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Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte Die Grenzen der Menschenrechte Von der Grenzlinie zum Grenzraum/ Martin Wunderlich, Tobias Wötzel Technische Universität Dresden Institut für Politikwissenschaft Wintersemester 2012/13 HS/Projektseminar: An den Grenzen des Rechts. Zur Politischen Theorie des Flüchtlings. Dozentin: Dr. Julia Schulze Wessel Von der Grenzlinie zum Grenzraum - Wie werden Territorialität und Rechtsgeltung im Grenzraum als Raum der Ausnahme aufgelöst? Autor_innen: Martin Wunderlich, Tobias Wötzel

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Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte

Die Grenzen der Menschenrechte Von der Grenzlinie zum Grenzraum/ Martin Wunderlich, Tobias Wötzel

Technische Universität Dresden Institut für Politikwissenschaft Wintersemester 2012/13 HS/Projektseminar: An den Grenzen des Rechts. Zur Politischen Theorie des Flüchtlings. Dozentin: Dr. Julia Schulze Wessel

Von der Grenzlinie zum Grenzraum -

Wie werden Territorialität und Rechtsgeltung

im Grenzraum als Raum der

Ausnahme aufgelöst?

Autor_innen: Martin Wunderlich, Tobias Wötzel

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Die Grenzen der Menschenrechte Von der Grenzlinie zum Grenzraum/ Martin Wunderlich, Tobias Wötzel

Inhaltsverzeichnis

I. Grenzlinie und Grenzraum – eine Hinführung.................................................................1

II. Konstruktion und Auflösung von Territorialität und Rechtsgeltung auf der Grenze als

Linie.................................................................................................................................3

2.1 Eine Definition von Grenze................................................................................3

2.2 Gründung der Grenzlinie auf Recht und Territorium: der Kontraktualismus

von Hobbes, Locke und Rousseau......................................................................5

2.3 Der Grenzraum als neue Gestalt der Grenzlinie.............................................9

2.4 Rechtsaussetzung im Raum der Ausnahme: Giorgio Agamben.........................11

III. Ausblick : „Die Grenze ist das neue Lager“ .........................................................................15

IV. Literatur................................................................................................................................18

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Die Grenzen der Menschenrechte Von der Grenzlinie zum Grenzraum/ Martin Wunderlich, Tobias Wötzel

I. Grenzlinie und Grenzraum – Eine Hinführung

„Ich sehe unsere Zeit als eine Epoche, die erkennt, daß es Grenzen gibt,

aber auch, daß die Nationen an Bedeutung verlieren.“

- Sir Yehudi Menuhin -

Grenzen bestimmen unseren gesamten Alltag, alles gründet auf ihnen. Ohne sie wären

Nationalstaaten und damit auch der gesamte politische Alltag, wie wir ihn kennen, nicht

möglich. Doch so sehr diese auch manifestiert scheinen, unterliegen sie bestimmten

Veränderungsprozessen. Hierzu zählen Prozesse der Globalisierung und Transnationalisierung

ebenso, wie multiple Krisenerscheinungen und zunehmende Dominanz ökonomischer und

sicherheitspolitischer Aspekte im öffentlichen wie politischen Diskurs. Ihnen allen ist gemein,

dass sie grenzüberschreitend wirken. Die Konstruktion und Manifestation einer Grenze

impliziert stets auch die Möglichkeit ihrer Überschreitung. Was geschieht jedoch wenn sich Ort

und Struktur einer Grenze verändern? Schließlich gibt es kaum einen Aspekt an einer Grenze

der gegenwärtig für Migranten und Flüchtlinge in aller Welt bedeutsamer wäre, als die

Überwindung eben jener Linie, die das Innen vom Außen scheidet. Die vorliegende Arbeit

nimmt sich dieses Spannungsfeldes an und hinterfragt, was geschieht, wenn sich Struktur und

Ort der Staatsgrenze soweit verändert, dass diese aktuell viel eher als Grenzraum, denn als

Grenzlinie begriffen werden sollte.

Linie und Raum sind, bezogen auf die territoriale Umgrenzung des modernen Staates, mit

vielfältigen Implikationen verbunden. Seit dem 17. Jahrhundert gilt der Nationalstaat als

souverän und seine Souveränität äußert sich in der Setzung und Geltendmachung von Recht.

Dies ist wiederum nur in einem umgrenzten Territorium möglich, um für die

herrschaftsunterworfenen Insider Gültigkeit beanspruchen zu können. Die so bis heute

staatsrechtlich fundierte „Dreieinigkeit“ von Staatsgewalt, Staatsvolk und Staatsgebiet greift

auf wichtige Dimensionen des Grenzbegriffs zurück: Territorialität und Rechtsgeltung. Sowohl

ideengeschichtlich, als auch juristisch und politisch ist die Grenze als Linie eng mit beiden

Begriffen verbunden und kann ohne diese nicht gedacht werden. Und so sehr diese Kopplung

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2 Die Grenzen der Menschenrechte Von der Grenzlinie zum Grenzraum/ Martin Wunderlich, Tobias Wötzel

über Jahrhunderte auch zweifelsfrei konstitutiv für die moderne Staatlichkeit war, so lässt sich

gegenwärtig nur schwerlich leugnen, dass hier Begrifflichkeiten und Bedeutungsinhalte in

Bezug auf die Grenze in Bewegung geraten. Flucht, Vertreibung und Migration stehen mit der

territorialen Grenzlinie in Spannung. Dabei geraten Ort und Struktur der Grenze als Linie nicht

nur von außen in Bewegung, sondern auch von innen.

Abgeleitet aus diesen Vorüberlegungen stellen wir uns in dieser Arbeit die Frage, wie durch die

Neukonstituierung der Grenze, der Zugang der Flüchtlinge zum Recht verändert wird. Ziel dieser

Arbeit soll es somit sein zu zeigen, dass sich Ort, Struktur und Funktion der territorialen Grenzlinie

aktuell verändern und die Staatsgrenze eher als Grenzraum, denn als Grenzlinie gedacht werden

kann. Hierbei sehen wir die Grenze als Unterscheidung zwischen Drinnen und Draußen. Um diesen

Transformationsprozess möglichst genau untersuchen zu können, werden wir, ausgehend von einer

ideengeschichtlichen Konzeption mit einem besonderen Augenmerk auf die kontraktualistische

Denkweise und die Überlegungen Giorgio Agambens, in einem praktischen Ausblick münden.

Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bildet dabei die Begründung moderner Staatlichkeit, da

diese ohne eine Vorstellung von Grenzen schlechterdings nicht möglich ist. Aus diesem Grund stützt

sich die Untersuchung zunächst auf die Konzeptionen der Grenze als Linie. Hierbei stellen wir die

kontraktualistische Denkweise in den Mittelpunkt, um aufbauend auf die Vertragstheoretiker

Hobbes, Locke und Rousseau die moderne Staatsgrenze auf Recht und Territorium zu

begründen. In einem nächsten Schritt möchten wir aufzeigen, wie man theoretisch erklären

kann, dass sich die klassische Grenzlinie hin zu einem Grenzraum wandelt. Dazu bedienen wir

uns der Argumentation Giorgio Agambens, welcher mit seinen Überlegungen zum „Nackten

Leben“ und der Suspension des Rechts im Lager als Raum der Ausnahme, wichtige Impulse für

unsere Thesen gegeben hat. Mit Agamben wollen wir zeigen, wie das Recht im Raum der

Ausnahme ausgesetzt und die Rechtsgeltung somit von der Grenzlinie entkoppelt wird, denn

selbst er stellt die Eindeutigkeit des Dualismus der Grenze in Frage. Gegen Agamben werden

wir argumentieren, dass auch das Territorium im Raum der Ausnahme von der Grenzlinie

gelöst wird, sich dieser aber nicht nur auf Lager beschränkt, wie bei ihm angelegt, sondern

letztlich überall errichtet werden kann. Den Ausnahmezustand Giorgio Agambens verorten wir

später im Grenzregime der EU, um zu zeigen, wie die zum Grenzraum ausgedehnte Grenzlinie,

als Raum der Ausnahme politische Realität geworden ist. Untersucht werden soll auch, was

Agambens Theorien, angewendet auf die klassische territoriale Grenze, die für den eindeutigen

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Dualismus steht, überhaupt bedeuten. Wir stellen demnach die These auf, dass man heute

keinen Dualismus mehr vorfindet und die klassische Grenze im Raum der Ausnahme aufgelöst

wird.

Mit der zusammenfassenden Beantwortung der Forschungsfrage, wollen wir auch einen kurzen

Ausblick wagen, um aufzuzeigen, wie die Problematik von Grenzlinie und Grenzraum mit dem

Leben Tausender Menschen jeden Tag kollidiert. Hierzu sollen einige Überlegungen zur EU als

anschauliches Beispiel dienen.

II. Konstruktion und Auflösung von Territorialität und Rechtsgeltung auf der Grenze als

Linie

2.1. Eine Definition von Grenze

Bevor im Fortgang dieser Arbeit die Implikationen der Grenze als Linie und als Raum bestimmt

werden sollen, gilt es zunächst das Phänomen der Grenze definitorisch zu umreißen. Denn so

universell die Vorstellungen von Grenzen in der politischen, soziologischen, epistemologischen

oder individuellen Lebenswirklichkeit auch sein mögen, so wenig lässt sich der Gegenstand

ohne nähere Bestimmung für die zugrunde liegende Fragestellung fruchtbar machen.

Da Grenzen somit in ihrer Komplexität kaum objektiv definierbar sind, wollen wir zunächst von

der Annahme ausgehen, dass sie immer ein Phänomen der Unterscheidung, der Trennung und

Aufteilung sind, da „jede Form von Differenzierung [eine] Entscheidung über das Ziehen von

Grenzen [braucht]“ (Vasilache 2007: 29). Damit sind Grenzen stets auch geistige Projektionen,

als Ergebnis von Einbildungskraft, Gedächtnis und Vernunft (Bauer/Rahn 1997: 6ff.).

Entscheidend für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand sind vor allem deren Ort und

Struktur, welche aus den Eigenschaften als Funktionsträger resultieren. Da, wie bereits

erwähnt, Grenzen als Medien der Unterscheidung zu begreifen sind, konstruieren sie ein

binäres Unterscheidungsraster, welches die kategoriale Trennung von Eigenem und Fremden,

von Wir und Sie, ebenso wie von Innen und Außen ermöglicht. In dieser Eigenschaft begegnet

uns die Grenze sowohl ideengeschichtlich als auch historisch als Linie, welche den sie

umgebenden Raum einschließt und die Umwelt ausschließt. Besonders im Europa der Neuzeit

hat dieser Umstand nachhaltige Auswirkungen für politische Gemeinwesen, da mit dieser

Vorstellung speziell seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert eine überaus starke territoriale

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Prämisse verbunden ist (Wagner 1994: 73ff.; Ebeling 1997: 73ff.). Mit der Entstehung des

Nationalstaates gehen Territorialität und Grenze Hand in Hand. Die Grenze manifestiert sich

mit dem Territorium und gemeinsam konstituieren sie die moderne Staatlichkeit. Die

Staatsgrenze ist somit die erste und bedeutsamste Grenze zur Strukturierung einer politischen

Gemeinschaft, da sie nicht weniger als die Garantie und Sicherheit des Staates gewährleistet,

der staatlichen Souveränität Geltung verschafft und deren Reichweite anzeigt (Vgl. Vasilache

2007: 45ff.).

Neben der Souveränität ist vor allem aber auch das Recht eine Grenzziehung, nämlich jene zwischen

Recht und Unrecht, welche staatlich verfasste Gesellschaften strukturieren. Hierbei leistet die

Staatsgrenze nichts geringeres als die Geltendmachung und Reichweite einer bestimmten

Rechtsordnung, Rechtsgeltung und Rechtsdurchsetzung1. So konstitutiv Grenzen also für die moderne

Staatlichkeit gerade in Form der Grenzlinie sind, so wenig können sie nachhaltig geschlossen werden.

Dem ersten Hauptsatz der Grenzsoziologie folgend betrifft dies vor allem die modernen, hochgradig

funktional differenzierten Gesellschaften und es zeigt auch, dass einer jeden Grenze die Möglichkeit

der Überschreitung inhärent ist (Vobruba 2010: 438). Auch wenn der territorial umgrenzte

Nationalstaat gegenwärtig umso vehementer die Schließungsfunktion, die Abriegelung und damit

besonders die Kontrolle jedweder Mobilität an seinen Grenzen betont (Vasilache 2007: 50f.), so wird

im Verlauf dieser Arbeit gezeigt werden, dass damit nicht mehr notwendigerweise die Vorstellung der

Grenze als Linie verbunden sein muss. Vielmehr unterliegen Ort, Funktion und Struktur von Grenzen

dynamischen Wandlungsprozessen, welche die Lebenswirklichkeit aller Menschen, vor allem derer vor

Europas territorialen Grenzen verändern werden.

