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JAN FREE

Von den Schwierigkeiten historischer Bezugnahme: Der albanische Nationalheld Skanderbeg

1. Historische Mythen und historische Wissenschaft Die Listen, auf denen die verschiedenen Arten von nationalen Mythen aufgeführt werden,1 sind zwar lang und mitunter in ihrer Detailfülle erdrückend, doch ein Ele-ment nationaler Mythen ist so offenkundig, dass es kaum als eigenständiges Merk-mal bearbeitet wird und deswegen auf solchen Listen nicht erscheint: Nationale My-then beziehen sich auf Vergangenes, auf Geschichte. Erst diese Bezugnahme auf Historisches ermöglicht es Mythen, eine geschichtliche Kontinuität herzustellen. Über Mythen des Kollektivs kann sich das Individuum sinnhaft in Raum und Zeit ver-orten und die gesellschaftlichen Konventionen von Verhalten begründen.2 Sie, die historischen Mythen, verweisen auf nicht-gegenwärtige Zeiten, strukturieren die viel-fältigen Zusammenhänge zwischen Individuum und Gesellschaft.3 Doch diese Bezugnahme auf Vergangenes ist zwar selbstverständlich, aber den-noch problematisch. Mythen sind soziale Erklärungen der Existenz und folglich ste-hen sie in einem Spannungsverhältnis zu der naturwissenschaftlichten Forderung nach abstrakter Rationalität, asozialer Gesetzmäßigkeit und universaler Vernunft, die im Verlauf der Aufklärung zu einem bestimmenden Leitmotiv der westeuropäi-schen Ideengeschichte geworden ist.4 Die Folge dieser Forderung, der sich kaum ein Intellektueller zu entziehen vermochte, ist die endgültige Dominanz des logos gegenüber dem muthos, die bereits in Überlegungen griechischer Philosophen der Antike durchscheint.5 Konsequenterweise wurden nun die Naturwissenschaften und damit auch ihre Methoden die Leitbilder des wissenschaftlichen Arbeitens. Die Na-turwissenschaften arbeiten und produzieren Theorien und Erklärungen, die grund-sätzlich versuchen, asozial zu sein, also ohne Betrachtung von sozialen Umständen und Gegebenheiten richtige Aussagen treffen. Selbstverständlich kann die Interpre-tation des Phänomen des Windes als Atem der Götter sehr sinnstiftend für eine Gruppe von Menschen sein, aber gemessen an dem Maßstab der rationalen Natur-wissenschaft6 ist sie es aufgrund ihrer Irrationalität und Widerlegbarkeit nicht. Ebenso verhält es sich mit den historischen Mythen, die seit der Konsolidierung bzw. Disziplinierung der Geschichtswissenschaften als rationale Wissenschaft (und nicht als Legitimationsproduzent für politische Bewegungen oder Fraktionen) oft-mals Untersuchungsobjekt von Historikern werden. In der Vorstellungswelt der Mo-derne hat Geschichtswissenschaft vor allem seinen Platz als Wissenschaft der wert-freien Darstellung von faktischer, nachweisbarer Vergangenheit, aber die geschicht-liche Bezugnahme von Mythen orientiert sich, da sie ja Kontinuität herstellen sollen, nur grob an historischen Fakten, die im Regelfall Kontinuitäten missen lassen. So erhebt der Mythos der Autochtonie, der besagt, dass eine bestimmte Gruppe von Menschen schon immer in einem bestimmten Landstrich gelebt hat, Anspruch auf zwei Kontinuitäten: 1. die des Kollektives und 2. die des Landes. Ein Historiker hat nun zwei Möglichkeiten, diesen Mythos zu widerlegen. Er kann entweder nach-weisen, dass die Gruppe von Menschen, deren Repräsentanten den Status der Au-tochtonie einfordern, selber nur eingewandert oder in ihrer Ethnogenese ein Produkt aus mehreren Einwanderungswellen ist oder darlegen, dass das Gebiet, was von

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dem jeweiligen Kollektiv als Heimatland bezeichnet wird, in der Vergangenheit nicht als einheitliches Territorium bestand, dass es also keinen Zusammenhang zwischen Besiedlung und Bezeichnung gibt. Anschaulich zeigt sich das Problem der Kontinui-tät im Kosovo. Weder für das Land, noch für seine Bewohner lassen sich klare Kon-tinuitäten erkennen. Die Besiedlungsstrukturen und Bevölkerungsverhältnisse7 än-derten sich oft – zudem fehlt eine verlässliche empirische Grundlage – und auch po-litisch oder verwaltungstechnisch erscheint der Kosovo nicht als Einheit:8 Von der Geschichtswissenschaft bestätigte Kontinuitäten sind in dieser Region sehr rar, dennoch existieren zahlreiche Mythen. Historische Mythen scheitern in ihrem Geltungsanspruch an den Ergebnissen der modernen Geschichtswissenschaft also nicht deswegen, weil sie einfach falsch sind, sondern weil sich Mythen an anderen Kriterien – nämlich an sozialen – aus-richten als die Geschichtswissenschaft. Die daraus resultierende mangelnde Über-einstimmung nationaler Geschichtsbezüge mit historischen Gegebenheiten ist von motivierten Historikern dermaßen leicht nachzuweisen, dass zum Standard des wis-senschaftlichen myth dismantling auch eine Dokumentation der Fabrikation des je-weiligen Mythos gehört. Vor allem der Beleg einer nachträglichen Kreation eines Mythos soll die letzten Zweifel an der Fiktionalität eines Mythos zerstreuen. Als Vor-bild kann hinsichtlich der Verbindung einer detaillierten Dokumentation der Entste-hung eines Mythos mit hoher Lesbarkeit auch heute noch Hugh Trevor-Ropers „The Invention of Tradition: The Highland Tradition of Scotland“ (1983) angesehen wer-den. In diesem Aufsatz weist Trevor-Roper unter anderem nach, dass der Kilt nicht die traditionelle Bekleidung der schottischen Ureinwohner ist, sondern tatsächlich von einem englischen Kaufmann um 1730 als Bekleidung für die Arbeiter in seinen in Schottland gelegenen Hochöfen entworfen wurde, da die eigentlich traditionelle Bekleidung, ein überlanges Hemd, sich als zu unpraktisch und hinderlich erwies. Auch kann er belegen, dass die berühmten Schottenkaros (tartans) nicht auf be-stimmte Clans verwiesen, sondern eine Angelegenheit des persönlichen Ge-schmacks des Trägers darstellten.9 Dennoch erscheinen bis heute Bücher, in denen der Kilt weiterhin als authentische, ursprüngliche Bekleidung der Schotten präsen-tiert wird und die verschiedenen Muster ausnahmslos bestimmten Clans zugeordnet werden.10 Bemerkenswerterweise enthalten diese Ausführungen zwar über den je-weiligen Clans viele Informationen zur Genealogie, aber keine Hinweise, wann und wo sich der Clan für „sein“ Muster entschieden hätte. So wird der Anschein erweckt, dass die Clans seit Anbeginn der Zeit ein bestimmtes Muster gehabt hätten, wobei diese Fixierung vielmehr eine Mode des 19. Jahrhunderts darstellt. Aus dieser Epi-sode lässt sich anschaulich ablesen, wie Mythen ihrer wissenschaftlichen Widerle-gung zum Trotz fortbestehen und das kulturelle Gedächtnis11 dominieren können. Diese Persistenz nationaler Geschichtsmythen verweist auf die Schwierigkeit für Wissenschaftler im Umgang mit historischer Bezugnahme von Mythen: Mit der klas-sischen Unterscheidung der Wissenschaft zwischen ‚wahr’ und ‚unwahr’ bleibt der Grund, wieso Mythen mitunter bemerkenswert widerlegungsresistent sind, außer-halb des Forschungsdesigns. Besteht man auf der strengen Trennung zwischen ‚Mythos’ (=unwahr, erfunden, schlecht) und ‚Realität’ (=wahr, empirisch, gut), dann ergibt sich als Arbeitsauftrag für Historiker nur die reihenweise „Aufdeckung“ von nationalen Narrativen als „falsche“ Mythen zum Wohle der Aufklärung12 und die fol-gende Ratlosigkeit, wenn sich herausstellt, dass die geleistete Arbeit nicht ange-messen rezipiert wird. D.h. im vorliegenden Fall, dass der widerlegte Mythos nicht innerhalb kurzer Zeit verschwindet, wie auch die Erklärung, dass Wind göttlicher Atem sei, verschwunden ist. Dabei übersieht dieser rationale Historiker, dass My-

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then bereits als Interpretationen von Geschichte angesehen werden müssen, die von der Ebene des rein faktisch Geschehenen zu großen Teilen abgelöst sind. Die narrative Strukturierung des Geschehenen ist eine Operation, die einen zeitlichen Abstand zum Ereignis benötigt. Die Deutung der Ereignisse und ihre Einbettung in einen narrativen Rahmen erfolgt retrospektiv, der Mythos entsteht nach dem Ereig-nis.13 Deswegen begründen sich Mythen nicht auf Fakten, sondern auf Wahrneh-mungen und Be-Deutung14 von Geschichte,15 d.h. der subjektive Glaube an Mythen kann durch eine objektive Darlegung der fehlenden historischen Authentizität eines Mythos schwerlich direkt beeinflusst werden. Generell verweisen die Komplikatio-nen bei der Analyse von historischen Mythen darauf, dass die Welt nicht nur aus physischen Objekten, sondern vielmehr aus Handlungen, Vorstellungen, Erfahrun-gen und Wahrnehmungen der Menschen besteht.16 Aus diesem postmodernen Ver-ständnis der Welt ergibt sich, dass Geschichte nicht einfach „da“ ist, sondern eine Konstruktionsleistung darstellt. Es gibt demnach eher ein Bewusstsein von Ge-schichte als „die“ Geschichte in Sinne einer potentiell positivistisch darstellbaren Gesamtheit von Fakten und auch dieses Geschichtsbewusstsein hat wiederum eine Geschichte und ist nicht stabil.17 Auch ist eine solche Vorstellung einer Dichotomie zwischen ‚Wirklichkeit’ (Geschich-te) und ‚Fiktion’ (Mythos) schon allein deswegen kein viel versprechender Aus-gangspunkt für eine Analyse von historischen Bezugnahmen in nationalen Mythen, da selten ein Mythos gänzlich auf fiktionale, sondern im Regelfall auch auf historisch korrekte Elemente verweist. So wird beispielsweise hinsichtlich der Highland Tradi-tion kein Forscher die Funktion des Kilts als Widerstandssymbol der Schotten nach 1746 bestreiten können. Demnach ist eine Bezugnahme auf den Kilt nicht katego-risch unhistorisch, sondern nur in bestimmten Fällen, beispielsweise wenn Schotten des 15. Jahrhunderts im Kilt dargestellt werden. Doch diese partielle Fiktionalität der Highland Tradition reicht schwerlich aus, um den Glauben zu erschüttern, dass Schotten „etwas anderes“ als Engländer seien. Noch deutlicher wird die Verschränkung von Historizität und Fiktionalität im Mythos des Kosovos als Geburtsstätte des serbischen Volks:18 Im Kosovo befinden sich mehr mittelalterliche serbische Klöster, Kirchen und Burgen als im übrigen Serbien und dort lag das Zentrum des mittelalterlichen Nemanjidenreiches, auf das sich ser-bische Politiker seit dem 19. Jahrhundert berufen. Und noch unter osmanischer Herrschaft war Peć, eine Siedlung im Kosovo, der Sitz des serbischen Patriarchen und damit der kirchliche Mittelpunkt Serbiens. So kommt Peter Bartl auch zum Schluss, dass „Kosovo […] zweifelsohne eine historische Zentrallandschaft Ser-biens“ (Bartl 1997: 17) ist. Wohl bemerkt: eine, nicht die historische Zentralland-schaft Serbiens. Aber dennoch ist diese historische Bezugnahme nicht grundsätzlich unhistorisch. Allerdings ist der daraus abgeleitete territoriale Anspruch auf das heutige Kosovo weitaus problematischer. Eine oberflächliche Untersuchung dieses Komplexes hin-sichtlich seiner Historizität stößt hier an ihre Grenzen, denn letztendlich erklärt sie nicht, was die historischen Zustände im 14. Jahrhundert (und früher) mit zeitgenös-sischen Gebietsansprüchen zu tun haben. So erfährt man nur, dass die Vorstellung der serbischen Geburtsstätte im Kosovo, also die fundamentale historische Bezug-nahme, nicht als völlig unzutreffend angesehen werden kann, aber wieso dieser My-thos auch heute noch so wirkungsmächtig und politikbestimmend in Serbien ist, er-klärt sich erst aus einem breiteren Ansatz, der die sinnstiftenden Mechanismen des Mythos ‚Kosovo’ auf seinem Weg durch die serbische Geschichte und serbische Lebenswelten nachzeichnet, wie dies Milica Bakić-Hayden für einige Bereiche, ins-

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besondere den der mündlichen Tradition, bereits vorgenommen hat.19 Anstelle einer Dekonstruktion der historischen Bezugspunkte erweist sich das Nachzeichnen der Diffusion des jeweiligen Mythos durch potentiell alle Sphären des Sozialen als aus-sagekräftiger. Denn letztendlich bleibt es bei der Feststellung Jan Assmanns, dass eine Analyse eines Mythos eine Sache des Gebrauchs von Erinnerung und weniger eine der Dokumentation von Vergangenem ist.20 Dieser mitunter alltägliche und ba-nale Gebrauch von Erinnerung muss aufmerksam beobachtet, dokumentiert und anschließend auch rationalisiert und theoretisiert werden, wofür die historische Überprüfung des Inhalts des Mythos eine wichtige Grundlage ist, aber nicht den Kern einer Mythenanalyse darstellt. Und gerade am Beispiel des Kosovos zeigt sich dann auch ein zentrales Merkmal nationaler Mythen, welches den Inhalt des Mythos einem Kokon gleich zu schützen vermag: Sie neigen eher zum Religiösen als zum Politischen. Die sakrale Überhö-hung von bestimmten Ereignissen enthistorisiert diese und schiebt den Mythos aus der Sphäre des tendenziell objektiven Politischen in die des eher subjektiven Religi-ösen. Durch diese zusätzliche Sinnproduktion mittels spiritueller Interpretation scheinbar zufälliger oder als katastrophal empfundener Ereignisse entzieht sich ein solcher Mythos der rationalen Gegenargumentation der aufklärerischen Ge-schichtswissenschaft. Dieser Effekt ist dabei nicht intendiert, sondern ein Neben-produkt der höheren Leistungsfähigkeit religiöser Interpretationen. So schreib Bakić-Hayden über die Berichterstattung und Interpretation der Schlacht auf dem Amsel-feld (im Kosovo) 1389:

„What is evident from the early manuscripts, vitae, chronicles and the epic poems, on the Serbian as well as on the Turkish side, is that the cosmic dimension in reli-gious interpretations (Christian, Islamic) eventually becomes integrated as a moral component in the identity of the group. ‘We’ become a people who stand on God’s side and hence are consigned to win in terms of ‘our’ religious conception of victory. […] For the Kosovo syndrome it is ‘glory’ that counts, not the ‘defeat’. The latter has to do with historical reality while the former places and interprets history in the wider, cosmic context in which dying for Christ means that the decisive victory has already been won.” (Bakić-Hayden 2004: 35, 37)

Dies bedeutet für das Beispiel der Schlacht auf dem Amselfeld, dass es für den My-thos der Schlacht völlig unerheblich ist, wie die Schlacht eigentlich abgelaufen und welche Partei als der faktische Sieger zu bezeichnen ist. Wichtig für den serbischen Mythos ist der Tod des Serbenfürsten Lazar, aber nicht dessen genaue Umstände. Denn der Sieg entsteht nachträglich als Interpretation der auch für Zeitgenossen recht unklaren Ereignisse21 und zwar – und dies ist ein wichtiger Punkt – „in terms of ‘our’ […] conception of victory“ (ebd.). Der Mythos entsteht also entlang der Wert-vorstellungen der Adressatengruppe und macht insbesondere für diese Gruppe Sinn. D.h., wenn ein Historiker diesen Mythos dekonstruieren will, steht er vor dem Problem, dass er eigentlich die normative Behauptung aufstellt, dass sein Wert-maßstab für die Behandlung von Vergangenem – nämlich Geschichte als potentiell sinnfreie Sammlung von nachweisbaren Ereignissen – „richtiger“ ist als derjenige der untersuchten Mythen-gläubigen Gruppe. Das Narrativ dieses hypothetischen Historikers – die zunehmende Rationalisierung der Welt, sowohl der Gegenwart, aber auch der Vergangenheit – steht im Widerspruch zum mythischen Narrativ. Pointiert formuliert: Der Historiker erzeugt eine für ihn sinnhafte Welt durch Schaf-fung von Rationalität und fortschreitende Aufklärung, weswegen auch die Reduzie-rung von sinnstiftender, aber nur imaginierter Kontinuität sein eigenes kontinuitäts-stiftendes Narrativ letztlich stärkt. Dort, wo die europäische Aufklärung aber nur in

