Notwendigkeit, die seine Freiheit beschränkt, verwandelt; der sittliche Mensch erkennt dage-gen in seinen Handlungen den »Ausdruk des bestimmten qualitativen Soll«240 an:

Was thut nun dabei das wollende Princip. Durchaus nichts weiter, als es giebt hin sein Sehen an das dasselbe ganz gewiß nach dem sittl[ichen] Gesetze machende faktische Princip. Es sieht nichts

238 GA II 12, 297,3f. 239 GA II 12, 297,6. 240 GA II 12, 297,7.

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hin, sondern es schaut nur an das Gesicht, das ihm wird. Handelt

es, oder glaubt es zu handeln? Es weiß ja, daß es garnicht ist: Es giebt sich nur hin der Erscheinung, die sich ohne alles sein Zuthun ganz richtig machen wird. (297,26-31)

Darin besteht die Möglichkeit einer gänzlich anderen Beziehung zur Er-scheinungswelt. Die Betrachtung des Willens als faktischen Ausdruck des absoluten Soll reicht zur Befreiung des Menschen von seinem eigenen schematisierenden Sehen und ermöglicht ihm einen Blick auf die Wahr-heit, die der Welt zugrunde liegt:

Also im Wollen, und der Anschauung auf seinem Standpunkte sind die andern Standpunkte δ – ε schlechthin vereinigt: und faktisch begründet durch ein soll des hingebens; dagegen für den sinn-l[ichen Menschen] nur ein faktisches Gefangenseyn, ohne Freiheit, stattfindet. Der leztere ist selbst Schema: innerlich finster: und von dieser Finsterniß aus sieht er. Der Freie sieht durch das ihm durch-sichtige, und von ihm als solches erkannte Schema hindurch. (298,7-12)

Wie aber soll sich nun der Freie zum unentbehrlichen Schematismus ver-halten? Obwohl er die Welt als bloßes Schema betrachtet, hat sie für ihn den höchsten Wert, denn erst in ihr und durch sie bietet sich ihm die Er-scheinung des absoluten Seins, ja die Offenbarung Gottes selbst an. Dem-zufolge erklärt Fichte:

Das Schema täuscht ihn nicht; aber er ehrt es, und gibt sich ihm hin, gerade weil es ihn nicht täuscht, weil er weiß, daß es absolut gesezmässiges Schema des reinen Sehens, erstes für uns ist, daß, nur an ihm gebrochen, faktisch gesehen werden kann. (298,12-15)

Die Vollziehung der Aufklärung durch die Verklärung des eingenen gei-stigen Auges, befreit den Menschen sogar von der Wissenschaft und läßt ihn frei in die Sphäre der Weisheit eintreten. Sobald das Schematische an der Welt vollkommen durchsichtig geworden ist, wird der Freie die Welt als Feld der Sittlichkeit und sich selbst als bewußtes und wohlwollendes Instrument ihrer Verbreitung interpretieren, ohne daß er von dem bildli-chen Aspekt der Welt getäuscht würde:

Diese Einsicht vereinigt sich mit der reinen Anschauung im Stand-punkte des Willens, der nun sich versteht: und ruhig in diesem Ver-

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stehen sich hingiebt; und in dieser Verwendung wird denn die Wis-senschaft Weißheit. Und der Gedanke Gottes Religion, d.i. das ganze, dessen ewiger Abbildung wir uns hingeben, und an ihr uns vernichten, und aufgehen. (299,7-11)

Religion heißt dabei aber offensichtlich nicht äußere Frömmigkeit, viel-mehr bedeutet Religion, sich selbst zum lebendigen Abbild Gottes zu machen, indem man sich dem nun richtig aufgefaßten Gedanken Gottes preisgibt. Die Auflösung des Ich an Gott fällt aber nicht mit einem mysti-schen Sprung des Individuums ins Nichts zusammen, sondern ist die von der Vernunft geleitete Auflösung der Individualität im höheren Gesetz des Soll, das die wirkliche Abbildung Gottes darstellt und in den Willen eines Individuums aufgenommen wird:

Das reine Sehen ist im Bilde unsrer Wissenschaft ganz eingetreten in das faktische. Das Sehen ist Eins: synthetisch zwar, aber diese Synthesis ist vollendet in Einem Blike: unendlich zwar ablaufend; aber diese Unendlichkeit ist vorweggenommen, und in Eins gefaßt, im Willen. Dieser Wille ist formaliter Eins: die Individualität auf-gehoben, denn alle sind dasselbe reine Sehen: die Unendlichkeit; denn der Wille steht unwandelbar, und unveränderlich über dem ewigen Wandel. Im Bilde unsrer Wissenschaft. Aus diesem Bilde herausgehend endet sie: nun gehe hin und werde das Urbild. Wissenschaft hättest du: nun werde Weißheit. So endet sie, sich sich als Schema und Mittel aufgebend im Postulat eines Faktum. (299,12-20)

Die Wissenschaftslehre endet somit mit dem Verweis auf das Leben als Weisheitspraxis. Ein von der Weisheit verklärtes Leben ist aber erst ver-möge des Vollzugs einer vollkommenen Analyse des Wissens als Grund-form der Beziehung des Menschen zum Leben möglich – hierfür ist die Wissenschaftslehre das unentbehrliche Medium. Durch ihren in erster Person gemachten Gedankengang wird man sich verinnerlichen, daß die Bildlichkeit der Welt kein uns bedingendes absolutes Sein, aber auch kein bloßer Schein, sondern gesetzmäßige Erscheinung des Seins bzw. Gottes ist, das im gesetzmäßigen Wirken des Ich-Prinzips abgebildet ist. Dann wird aber der Mensch die Erscheinungswelt und die ganze in ihr erschei-nende Menschheit ehren, ohne sich Götzen zu schaffen. Das Programm der Aufklärung, die Welt vom Aberglauben zu befreien, fällt somit mit dem Programm des Humanismus zusammen, dem Menschen eine zentrale Rolle in der Welt zuzuweisen.

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