Bevor jedoch auf diese Prozesse und den damit verbundenen Folgen für die Grenze eingegangen

werden kann, ist es notwendig, im nächsten Kapitel ideengeschichtlich einige Schritte zurück zu

gehen und sich dem Phänomen von den Anfängen her zuzuwenden. Mit Rückgriff auf die

kontraktualistischen Überlegungen von Hobbes, Locke und Rousseau soll gezeigt werden, dass die

Vertragstheorien letztlich als Theorien der Rechtsgeltung und der Begrenzung verstanden werden

können und darauf aufbauend die Etablierung von Staatlichkeit stets mit kategorialen

1 An dieser Stelle sei auf den Beitrag von Merio Scattola zur juristischen und rechtsgeschichtlichen Dimension

des Grenzbegriffes hingewiesen. Angefangen beim römischen Privatrecht und der Praxis römischer Landvermesser, über Rigault, Oetinger und Beck, bis hin zu de Groot, rekonstruiert er die juridischen Implikationen der Grenze und damit auch deren Bedeutung für den modernen Rechtsstaat. Vgl. Scattola 1997: 37ff.

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Grenzziehungen verbunden ist.

2.2 Gründung der Grenzlinie auf Recht und Territorium: der Kontraktualismus von Hobbes,

Locke und Rousseau

In Bezug auf Überlegungen zur Grenze als Linie und als Raum mag der Rückgriff auf Hobbes,

Locke und Rousseau und die Vertragstheorie zunächst etwas befremdlich wirken. Doch bei

näherer Betrachtung erscheint nichts schlüssiger als der argumentative Rekurs auf den

Kontraktualismus, denn schließlich wird damit der territoriale Nationalstaat im Europa der

Neuzeit erstmalig begründet. In der Vorstellung einer territorialen Umgrenzung von staatlich

verfassten Gesellschaften liegt letztlich der ideengeschichtliche Keim einer Grenze als Linie.

Dabei sollen nachfolgend keineswegs alle grenztheoretischen Implikationen und alle

Grenzziehungen aus den Werken der Vertragstheoretiker herausgearbeitet werden. Vielmehr

soll sich auf den Ort, die Struktur und die Funktion der Grenze als Linie konzentriert werden

und genau deshalb rückt nun die erste und ursprünglichste Grenze in den Fokus der

Betrachtung – die Grenze zwischen Naturzustand und Gesellschaftszustand. Denn das

Gedankenexperiment des Naturzustands ist seiner logischen Struktur nach konstitutiv für

legitime Staatlichkeit und damit auch für alle weiteren Grenzziehungen in einer politischen

Ordnung (Vasilache 2007: 66).

Was allen drei vorvertraglichen Naturzuständen gemein ist, ist deren schlichte Notwendigkeit,

um darauf aufbauend den jeweiligen Gesellschaftsentwurf legitimieren zu können. Somit

besteht von Beginn an eine enge, ja fast dichotome Relation zwischen Natur- und

Gesellschaftszustand, welche die erste Grenze bereits andeutet (Vasilache 2007: 62).

Entscheidend hierfür ist die Annahme, dass der Naturzustand idealtypisch ein grenzenloser

Zustand sein müsse, da nur so eine Begründungsnotwendigkeit für Grenzziehungen in der

durch Vertrag staatlich verfassten Gesellschaft besteht. Diese prinzipielle Grenzenlosigkeit

resultiert aus der Unsicherheit und der fehlenden Kultur im naturzuständlichen Zusammenleben

der Menschen. Hobbes beklagt, dass die Menschen „ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum

haltende Macht“ (Hobbes 1998: 96) leben müssten. Auch Rousseau meint, dass die Menschen

im Naturzustand ebenso grenzenlos verstreut wie unter den Tieren leben würden (Rousseau

1998: 36). Und selbst Locke, der zumindest die Unterscheidung von Recht und Unrecht mittels

des Naturrechts kennt, muss erkennen, dass der Naturzustand wegen dessen fehlenden

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Umsetzungsmöglichkeiten, letztlich doch ein Zustand „schrankenlose(r) Freiheit“ (Locke 1977:

201) ist. Sowohl bei Hobbes als auch bei Locke und Rousseau kann die vorvertragliche

Lebensweise des Menschen somit idealtypisch als grenzenlos angenommen werden. Dies

bedeutet jedoch nicht, dass der Naturzustand jegliche Idee von Grenze entbehren würde.

Vielmehr ist es die Vorstellung von Territorialität, d.h. die Vorstellung einer räumlichen Ordnung

und Ortung des Naturzustandes, welche als wesentliche Eigenschaft der modernen Grenzlinie

hier im Kontraktualismus angelegt ist. Am deutlichsten tritt diese Eigenheit bei Locke zu Tage,

wenn er die Rolle des Eigentums für die Räumlichkeit des Naturzustandes betont. Bereits in

diesem Zustand hat das Individuum ein natürliches Recht auf Eigentum, wobei dem Landbesitz

als „Hauptgegenstand des Eigentums“ (Locke 1977: 219) eine herausragende Bedeutung für

das Territorium des zu gründenden Staates zu kommt.

Der durch Gesellschaftsvertrag entstehende Staat hat letztlich keine andere Aufgabe, als das

Eigentum zu schützen. Der Staat ist somit eine private Organisation von Landeigentümern und

die Außengrenzen dessen sind idealiter die äußeren Grenzen des Privateigentums (Vasilache

2007: 79). Während also die räumliche Ordnung des Naturzustandes bei Locke auf Eigentum

gründet, so ist diese Beschaffenheit bei Hobbes und Rousseau nur implizit angelegt und

basiert, vereinfacht gesagt, auf deren Anthropologie. Der „Krieg eines jeden gegen jeden“

(Hobbes 1998: 96) im hobbesschen Naturzustand, und damit die permanente Konflikthaftigkeit

menschlichen Zusammenlebens, verweisen auf die pessimistische Anthropologie in Hobbes'

Vertragstheorie. Doch dieser latente Kriegszustand im vorgesellschaftlichen Zustand ist ohne

eine räumliche Nähe der Individuen nicht vorstellbar und so muss der Naturzustand schließlich

ein gemeinsamer Raum sein, welcher die Möglichkeit einer wechselseitigen Bekämpfung

überhaupt erst zu lässt. Rousseaus Naturzustandskonzeption wiederum ist das genaue

Gegenteil und fußt auf der Friedfertigkeit im Zusammenleben der Individuen. Jene kommt durch

die naturgemäße Isolation des Einzelnen zustande, welche eine direkte Konfrontation

verhindert. Und auch wenn der rousseausche Naturzustand einer gemeinsamen räumlichen

Ordnung entbehrt, so setzt doch auch eine isolierte Lebensweise des Menschen die Vorstellung

von Raum und Räumlichkeit voraus (Rousseau 1998: 38, 68, 74f.).