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Ansätzen Auswirkungen hatte,22 entfällt das geschichtliche Narrativ, also die Erfah-rung der Welt23 als eine stetige, strukturierte Abfolge von Bedeutung, mehr oder minder ersatzlos. Angesichts dieser Überlegung und der eingangs konstatierten elementaren Bedeu-tung von mythischen Narrativen erscheint das Festhalten an Geschichtsmythen „trotz besseren Wissens“ schon verständlicher. Schließlich besteht auch ein nicht unwesentlicher Zusammenhang zwischen dem individuellen historischen Selbstbild, der eigenen autobiographischen Erzählung, und dem kollektiven historischem Be-wusstsein.24 „To be a member of any human community is to situate oneself with regard to one’s (its) past, if only by rejecting it. The past is therefore a permanent dimension of the human consciousness, an inevitable component of the institutions, values and other patterns of human society.” (Hobsbawm 1972: 3) Der Widerstand gegen die Demontage eines mythischen Narrativs, das zentrale Relevanz für das Geschichtsbewusstsein hat, kann also durchaus von existenzieller Bedeutung sein, aber für Außenstehende, die sich nicht über eben diesen Mythos definieren, irratio-nal bis paranoid erscheinen. Die Schwierigkeit historischer Bezugnahme in nationalen Mythen besteht also grundsätzlich aus zwei Aspekten. 1.) In einer Differenz der Funktion: Im mythischen Narrativ besteht ein anderes Verständnis von Geschichte als in der Moderne, bzw. der modernen Geschichtswissenschaft. Die mythische Geschichte muss vor allem ein sinnstiftendes, das Soziale stabilisierendes Narrativ darstellen, während wissen-schaftliche Geschichte in erster Linie nur wahr und nicht mehr sinnvoll sein muss oder soll. Die Konsequenz daraus ist, dass beide Systeme (‚Mythos’ vs. ‚Ge-schichtswissenschaft’) mit unterschiedlichen Leitunterscheidungen und insofern auch unterschiedlichen Wertmaßstäben arbeiten – zumindest dann, wenn der Histo-riker versucht, ohne sonderliche Rücksicht auf soziale Begleitumstände den „wah-ren Kern“ des Mythos freizulegen. Dieses Vorhaben ist relativ fruchtlos; nicht zuletzt deswegen, weil 2.) die Überlieferung des Ereignisses den Mythos ausmacht und nicht das eigentliche Ausgangsereignis. Der Mythos erklärt sich gerade nicht durch seinen „wahren Kern“ bzw. den ihm zugrunde liegenden historischen Ereignissen oder der Dokumentation seines Schöpfungsprozesses und damit seines fiktionalen Charakters, sondern vielmehr aus seiner Überlieferung und damit seinem Nieder-schlag in der Lebenswelt. Ein Geschichtsmythos verändert die Wahrnehmung von Geschichte und produziert oder stabilisiert ein anderes Geschichtsbewusstsein, weswegen die Betrachtung von Geschichte als Faktum ohne Bearbeitung der Wahrnehmungsveränderung durch den Einfluss des Mythos auf die Lebenswelt zwar nicht uninteressant, aber eben doch nur ein Fragment ist. Mit dem Nachweis der fehlenden Authentizität ei-nes Mythos, also der Dokumentation der Erfindung eines Mythos, ist die Arbeit des Forschers jedenfalls noch nicht getan. Damit nähert sich die Geschichtswissen-schaft konzeptionell einer Soziologie mit größerer historischer Perspektive25 und gewinnt weiter Abstand zum klassischen Ideal der Geschichtswissenschaft als einer Gesetzeswissenschaft.26

2. Skanderbeg als historischer Mythos Die Erkenntnis, dass der Umgang mit der Vergangenheit nicht eine direkte Entspre-chung der faktischen Vergangenheit ist und dass unser heutiges Verständnis der Vergangenheit auf einer Konstruktionsleistung beruht,27 wurde mitunter als Belie-bigkeit der nationalen Mythen einer Gesellschaft interpretiert. Die Symbole und Ri-ten dieser mythischen kollektiven Erinnerung seien gänzlich in der Moderne herge-

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stellt worden und die Referenzpunkte der historischen Bezugnahme entweder er-funden oder zumindest beliebig. Der historische Selbstbezug ist demnach gänzlich eine moderne Konstruktion zur Kompensation von durch sozialen Wandel ausgelös-ter Destabilisierung der Gesellschaftsordnung und seine jeweilige Ausprägung von seinen Initiatoren nach Belieben gestaltbar.28 Nationale historische Mythen erscheinen dann vor allem als Instrument der politi-schen Elite zur Durchsetzung einer bestimmten Politik, zur Mobilisierung oder Stabi-lisierung einer Gesellschaftsordnung.29 Mythen gelten in diesem Ansatz als konser-vative Elemente und als Hindernis für soziale oder politische Verbesserungen.30 Die unausgesprochene Annahme hinter diesem Verständnis ist, dass eine Gesellschaft keine Mythen benötigt, sondern dass eine mythen-freie Existenz möglich und er-strebenswert sei. Ausgesprochen und in Kontext meiner Ausführungen bedeutsa-mer ist die Schlussfolgerung dieser Denkweise, dass die jeweiligen verwendeten Mythen den Bedürfnissen der Elite entsprechend ausgewählt und „erfunden“ wer-den könnten: „Die Symbolik ist austauschbar.“ (Loewenstein 1999: 24) Im Gegensatz dazu vertritt eine andere Strömung in der Forschung, deren promi-nentester Vertreter Anthony D. Smith ist, die Auffassung, dass die Entstehung nati-onaler Mythen zwar zweifelsohne eine kollektive Konstruktionsleistung und insofern nur eine Vorstellung der Vergangenheit darstellt, in der aber die Inhalte und Symbo-le der Mythen eben nicht je nach Bedarf der entsprechenden Eliten austauschbar sind.

„In most cases, the mythologies elaborated by nationalists have not been fabrica-tions, but recombinations of traditional, perhaps unanalysed, motifs and myths taken from epics, chronicles, documents of the period, and material artefacts. […] There are very clear and specific limits to their activities. These are provided both by the existing criteria of historiography of the time, and the texture and inner co-herence of the myths and motifs by themselves. In other words, a recombination must be ‘in character’. It must intuitively ‘belong to’, or cohere with, a particular tra-ditional past and its peculiar flavour.” (Smith 1986: 178)

Der Mythos wird also nicht einseitig von oben aufgesetzt, sondern vielmehr in einer Form von Dialog zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft entwi-ckelt. Nationale Mythen seien insofern mehr als nur anrüchiges Mittel der nationalen Politik und als Ausdruck historischer und sozialer Besonderheiten eines Kollektivs ernst zu nehmen.31 Ein gutes Indiz, dass nationale historische Mythen nicht beliebig erfunden oder aus-gewählt werden können, sondern mit den jeweiligen Gegebenheiten korrespondie-ren müssen, zeigt das Beispiel des albanischen Nationalhelden Georg Kastriota, genannt Skanderbeg. Die auf dem ersten Blick exzessiv erscheinende Bezugnahme der Albaner auf Skanderbeg, einem erfolgreichen Widerstandskämpfer gegen die osmanische Expansion in Nord- und Mittelalbanien des 15. Jahrhunderts, erklärt sich nämlich auch daraus, dass Skanderbeg bereits als historische Figur allen Er-fordernissen eines Bezugspunktes für nationale Mythen entspricht. Albanische Nati-onalisten des 19. Jahrhunderts mussten deswegen keine großen Konstruktionsleis-tungen vollbringen, um mit dem Skanderbeg-Kult einen Mythos zu schaffen, der wie kein anderer nationalistischer Mythos positiv von Albanern aufgenommen, also als in einem sehr hohen Maße intuitiv als ihrem Charakter entsprechend empfunden wurde (und wird). Die Eigenschaften Skanderbegs sind dermaßen prädestinierend für einen nationalen historischen Mythos, dass für die albanische Nationalbewegung (Rilinja) eine Bezugnahme auf Skanderbeg kaum zu umgehen war. So zeigt sich hier deutlich, dass ein Mythos nicht nur ein austauschbares Instrument der Steue-

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rung von Massen ist und sein Erfolg (also seine Persistenz) nicht vornehmlich von der geschickten Vorgehensweise und den kreativen Fähigkeiten der beteiligten Eli-ten abhängt. Ich möchte deswegen im Folgenden zunächst die historische Figur Skanderbegs skizzieren, bevor ich anschließend auf die Rezeption seiner Person – und damit auch auf die Mythenbildung – eingehe.

3. Skanderbegs Taten und deren Umstände Ziel der weiteren Ausführungen soll eine Darstellung der Bedeutung des Skander-beg-Mythos über die Jahrhunderte für die Albaner – und letztendlich Albanien – sein, und keine ausführliche Darstellung der historischen Person Skanderbegs. Doch um über die Bedeutung eines Mythos reden zu können, ist es notwendig, auch über dessen Inhalt zu reden. Zudem ist die Berücksichtigung einzelner Um-stände und Gegebenheiten des 15. Jahrhunderts unvermeidlich, denn die albani-sche Geschichte und auch die Episode ‚Skanderbeg’ ist nur verständlich im Kontext des Osmanischen Reichs und dessen Sozialgeschichte.32 Isoliert von allen Zusam-menhängen der Epoche erscheint Skanderbeg nämlich tatsächlich wie die un-schlagbare Märchengestalt des Mythos. Die Balkanhalbinsel war um 1400 Schauplatz ständiger kriegerischer Auseinander-setzung und erlebte eine lange Periode der Unruhe und Veränderung. 1389 war der letzte größere Gegenspieler des Osmanischen Reichs auf dem Balkan, der Serben-fürst Lazar, in der Schlacht auf dem Amselfeld ausgeschaltet worden,33 und Sultan Bajasid I. (reg. 1389-1402) etablierte seine Macht zuerst in Skopje, einer Stadt im heutigen Mazedonien. Von dort aus führten Bajasids Truppen – oftmals vom Sultan persönlich angeführt – einen jahrelangen Kleinkrieg gegen jene albanischen Fürs-ten, die sich nicht bereits auf diplomatischem Weg unter die Herrschaft des Sultans begeben hatten.34 Bajasid führte keinen Krieg gegen Albanien, denn das gab es damals nicht als politische Einheit, sondern einen Krieg gegen einzelne Großgrund-besitzer, die eher den jeweils anderen Großgrundbesitzer aus dem nächsten Tal und nicht den Sultan als ihren größten Feind ansahen. Die meisten dieser Groß-grundbesitzer hatten ihre Herrschaft erst wenige Jahre zuvor, nach dem Tod des Serbenkönigs Stefan Dushans 1355, etabliert, nachdem sich Albanien zuvor noch unter serbischer Herrschaft befunden hatte.35 Die osmanische Expansion ereignete sich also in der typischerweise unruhigen Konsolidierungsphase neuer Herrschafts-formen. Albanien ist deswegen in dieser Zeit vorrangig als geographischer Begriff zu verstehen, obwohl in der Selbstbezeichnung der Albaner eine kollektive, albani-sche Identität wohlmöglich schon eine Rolle spielte, wenn auch höchstwahrschein-lich nur peripher und diffus.36 In diese unruhige Zeit wurde Georg Kastriota, wahrscheinlich im Jahr 1405, hinein-geboren. Die Kastriotas37 waren Grundbesitzer, aber sie gehörten nicht zu den gro-ßen albanischen Familien. Der Großvater Skanderbegs besaß nur 2 Dörfer im Mit-telalbanien. Skanderbegs Vater, Gjon Kastriota, konnte in den Wirren der osmani-schen Eroberungen den Besitz erheblich erweitern. Er kannte die Herrschaft des Sultans an und war tributpflichtig. Als 1402 Bajasid I. im Kampf gegen das Mongo-len-Heer Timur Lenks (1335-1405) in der Schlacht von Ankara starb, bröckelte auch in Albanien die Macht der Osmanen.38 Gjon Kastriota erklärt sich sofort für unab-hängig, doch bereits 1410 unterwirft er sich abermals den Truppen Mehmeds I., dem Nachfolger Bajasids.39 Gjon Kastriota musste als Pfand für seine Treue zum Sultan seine Söhne an den Hof Mehmeds nach Adrianopel schickten. Anfangs begnügte sich Mehmed I. noch

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mit einem der vier Söhne Gjons, aber nachdem dieser bis 1420 seine Besitztümer in Albanien deutlich ausweiten konnte, forderte der Sultan bald auch die drei anderen Söhne ein.40 So wurde schließlich auch sein jüngster Sohn, der zum damaligen Zeit-punkt 18jährige Georg, 142341 als Geisel nach Adrianopel geschickt. Diese Art von Geiselnahme war damals üblich – auch in Westeuropa; es handelte sich hierbei nicht um eine spezielle „asiatische Grausamkeit“. Im Gegensatz zu Europa war es sogar fast eine besondere Gunst, Geisel des Sultans zu sein, denn Georg Kastriota wurde nicht nur in ein Verlies gesperrt, sondern am Hof als Page angestellt und er-hielt eine vortreffliche Ausbildung. Er lernte mehrere Sprachen und wurde auch mili-tärisch ausgebildet.42 Einer seiner ersten Schritte am Hof war der Übertritt zum Is-lam und als deutliches Zeichen dieses Übertritts legt Georg Kastriota seinen alten Namen ab und nimmt den muslimischen Namen Iskander (=Alexander) an. Iskander war offenkundig sehr erfolgreich, denn er stieg in der Hierarchie auf und wurde 143843 nach Albanien zurückgeschickt und war als Verwalter (‚beyi’) dreier Regio-nen tätig. Bemerkenswerterweise waren dies ziemlich genau die Regionen, die ehemaliges Herrschaftsgebiet der Kastriotas waren: Misia, Skuria und Jonima.44 Georg Kastriota erhielt den seiner Position angemessenen Titel ‚sanack beyi’, kurz ‚beyi’ (wörtlich: Herr), der an seinen Eigennamen angehängt wird. So wurde aus Iskander schließlich Iskander Beyi. Die des türkischen damals oftmals noch unkun-digen Albaner veränderten dies zu Skanderbeg, bzw. Skänderbej.45 Erst 1440 wur-de Skanderbeg von seinen famliären Stammländereien nach Dibra versetzt,46 was ihn aber nicht daran hindert, mit Venedig geheime Kontakte aufzunehmen.47 Wahrscheinlich spielte bei diesen Kontakten Skanderbegs Vater, Gjon Kastriota, ei-ne wesentliche Rolle, denn er war zu diesem Zeitpunkt gerade Verbündeter Vene-digs. Er war nämlich, allen Geiseln zum Trotz, 1428 wieder offen vom Sultan abge-fallen.48 Die Untreue seines Vaters hatte aber keinerlei Auswirkungen auf Skander-beg, denn er wurde nicht zur Strafe hingerichtet und sein Kopf gen Albanien ge-sandt. Offensichtlich war Skanderbeg so talentiert und vertrauenswürdig, dass der Sultan – mittlerweile regierte Murad II. (reg. 1421-51) – ihn nicht den Verfehlungen seines Vaters opfern mochte. Doch dieses Vertrauen war nicht gerechtfertigt: Auch Georg Kastriotas Loyalität erwies sich als nicht sehr stabil. 1443 begann der große Gegenspieler des Osmanischen Reichs der damaligen Zeit, das Königreich Ungarn, überraschend eine anfangs erfolgreiche Offensive.49 Als die Ungarn im Winter 1443 Nisch (im heutigen Serbien) einnahmen, verließ Skander-beg mit dem ihm unterstehenden Truppen – 300 Reitern50 – das türkische Heer und besetzte die Festung Kruja. Am folgenden Tag, dem 28. November 144351 entsagt er offen dem Sultan. Skanderbeg nutzte nun sowohl sein durch militärische Anfangserfolge gewonnenes Prestige als auch seine nach 1438 geknüpften Kontakte zu Venedig und lud im März 1444 eine Vielzahl albanischer Fürsten ins venizianische Alessio (alb. Lezha) ein. Dort einigten sich die Fürsten auf ein Militärbündnis: Die Liga von Lezha. Die Aufstellung eines gemeinsamen Heeres wurde beschlossen, als dessen Komman-dant Skanderbeg von den Fürsten gewählt wurde.52 Dieses Heer schaffte es tatsächlich in kurzer Zeit alle osmanischen Festungen zu erobern. Zumeist geschah dies kampflos: Die kleinen osmanischen Garnisonstrup-pen durften unbehelligt abziehen.53 Gegen größere Heere wendete Skanderbeg ei-ne Partisanentaktik an: Seine Truppen zogen sich nach einem ersten kurzen Schlagabtausch ins gebirgige Hinterland zurück, um die nachrückenden osmani-schen Truppen dort dann aus gesicherten Positionen anzugreifen. So konnte Skan-derbeg bis 1448 drei größere Strafexpeditionen des Sultans zurückschlagen.54