Wir sehen also, dass sowohl bei Hobbes als auch bei Locke und Rousseau die Vorstellung von

Territorialität, sowohl explizit als auch implizit, in der jeweiligen Naturzustandskonzeption

vorhanden ist. Von besonderer Bedeutung wird diese Eigenschaft des Naturzustandes im

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nächsten Schritt, wenn per Gesellschaftsvertrag jener überwunden, der gesellschaftliche

Zustand begründet und die erste, die große Grenze, territorial errichtet wird.

Da die Vertragstheorien der drei großen Denker den Naturzustand methodisch so konzipiert

haben, dass darauf der Staat gegründet werden kann, ist im Umkehrschluss ein Verweilen in

jenem Zustand nicht vorgesehen. Die Möglichkeit der Überschreitung, als konstitutives Moment

einer jeden Grenze, ist auch hier gegeben. Denn mit dem Zusammenschluss der Individuen zur

vertraglich gesicherten Gesellschaft wird das Politische und letztlich die je nach Konzeption

eigenständige Form von Souveränität geschaffen. Sei es hierbei der Zusammenschluss „zu

einem einzigen Körper“ (Locke 1977: 253), zu einer „sittliche[n] Gesamtkörperschaft“

(Rousseau 1977: 18) oder aber „zu einer Person“ (Hobbes 1998: 134). Der so entstandene

Staat ist die Manifestation der jetzt politischen Gesellschaft. Durch den ersten Grenzübertritt

vom Natur- zum Gesellschaftszustand wird somit das Politische konstituiert, im Staat

eingeschlossen und vom vorpolitischen Naturzustand getrennt. Die bereits dargelegten

territorialen Implikationen der Naturzustandskonzepte bleiben bei diesem Vorgang erhalten,

weshalb die Vorstellung von Territorialität im nun begründeten Staat den Gültigkeitsbereich des

Politischen anzeigt, die Souveränität lokal fixiert und auch umgrenzt (Vasilache 2007: 88-90).

Zwar wird der Kontraktualismus beim Gesellschaftseintritt etwas dünn, wenn es darum geht,

Souveränität legitim auf einen Vertrag zu gründen, welcher im Naturzustand gegründet wird.

Aber dieser Umstand ist für die territoriale Grenze nicht weiter von Belang und kann leicht

mittels der Unterscheidung von Staat und Individuum und damit durch die Repräsentation des

Einzelnen durch den Staat entschärft werden (Vgl. Koslowski 2004: 372ff.).

Entscheidender ist, dass der eigentlich rein interpersonell geschlossene Gesellschaftsvertrag

seine territoriale Prämisse aus dem Naturzustand in den Staat mit übernimmt, indem auch alles

Eigentum und alle Güter in den Vertragsschluss integriert werden. Wenn nun per

Vertragsschluss der staatlich verfasste Gesellschaftszustand endlich erreicht und die Grenze

zum Naturzustand überschritten ist, so könnte man meinen, dass eben jene Grenze nun

überflüssig sei, da der Naturzustand überwunden ist. Aber die Grenze zwischen Natur und

Gesellschaft bleibt in der Staatsgrenze erhalten. Auf der einen Seite ist dies auch notwendig,

da nur vermittels der festen Grenze des Staates der begründeten Souveränität überhaupt erst

Geltung und Reichweite verschafft werden kann. Der kontraktualistische Staat kann diese

Leistung nur innerhalb seiner Grenzen vollbringen und ist schlichtweg unfähig, Politik

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außerhalb seiner Grenzen zu organisieren (Vasilache 2007: 93). Auf der anderen Seite muss

die Grenzziehung zwischen Natur- und Gesellschaftszustand durch die territoriale

Staatsgrenze erneut vollzogen werden, um all die negativen Eigenschaften, weswegen man

den Naturzustand überwunden hat, endgültig auszuschließen. Seien es nun der Krieg aller

gegen alle, die rechtliche Unsicherheit oder die soziale Isolation. All das soll aus dem Staat

ausgeschlossen werden und im Naturzustand verbleiben. Eben dies bedarf jedoch einer

besonders strengen Grenzziehung, welche in Form der territorialen Staatsgrenze als Linie

geschieht. Andernfalls droht der Rückfall in den Naturzustand und damit der Zerfall der

Rechtsordnung und der Souveränität. Nicht zuletzt deshalb machen Hobbes, Locke und

Rousseau so vehement deutlich, dass die geschaffene Staatlichkeit überaus fragil ist und der

Naturzustand zum einen als eine Art Drohkulisse in der Gesellschaft verbleibt und zum

anderen (zumindest theoretisch) auch physisch außerhalb der Staatsgrenze weiter existiert

(Hobbes 1998: 246-254, Rousseau 1977: 95-107, 136-150, Locke 1977: 330-352).

Die Überschreitung der Grenze vom Natur- zum Gesellschaftszustand leistet jedoch mit Hinblick

auf den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit viel mehr, denn sie begründet, wie bereits

dargelegt, nicht nur die territoriale Prämisse des Staates, sondern sie erlaubt überhaupt erst

alle weiteren Grenzziehungen innerhalb des Staates. Von hervorgehobener Bedeutung sind

dabei die Grenzen, die das Recht, dessen Ordnung und Geltung zieht und die Unterscheidung

von Recht und Unrecht, aber auch von Mitgliedern und Fremden möglich macht. Hobbes hebt

diesen Umstand hervor, wenn er unmittelbar nach Gesellschaftseintritt die Unterscheidung von

Souverän und Untertan vornimmt (Hobbes 1998: 135) und ebenso Rousseau, wenn er schreibt

„was die Mitglieder betrifft, so [...] nennen sie sich Bürger, sofern sie Teilhaber an der

Souveränität, und Untertanen, sofern sie den Gesetzen des Staates unterworfen sind.“

(Rousseau 1977: 19). Am deutlichsten hebt jedoch Locke die Bedeutung von Recht und Gesetz

für die Grenzziehung zwischen Mitgliedern und Fremden in Staat und Gesellschaft hervor. In §

122 der Abhandlungen über die Regierung feststellt, dass „nichts […] einen Menschen dazu

machen [kann] als sein wirklicher Eintritt durch positive Verpflichtung und ausdrückliches

Versprechen und Vertrag.“ (Locke 1977: 277f.).