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1450 befehligte sogar der Sultan persönlich eine Belagerung Krujas, der Hauptfes-tung Skanderbegs, doch Skanderbeg hatte – trotz einer erheblichen Übermacht der osmanischen Truppen55 – den Hauptteil seiner Truppen gar nicht in der Festung, sondern in den umliegenden Bergen versteckt und konnte so das relativ unge-schützte Belagerungsheer wiederholt hinterrücks angreifen und schwere Verluste verursachen, bevor er erneut in die Berge zurückwich. Auch konnte so die Versor-gung des osmanischen Heeres stark beeinträchtigt werden.56 Ende Oktober 1450 gab Murad entnervt auf und zog sich zurück.57 Nach diesem Sieg dürfte sich Skanderbeg auf dem Höhepunkt seiner Macht befun-den haben und auch in Westeuropa erhielt er Bewunderung und Anerkennung, die er immer wieder bei persönlichen Besuchen an europäischen Herrscherhöfen in ba-re Münze und tätige Hilfe umzuwandeln versuchte.58 Bis zu seinem Tod am 17. Ja-nuar 1468 konnte Skanderbeg immer wieder Expeditionen der Osmanen zum Rückzug zwingen. Zwar hat er nicht jede Schlacht gewonnen, aber seine Hauptfes-tung Kruja konnte er immer halten. Diese erfolgreiche militärische Selbstbehauptung darf aber nicht dazu verleiten, in Skanderbeg einen „klassischen“ vormodernen Herrscher zu sehen, denn er herrsch-te nicht wie ein absolutistischer König über ein bestimmtes Gebiet. Tatsächlich führ-te er 25 Jahre unnuterbrochen Krieg – nicht nur gegen das Osmanische Reich, sondern auch gegen Venedig – und fast immer operierten in seinem Einflussgebiet fremde Truppen und verwüsteten das Land. Mehrere Jahre hielt sich Skanderbeg auch gar nicht in Albanien auf, sondern kämpfte in Italien – beispielsweise 1461 auf Seiten Neapels. Ebenfalls darf man nicht aus den Augen verlieren, dass Skanderbeg nur einem Mili-tärbündnis vorstand und keiner politischen Union, auch wenn dies von späteren Au-toren gerne so dargestellt worden ist.59 Die übrigen Fürsten wachten sehr aufmerk-sam über Skanderbeg und als er nach seinen ersten großen Erfolgen Ende der 1440iger Jahre versuchte, seine militärische Macht auch in der politische Sphäre zu festigen, fielen nach und nach einzelne Mitglieder der Liga – sogar Verwandte – von ihm ab.60 Die Folge war, dass Skanderbeg seine Verbündeten auch außerhalb Al-baniens suchen musste: 1451 schloß Skanderbeg beispielsweise ein Bündnis mit König Alfons von Neapel.61 Zuletzt dürfte sich der albanische Widerstand nur noch auf das angestammte Gebiet der Kastriotas beschränkt haben; die Liga von Lezha hatte sich wohl Mitte der 1450iger Jahre aufgelöst und Skanderbegs Versuch einer Konsolidierung seiner Herrschaft war praktisch gescheitert.62 Spätestens ab diesem Zeitpunkt herrschte Skanderbeg nicht mehr über Albanien, sondern nur noch über die direkten Besitztümer der Kastriotas. Nichtsdestoweniger wurden die Taten Skanderbegs von seinen Zeitgenossen en-thusiastisch aufgenommen und bewertet. Die erhaltenen zeitgenössischen albani-schen Kommentare zeigen Skanderbeg bereits als heldenhaften Verteidiger von Freiheit.63 Und im übrigen Europa, wo man nach 1450 verstärkt auf Skanderbegs Kampf aufmerksam wurde, sah man in Skanderbeg den Verteidiger des Abendlan-des und der Christenheit gegen die osmanischen Heiden.64 Doch konkret war Skanderbegs Widerstand zumindest für die gemeinen Albaner ein Fiasko. Die re-nommierte Balkanforscherin Christine von Kohl formuliert dies am anschaulichsten: Skanderbeg hat Albanien in tiefste Armut gestürzt, ein Drittel der Bevölkerung kam zwischen 1443 und 1468 um und die Wirtschaft in der Region brach vollständig zu-sammen.65 Einen gewiss nicht geringen Anteil an diesen negativen Wirkungen hatte eine be-stimmte taktische Eigenart der Osmanischen Kriegsführung: Normalerweise wurde

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ein Feldzug dadurch vorbereitet, dass spezielle, kleine Truppenverbände, die akinci, durch das gegnerische Land zogen und es verwüsteten, also Felder und Dörfer an-zündeten, die Bevölkerung schikanierten und generell destabilisierend wirkten. Diese negative Seite des Skanderbeg-Aufstands wurde und wird in der Geschichts-schreibung ignoriert oder marginalisiert, so dass sie vermutlich auch im kollektiven historischen Gedächtnis der Albaner keinen festen Platz haben dürfte.66 Als Skanderbeg schließlich 1468 kurz nach erneuter erfolgreicher Verteidigung Kru-jas gegen Truppen des Sultans starb, war niemand imstande, ihn zu ersetzen. Das Gebiet Skanderbegs fiel an die Venezianer, mit denen Skanderbeg zu diesem Zeit-punkt verbündet war. Die Venezianer konnten es mit lokaler Unterstützung noch bis 1478 verteidigen, dann eroberten die Osmanischen Truppen die Festung Kruja.67 Ein Jahr später hatte Venedig dann auch alle albanischen Besitztümer verloren und das Osmanische Reich festigte in der Folgezeit – jetzt nur noch gegen marginalen Widerstand – seine Herrschaft.

4. Folgen und Rezeption Angesichts des osmanischen Vormarsches flüchteten zahlreiche Albaner nach Ita-lien. Im Gegensatz zum oft gebrauchtem Bild wanderte aber nicht nur eine große Welle nach dem Tod Skanderbegs, bzw. nach dem endgültigen Fall Krujas 1478 nach Italien aus, sondern schon ab 1430 ließen sich einzelne albanische Familien in Italien nieder. Auch handelte es sich anfangs nicht um einfache Landbevölkerung, sondern um Grundbesitzer, Adlige oder Händlerfamilien. Ab 1448 siedelten dann viele ehemalige albanische Söldner auf dem Gebiet Alfons I., da dieser sie für ihre Dienste auch mit Ländereien bezahlt hatte. Skanderbegs Hilfsexpedition 1461/62 zugunsten Ferdinands von Neapel, dem Nachfolger Alfons I., ließ wiederum albani-sche Soldaten in nennenswerter Zahl dort zurück. Diese Einwanderer bildeten den infrastrukturellen Grundstock, der die von der osmanischen Eroberung Krujas und den Niederschlagungen folgender, kleinerer albanischer Aufstände ausgelösten Massenfluchten absorbieren konnte.68 Diese albanischen Flüchtlingskolonien sind insofern bedeutsam, da ihre Bewohner die Erinnerung an Skanderbeg pflegten.69 Beispielsweise war einer dieser Flüchtlinge Marinus Barletius, der zwischen 1506 und 1510 die erste Skanderbeg-Biographie verfasste. Seine „Geschichte Skander-begs“ wurde in fast alle europäischen Sprachen übersetzt und ist bis heute die wich-tigste Primärquelle zu Skanderbeg.70 Doch nach Barletius folgte keine weitere wis-senschaftliche71 Auseinandersetzung mit Skanderbeg aus der Feder eines Alba-ners, weswegen Peter Bartl, einer der bekanntesten zeitgenössischen Albanien-Forscher, ihn den „einzigen albanischen Geschichtsschreiber“ (Bartl 1995: 281) nennt. Mit Marinus Barletius beginnt die vermittelte Wirkungsgeschichte Skanderbegs. Die vielfältigen Spuren Skanderbegs außerhalb Albaniens werde ich hier nicht weiter behandeln. Es sei aber angemerkt, dass Skanderbeg auch durch die europäische Kulturwelt des 18. und 19. Jahrhunderts schwebt und eine deutliche Spur vor allem in Frankreich und England hinterlassen hat. Beispielsweise hat der spätere Premier Englands, Benjamin Disraeli, ein erfolgreiches Theaterstück namens „The Rise of Iskander“ geschrieben.72 Stattdessen konzentriere ich mich auf die Rezeption inner-halb Albaniens und bei Exil-Albanern. Unter osmanischer Herrschaft gab es keine eigenständige Öffentlichkeit für albani-sche Intellektuelle. Das Zentrum des albanischen Geisteslebens, das fast gänzlich türkisch sprachig war, lag bis weit ins 19. Jahrhundert in Istanbul, dem ehemaligen Byzanz,73 weswegen nur wenige albanische Quellen vorhanden sind. Aber Skan-

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derbeg wurde offensichtlich nicht vergessen. 1481 erschien beispielsweise Skan-derbegs Sohn Johannes in Albanien und schaffte es, einen Aufstand zu initiieren, der allerdings nur recht kurzlebig war.74 Wichtiger und aufschlussreicher erscheinen mir aber die Geschehnisse im frühen 17. Jahrhundert. Offenbar weitgehend von der heutigen Forschung unbearbeitet,75 ereignete sich in dieser Zeit eine diplomatische Offensive. Über 2500 albanische Christen, darunter viele albanische Geistliche, versammelten sich 1602 in der Abtei Alessandro und beschlossen ein koordiniertes Vorgehen gegen die Osmanen-Herrschaft. In den folgenden Jahren reisten mehrere Delegierte an fast alle Herr-scherhöfe Europas, schrieben eine Vielzahl von Briefen und versuchten Unterstüt-zung für einen albanischen Aufstand zu mobilisieren. Sie argumentierten vor allem damit, dass die Albaner das Volk Skanderbegs seien. Die Albaner seien alle so tu-gendhaft und mutig wie Skanderbeg und warteten nur auf einen Anlass, seinen Ta-ten nachzueifern. Wenn jemand Europa verteidigen könne, dann die Albaner. Nach Peter Bartl hat vor allem diese Imageoffensive das Bild Albaniens in Europa ge-formt.76 Es ist in jedem Fall bemerkenswert, dass die Darstellung der Albaner als freiheitsliebendes, heldenhaftes und kämpferisches Volk der damaligen Zeit überra-schende Ähnlichkeiten mit dem Selbstbild der albanischen Nationalisten der Rilinja aufweist und damit einen weiteren Hinweis auf die außergewöhnliche Dichte von Kontinuitäten in der albanischen Geschichte darstellt. Anschließend verliert sich die Spur Skanderbegs. Aber eine der bedeutendsten Dy-nastien Albaniens, die Bushatlliu, etablierte sich Mitte des 18. Jahrhundert gegen die Osmanen als souveräne Herrscher in Mittel- und Nordalbanien und ihr bedeu-tendster Vertreter, Kara Mahmud Pascha (1749 - 1796) betonte, dass er von Skan-derbeg abstamme.77 Ob er dies behauptete, um vom positiven Skanderbeg-Bild im Ausland bei Verhandlungen mit europäischen Gesandten zu profitieren oder um sein Rückhalt im Volk zu stärken, ist allerdings nicht bekannt. Offensichtlich aber erwartete Kara Mahmud Pascha mit dieser Revision seines Familienstammbaums – sein Vater hatte noch die Auffassung vertreten, vom montenegrinischen Herrscher-haus der Crnojevići abzustammen – einen Vorteil; er erhoffte offenbar, dass das po-sitive Image Skanderbegs auf ihn abfärben würde. Das bedeutet aber, dass eine solche Vorstellung bei den Menschen der damaligen Zeit präsent gewesen sein muss. Deutlich manifestierte sich der Skanderbeg-Mythos hingegen in den Schriften der Rilinja, der albanischen Nationalbewegung, gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die frühalbanische Lyrik hatte vor allem ‚Freiheit’ als abstraktes Ideal, das eher religiös als politisch konnotiert erscheint, betont. Die Schriftsteller der Rilinja verknüpften diese ‚Freiheit’ nun mit weltlicher Erlösung. Aus der rein defensiven Abscheu vor der Weltlichkeit der osmanischen Verwaltung, die nur an Macht und Geld interessiert sei,78 wird zunehmend eine offensive Thematisierung von praktischer Verbesserung für Albanien innerhalb des Osmanischen Reichs. In dieser ersten Phase der Rilinja, die Albanien noch fast ausschließlich als Teil des Osmanischen Reichs denkt, ist der Bezug auf Skanderbeg schon angelegt, doch erst in den 1890iger Jahren, als sich die albanischen Intellektuellen zunehmend nur als Albaner und nicht mehr als albanische Untertanen des Sultans verstehen, wird der Skanderbeg-Mythos zu ei-nen integralen Baustein der albanischen Ideologie. Auf die zahlreichen Beispiele hierfür kann ich aus Platzgründen nicht eingehen, sondern lediglich Sami Frashëri (1850 - 1904) herausgreifen und bei ihm auch nur einige wenige, aber exemplarische Ausschnitte seines Werks vorstellen.79

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In seiner wichtigsten Schrift „Albanien. Was es war, was es ist und was es sein wird“ von 1899 (Bukarest) beschrieb er Skanderbeg als den Prototyp des neuen, des wahren, weil nationalbewussten Albaners dar; als ein „Wunder der Vollkommenheit“ (Frashëri, zitiert nach Bartl 2000: 131), als den einzigen Albaner, der nicht für frem-de Mächte, sondern nur für seine Heimat, Albanien, arbeitete.80 Skanderbeg habe die albanische Nation in einem Staat und unter einem Rechtssystem vereint und an ihm wurde „die Zeremonie der Inthronisation vollzogen“ (Frashëri, zitiert nach ebd.), weswegen Frashëri von Skanderbeg als „Seine Hoheit“ sprach.81 Aufgrund des be-stimmenden Einflusses Skanderbegs auf die albanische Nation sollte nach Sami Frashëris Vorstellung auch die Hauptstadt des zukünftigen albanischen Staates „Skanderbegas“ heißen.82 Mit solchen Ansichten war er keineswegs ein Einzelfall, alle zentralen Autoren der Rilinja bezogen sich auf Skanderbeg und priesen ihn als Sinnbild von Widerstand und Heldentum.83 Zudem wurde generell die Zeit Skanderbegs glorifiziert und die Liga von Lezha als eigenständiger, albanischer Staat interpretiert:84 So schrieb der Dichter Asdreni 1904: „Wenn ihr Patrioten seid / und echte Albaner / dann schafft jetzt das Vaterland / wie es unter Skanderbeg war“ (zitiert nach Bartl 1995: 152f) Skanderbeg war aber nicht nur ein ideengeschichtliches Elitenphänomen. Es ist nachgewiesen, dass zur Mobilisierung der albanischen Landbevölkerung im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kleine Skanderbeg-Bilder verteilt worden sind,85 wohl auch, weil rein nationalistische Appelle keine Wirkung zeigten. Die albanischen Massen waren bis ca. 1910 mehrheitlich nicht bereit, für Albanien zu kämpfen, wohl aber für ihren jeweiligen Landbesitz86 – und für Skanderbeg. Diese zunächst un-scheinbare Episode ist insofern bedeutsam, da die Landbevölkerung Albaniens im Regelfall nicht lesen konnte: Sie konnte logischerweise auch die Schriften der Rilin-ja nicht gelesen haben und ware nicht oder nur selten bei politischen Aktivitäten, da diese sich auf die Städte beschränkten, anwesend. D.h., die Bewohner ländlicher Regionen waren gleichsam unberührt von der modernen, nationalistischen Glorifi-zierung Skanderbegs, aber dennoch verbanden sie scheinbar ähnliches mit der Person Skanderbegs wie die Rilinja-Aktivisten: Kampfgeist, Freiheitsliebe und Wi-derstand, denn ohne eine Aussicht auf erfolgreiche Mobilisierung der Landbevölke-rung hätte man diese logistisch anspruchsvolle Aufgabe der Produktion und Distri-bution von Skanderbeg-Bildern wohl kaum in Angriff genommen. Diese Bilder soll-ten bei den ländlichen Albanern etwas ansprechen, dass dort bereits vorhanden war – deswegen brauchte man kein Flugblatt, das auch kaum jemand hätte lesen kön-nen, sondern nur die volkstümliche Ikone des kämpferischen Widerstands: Das Portrait Skanderbegs. Die Jahre nach 1900 sind von ständigen kleinen und großen Aufständen gegen die Osmanische Herrschaft gekennzeichnet.87 Ab 1908 eskaliert die Lage zunehmend. Zunächst gab es enge Verknüpfungen zwischen Albanern und den revolutionären Jungtürken, die sich in der Notwendigkeit einer weitreichenden Reform des osmani-schen Staates einig waren. Doch nachdem letztere in der Revolution von 1908 ihre Macht konsolidieren konnten,88 brach ihr rein türkischer und laizistischer Nationa-lismus voll durch. Im November 1908 widerriefen sie ihre Reformversprechen für nicht-türkische Völker, woraufhin sich der albanische Nationalismus radikalisierte und nun auch verstärkt in die unteren Schichten ausbreitete.89 1910 weigerten sich albanische Soldaten in Diensten der osmanischen Armee erstmals, auf albanische Aufständische zu schießen.90 Dieses Ereignis markiert die endgültige Durchsetzung des albanischen Nationalismus auch in der breiten Masse.

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Eine erschöpfende Darstellung der albanischen Nationalstaatswerdung, die in den deutschsprachigen Monographien über Albanien zu Unrecht nur knapp behandelt wird, ist hier nicht notwendig. Aber es ist hervorzuheben, dass die aufständischen Albaner das Banner Skanderbegs in ihren Reihen trugen. Überall dort, wo sie sich etablieren konnten, hissten sie eine Flagge mit dem Wappen der Kastriotas.91 Diese Flagge, ein doppelköpfiger Adler vor rotem Hintergrund, war bereits die Fahne der Liga von Lezha, des Albaniens von 1912 und noch heute ist sie die Nationalflagge Albaniens. Die mehr als 500jährige Geschichte dieses Symbols ist ein bemerkens-werter Fall von Kontinuität, der alles andere als zufällig ist. Aus der deutschen Geschichte ist man gewöhnt, dass die Geschichtsbilder des fri-schen Nationalismus mit zunehmender Entfernung vom 19. Jahrhundert an Bedeu-tung verlieren. Doch diese Erfahrung darf man nicht auf Albanien übertragen. So-bald es einen souveränen albanischen Staat gab, schmückten sich seine Institutio-nen mit Skanderbeg: Bereits in den ersten unruhigen Jahren nach 1912 gab es Skanderbeg-Orden und Skanderbeg-Briefmarken. Sowohl unter König Zogu (reg. 1922-24, 1925-1939), der sich ebenfalls als Nach-fahre Skanderbegs darstellte92 und die „Skanderbeg-Krone“ trug,93 als auch unter Enver Hoxha ist eine Kontinuität der identitätsstiftenden Mythen zu verzeichnen. Während die Bezugnahme im Albanien der Königsdiktatur Zogus nicht zentral war, war zu Zeiten des kommunistisch - isolationistischen Regimes Enver Hoxhas (reg. 1944-1985) der Skanderbeg-Mythos durchaus staatstragend, wie Oliver Jens Schmitt am Beispiel der Feiern zum 500. Todestags Skanderbeg 1968 herausgear-beitet hat. Ganz offen deklarierte der Ministerrat Skanderbeg zum Referenzpunkt im Denken der albanischen Historiker und bezeichnete Skanderbeg als „ein leuchten-des Beispiel des Volkskampfes für Freiheit und Unabhängigkeit“ (zitiert nach Schmitt 2005: 5). Aleks Buda, Albaniens führender Historiker, unterstrich auf dieser Feier die Bedeutung Skanderbegs: „Diese Periode [also die Zeit Skanderbegs - J.F.] ist immer noch von unerhörter Aktualität. Sie kann uns Kraft und Inspiration verlei-hen, um unser Land zu verteidigen und vor Schwierigkeiten auch nicht mit der Wim-per zu zucken.“ Dieser grundlegenden Bedeutung entsprechend herrscht in Alba-nien auch kein Mangel an Skanderbeg-Statuen und Skanderbeg-Plätzen. Jede Stadt hatte mindestens ein Denkmal und jedes Dorf besaß etwas ähnliches; wenigs-tens eine kleine Tafel oder eine Büste.94 Symbolträchtig war vor allem die Entstehungsgeschichte der Statue in Tirana. Nach dem Bruch Hoxhas mit Stalin scherte Albanien aus der kommunistischen Internatio-nalen aus und infolgedessen wurde die Stalin-Statue 1961 entfernt und durch eine monumentale Darstellung Skanderbegs ersetzt.95 Anschaulicher hätte sich der Per-spektivenwechsel hin zum nationalen Selbstbezug nicht manifestieren können: Im Zentrum Albaniens stand jetzt buchstäblich nicht mehr die prinzipiell universale Ideologie des Kommunismus, sondern die eigene, speziell albanische Geschichte. Nach dem Zerfall des kommunistischen Regimes 1991 verlor der Skanderbeg-Mythos aber nicht an Bedeutung, sondern es kam vielmehr zu einer Skanderbeg-Renaissance. Deutlich wird dies an den Buchdeckeln albanischer Schulbüchern. Vor 1991 dominierten Bilder von Volksmassen unter sozialistischen Symbolen, nach 1991 findet man dort Darstellungen Skanderbegs.96 Auch wenn heute Skanderbeg wieder etwas von den Schulbüchern verschwindet,97 – von den Schulbüchern, nicht aus den Schulbüchern – bleibt Skanderbeg in der Form von alltäglichem Kitsch prä-sent: als Wandbehang, kleine Büste, als Charakter in Kinderbüchern und Roma-nen.98 Auch Restaurants und Hotel tragen seinen Namen.99

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Skanderbeg ist noch heute das zentrale Symbol Albaniens, was auch die Buch-Gestaltung aktueller wissenschaftlicher Werke belegt: Ist das Buch-Cover mit einer Photographie versehen, zeigt diese Skanderbeg oder eine Skanderbeg-Statur, mit-unter wird sogar dasselbe Photo für verschiedene Bücher verwendet, obwohl sie nicht im selben Verlag erschienen sind.100 Und auch außerhalb Albaniens sehen Albaner im Skanderbeg ebenfalls das Sinn-bild des Albaners. Im Kosovo wurde 1999 in Prishtina eine Skanderbeg-Statur auf-gestellt,101 Skanderbeg-Portraits hängen in den Klassenzimmern102 und Skanderbeg ist ein Zentralelement des Geschichtsunterrichts.103 Auch nahm der Repräsentant der Kosovaren, Bujar Buskoshi, an der 550. Jahrfeier der Liga von Lezha in Alba-nien teil.104 Bemerkenswert ist dies auch deswegen, weil gerade aufgrund der Skanderbeg-Revolte, die sich nie auf das Gebiet des Kosovos ausbreitete, die Osmanen den Kosovo als ihren primären Standpunkt für Expeditionen gegen Skanderbegs Trup-pen ausbauten und dort ihre Herrschaft sehr nachdrücklich festigten.105 Der Kosovo, der im Ursprungsmythos der Albaner auch zum autochtonen albanischen Sied-lungsgebiet gezählt wird,106 verlor somit – nach der Slawisierung des frühen Mittelal-ters – noch weiter an albanischem Charakter. Für bereits vor dem 15. Jahrhundert im Kosovo lebenden Albaner gäbe es somit faktisch wenig Grund, Skanderbeg posi-tiv zu beurteilen, förderte seine Revolte doch die beschleunigte Konsolidierung der osmanischen Fremdherrschaft.107

5. Versuch einer Interpretation Ich habe versucht zu zeigen, was war – also die historischen Fakten – und wie das, was gewesen ist, aufgenommen, wiedergegeben und verändert worden ist – also die Rezeption. Doch die entscheidende Frage in Bezug auf einen Mythos ist nicht, was die historische Grundlage des Mythos ist oder ob er überhaupt eine besitzt; was für einen Inhalt er hat und auch nicht, wie die Wirkungsgeschichte dieser Er-zählung war oder ist. Notwendig ist eine Beantwortung der Frage, wieso an Skan-derbeg überhaupt geglaubt wird, warum Albaner sich auf ihn wie selbstverständlich beziehen und welchen Zweck der Skanderbeg-Mythos hatte und hat. Die obige Darstellung der Fakten muss also noch mit Bedeutung versehen werden und wie ich einleitend skizziert habe, ist dieses Versehen mit Bedeutung ein wesentlicher Be-standteil des Prozesses der Mythisierung. Streng betrachtet entwerfe ich in der vor-liegenden Arbeit ein Narrativ über den Mythos Skanderbeg, d.h. ich versehe eine bestimmte Auswahl von Vergangenheit (also verschiedene historische Bruchstücke) mit Kausalitäten und stelle so Kontinuitäten her. Sozialwissenschaftliche Erklärun-gen können also durchaus auch als eine Art Meta-Mythos aufgefasst werden, wobei für diese Meta-Mythen selbstredend andere Kriterien gelten als für nationale histori-sche Bezugnahmen, wie schon an der völlig unterschiedlichen Zielgruppe offenbar wird. Aber dennoch ist ein wissenschaftlicher Erklärungsversuch von seinem Kon-struktionsmechanismus her gesehen nicht etwas grundsätzlich anderes als ein nati-onaler Mythos, was jedoch keinen Anlass darstellt, von einer Be-Deutung der Fak-ten Abstand zu nehmen. Betrachtet man die Gesamtheit der albanischen Nationalmythen, so ist offensicht-lich, dass es für Albaner mehr als nur den Skanderbeg-Mythos gibt und dass nicht nur auf diesem Mythos die albanische Identität beruht. Es gibt noch weitere wichtige Mythenfiguren, doch diese beziehen sich auf Vorstellungen, abstrakte Konzepte und Kollektive, aber nicht auf Personen.

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Insbesondere der Illyrer-Kult ist wohl kaum weniger wirkungsmächtig als der Skan-derbeg-Mythos. Die Albaner sehen sich als direkte Nachfahren der antiken Illyrer und damit als das älteste Volk des Balkans an. Daraus leiten sie für sich das Recht des Erstgeborenen ab:108 Je älter Ansprüche sind, desto gewichtiger sind sie. Wer zuerst das Land besiedelt hat, dem gehört es auch und zwar für immer. Noch im 19. Jahrhundert war auf dem Balkan bei Grenzstreitigkeiten das Alter von Volksliedern, in denen Gebietsansprüche formuliert waren, ein anerkanntes argumentatives Mit-tel.109 Bemerkenswert ist, dass bereits Skanderbeg diesen Mythos verinnerlicht hatte und in einem Brief an einen italienischen Fürsten von Tarent schrieb: „Wenn sich unsere Chroniken nicht täuschen, so sind wir aus demselben Geschlecht, das sich in alten Zeiten mit den Römern schlug und bekränzt mit Lorbeer aus diesem Kampf hervor-ging.“ (zitiert nach Buda 1988: 163) Der Mythos der antiken Herkunft ist also ganz offenbar älter als der Skanderbeg-Kult und nicht nur eine Erfindung des 19. Jahr-hunderts. Dieser Mythos der totalen Autochthonie – und nicht Skanderbeg – ist die Grundlage für das ethnische Selbstbewusstsein, sozusagen das ideologische Fundament der albanischen Identität. Die Albaner sehen sich als die Authentischen, die Unver-mischten, die ethnisch Reinen.110 Dieser Mythos ist kaum zu unterschätzen: Selbst in ländlichen Regionen kennt buchstäblich jedes Kind das Wort ‚Autochthonie’.111 Bis zum heutigen Tag wird die illyrische Herkunft benutzt, um politische oder territo-riale Forderungen zu untermauern, auch und gerade im Kosovo-Konflikt mit Ser-bien.112 Doch „Der Illyrer“ ist nicht die eigen-albanische Selbstdarstellung. Aus der Zeit der Illyrer gibt es so gut wie keine schriftlichen Zeugnisse und es konnten sich keine Heldenerzählung über die Jahrhunderte erhalten. Die Illyrer erscheinen immer nur als Plural, als gesichtslose Masse. Wichtig an ihnen ist weniger ihre soziale Organi-sation als ihr frühes Erscheinungsdatum in der Weltgeschichte. Im Gegensatz dazu ist der Skanderbeg-Mythos ausgesprochen individuell. Er kon-zentriert sich auf eine einzige Person, eben auf Skanderbeg. Seine Zeitgenossen und Kampfgefährten werden nicht bearbeitet, denn wichtig ist nur der große Held, der im titanischen Kampf seine Siege erringt. Die Illyrer verweisen auf die überindi-viduelle Urzeit und der Illyrer-Mythos fungiert als elementare a priori-Berechtigung der Existenz als Kollektiv. Während der Mythos der illyrischen Herkunft also die e-xistenzbegründende Grundlage der albanischen Identität darstellt, handelt es sich beim Skanderbeg-Mythos um eine verhaltensnormierende Konkretisierung dieser Existenz: Mittels des Illyrer-Mythos wird definiert, wer Albaner ist; der Skanderbeg-Mythos aber legt fest, wie und in welcher Weise ein Albaner leben soll. Der Skanderbeg-Mythos bezieht sich im Gegensatz zum Illyrer-Mythos auf eine his-torische Zeit. Mythen dieser Zeitebene nehmen oft die Funktion eines golden age wahr, also eines Zeitalters, das aus der Vergangenheit in die Zukunft weist und eine konkrete Folie für Nachahmung darstellt.113 Dabei verweisen die Forderung der restoration ausschließlich auf die nicht-materielle Ebene: Ein Leben nach alten, an-geblich authentischen Verhaltensidealen wird angestrebt, aber keine vollständige Wiederherstellung der Lebensumstände des 15. Jahrhunderts. Das Ziel ist eine e-thische Rückkehr, eine verstärkte Orientierung am (nachträglich konstruierten) He-roismus der Vergangenheit, aber keine vollständige Emulation des Mittelalters.114 Im albanischen Fall bedeutet diese ethische Rückkehr eine Rückbesinnung auf die vermeintliche Einheit der Albaner unter Skanderbegs Herrschaft und die Subordina-tion persönlicher Interessen unter ein radikales und kämpferisches Freiheitsideal.