Daran anknüpfend lässt sich der Zusammenhang zwischen Grenzlinie, Recht und Territorium

nun wie folgt zusammenfassen: Mit dem Grenzübertritt vom Naturzustand zum

Gesellschaftszustand bleibt die Struktur der Grenze erhalten. Sie muss in ihrer Struktur

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besonders streng und kategorial sein, um die Dichotomie zwischen Natur und Staat, zwischen

Recht und Unrecht und zwischen Mitgliedern und Fremden aufrecht erhalten zu können. Somit

kann die Grenze in diesem Fall nur als Linie gedacht werden. Darüber hinaus verlagert sich die

Grenze durch die kontraktualistischen Implikationen an den Rand des Staates und erhält ihren

festen Ort als territoriale Staatsgrenze. Damit wird nicht nur der Naturzustand externalisiert,

indem sich die Gesellschaft nach innen auf sich selbst konzentriert. Die Territorialität erlaubt

der Grenze darüber hinaus den Naturzustand idealtypisch an ihrer Außenseite zu erhalten,

weshalb sie letztlich die Funktion des einschließenden Ausschlusses und der

binnengesellschaftlichen Fokussierung erfüllt.

Mit Hilfe der Vertragstheorien von Hobbes, Locke und Rousseau wurde in diesem Kapitel

gezeigt, wie die Grenze als Linie und damit als territoriale Staatsgrenze konstruiert werden

kann. Im nächsten Kapitel wird sich aber die Frage zu stellen sein, inwieweit eben diese

grenztheoretischen Überlegungen gegenwärtig aufrecht erhalten werden können. Allein ein

Blick auf das Alltagsgeschehen in Europa macht deutlich, dass die Staatsgrenze als Linie und,

damit einhergehend, die Vorstellungen von Territorialität, Recht und Souveränität von vielen

Seiten her unter Druck geraten. Grenzüberschreitende Prozesse von Migration und Flucht

stellen die Grenzlinie ebenso in Frage, wie die Praxis des europäischen Grenzregimes.

Nachfolgend soll deshalb zunächst erläutert werden, wie die Grenzlinie in Gestalt des Raums

an den Außengrenzen der EU wiederkehrt. Daran anschließend soll mit Hilfe von Giorgio

Agamben und im Anschluss an den Kontraktualismus gezeigt werden, wie eine Ausdehnung der

Grenze von der Linie zum Grenzraum gedacht werden kann, um abschließend, ausgehend von

diesen Vermutungen, Rückschlüsse auf die Empirie zu ziehen.

2.3 Der Grenzraum als neue Gestalt der Grenzlinie

Beobachtet man die realen Veränderungen der Grenzen, also Grenzauflösungen, wie sie durch das

Schnengener Abkommen stattgefunden haben oder aber auch Grenzverstärkungen, also jene an

den Außengrenzen der EU, so stellt man fest, dass noch eine dritte Veränderung stattfindet. Die

klassiche Grenzlinie wird zum Grenzraum. Die Kontrolle über die Grenze, die Entscheidung, wer von

außerhalb hinein darf, wird vom Territorium gelöst, an Personen gebunden und führt somit zu

einem Raum der Grenze (Schulze Wessel 2012).

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10 Die Grenzen der Menschenrechte Von der Grenzlinie zum Grenzraum/ Martin Wunderlich, Tobias Wötzel

Historisch gewachsen sind Grenzen als konkrete Orte, linear und unverrückbar. Nach Innen

gewendet wird die Grenze vor allem durch ihre Unsichtbarkeit erfahrbar. Das Beispiel des Wegfalls

der EU-Binnengrenzen zeigt wie Grenzen durch ihre scheinbare Nichtexistenz in Erscheinung treten

können. Gleichzeitig aber werden Grenzen genau dann wieder präsent, wenn sie sich nach außen

wenden und ihre „Schließfunktion“ (Schulze Wessel 2012: 157) im Fokus steht. Diese exklusive

Seite muss dann zwangsläufig dazu führen, dass wir nicht von einem Wegfall, sondern vielmehr

von einer Verschiebung, also einer Ortsverlagerng der Grenzen sprechen können. Dieses

Nebeneinander von Grenzdurchlässigkeit und Grenzschließung führt nun zu einer sehr exklusiven

Situation. Für Flüchtlinge heißt das dann konkret, dass sie an ganz unterschiedlichen Orten auf

Kontrollen treffen können und nicht wie früher lediglich an den Außenlinien von Territorien. Für die

Situation der EU bedeutet dies, dass Migranten bereits vor, aber auch überall innerhalb der

Schengenstaaten mit Überprüfungen zu rechnen haben. Die Kontrolle verlagert sich örtlich und

zeitlich, da nun auch schon lange bevor das EU-Gebiet erreicht ist, kontrolliert wird. Dies ist auch

der Grund, warum wir aus der Perspektive der Grenzfunktion heute eher von einem Grenzraum,

anstatt der klassischen Grenzlinie reden müssen. Der Grenzraum ist jedoch nicht statisch zu

begreifen, da er sich nicht an Mauern, Zäunen oder neuen Linien manifestiert. „Die Grenzen

geraten in Fluss“ (Balibar 2006: 248) und dieser Fluss macht den Grenzraum zu einem

dynamischen Ort, der vor allem durch die Interaktion von Menschen gekennzeichnet ist, wie

beispielsweise dem Aufeinandertreffen von Flüchtlingen und Grenzbeamten. Diese Interaktion ist

nun aber nicht mehr an einen konkreten Ort gebunden oder an eine territoriale Grenze. Sie findet

vielmehr ortsunabhängig zu Lande, zu Wasser und in der Luft statt und schafft damit einen

ortsungebundenen Grenzraum (Gatti 2010: 230).