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Die beiden Zentralmotive – Einheit und Kampfeswille – sollen primär eine Verhal-tensänderung bewirken, aber stellen keine direkten Forderungen nach Änderung der Sozialstruktur dar. Eine konkrete und detaillierte Vorlage für die Neugestaltung einer Gesellschaft könnte der Skanderbeg-Mythos auch nicht bieten, da keine Äußerungen Skander-begs zur „richtigen“ Organisation der Gesellschaft und auch keine diesbezüglichen Verordnungen oder Reformversuche bekannt sind. Skanderbeg war Zeit seines Le-bens vollends mit militärischen Fragen beschäftigt. Für eine moralische restoration ist der historische Skanderbeg hingegen eine nahe-zu perfekte Vorlage. Zum einen existierte den Indizien zufolge bereits vor der Rilinja ein volkstümlicher Skanderbeg-Mythos,115 so dass kein Mythos „erfunden“ werden musste. Zum anderen bot der Skanderbeg-Mythos inhaltlich auch eine optimale Grundlage, da man ihn nur noch mit zusätzlichen, aktuellen politischen Inhalten an-füllen musste. Am historischen Skanderbeg musste – außer der in der Geschichts-schreibung des 19. Jahrhundert üblichen Marginalisierung von Ambivalenzen – fast nichts geändert werden, um aus ihm eine nationale und nationalistische Ikone zu machen.116 Skanderbeg verhielt sich sehr irrational und irrationales Verhalten ist eine Leitfigur des Nationalismus. Er gab eine gute, angesehene und gesicherte Stellung in der osmanischen Bürokratie auf, um 25 Jahre lag in nicht komfortablen Umständen um sein Leben zu kämpfen. So stellt sich bei einer nachträglichen Beurteilung die Fra-ge, wofür er diese Nachteile in Kauf nahm. In der Tat kann man sich zunächst kaum ein anderes Motiv für seine Rebellion vorstellen, als eine irrationale Liebe zu seiner Heimat. Der nächste Schritt der Interpretation ist dann, dass er somit persönliche Vorteile für sein nationales Kollektiv geopfert hat. Genau solches Verhalten sehen nationalistische Autoren als vorbildhaft an. Es musste zum historischen Skanderbeg fast nichts mehr hinzuerfunden werden. Er hatte mit seinen Aktionen durchaus Erfolg, wenn man das Ideal der Selbstbestim-mung als einzigen Maßstab anlegt. Er hat in über 20 Feldschlachten die osmani-schen Truppen besiegen können und in dieser Zahl sind kleinere Gefechte und Scharmützel nicht mitgezählt. Auch gibt es bei Skanderbeg einen konkreten Bezug auf einen albanischen Staat, also auf das Ziel der späten Rilinja. Skanderbeg hat nachweislich versucht, einen Staat zu errichten. Von den Illyrern kann man mit Si-cherheit nicht behaupten, dass sie ähnliches angestrebt hätten. Es musste nur wei-terhin ausgeblendet bleiben, dass Skanderbeg hinsichtlich der Etablierung seiner politischen Herrschaft gescheitert war. Stattdessen, und in diesem Punkt erscheint das fiktionale Element des Skanderbeg-Mythos am deutlichsten, imaginierte man sich Skanderbeg als aufgeklärten, absolutistischen Monarchen, der über ein territo-rial zweifelsfrei definiertes Albanien herrschte. Zusätzlich erscheint Skanderbeg in manchen Überlieferungen auch als Stifter des Kanun, des albanischen Gewohn-heitsrechts.117 Zumindest im mythischen Narrativ hat Skanderbeg der albanischen Nation sowohl ihre politisch-institutionelle, als auch in Form des den Alltag bestim-menden Gesetzeskodex’ ihre lebensweltliche Ausprägung gegeben. In diesem Ver-ständnis ist Skanderbeg wirklich der Schöpfer der albanischen Nation; also derjeni-ge, der ihre Form maßgeblich bestimmt hat. Insofern ist er der naheliegendste myt-hische Gründungsvater Albaniens. Die Konzentration des nationalen Mythos auf Skanderbeg ist also nicht nur eine willentliche Entscheidung der Rilinja-Autoren, sondern sehr nachhaltig von den bereits vorgefundenen Umständen bestimmt. Es gab gleichsam in Albanien keine wirkliche Auswahlmöglichkeit für eine historische Bezugnahme, obgleich es an anderen Aufständischen in der albanischen Geschich-

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te nicht mangelt. Bereits kurz nach der ersten osmanischen Offensive 1385 formte sich unter Balsha II. ein loser Zusammenschluss albanischer Großgrundbesitzer. Auch nach der zweiten großen Welle der osmanischen Expedition 1394-96 erhob sich albanischer Widerstand, deren Protagonisten große Teile des Landes wieder unter ihre Kontrolle bringen konnten.118 1432 schließlich begann ein weiterer, zu-nächst überraschend erfolgreicher Aufstand, dessen Anführer Georg Arianiti, wie nach ihm auch Skanderbeg, im christlichen Umland schnell berühmt wurde: „Die Kunde von diesem ersten Sieg eines christlichen Fürsten über die scheinbar unbe-siegbaren Türken verbreitete sich im christlichen Europa wie ein Lauffeuer: Papst Eugen IV., König Alfons I. von Neapel und selbst Kaiser Sigismund stellten Arianiti unter ihren Schutz.“ (Bartl 1995: 41) Doch 1439 musste Arianiti sich mit seinen Truppen ins nördliche Bergland zurückziehen und starb 1463 in Durrës.119 Aber die-se Aufstände waren lokal begrenzt und mündeten nicht in einer institutionalisieren Kooperation der albanischen Herrscher. Aus ihnen ließe sich von den beiden Hauptelementen des Skanderbeg-Kultes nur das des Kampfeswillens herausarbei-ten, aber kaum das der Einheit. Nur bei Skanderbeg findet sich dieser Schatten des Gedankens der albanischen Nation, der für einen nationalen Mythos natürlich von höchster Relevanz ist. Dieser Hauch von Nationalismus, der sich bei anderen Auf-ständen eben nicht findet, ermöglicht erst den Mythos. Und somit ist nationale Sym-bolik zumindest nicht im albanischen Fall, wie Loewenstein behauptet (s. Kap.2, S.5ff.), kontingent. Letztendlich personalisiert Skanderbeg alle Tugenden des albanischen Volkes: Wehrhaftigkeit, Tapferkeit und unbändige Freiheitsliebe. Die Albaner sehen sich permanent von Außen bedroht und in einem ständigen Abwehrkampf. Der Slogan von Enver Hoxha gilt heute immer noch:120 „Das albanische Volk hat sich seinen Weg in der Geschichte mit dem Schwert in der Hand gebahnt.“ (zitiert nach Schmitt 2005: 5). Kollektive und auch individuelle Gewaltanwendung ist ausdrücklich nicht geächtet. Diese positive Kampftradition des Volks bezieht sich vor allem auf Skan-derbeg, der als historischer Beweis für das Erfolgsversprechen von Gewalt angese-hen wird. Und schließlich kann sich mit Skanderbeg potentiell jeder Albaner identifizieren, da es nämlich keine religiösen Hindernisse gibt, was im religiös ausgesprochen hete-rogenen Albanien wichtig ist. Skanderbeg war Christ, wurde Muslim, dann wieder Christ. Sein Vater hat sogar fünfmal seine Religion gewechselt – er nahm jeweils die Religion des Potentaten an, mit dem er gerade verbündet war.121 Und die Schriftsteller der Rilinja waren zumeist Moslems, was sie nicht davor abschreckte, den christlichen Skanderbeg als Repräsentanten des neuen, nationalen Albaners aufzubauen. Wie schon im Fall der angeblichen Staatsgründung Skanderbegs mussten hier nur Elemente der Geschichte vergessen werden, aber keine erfunden werden. Denn manchen Quellen zufolge soll Skanderbeg nach seinem Abfall vom Sultan einen „Heiligen Krieg“ gegen Muslime in seinem Einflussgebiet geführt ha-ben: „Skenderbeg invited the Moslem colonists and converts to choose between Christianity and death. Those who rejected the invitation lost their lives.“ (Skendi 1957: 314) In diesem Prozess des Ausblendens wurden schließlich auch die letzten Reste von Religion eliminiert122 und ein neuer Mythos entstand: Der der albanischen Areligiösität.123 Letztendlich war es vor allem diese Reduzierung der Religion, die dem albanischen Nationalismus – mit Skanderbeg voran – den Erfolg, also die Diffusion durch alle sozialen Schichten, ermöglichte. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein dominierten in Albanien noch religiöse Gegensätze: Beispielsweise wurden in nordalbanischen

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Shkodra Katholiken systematisch unterdrückt. 1858 wurde ihr Friedhof geschändet, Grabsteine umgeworfen und sogar Leichen ausgegraben.124 Doch gegen Ende des 19. Jahrhunderts gewannen, ausgehend von den Revolten in Serbien und Griechenland, ethnische Gegensätze an Bedeutung. Die notwendige Losung war nun: Je weniger man von Religion spricht, desto besser. Denn die Al-baner sollten gegen die Bedrohung von Außen geeint werden und in dieser Hinsicht störte die Verklärung Skanderbeg als „Verteidiger der Christenheit“, wie sie in vielen Gedichten von Exilalbanern mitschwang, natürlich sehr.125 Die Religion der Albaner sollte das Albanertum sein, so formulierte es der Schriftsteller Pasho Vasa bereits 1880.126 Noch heute sind viele Albaner davon überzeugt, dass Religion ein existen-zielles Konfliktpotential darstellt und besser nicht öffentlich diskutiert werden soll-te.127 Zusammenfassend kann davon ausgehen, dass der Skanderbeg-Mythos in Alba-nien seit dem 15. Jahrhundert recht weit verbreitet war. Die alltägliche Präsens Skanderbeg zeigte sich vor allem in Nordalbanien, wo Skanderbeg in epischen Lie-dern, die in der traditionellen albanischen Gesellschaft große Bedeutung hatten, be-sungen wurde.128 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war dieser Mythos aber nur selten als Begründung für Handlungen herangezogen worden. So ist nicht ein Fall vor 1880 dokumentiert, in dem mittels Anrufung Skanderbegs die Bevölkerung mo-bilisiert werden sollte. Skanderbeg war also bekannt und geschätzt – schon allein als mythischer Stifter des albanischen Gewohnheitsrechts, des Kanuns –, aber noch nicht gezielt politisiert worden. Dies änderte sich mit dem Aufstieg der albanischen Nationalbewegung. Die Prota-gonisten der Rilinja hatten ein zweifaches Problem: Sie mussten im fragmentierten Albanien das Gefühl einer einheitlichen Identität vermitteln und gleichzeitig nach außen hin einen albanischen Anspruch auf Eigenstaatlichkeit legitimieren.129 Man darf bei diesem letzten Punkt nicht übersehen, dass ausnahmslos alle Anrainerstaa-ten aktiv gegen eine albanische Staatsgründung arbeiteten.130 Zudem war im euro-päischen Ausland die Vorstellung dominierend, dass Albaner – je nach Konfession – Türken, Griechen oder Slawen wären und eben keine Albaner. Kurzum: Man musste „Den Albaner“ entwickeln, einen Stereotyp, der beide Elemente – Integration nach Innen, Legitimation nach Außen – verband. Und es bestand kein Zweifel, dass nur ein Mann dieses Albanertum verkörpern könne: Eben Skanderbeg, Georg Kastriota. In den Worten Sami Frashëris: „Dieser unvergleichliche Held allein ist in Wahrheit Albaniens und der albanischen Nation geheiligte Inkarnation und Zenith ih-res Ruhms.“131 Ich möchte abschließend wieder auf das Problem der Bearbeitung eines solchen Mythos zurückkommen und der Frage nachgehen, wieso aus westeuropäischer Perspektive ein solcher Mythos schwerlich ernst genommen werden kann. Ein Satz wie der eben zitierte kann wohl nicht ohne eine affektive, leicht herablassende Be-lustigung gelesen werden. Diese Irritation, die sich wenigstens in einem gedankli-chen Kopfschütteln äußert, lässt sich nicht nur durch die im ersten Kapitel dargeleg-ten Überlegungen erklären. Dort hatte ich die These vertreten, dass mythen-gläubige Menschen sich von mythen-ungläubigen Menschen durch ihre sinnstiften-den Narrative der Weltbeschreibung unterscheiden. Geschichtliche Mythen stellen durch ihren historischen Bezug eine Kontinuität für ein Kollektiv her, indem sie diese Zeit, in der der Mythos erzählt wird, mit jener Zeit verknüpfen, von der der Mythos berichtet. Das Narrativ der westeuropäischen Moderne hingegen besteht aus der beständig fortschreitenden Rationalisierung der Welt, die ohne einen expliziten Ver-gangenheitsbezug auskommt. Hier wird das Narrativ in dem Maße gestärkt, in dem

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irrationale Aspekte an Bedeutung verlieren. Die Welt wird auf rationale Wirkungszu-sammenhänge gegründet und das als ‚irrational’ bezeichnete verdrängt. Diese „Ent-zauberung der Welt“ ist das grundsätzlich dominierende Deutungsmuster der heuti-gen Geschichtswissenschafter, die in ihrem Verhalten Siegried Kracauers Typus des prinzipiellen Skeptikers entsprechen:

„So entschließt er sich denn aus innerer Wahrhaftigkeit dazu, dem Absoluten den Rücken zu kehren, das Nichtglauben-Können wird bei ihm zum Nichtglauben-Wollen. Haß gegen die Glaubensschwindler – Haß, in dem vielleicht schon verges-sene irgendwann einmal unterdrückte Sehnsucht nachbebt – treibt ihn zum Kampf für die „Entzauberung der Welt“, und in der schlechten Unendlichkeit des leeren Raums vollendet sich sein Dasein. Dieses einsame Dasein aber ist in keiner Weise mehr naiv, es ist vielmehr aus einem Heroismus ohnegleichen geboren und darum in seiner selbstgewählten Unseligkeit dem Heile näher als die umhegte Existenz des Nur-Gerechten.“ (Kracauer 1989: 113)

Die Stabilisierung des Weltbilds erfolgt auch für den prinzipiellen Skeptiker, den My-then-Ungläubigen, durch ein kontinuitätsstiftendes Narrativ und insofern ist die Ab-lehnung des Mythos nicht gänzlich eine qualitativ höhere Entwicklung von Ge-schichtsverständnis, sondern treffender nur eine der heutigen scientific community vertrautere inhaltliche Ausformung. Der prinzipielle Skeptiker überwindet nicht den Mythos, sondern präpariert aus ihm den Entmythisierungsprozess heraus, der auf-grund seiner eigenen Beschränktheit (s. effektive Verdrängung von noch nicht ratio-nalisierten Beobachtungen) doch wieder mythisch anmutet. Mythos und Rationali-sierung sind nicht zwei völlig unterschiedliche Wahrnehmungsarten, sondern nur zwei unterschiedliche plots. Diese beiden Narrativformen, Mythos und Rationalisierung, haben unterschiedliche Kriterien für Wahrheit und diese Differenzen sind es, die eine Übertragung der wis-senschaftliche Auseinandersetzung mit einem historischen Mythos erschweren: Auch wenn die historische Wissenschaft übereinstimmend nachgewiesen hat, dass einen Mythos faktisch nicht haltbar ist und nachträglich konstruiert war, muss das diejenigen, die an jenen Mythos glauben und aus ihm Teile ihrer Identität ziehen, nicht auch überzeugen, da sie eben ein anderes Verständnis von historischer Wahrheit haben. Ein geschichtlicher Mythos operiert auf der Ebene der nachträgli-chen Interpretation von Ereignissen, wohingegen die historische Wissenschaft im Regelfall auf die Ereignisse selbst gegründet ist, sich aber diesen nur beschreibend annähern und nie absolut genau und unverzerrt wiedergeben kann. Sicherlich zeigt sich gerade in den letzten Jahren der cultural turn der Geschichtswissenschaft, wenn Historiker sich zunehmend auf die Fragen konzentriert, wie Ereignisse inter-pretiert oder gelesen worden sind. Aber diese Fragen werden auf der mitunter un-ausgesprochenen Grundlage gestellt, dass diese Lesarten mit den tatsächlichen Ereignissen (die bereits in vorherigen Arbeiten dargestellt worden waren) verglichen werden können. Die spezifische Lesart (also vor allem das mythische Narrativ) wird dann zwar untersucht, aber zugleich als Abweichung von der „echten“ Historie auf-gefasst. Insofern ist der cultural turn noch nicht gleichbedeutend mit einer Abwen-dung vom Ideal einer unverzerrten Darstellung vergangener Ereignisse. Ich will die-ses Festhalten an einem objektiven Kern der Geschichtswissenschaft auch nicht beanstanden, sondern nur darauf aufmerksam machen, dass man mit dem cultural turn nicht bereits die Verständnisschwierigkeiten zwischen Mythos und Geschichts-wissenschaft umgangen hat. Für die historische Wissenschaft bleibt somit eine immanente Lücke zwischen Ideal und Realisierung, die es für den Mythos nicht gibt. Doch genau dieser Unterschied

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gibt einen Hinweis darauf, weswegen ein Mythos heute mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen hat: Das Narrativ der „Entzauberung der Welt“ ist nicht nur inhaltlich dem mythischen Narrativ entgegengesetzt, sondern es wird zudem auch in einer ande-ren stilistischen Form vorgetragen oder ausgearbeitet. Hayden White hat festgestellt, dass in der westlichen Geschichtswissenschaft ein ironischer Modus der Darstellung dominiert.132 Damit ist selbstverständlich nicht gemeint, dass – dem alltäglichen Verständnis von Ironie entsprechend – For-schungsarbeiten voll von Sarkasmen wären, sondern dass ein zweifelnder Grundton die Arbeiten durchzieht. Es handelt sich nicht um beißende Ironie, sondern um eine an Immanuel Kant anschließende romantische Ironie, die Burghart Schmidt wie folgt definiert:

„Romantische Ironie bildet ein produktive oder umproduzierende Selbstaufhebung des Produzierten aus, keine schlichte Zustimmung oder Ablehnung gegenüber ei-nem Vorliegenden, nach welchen Legitimitätsgründen auch immer.“ (Schmidt 1994: 20)

Meine These ist hier, dass ein Mythos mit historischer Bezugnahme sich dieser Darstellungsform gänzlich verweigert und aufgrund dieser Inkompatibilität des Er-zähl-Modus die heutige Geschichtswissenschaft einen historischen Mythos nicht ohne einen latent mitgedachten Vorbehalt der intellektuellen Mangelhaftigkeit bear-beitet werden kann. Grundlegend für fast alle zeitgenössischen Arbeiten ist, dass stillschweigend davon ausgegangen wird, dass Sprache mit Wirklichkeit nicht identisch ist. Mit sprachli-chen Mitteln könne man Wirklichkeit folglich nicht exakt wiedergeben. Diese Einsicht resultiert in einer Distanz des Forschers zu seiner eigenen Arbeit, die man mittler-weile als abgeklärte Skepsis wahrnimmt. Häufig zeigt sich dieser ironische Stil, wenn heutige Historiker bewusst Erwartungen ihres Publikums enttäuschen oder Aspekte betonen, die zunächst als nicht bedeutsam interpretiert worden waren. Ge-nerell dient solche Ironie als Mittel des Ausdrucks des Zweifels, ob eine einzelne historische „Wahrheit“ existiert und abgebildet werden kann. Von einem solchen Standpunkt ausgehende Historiker sehen Geschichte als ein zunächst chaotisches Geflecht von einzelnen narrativen Strängen, das zunächst entwirrt werden muss. Diese Entwirrung erscheint heutzutage als zentrale Aufgabe eines Historikers, wobei dieser ständig im Blick behalten muss, dass die Kriterien der Isolierung eines solchen Strangs zur Disposition stehen. Denn der Forscher sieht sich mit dem Problem konfrontiert, dass weder über die Beschaffenheit des Geflechts, noch über die Zusammensetzung der Stränge und erst recht nicht über die angemessenen Methoden der Entflechtung ein Konsens besteht. Folglich muss er, wenn er aus dem chaotischen Geflecht einzelne Zusammenhänge zu einem nar-rativen Strang verdichtet und seinem Publikum eine nachvollziehbare Geschichte vorlegt (also den Strang in seiner Länge „abrollt“), immer auch den Einwand mit-denken, dass ein gewählter Ausschnitt immer kontingent ist. D.h., dass in die Darle-gung der eigentlichen Forschungsarbeit die Skepsis gegenüber den eigenen Krite-rien und Maßstäben zumindest als Subtext einfließen sollte. Und diese immanente Skepsis erhält in ironischer Kommentierung ihren Ausdruck. Mittels Ironie zeigt ein Forscher seine eigenen verzerrenden Potentiale der Wahrnehmung auf und stellt sie damit zu Disposition. Der ironische Ansatz erscheint deswegen als „aufgeklärt“ und selbstkritisch. Dabei sollte allerdings bedacht werden, dass durch die Offenle-gung der möglichen Verzerrungen keine weniger verzerrte Darstellung entsteht,

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sondern nur eine nach eventuell nachvollziehbareren Kriterien verzerrte, nur „wah-rer“ wird auch eine in ironischer Form dargebrachte Arbeit nicht. Aber ohne eine solche Distanz erscheint jede Auseinandersetzung mit Geschichte als unzeitgemäß. Die Pose der absoluten Gewissheit wirkt im 21. Jahrhundert aus einem akademischen Blickwinkel unseriös, unzeitgemäß und häufig lächerlich. Doch ein Mythos mit historischer Bezugnahme kann von denjenigen, die an ihn glauben, nicht ironisch-distanziert erzählt werden. Ein Mythos, der sich wie eine moderne Forschungsarbeit durch Offenlegung der eigenen Verzerrungsmöglichkei-ten mit seinem Erzählen selbst dekonstruiert, verliert sein Potential zur Identitätsstif-tung, denn er erhält seine Wirkung dadurch, dass geglaubt wird, dass er als Meta-pher in der Gegenwart ungebrochen gültig ist. Das Verhalten Skanderbegs hat als Handlungsanweisung heute immer noch seinen Wert, ohne dass es zunächst abs-trahiert und dann wieder für die Gegenwart lebbar gemacht neu formuliert werden müsste. Aufgrund dieser direkten, distanzlosen Übertragbarkeit erscheint ein My-thos als authentisch und erhält seine Beständigkeit. Detlef Hoffmanns Definition von Authentizität zeigt anschaulich, warum ein Mythos, wenn er als authentisch aufgefasst wird, grundsätzlich nicht mehr ironisch-kommentierend erzählt werden kann:

„Authentisch meint (…) ‚ohne Distanz’, Verschmelzung mit dem Ereignis oder mit einer Sache, unmittelbar. Es gibt keine Trennung zwischen rezipierenden Subjekt und den reinen, echten Ereignis, keine Analyse ist notwendig, um sich konstruie-rend oder rekonstruierend an ein Geschehen oder ein Kunstwerk heranzuarbeiten. Alles ist in der Sache selbst präsent.“ (Hoffmann 2000: 33)

Da „alles“ bereits im mythischen Narrativ evident ist, bedarf es für Mythen-Gläubige auch keiner weiteren Kommentierung oder Reflektion, um so andere Bedeutungs-ebenen oder ähnliches freizulegen. Im Gegenteil: Diese Formen der Distanzierung verringern nur das Erlebnis der – um Hoffmanns Begriff aufzunehmen – Verschmel-zung der Adressaten des Mythos mit den erzählten Ereignissen oder Handlungen. Und hier zeigt sich das Problem der vorurteilslosen Darstellung eines solchen histo-rischen Mythos: Weil die zeitgenössische wissenschaftliche Aufarbeitung von Ver-gangenem im ironisch-distanzierten Modus erfolgt, kann ein historischer Mythos, der grundsätzlich unironisch verstanden werden muss, nicht ohne eine Konnotation der Rückständigkeit analysiert werden. In der Konsequenz erscheinen soziale Gruppen, deren kollektives133 und kulturelles Gedächtnis historische Mythen als we-sentliche Elemente beinhalten, deswegen notwendigerweise als defizitär. Nun kann dieses Defizit in einen Zusammenhang mit der staatlichen Verfasstheit gerückt werden. Dann ist die These nahe liegend, dass sich in Albanien mit zuneh-mendem Abstand zu dem totalitären System Enver Hoxhas und seiner Gefolgsleute auch ein gewisser abgeklärter Abstand zur albanischen Historie entwickeln wird. Dieser These liegt die Annahme zu Grunde, dass eine pluralistischere – weil sich demokratisierende – Gesellschaft analog auch zu einem pluralistischen Geschichts-bild strebt, weil es nun möglich sei, von der alten Maßgabe abzuweichen und kriti-sche Geschichtsdarstellungen zu veröffentlichen, die von der nationsstiftenden Funktion Skanderbegs absehen und ihn stattdessen „historisch korrekt“ abbilden. Als Indiz für diese These wird angesehen, dass die heutigen Jugendlichen in Alba-nien sich eher für ihr materielles Fortkommen als für politische Ideologie interessie-ren und aus der traditionellen Vormundschaft der autoritären Familienclans lösen.134 Einer solchen Auffassung stehe ich skeptisch entgegen, da ich nicht von einem gleichsam natürlichen Zusammenhang zwischen Staatsform und Geschichts-bild(ern) ausgehe. Es bedarf letztlich mehr als nur einer Tradition von demokrati-

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scher Partizipation, um Historiographie zu ändern. Nur weil Menschen wählen dür-fen, verändert sich nicht zugleich ihr Denken. Ebenfalls ist es denkbar, eine Abkehr vom Mythos als Resultat der europäischen Aufklärung zu verstehen. Dies würde bedeuten, dass in Albanien ein Mangel an Aufklärung besteht und deswegen noch an historische Mythen geglaubt wird. Dem spricht allerdings entgegen, dass im Westeuropa gerade nach der Aufklärung, na-mentlich im 19. Jahrhundert, eine Blütezeit der geschichtlichen Mythen einsetzte.135 Die Persistenz von Mythen mit historischer Bezugnahme ist meiner Ansicht nach aber keine Entwicklungsfrage. Mythen verschwinden nicht, wenn eine Gesellschaft bestimmte Prinzipien oder Verfassungsnormen implementiert hat. Wahrscheinlicher erscheint mir, dass der Modus des Erzählens von Geschichte der entscheidende Faktor ist: Es ist die ironisch-skeptische Distanz, die kollektive Mythen verblassen und wirkungsloser werden lässt.136

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1 Vgl. exemplarisch Schöpflin 1997: 28ff. 2 In Anlehnung an Smith 1986: 209, der diese Verortungsleistung allerdings nur als eines von vielen Potentialen, und zudem eher als Mittel denn als Ziel von Mythen darstellt: „By lo-cating their community in space and time, by lovingly recreating poetic spaces and recon-structing golden ages, intelligentsias and their audiences are driven back to whatever ethnic foundations they can feel and convince themselves and other to be ‘their own’. These in turn provide the ‘maps’ and ‘moralities’ of modern nations.” Nach meiner Einschätzung steht das Ergebnis der map aber für diese am Beginn des Zitats angeführte sinnstiftende Veror-tung, weswegen sie nicht neben Lyrik, Gemälden und golden ages als weiteres Mittel für die Vermittlung von Verhaltensregeln und Normen (also den „maps and moralities“ (ebd.), den Orientierungshilfen im und für das soziale Leben) aufgefasst werden sollte.

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3 Ob hier ‚Gesellschaft’ oder ‚Gemeinschaft’ als Referenzpunkt aufgeführt wird, ist zunächst nebensächlich. Wichtig ist hier die Differenz zwischen Individuum einerseits und einer Gruppe von Menschen mit institutionalisierter Arbeitsteilung, wie rudimentär diese auch immer sein mag. Erst diese Institutionalisierung erzwingt einen Verhaltenscode, wie mit die-sen Institutionen, deren Leistung man in Anspruch nehmen will (und sei es nur die Partizi-pation an einer öffentlichen Auseinandersetzung), umgegangen werden muss. Die Heraus-bildung einer Öffentlichkeit ist demnach bereits eine Institutionalisierung. Ich benutze hier also einen sehr breiten Institutionsbegriff, aber mittels dieses Verständnisses sollte deutlich geworden sein, wieso auch so genannte primitive Kulturen einen Bedarf nach Mythen ha-ben, denn es dürfte kaum eine Gruppe von Menschen geben, die ohne irgendwelche Arten von Institutionalisierungen konstant zusammenlebt (vgl. hierzu Overing 1997: 4ff). 4 Glänzend zusammengefasst ist diese Entwicklung bei Gellner 1999a: 112ff. 5 Vgl. Overing 1997: 1ff. Paul Lorenzen geht so weit zu sagen, dass das Vernunftprinzip die Grundlage der griechischen Städtegründungen in der Frühantike war (vgl. Lorenzen 1985: 190). Dabei zieht er meiner Einschätzung nach zu wenig in Betracht, dass die griechische Gesellschaft von Region zu Region ausgeprägte Unterschiede aufwies und dass seine Zeugen Platon und Aristoteles nicht repräsentativ für die gesamte griechische Gesellschaft waren: Von der philosophischen kann nicht ohne weiteres auf die politische Sphäre ge-schlossen werden, was auch die ausgesprochen mythische Argumentation der Griechen in politischen Auseinandersetzungen zeigt. Beispielsweise begründeten die athenischen Ty-rannen Gebietsansprüche gegen Mytilene im 6. Jahrhundert v. Chr. durch eine entspre-chende Interpretation des mythischen trojanischen Krieges und im Streit zwischen Athenern und Tegeaten um die militärische Aufstellung des griechischen Heeres bei der Schlacht von Plataiai gegen die Perser 479 v. Chr. begründeten die Tegeaten ihre Position mit Verweisen auf die mythische Vorzeit, obwohl durchaus rationale Argumente (konkrete Erfahrungen aus nur wenige Jahrzehnte zurückliegende Feldschlachten) zur Verfügung standen. Und auch Bündnisverträge wurden im Regelfall mit gemeinsamen mythischen Vorfahren der Bündnis-parteien begründet, wozu auch fast nach Bedarfslage die Genealogie der mythischen Sphä-re geändert wurde (vgl. Flaig 2005: 235ff und 240ff). Von einer Dominanz des logos in der griechischen Antike, wie es bei manchen Autoren oft anklingt, kann demnach nicht ausge-gangen werden. 6 Die Naturmythen, z.B. auch die Interpretation von Regen als göttlichen Urin, sind im Wort-sinn ja auch Ergebnisse von Natur-Wissenschaft, also der intellektuellen Beschäftigung mit beobachtbaren Phänomenen der Natur. Sie sind selbstverständlich der Sphäre der irratio-nalen Naturwissenschaft zuzuordnen, aber dieses nicht zwingend triviale Wortspiel verdeut-lich meiner Einschätzung nach recht gut, wie eng im westlichen, modernen Verständnis der Begriff ‚Naturwissenschaft’ gleichsam a priori an den der ‚Rationalität’ gekoppelt ist. 7 Eine gute Übersicht zur Bevölkerungsentwicklungen und ihren sozialen Begleitumständen bietet Bartl 1997: 15ff. 8 Vgl. Malcom 1999: 132. 9 Vgl. Trevor-Roper 1983: 21ff. 10 Vgl. exemplarisch Bain 1991. 11 Ich verwende diesen Begriff in Sinne Jan Assmanns (vgl. Assmann 2002). 12 Diese Auffassung vertritt beispielsweise Eric J. Hobsbawm (vgl. Hobsbawm 1997: 8). 13 Dazu ausführlich und für die folgenden Überlegungen durchaus grundlegend vgl. Pol-kinghorne 1998: 16ff. 14 Der Begriff ‚Be-Deutung’ soll die Tätigkeit ‚etwas mit Bedeutung versehen’ ausdrücken. 15 Vgl. Schöpflin 1997: 19 und vor allem Todorova 2004: insb. 4ff. Anschaulich zeigt sich diese Nachträglichkeit in der Reaktion eines jugendlichen russischen Juden, der nach sei-ner Emigration nach Deutschland zum ersten Mal intensiv mit der Shoa konfrontiert wurde. Seine Reaktion war zunächst Sprachlosigkeit: „Ich habe wirklich erstmal eine Woche nicht gewusst, was ich dazu sagen sollte.“ (zitiert nach Schütze 1997: 193) Das normative „sollte“ drückt aus, dass seine Sprachlosigkeit keine (oder zumindest nicht nur eine) Schockreakti-