Die Auflösung der Grenze von der Linie zum Raum hat die Literatur und Forschung bereits seit

geraumer Zeit in Atem gehalten. Dies gilt insbesondere für die Situation Flucht und

undokumentierter Migration vor den Toren der Europäischen Union (Dedja 2012: 116). Hier zeigt

sich das zunächst die Grenzverschiebung nicht erst Folge von Flüchtlingsbewegungen ist, sondern

viel mehr durch die Flüchtlinge selbst hervor gerufen wird. Die Exterritorialisierung und

Deterritorialsierung der Grenze wird durch die Mobilität und Flexibilität der Fluchtbewegungen erst

ermöglicht, was in selbem Maße für die Grenzkontrollen gilt. Alte Routen der Migration und Flucht

werden geschlossen, neue werden aufgenommen. In selbem Maße werden auch die Kontrollen der

Grenzen angepasst. Flüchtlinge und Grenzkontrollen lösen somit beide die Verschiebung der

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Grenzlinie in den Raum hinein aus (Martens 2011: 3). Damit einher geht auch eine Veränderung der

Selektivität von Grenzen, nicht was ihre Funktion angeht, sondern vielmehr die Geltung dieser. War

die territoriale Grenzlinie für alle, die sie passieren wollten, gleichermaßen sichtbar, so beinhaltet

sie heute Ausnahmen. Für einige ist sie sichtbar, für andere wieder nicht (Schulze Wessel 2012: 160

f.). Hier ist es wieder die Figur des Flüchtlings, an dem sich die Grenze erst manifestiert. Sein

Kontakt mit einer Grenze, welche für ihn unsichtbar und nicht mehr ortsgebunden ist, ihn quasi

umgibt und immer dort in Erscheinung zu treten scheint wo er sich gerade befindet, dies erzeugt

erst die neue Grenze als Raum (Kasparek 2008: 12).

Das eine entterritorialisierte und deterritorialisierte Grenze als Grenzraum nicht nur vor den Toren

des grenzenlosen Europa erfahrbar ist, sondern auch theoretisch begründet werden kann soll im

nächsten Kapitel gezeigt werden. Hierfür greifen wir auf Giorgio Agamben und seine Konzeption

vom Ausnahmezustand zurück, mit dessen Hilfe sich anschaulich darstellen lässt, dass die Grenze

sich tatsächlich von der Linie zum Raum verändert und ausdehnt und, dass in diesem neuen Raum

noch etwas anderes geschieht, was für die Grenze fundamentale Bedeutung besitzt, nämlich eine

Aussetzung des an sie gekoppelten Rechts.

2.4 Rechtsaussetzung im Raum der Ausnahme: Giorgio Agamben

Giorgio Agambens politische Theorie, insofern man seine Überlegungen überhaupt als

geschlossene Theorie verstehen will, kreist im Kern immer wieder um zwei Begriffe: Recht und

Souveränität. Wie diese beiden Konzepte per Gesellschaftsvertrag im Staat konstituiert werden

und mit der territorialen Staatsgrenze als Linie Reichweite und Geltung erhalten, das wurde im

voran gegangenen Kapitel rekonstruiert. Agambens Theorie vom Ausnahmezustand kann für

unseren Untersuchungsgegenstand fruchtbar gemacht werden, da sie sich immer wieder auf

die Souveränitätskonzeptionen der Kontraktualisten bezieht und damit auch neue

Überlegungen zu Ort, Struktur und Funktion der Grenze ermöglicht (Agamben 2004: 7ff.).

Hobbes, Locke und Rousseau haben gezeigt, wie essentiell Rechtsordnung und Souveränität für

die Begründung des modernen Staates sind und ebenso wie diese hat Agamben festgestellt,

dass die interpersonell konstituierte Souveränität selbst ein Akt originärer Grenzziehung

zwischen dem Menschen als Staatsbürger und damit Subjekt des Rechts und dem Menschen als

bloßes Leben ist (Korf/Schetter 2012: 155). Die enge Verbindung von Recht und Souveränität,

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12 Die Grenzen der Menschenrechte Von der Grenzlinie zum Grenzraum/ Martin Wunderlich, Tobias Wötzel

die sich daraus ergibt, konzentriert sich für Agamben letztlich auch in der Grenzziehung

zwischen Rechtsgeltung und Rechtsaussetzung. Und die Entscheidung darüber, ob in

bestimmten Bereichen, Zonen oder Räumen die legale Ordnung, die rechtliche Ordnung gültig

ist, oder ob sie räumlich und zeitlich ausgesetzt werden soll und damit auch Individuen oder

Gruppen von Menschen aus dem Recht ausgeschlossen werden sollen – diese Entscheidung

obliegt dem Souverän und stellt seine ureigene Leistung dar (Vasilache 2007: 256f.). Das Wesen

der Souveränität liegt somit in der eigenmächtigen Grenzziehung zwischen Recht und Unrecht,

weil in ihr die permanente Möglichkeit eingeschlossen ist, das Recht zu suspendieren und per

exekutiver Entscheidung den Ausnahmezustand ausrufen zu können (Vasilache 2007: 256f.).

Was bedeutet dies aber für die Grenzlinie, für die territoriale Staatsgrenze als Umgrenzung von

Recht und Souveränität? Bevor diese Frage beantwortet werden kann, gilt es den

Ausnahmezustand näher zu untersuchen.

Die Frage ob der Ausnahmezustand selbst Teil der Rechtsordnung ist oder außerhalb ihrer steht,

ja stehen muss, wurde in der Literatur bereits breit diskutiert und soll an dieser Stelle nicht

weiter ins Gewicht fallen. Entscheidender ist vielmehr die Beschaffenheit dieses Zustandes der

Ausnahme und die Konsequenzen dessen für die Grenze. Durch die Suspendierung des Rechts

ist der Ausnahmezustand Agamben zufolge eine „ungewisse Zone“ (Agamben 2004: 8).

Ungewiss ist er deshalb, weil mit der Aussetzung des Rechts auch die Unterscheidung zwischen

Recht und Unrecht nicht mehr möglich ist. Für Giorgio Agamben ist der Ausnahmezustand

somit weder innerhalb noch außerhalb der Rechtsordnung des Staates, sondern auf dessen

Schwelle anzusiedeln. Damit wiederum wird mittels Ausrufung des Ausnahmezustands die

Grenzlinie der Rechtsordnung selbst in Frage gestellt (Agamben 2004: 32f.).