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on darstellt, sondern aus dem Mangel einer Deutung der Shoa herrührt: Er hätte etwas da-zu sagen können, wusste aber nicht, was er hätte sagen sollen, was die dem geschichtli-chen Ereignis angemessene Einordnung in das Sinn- und Bedeutungssystem seiner Um-gebung an Reaktion von ihm, einem Juden in Deutschland, erforderte. Erst mit einem ge-wissen zeitlichen Abstand konnte diese Einordnung erfolgen und er fand für sich eine eige-ne Position innerhalb des Bedeutungskomplexes ‚Shoa vs. Jude in Deutschland vs. nicht-jüdische Umwelt’. Zeitgleich, also analog mit dem Ereignis kann diese Einordnung des Er-eignisses nicht erfolgen. 16 Vgl. Polkinghorne 1998: 39. 17 Vgl. ebd. 42 und Bruner 1998: 74 18 Eine sehr gute Einführung zu diesem Mythos findet sich bei Sundhausen 2003: 354ff. 19 Vgl. Bakić-Hayden 2004. 20 Vgl. Assmann 2002: 238. 21 Jedenfalls deutet die große Bandbreite an unterschiedlichen Darstellungen in den ver-schiedenen Quellen des Mittelalters auf eine sehr diffuse Informationslage hin (vgl. Malcom 1998: 62ff). 22 Laut Richard E. Quandt können die geographischen Grenzen der Aufklärung recht gut anhand der Ausstattung der Bibliotheken mit ausländischen Büchern und funktionalen Suchsystemen nachgezeichnet werden (vgl. Tucker 2004: 158f.). 23 Der Begriff ‚Welt’ steht hier nicht für die Gesamtheit aller auf dem Planeten Erde stattfin-denden Ereignisse, sondern für die wahrgenommene Welt. Seit dem 19. Jahrhundert ereig-net sich dieser Ausschnitt aus der gesamten Welt vor allem unter nationalem Vorzeichen. 24 Vgl. dazu ausführlich Straub 1998: 82f. 25 In Anlehnung an Bruner 1998: 78. 26 Vgl. Polkinghorne 1998: 42. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass eine solche Forderung zahlreiche Berührpunkte mit Geschichtsauffassungen vor 1933 aufweist, worauf mich Alexander von Plato durch seinen sehr lesenswerten Aufsatz „Geschichte und Psychologie“ (1998) aufmerksam gemacht hat. Zu denken ist hier sicherlich an Johann Gustav Droysen, der schon im 19. Jahrhundert die „Vergangenheit […] forschend zu ver-stehen“ (zitiert nach Plato 1998: 172) versuchte und dabei einen besonderen Akzent auf die jeweiligen zeitgenössischen Wertvorstellungen und kulturellen Prägungen setzte. Für Droy-sen war der Mensch „hineingeboren in das ganze Gewordensein, in die historischen Gege-benheiten seines Volkes, seiner Sprache, seiner Religion, seines Staates, seiner schon fer-tigen Register und Zeichensysteme, in denen aufgefaßt, gedacht und gesprochen wird.“ (zi-tiert nach ebd.) Dieses Verständnis des durch vielfältige Einflüsse vermittelten Charakters von Geschichte erweist sich als überraschend zeitgemäß und passt durchaus in den aktuel-len Diskurs über das scheinbar moderne Begriffsquartett ‚Erinnern – Verarbeiten – Deuten – Verstehen’ (vgl. ebd.). Zu nennen sind hier auch die Arbeiten Wilhelm Diltheys zum Ver-stehensbegriff, die eine hohes Problembewusstsein zeigen. Als dann im Fokus der For-scher auch zunehmend Massenphänomene erschienen, traten Untersuchungsansätze, die Geschichte auf objektive Faktoren und große, gestaltende Persönlichkeiten beschränkten, weiter in den Hintergrund. Der Aufstieg des Kollektivs zum Träger der Geschichte verdräng-te eine an Biographien der „großen Männer“ interessierte Geschichtswissenschaft und führ-te zu der Forderung nach einer „Geschichte der Psyche im Wechsel der Generationen in einer gegebenen Gesellschaft“ (Karl Lamprecht, zitiert nach ebd. 174), also nach einer Mentalitätsgeschichte der Kollektive. Verfechter dieser Mentalitätsgeschichte gingen aller-dings mit dem Problem der Repräsentativität mitunter sehr unkritisch um und entwickelten starre und unzulässig grobe Volkscharaktere, was diesen Zweig – gerade in Deutschland – zu Recht diskreditiert hat. In den 1920iger Jahren diskutierte man nicht mehr nur kollektive Mentalitäten, sondern auch über Gedächtnis und Erinnerung, wobei die Übergänge zwischen kollektivem und in-dividuellen Bezug fließend wurden. Ausgelöst wurde diese Auseinandersetzung durch „die Bedeutung kollektiver Erinnerung und nationaler Mythen für Politik“ (ebd. 175), bzw. deren

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Instrumentalisierung für die Mobilisierung der Bevölkerung im Vorspiel und während des 1. Weltkriegs und der daraus gewonnen Erkenntnis, dass individuelle Erinnerung nicht einfach nur individuell ist, sondern in einem überindividuellen Kontext einbettet und von verschie-densten Faktoren geprägt und beeinflusst ist. Auch gewinnt die individuelle Erinnerung nur durch Reaktionen aus der jeweiligen Umwelt des sich Erinnernden an Relevanz. Die indivi-duelle Erinnerung muss gleichsam von sich Erinnernden an bestimmten überindividuellen Setzungen oder Gegebenheiten ausgerichtet werden, damit sie auch von anderen als be-deutsam aufgenommen werden kann. Das bedeutendste Resultat dieser Auseinanderset-zung trägt folglich den programmatischen Titel „Das Gedächtnis und seine sozialen Bedin-gungen“. Dieses Buch von Maurice Halbwachs (veröffentlicht 1925) ist auch heute noch le-senswert und diente beispielsweise Jan Assmann als eine wesentliche Quelle für seine Überlegungen zum kulturellen Gedächtnis (vgl. Assmann 2002: insb. 34ff.). Die Frage nach kollektiven Erinnerungen und ihren gesellschaftlichen Bedingungen ist also keineswegs neu, sondern vielmehr nur nach 1945 in Vergessenheit geraten und stellt damit selber ein Beispiel kollektiven Erinnerns und Vergessens dar. Denn nach 1945 verschwand in Deutschland diese Frage ziemlich abrupt, vermutlich weil die Erforschung der Subjekte und ihrer Psyche (und sozialen Prägungsfaktoren) wegen ihrer Verstrickung in die negativ besetzte jüngste deutsche Vergangenheit grundsätzlich mit großen Makeln behaftet war. Stattdessen wendete man sich zumeist einem intensiven Aktenstudium zu und untersuchte wieder die „großen Männer“ (jetzt: die großen Verbrecher und Verführer, s. Joachim Fests Hitler Biographie, und vgl. kritisch dazu Heer 2005), aber nur in Ausnahmen (s. Mitscherlich / Mitscherlich 1977) die subjektive Verfassung der Masse. Dies änderte sich nicht wesentlich durch den Boom der biographischen Literatur nach der deutschen Vereinigung 1989, da diese Art von Geschichtsdarstellung an einer strikt indivi-duellen Perspektive festhält und persönliche Erfahrungen als Geschichtsschreibung etiket-tiert, aber sicherlich nicht Geschichtswissenschaft darstellt. Diese populäre Biographiege-schichte zeigt ein bemerkenswertes Maß an „historischem Dilettantismus“ (Plato 1998: 178), weil ein scheinbar drängendes Bedürfnis nach Authentizität den kritischen Umgang mit mündlichen und subjektiven Quellen vergessen lässt, obgleich gerade die Forschung zu diesen Themen (Oral History, Biographieforschung) hier zahlreiche Probleme nachdrücklich herausgearbeitet hat (Zum Problem der Kontinuität vgl. grundlegend Bourdieu 1990). Als Ergebnis dieser Herangehensweise aus empathischer Akteursperspektive wird „je nach po-litischem Standort moralisiert und ideologisiert“ (Plato 1998: 178), aber kaum ernsthaft For-schung betrieben. Die unkommentierte Fülle an Fallstudien scheint die Epoche des Natio-nalsozialismus eher zu verdunkeln (und zu mythisieren!), indem alle Zusammenhänge in zumeist emotional anrührende Einzelschicksale aufgelöst werden. Kurzum: In Deutschland gibt es weiterhin deutliche Wahrnehmungsbeschränkungen der Geschichtswissenschaft und der Beteiligten im Diskurs um die deutsche Vergangenheit. Während in Frankreich (vgl. die „Annales“-Schule) und England (s. die Zeitschrift „Past and Present“) der wissenschaftliche Umgang mit der Vergangenheit auch vor breiteren For-schungsdesigns nicht zurückschreckt und die „Soziologie mit größerer historischer Perspek-tive“ hervorragende Ergebnisse hervorbringt, reduziert sich die deutsche Geschichtswis-senschaft auf individuelle oder strikt lokale Fallstudien ohne den nachfolgenden, syntheti-sierenden Schritt zu wagen. Es ist aber in jedem Fall beachtlich, dass Historiker vor 100 und mehr Jahren zumindest in dieser Hinsicht der oben herausgearbeiteten Anforderungen an eine Analyse von historischen Bezugnahmen in Mythen näher waren als eine Vielzahl der heutigen Geschichtswissenschaftler. 27 Vgl. die bahnbrechenden Arbeiten von Hobsbawm 1983 und Anderson 1988 (englische Erstveröffentlichung 1983). 28 Vgl. pointiert zusammenfassend Gellner 1999b. 29 Vgl. Breuily 1994 oder Loewenstein 1999. 30 Vgl. Hobsbawm 1997: 7ff. Erwähnenswert ist, dass Eric J. Hobsbawm in seinem Aufsatz „The Social Function of the Past. Some Questions“ von 1972 eine meiner Einschätzung

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nach sehr viel treffendere Darstellung der Wirkung von historischer Bezugnahmen entwirft. Hier stellt er diese als notwendige Grundlage von zyklischem Fortschritt und Veränderung dar und nicht als Verschleierung und Hindernis per se: „The dominance of the past does not imply an image of social immobility. It is compatible with cyclical views of historic change, and certainly with regression and catastrophe (that is failure to reproduce the past). What is incompatible with is the idea of continuous progress.” (Hobsbawm 1971: 6) Im Gegenteil sei eine Vorstellung einer besseren Lebensorganisation in der Vergangenheit oft der Antrieb für gesellschaftliche Veränderung in der Gegenwart. Diese restoration sei aber nicht nur rück-wärtsgewandt, da die Versuche einer Wiederherstellung von Vergangenem zwangsläufig auch immer Neues entstehen lassen, da logischerweise eine genaue Reproduktion der Vergangenheit nur in manchen, aber nie in allen Bereichen des Lebens möglich ist (vgl. ebd. 4f und 8). So entstehen fruchtbare, weil destabilisierende Ungleichzeitigkeiten und im Endeffekt läuft der Versuch, eine Gesellschaft über historische Mythen zu stabilisieren, auf ihre Destabilisierung hinaus (jedenfalls dann, wenn diese Mythen tatsächlich als Vorbild für die Gegenwart herangezogen werden und neben einer symbolischen Bezugnahme auch eine effektive Wiederherstellung anvisiert ist). Auffällig ist auch, dass Hobsbawm in diesem frühen Essay noch keinen präjudizierenden Mythenbegriff verwendet. Überhaupt verwendet er dieses Wort nur sehr selten und scheinbar unsystematisch. Eventuell mag diese Unklar-heit des Mythos Hobsbawm hier zu einem erfreulich undogmatischen und überaus lesens-werten Aufsatz verholfen haben, der sich noch sehr von seinen späteren Arbeiten unter-scheidet (und erstaunliche Übereinstimmungen mit späteren Veröffentlichungen von Antho-ny D. Smith, der heute oftmals als Gegenspieler Hobsbawms dargestellt wird, aufweist). 31 Hinter diesen gegensätzlichen Positionen stehen wiederum zwei gegensätzlichen Men-schenbilder. Für die „Instrumentalisten“ besteht die Welt aus prinzipiell gleichen Menschen, die sich nur in ihrer Vorstellung, also in ihrem Selbstbild, unterscheiden. Zerstört man My-then, die dieses Selbstbild prägen, führt man die Menschen einen Schritt näher an das Ideal der universellen Gleichheit. Meine Darstellung ist nun zugegebener Maßen vereinfachend und polemisch, aber dass die Sichtweise der „Instrumentalisten“ tendenziell mit dem klassi-schen sozialistischen Menschenbild kompatibel ist, lässt sich nicht von der Hand weisen. Wenn Mythen, also das Selbstbild der Menschen, nicht aus tatsächlicher Andersartigkeit ih-rer sozialen und politischen Organisationsformen (und deren Wirkungen in der Vergangen-heit), sondern aus austauschbaren und beliebigen Erfindungen der Entscheidungsträger besteht, ist der Weg zur sozialistisch-kommunistischen Utopie der Gleichheit durchaus zu erkennen. Hingegen gehen die „Peculiaristen“ von einer grundlegenden Andersartigkeit zwischen Menschengruppen aus, die aus den unterschiedlichen historischen Umständen und Aus-prägungen von Veränderungen herrührt und eben auch ohne konstituierende Mythen evi-dent vorhanden wäre. Diese Andersartigkeit findet in den historischen Mythen ihren Aus-druck, aber historische Mythen erzeugen nicht diese Andersartigkeit. Dabei ignorieren „Pe-culiaristen“ keineswegs die Gefährlichkeit der Instrumentalisierung historischer Mythen (vgl. Smith 1986: 201). 32 Als Grundlage meiner Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich dienten mir vor allem Majoros / Rill 1994: insb. 44ff, Sugar 1977, Malcom 1998: 93ff und Bartl 1995: 49ff. 33 Zu dieser Schlacht vgl. die grundlegende Darstellung bei Malcom 1998: 58ff. 34 Vgl. Majoros / Rill 1994: 120ff. 35 Vgl. Zhelyazkova 2000: 3. 36 Allerdings gab es wohl schon zu dieser Zeit ein Bewusstsein von Albanien als Einheit von Territorium und Bevölkerung. So enthielt das Wappen Skanderbegs das Kürzel „D. - Al.“, was nach dem Konsens der Forschung nur als „Dominus Albaniae“ gedeutet werden kann (vgl. Tönnes 1980: 239). 37 Sie gehörten dem Stamm der Süd-Mirditen an (vgl. Kohl 1998: 49). 38 Vgl. Majoros / Rill 1994: 126f.

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39 Die beste Darstellung der Familiengeschichte der Kastriotas vor Skanderbeg findet sich bei Kohl 1998: 49ff. 40 Vgl. ebd. 48. 41 nach Zhelyankova 2000: 6 und Bartl 1995: 44. Klaus-Peter Todt erwähnt, dass sich Skanderbeg bereits 1415 als Geisel in Adrianopel aufhielt (Todt 1995: 616), aber von dort bald wieder zurückkehrte, bevor er abermals 1423, nun für immer, zur Geisel des Sultans wurde. Diese Jahreszahl nennt auch Aleks Buda, wobei er aber nicht Skanderbegs zwi-schenzeitliche Heimkehr erwähnt (vgl. Buda 1988: 159). Jedenfalls erklärt sich aus diesem ersten Aufenthalt die unterschiedlichen Angaben zum Alter Skanderbeg bei seiner Ankunft am Hof des Sultans. Bezieht sich der jeweilige Autor auf den ersten Aufenthalt, ist Skan-derbeg zum Zeitpunkt seines Ganges in osmanische Geiselhaft zwischen 9 und 10 Jahre alt. Die Mehrheit der Autoren geht aber von dem späteren, zweiten Beginn der Geiselhaft aus (wobei sie den ersten Aufenthalt zumeist verschweigen) und folgerichtig ist Skanderbeg dann auch erheblich älter, nämlich bereits 18. Der Altersunterschied entsteht also nicht dar-aus, dass man das Geburtsjahr Skanderbegs nicht genau kenne, wie Christine von Kohl annimmt (vgl. Kohl 1998: 49), sondern dass vielmehr eine gewisse Uneinigkeit hinsichtlich des Beginns der „osmanischen Periode“ Skanderbegs besteht. Wieso Skanderbeg 1415 wieder zurück nach Albanien geschickt wurde, ist anscheinend nicht bekannt. 42 Sogar der ansonsten tendenziell anti-osmanische albanische Historiker Aleks Buda be-zeichnet diese Geiselhaft deswegen als „goldene Gefangenschaft“ (vgl. Buda 1988: 159). 43 Nach Peter F. Sugar bereits 1436 (vgl. Sugar 1977: 67) 44 Vgl. Todt 1995: 616. 45 Eine weitere Ambivalenz der Person Skanderbegs ist, dass er auch später, als er offen gegen den Sultan revoltiert, seinen türkischen Namen behält (vgl. Buda 1988: 162). 46 Vgl. Todt 1995: 616. 47 Vgl. Bartl 1995: 44 und Zhelyazkova 2000: 6f. 48 Vgl. Kohl 1998: 49. 49 Vgl. Majoros / Rill 1994: 145ff. 50 Vgl. Sugar 1977: 67. 51 Dieses Datum taucht immer wieder in der albanischen Geschichte auf: Am 28. November 1912 ruft die Nationalversammlung in Vlora einen unabhängigen Staat Albanien aus und am 28. November 1944 zieht Enver Hoxha in Tirana ein, obwohl seine Partisanentruppen die Stadt bereits elf Tage zuvor eingenommen hatten (vgl. Tönnes 1980: 116). Hier sieht man deutlich die Zahlenmagie eines Datums: Der offizielle Einzug des Kommandeurs unter dem Banner der Skanderbeg-Flagge (vgl. ebd. 468) wurde zugunsten der symbolischen Kontinuität nach hinten verlegt. 52 Vgl. Kohl 1998: 47f. 53 Vgl. Bartl 1995: 44f. 54 Bemerkenswerterweise ähnelt diese Taktik dem Vorgehen der Osmanen: Auch diese lie-ßen zuerst leichte Truppen den Feind angreifen und wenn diese erwartungsgemäß mit ihrer Attacke scheiterten und die Feinde stürmisch, sich überlegend wissend, angriffen, ver-schanzten sich die Osmanen um den Sultan und seine Janitscharen und ließen die Gegner gegen ihre Stellungen anrennen (vgl. Majoros / Rill 1994: insb. 40ff und 123f). Auch Skan-derbeg verleitete seinen Gegner zu Angriffen, um diese dann zurückzuschlagen, auch er gewinnt mit einer defensiven Taktik. Möglicherweise fand er die Inspiration zu dieser Taktik in den Lehren seiner klassischen osmanischen Militärausbildung. 55 Angeblich standen dem 100000 Mann starken Heer des Sultans nur 12000 Männer unter Skanderbegs Befehl entgegen. Von diesen 12000 befanden sich wiederum 8000 außerhalb der Krujas (vgl. Koch 1989: 137). 56 Vgl. Todt 1995: 616. 57 Vgl. Bartl 1995: 46. 58 Vgl. ebd.

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59 Vgl. neben den Übersichten über die prominenten Autoren der Rilinja bei Bartl 2000 und Lubonja 2002 auch die empathischen Darstellungen bei Buda 1988: 159f. oder Thengjilli 2005: 2. 60 Vgl. Zhelyazkova 2000: 7. 61 Vgl. Bartl 1995: 46. 62 Zu diesem Schluss kommt sogar die vom klassischen Bild Skanderbegs als Gründer der albanischen Nation ausgehende Arbeit von Antonia Zhelyazkova. Sie nennt speziell die Jahre 1455-57, in denen die Liga auseinander fiel (Zhelyazkova 2000: 7). 63 So jedenfalls die Darstellung bei Buda 1988: 162. 64 Vgl. Bartl 1995: 46. 65 Vgl. Kohl 1998: 52. 66 Hier zeigt sich meiner Einschätzung nach eine recht große Forschungslücke. 67 In der albanischen Geschichtsschreibung erscheinen die Jahre nach Skanderbegs Tod oft nur als Fußnote oder in einem knappen Nebensatz. Zudem wird der Anteil Venedigs am fortgesetzten albanischen Widerstand gegen die Osmanischen Eroberer nicht selten völlig verschwiegen. Auch hier bietet einer der wenigen ins Deutsche übersetzte Texte des re-nommiertesten albanischen Historiker, Aleks Buda, ein Beispiel: „Als es der erdrückenden Übermacht des Feindes nach einem erbitterten Jahrhundert des Widerstands [sic!] und letz-ten entschlossenen Gegenwehr bei der Belagerung von Kruja und Shkodra im Jahr 1478/79 schließlich doch noch gelungen war, das zahlenmäßig kleine Volk zu überrennen, war Skanderbegs historische Rolle noch immer nicht zu Ende gespielt.“ (Buda 1988: 163) Von Venedig kein Wort. 68 Zu den albanischen Kolonien in Italien vgl. Bartl 1995: 62ff. 69 Vgl. Skendi 1968: 83f. 70 Vgl. Bartl 1995: 85 und 281. 71 Selbstredend war Barletius kein Geschichtswissenschaftler im heutigen Verständnis, aber im Gegensatz zu späteren Quellen versuchte er sich an einer umfassenden, nicht fiktiona-len Darstellung nach klassischen griechischen Vorbild (s. Herodot). Nach Barletius widmete offenbar kein weiterer Autor Skanderbeg einen längeren Fließtext, stattdessen finden sich zahlreiche Gedichte, Lieder und Ikonen. 72 Vgl. Elsie 1993: 11ff und genereller Kohl 1998: 51. Als Fallstudie vgl. exemplarisch Man-fred Boetzkes’ Anmerkungen zur Oper „Scanderbeg“ (1735) von de la Motte, Franceour und Rebel (vgl. Boetzkes 1988). 73 Vgl. Tönnies 1980: 120. 74 Vgl. Bartl 1995: 67. 75 Zumindest findet diese Episode in den einschlägigen Werken zu Albaniens Geschichte nur bei Peter Bartl Erwähnung. 76 Vgl. Bartl 1995: 67ff. 77 Vgl. ebd 73. 78 Vgl. Hasan Kamberi: Das Geld (1789), in: Elsie 1988: 22. 79 Detailliertere Ausführungen finden sich bei Bartl 2000, Lubonja 2002, Misha 2002 und vor allem Tönnes 1980. 80 Vgl. Bartl 1995: 103f, Hemming 2005: 3, Kohl 1998: 67 und ausführlicher Bartl 2000: 128ff und Tönnes 1980: 248ff. 81 Vgl. Bartl 2000: 131. 82 Vgl. Bartl 1995: 104. 83 Die bekanntesten Titel dieser Zeit sind: Gjergj Fishta (1871-1940) - The Highland Flute (Zadar 1905-07), Naim Frashëri (1846-1900) - Histori e Skënderbeut (Bukarest 1898), Giro-lamo De Rada (1814-1903) - Der unglückliche Skanderbeg (1872-74). 84 Vgl. Bartl 2000: 131. 85 Vgl. Tönnes 1980: 276, 86 So konnten 1908 die Tätigkeiten einer österreichischen Landvermessergruppe dazu ge-nutzt werden, den albanischen Bauern glaubhaft zu machen, dass das Habsburger Reich

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Albanien aufkaufen wolle. Dann erst waren 20.000 Albaner zum Aufstand bereit (vgl. ebd. 154). 87 Eine hervorragende und detaillierte Darstellung bietet Tönnies 1980: 249ff, für eine gute Zusammenfassung vgl. Jelavich / Jelavich 2000: 222ff. 88 Zu den Vorgängen innerhalb der Kerngebiete des Osmanischen Reiches im frühen 20. Jahrhundert bietet Udo Steinbach eine gute Übersichtsdarstellung (vgl. Steinbach 2000: 20ff.). 89 Vgl. Tönnes 1980: 285ff. 90 Vgl. ebd. 292. 91 Vgl. exemplarisch ebd. 293 oder auch 468. 92 Vgl. Bartl 1995: 212. 93 “The president and dictator Amet Zogu proclaimed himself King Zog I. Now the eagle in the flag is surmounted by Skanderbeg's helmet in gold, which served as the royal crown.” (vgl. http://www.nationalflaggen.de/flags-of-the-world/flags/al.html, checked 23.07.2005) 94 Vgl. Kohl 1998: 52. 95 Vgl. Lubonja 2002: 96f. Bemerkenswert sind auch die Zeilen zum Film ‚Skanderbeg’ (alb. - russ. Co-Produktion von Sergej Jutkevic) von 1957 ebenda: Skanderbeg, der albanische Nationalheld, wurde von einem georgischen Schauspieler verkörpert. 96 Vgl. Hemming 2005: 14. 97 Vgl. ebd. 98 Vgl. ebd. Wobei man gerade im Bereich der Literatur Skanderbegs Präsens nicht mit Dominanz verwechseln sollte. So findet sich unter den aktuellen Neuerscheinungen albani-scher Literatur kein Werk, das sich explizit mit Skanderbeg oder mit seiner Zeit beschäftigt (vgl. Elsie 2005). 99 Vgl. Wenzel 2003: 88 und 107. 100 Vergleiche die im Literaturverzeichnis genannten Monographien und Sammelbände von Christine von Kohl, Peter Bartl (diese beiden schmücken sich mit demselben Photo), Maria Todorova (2004) und Stephanie Schwandner-Sievers / Bernd J. Fischer. 101 Vgl. Hemming 2005: 17f. 102 Vgl. Kostovicova 2002: 168. 103 Vgl. Hughson 2004: 34ff, insb. 38. 104 Vgl. Schmitt 2005: 11. 105 Vgl. Malcom 1998: 88. 106 In dieser Darstellung siedelte im Kosovo der illyrische Stamm der Dardaner (vgl. Bartl 1997: 16). Dass von den Dardanern angenommen wird, dass sie ursprünglich ein Stamm der Thraker waren, der in Verlauf der Zeit von der illyrischen Kultur überformt wurde (vgl. Haarmann 2005: 139). Nach strengen genealogischen Kriterien sind die Dardanen wahr-scheinlich keine „echten“, also ethnisch reinen Illyrer. 107 Selbstverständlich ist diese Überlegung eher ein Gedankenspiel, da eine Kontinuität ei-ner selbstbewusst albanischen Bevölkerungsgruppe im Kosovo eher fraglich ist (vgl. Bartl 1997: 16ff und insbesondere Malcom 1998: 22ff). Die Mehrheit der albanischen Bevölke-rung des Kosovos siedelte sich dort erst nach dem 15. Jahrhundert an und bestand zu gro-ßen Teil aus Flüchtlingen, deren Fluchtmotive sowohl sozialer, wirtschaftlicher als auch poli-tischer Natur waren (vgl. Bartl 1997: 17f). 108 Vgl. Zhelyazkova 2000: 1f. 109 Vgl. dazu anschaulich die Auseinandersetzung um die Stadt Shkodër bei Tönnes 1980: 44ff. 110 Vgl. Malcom 2002: 73ff. 111 Vgl. Schwandner-Sievers 2004: 104. 112 Vgl. für die akademische Welt exemplarisch Stavileci / Nushi 2000. 113 Vgl. Schwandner-Sievers 2004: 104ff. und zum theoretischen Konzept des golden age: Smith 1986: 191ff. 114 Vgl. Hobsbawm 1971: 7f.

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115 Vgl. die Darstellung in Kap.3 (S.7ff.) und in aller Deutlichkeit schreibt Aleks Buda: „Die Erinnerung an ihn ging auch in den Jahrhunderten der Fremdherrschaft nicht verloren. Im-mer wieder, wenn sich das Volk zu neuen Volksaufständen erhob, geschah dies in Beden-ken an Skanderbeg. So beriefen sich die aufständischen Bergbauern in den großen Volks-versammlungen im 16. und 17. Jahrhundert immer wieder auf die glorreiche Zeit seines „Reiches“ und kennzeichneten mit seinem Adler ihre Aufrufe.“ (Buda 1988: 163f.) Zu den Problem der Persistenz des Skanderbeg-Mythos unter osmanischer Herrschaft vgl. auch Fußnote 128 (S.Fehler! Textmarke nicht definiert.). 116 Vgl. Misha 2002: 43. 117 Vgl. Schwandner-Sievers 2004: 111f. 118 Vgl. Skendi 1957: 312. 119 Vgl. Bartl 1995: 41ff. 120 Vgl. Malcom 2002: 81ff. 121 Vgl. Kohl 1998: 50 122 Vgl. Misha 2002: 43. 123 Vgl. Malcom 2002: 84ff. und als geschichtlicher Überblick zur albanischen Religionsge-schichte Skendi 1957. 124 Vgl. Duijzings 2000: 162. 125 Vgl. Misha 2002: 43. 126 Vgl. Duijzings 2000: 160. 127 So antwortete ein Albaner auf die Frage, ob Religionsunterricht in der Schule erteilt war-den sollte: „I don’t think it is the right time now to teach religion at school, because (…) Al-banians have three different religions so that if we teach this three religions it would be a mess at school.“ (Hughson 2004: 14) 128 Vgl. Hemming 2005: 9f. Im Gegensatz dazu schreibt Stavro Skendi, dass in Albanien diese Heldenlieder unter osmanischer Herschaft nicht mehr gesungen wurden und „the memory of the national hero had begun to fade“ (Skendi 1968: 84), doch sie blieben unter im Exil lebenden Albanern lebendig. Weder Hemming noch Skendi belegen ihre Auffassun-gen. Skendi stellt aber implizit einen Zusammenhang zwischen Religionszugehörigkeit und Skanderbeg-Mythos her, wenn er zunächst auf die Islamisierung verweist und ohne weite-ren Kommentar dann den Bedeutungsverlust konstatiert: „By the 19th century the majority of them [the inhabitants of Albania – J.F.] had become muslims. The memory of the national hero had begun to fade and songs which once celebrated him and his companions had dis-appeared.” (Skendi 1968: 84) Sicherlich führte die veränderte politische Situation dazu, dass öffentliche Bekenntnisse zu Skanderbeg selten wurden und nicht verschriftlicht wur-den, aber ob dieser Mangel an Quellen auch zugleich auf einen Bedeutungsverlust hinsicht-lich der mündlichen Tradition hinweist, ist meiner Einschätzung nach fraglich. Zumindest er-scheint mir das Urteil Ger Duijzings, der Skanderbeg-Mythos sei nur „a literary invention“ (Duijzings 2000: 174), das er nur auf Grundlage Skendis kurzem Text fällt, doch sehr über-eilt. Die Frage, ob die Erinnerung an Skanderbeg auch während der osmanischen Periode Albaniens in der Bevölkerung präsent war, verdient gewiss noch einige nähere Untersu-chungen. 129 Vgl. Bartl 2000: 119. 130 Vgl. dazu ausführlich Tönnes 1980: 277ff. 131 Zitiert nach ebd. 133. 132 Vgl. White 1975: 31ff. und White 1990: 26ff. 133 In Anlehnung an Aleida Assmann (einführend vgl. Assmann 2002: 186ff.). 134 Vgl. Hensell 2004: 78ff. 135 Vgl. White 1975: 45ff und 135ff. 136 Und in diesem Zusammenhang sei mir eine letzte Spekulation gestattet: In vielen post-kommunistischen Ländern wurde offenkundig, dass die kommunistische Epoche sich nur schwer in das grundsätzlich organische Verständnis von Nation innerhalb der Bevölkerung integrieren lässt. Es kommt infolgedessen zu Konflikten um die Einordnungen dieser Ab-

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schnitte. Die Debatten, ob der Kommunismus als Bruch oder als Übergangsphase verstan-den werden sollte, bringt es auch für Nicht-Akademiker augenscheinlich zutage, dass Ge-schichte und Geschichtsmythen keineswegs „natürlich“, sondern konstruiert sind (vgl. ex-emplarisch Murgescu 2004 und Wood 2005). Wie gezeigt, wurde Skanderbeg in der kom-munistischen Ära als Grundlage des kollektiven Gedächtnisses des albanischen Staates aufgebaut und es kam zu einer Schwemme von Skanderbeg-Statuen, Skanderbeg-Plätzen und anderen Manifestationen. Die kommunistische Vergangenheit ist folglich mit dem Skanderbeg-Mythos gekoppelt. Nun halte ich es für nahe liegend, dass insbesondere unter denjenigen, die von Hoxha-Regime benachteiligt wurden und unter Repressionen zu leiden hatten, der Skanderbeg-Mythos aufgrund seiner massiven Instrumentalisierung an Glaub-würdigkeit und Identifikationspotential verloren hat. Infolgedessen ist es möglicherweise so zu einer Distanzierung zum historischen Vorbild der Rilinja gekommen, die nun Raum bietet für Skepsis und Ironie und die Vorstellung verunmöglicht, dass Skanderbeg immer noch das organisch-evidente Vorbild der albanischen Nation wäre. Die Frage, ob möglicherweise ein Zusammenhang zwischen der Glaubwürdigkeit eines Mythos und seiner politischen In-strumentalisierung besteht, muss an dieser Stelle leider noch unbeantwortet bleiben.