Wenn die Ununterscheidbarkeit als das wesentliche Charakteristikum des Ausnahmezustands

gelten kann, dann betrifft dies nicht nur die Rechtsordnung an sich, sondern auch die Grenze

zwischen Recht und Naturzustand (Agamben 2002: 30, 47). Rufen wir uns noch einmal in

Erinnerung, dass der Naturzustand im Kontraktualismus durch den vertraglichen

Gesellschaftseintritt nicht verschwindet, sondern vielmehr als das Außen an der Staatsgrenze

fortbesteht und die Grenze zwischen Natur- und Gesellschaftszustand in eben jener weiter

existiert. Mit Agamben lässt sich dieser Gedanke aufgreifen, denn bei ihm ist die Staatsgrenze

jene Scheidelinie zwischen Rechtsordnung und dem Naturzustand, welcher jederzeit und an

jedem Ort wieder zurückkehren kann (Vasilache 2007: 287). Und diese Rückkehr ist durch den

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13 Die Grenzen der Menschenrechte Von der Grenzlinie zum Grenzraum/ Martin Wunderlich, Tobias Wötzel

Ausnahmezustand möglich, da dieser und der Naturzustand als zwei Seiten der gleichen

topologischen Medaille betrachtet werden können (Agamben 2002: 48). Mit der Ausrufung des

Ausnahmezustands wird der Naturzustand als das Außen in Form des Ausnahmezustands in die

Gesellschaft als das Innen hinein geholt. Hier wird die Ununterscheidbarkeit ganz deutlich,

wenn Naturzustand und Recht als das Draußen und das Drinnen ineinander übergehen und die

Grenzlinie dazwischen verschwimmt.

Wie weiter oben bereits angesprochen, zeitigt dies einige tief greifende Auswirkungen auf die

Grenze, denn die territoriale Grenze und die souveräne Entscheidung über den

Ausnahmezustand stehen in engem Verhältnis zu einander, wie Eigmüller treffend formuliert:

„Zugleich ist es aber erst die Grenze, die die Territorialisierung des Staates überhaupt ermöglicht und so dazu

verhilft, direkte materielle Interessen ebenso wie das Interesse an einer Kontrolle und Regulierung von Menschen

und ihren Bewegungen durchzusetzen und damit zugleich staatliche Souveränität zu demonstrieren" (Eigmüller

2008: 21).

Die territoriale Staatsgrenze ermöglicht überhaupt erst die Souveränität des Staates. Mit der

Ausrufung des Ausnahmezustands wird dieser jedoch von einer reinen Rechtsfrage zu einer

Machtfrage, damit auch zu einer Frage des Handelns und somit zu einer Frage des Souveräns.

Damit stellt die Souveränität aber ihre eigene Geltung in Frage, denn als ungewisse Zone ist

der Ausnahmezustand sehr wohl weiter raumordnend, aber nicht mehr räumlich verortet. Mit

der Aufhebung der wesentlichen Unterscheidungen im Raum der Ausnahme ist der

Ausnahmezustand selbst nicht mehr auf die kategoriale – die territoriale Grenze beschränkt

und damit auch nicht auf die Reichweite oder Herrschaftsdauer des Souveräns (Korf/Schetter

2012: 154). Während mit der territorialen Staatsgrenze Rechtsordnung und Souveränität klar

umgrenzt und verortbar sind, erlebt der Ausnahmezustand eine Entortung, was wiederum

Rückwirkung auf die Grenze hat und in den nachfolgenden Kapiteln näher an der Empirie

untersucht werden soll.

Giorgio Agamben entwirft nun mit dem entorteten Ausnahmezustand, als einer ungewissen

Zone, die durch nichts anderes gekennzeichnet ist als Ununterscheidbarkeit, einen Raum, in

dem die essentiellen Grenzziehungen, vor allem mit Blick auf die staatliche Rechtsordnung, so

nicht mehr möglich sind. Die ausnahmezuständliche Suspendierung des Rechts führt damit

auch zu einer Auflösung der institutionell-innerstaatlichen Grenzen, wovon besonders die

Scheidung der Gewalten, die Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, aber auch die

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14 Die Grenzen der Menschenrechte Von der Grenzlinie zum Grenzraum/ Martin Wunderlich, Tobias Wötzel

Gesetze an sich betroffen sind (Agamben 2004: 14ff.). Wenn nun in den Vertragstheorien die

territoriale Staatsgrenze als Voraussetzung für eben diese innerstaatlichen Grenzziehungen

betrachtet wurde, so stellt im Umkehrschluss deren Auflösung auch die Staatsgrenze in Frage.

Die Grenzlinie gerät somit durch den Ausnahmezustand auch von innen her unter Druck. Wenn

dies geschieht, dann ist mit Blick auf den zweiten Hauptteil dieser Arbeit ein kleiner Schwenk

zur soziologischen Perspektive nicht uninteressant, denn all die bereits beschriebenen

Grenzziehungen und deren Auflösung haben natürlich Auswirkungen auf den Menschen.

Gerade die territoriale Grenze bestimmt als „Leitdifferenz von Drinnen und Draußen [...] die

Selbstbeschreibung des modernen Menschen“ (Stegemann 2007: 2). Fehlt diese Leitdifferenz

durch die Auflösung der Grenzen, dann droht letztlich auch der Verlust der Zugehörigkeit und

die Angst davor, dieser Entwicklung unterworfen zu sein. Dies manifestiert sich auch im

Ausnahmezustand (Stegemann 2007: 2). Und an dieser Stelle erhält die Grenze wieder jene

emotionale Aufladung, welche schon bei Hobbes, Locke und Rousseau implizit angelegt ist. Für

die Outsider erscheint der Grenzübertritt als Hoffnung, vom Naturzustand in die Gesellschaft

eintreten zu können, während der Insider genau damit das Hereinbrechen des Naturzustandes

als Bedrohungslage empfindet. Während der eine seinen Besitzstand und dessen Umgrenzung

unbedingt wahren will, sucht der Andere eine Schwachstelle in der Grenze und damit die

Möglichkeit zum Übertritt (Ebeling 1997: 73ff.).

Was bleibt nun aber vor dem Hintergrund der grenzüberschreitenden Prozesse von den

„Grenzen“ Europas im 21. Jahrhundert übrig? An dieser Stelle lässt sich die provokante These

aufstellen, dass der Souverän die Entwicklung der Grenzauflösung aufgreift und sie selbst auf

die Spitze treibt. Per exekutiver Ausrufung des Ausnahmezustands im agambenschen Sinne

wird die Entwicklung von der Grenzlinie zum Grenzraum eigenmächtig voran getrieben, um aus

der Ununterscheidbarkeit in diesem Raum die Möglichkeit zu gewinnen, Grenzziehungen

willkürlich an jedem Ort und zu jeder Zeit vornehmen zu können. Nur so ist es der Souveränität

wieder möglich, die kategoriale Unterscheidung herbei zu führen, die für ihre eigene Geltung,

Reichweite und Sicherheit notwendig ist. Inwieweit diese These nun vor dem Hintergrund des

europäischen Grenzregimes Bestand hat, soll unter anderem anschließend geklärt werden.

Doch zuvor fassen wir noch einmal zusammen, wie mit der Hilfe Agambens die theoretische

Entwicklung von der Grenzlinie zum Grenzraum vollzogen werden kann. Das Wesen der

Souveränität erlaubt ihr permanent, den Ausnahmezustand auszurufen und das Recht zu

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15 Die Grenzen der Menschenrechte Von der Grenzlinie zum Grenzraum/ Martin Wunderlich, Tobias Wötzel

suspendieren. Dies hat strukturelle und funktionale Auswirkungen auf die Grenze als Linie, da

durch die Ununterscheidbarkeit im Ausnahmezustand jene Grenzziehungen nicht mehr möglich

sind und dem Zustand der Ausnahme die Struktur einer Zone gibt. Dieser

ausnahmezuständliche Raum führt dazu, dass die vormals territoriale Grenze als Linie nun eine

Verräumlichung erfährt, sie dehnt sich mangels Unterscheidungsmöglichkeiten aus. Damit

verschwindet die Grenzlinie nicht, aber sie rückt an den Rand des Ausnahmezustands und

dieser selbst wird zum Raum der Grenze, oder anders gewendet: zum Grenzraum (Vasilache

2007: 299ff.). Durch die Ausdehnung der Linie zum Raum durch den Ausnahmezustand

verändert sich auch der Ort der Grenze. Sie wird von ihrer Territorialität gelöst, im

ausnahmezuständlichen Raum entortet und kann folglich überall erscheinen. Was jedoch bleibt,

ist die Funktion der Grenze, denn auch als Raum der Ausnahme dient sie dem einschließenden

Ausschluss und erhält den Staat als einschließenden Ausschlussmechanismus (Vasilache 2007:

321). Problematischer ist dieser Umstand nur für das Individuum, das durch die

Entlokalisierung der souveränen Machtentfaltung nun stärker ausgesetzt ist als zuvor.

Mit den voran gegangenen Kapiteln sollte vor allem eines gezeigt werden, nämlich wie mit

Hilfe der Kontraktualisten und Giorgio Agambens der Übergang vom Naturzustand zum

Gesellschaftszustand, bis hin zum Ausnahmezustand gedacht werden kann und wie in diesem

Prozess die Grenzlinie zum Grenzraum weiterentwickelt wird. Der nun nachfolgenden Ausblick

knüpft direkt an diese Überlegungen an, richtet den Fokus aber auf das Europa der Gegenwart

und soll zeigen, dass diese Entwicklung, also die Entwicklung der Grenze, auch empirisch

belegt werden kann. Hierbei knüpfen wir an unsere eingangs angestellten Überlegungen zum

Grenzraum an und werfen mit Agamben die Frage auf, inwieweit die Grenze das neue Lager

ist?

III. Ausblick: „Die Grenze ist das neue Lager“ - der Raum der Ausnahme

Nachfolgend wollen nun wir einige Überlegungen anstellen, die den Zusammenhang zwischen

den Grenzen und dem Ausnahmezustands Giorgio Agambens aufzeigen. Die zentrale Frage

hierfür ist, inwiefern das „normale“ Recht innerhalb der Grenzzonen überhaupt noch Geltung

besitzt. In den vorangegangenen Kapiteln haben wir bereits dargelegt, welche Strukturellen

Veränderungen der Grenze, sprich die Wandlung von der Linie zum Raum, stattgefunden haben.

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16 Die Grenzen der Menschenrechte Von der Grenzlinie zum Grenzraum/ Martin Wunderlich, Tobias Wötzel

Die dritte wichtige Eigenschaft, die Funktion, bleibt. Diese Wandlungen sind auch zentral in der

Argumentation Agambens. Wie es dazu kommt, soll hingegen nicht Bestandteil des Abschnitts

sein, untersucht wird hier lediglich die Manifestation.

Wir möchten nun zwei Ausnahmezustände beschreiben. Auf der einen Seite ist dies das Lager,

wie es auch schon bei Agamben beschrieben wird. Jenes findet man sowohl auf als auch

außerhalb des Territoriums der EU auf. „Hier manifestiert sich abseits der Grenzen, die Macht

des Staates über Inklusion und Exklusion von Ausländern zu befinden“ (Kiza 2008: 145).

Außerdem bezeichnet Kiza das Lager als die Manifestation absoluter staatlicher Souveränität.

Sie seien konzeptualisiert als prototypische Räume der vollständigen Kontrolle und der sozialen

Degradierung, das Leben wird vollständig beherrscht. Ihre Funktion ist hauptsächlich

Prävention (Kiza 2008: 145f.). Das Ziel, so scheint es, der Einrichtung dieser Lager ist es

einerseits zu verzögern und andererseits auch zu kontrollieren. Pieper bezeichnet das Lager

auch als „materiell-räumlichen Ort der gesellschaftlichen Exklusion“ (Pieper 2011: 51). Die hier

stattfindende Aussetzung des Rechts manifestiert sich in der Schutzlosigkeit der Insassen. „Ob

Grausamkeiten innerhalb der Lager stattfinden, hänge damit nicht vom Recht ab, sondern allein

vom ethischen Sinn und Verhalten der Sicherheitskräfte, welche die Staatsgewalt im Lager

repräsentieren“ (Klepp 2011: 106). Zentral für die Einrichtung dieser Orte ist dabei das Ziel. So

sind jene ausschließlich Mittel zum Zweck. „Lager schaffen an diesen Orten mit Gewalt

staatliche Ordnung und setzen diese gegen geltendes Recht um“ (Pieper 2010: 221). Aber das

jene zum europäischen Grenzregime gehörige Lager Orte der Ausnahme sind, ist nicht

zwangsläufig neu. In der Forschungsliteratur lässt sich das diesbezüglich nachlesen.

Interessanter wird es aber, wenn man die These aufstellt, dass sich der Ausnahmezustand

mittlerweile nicht mehr ausschließlich auf die Lager beschränkt, sondern vielmehr im gesamten

Grenzraum zu finden ist. Dazu ist es notwendig, sich die Eigenschaften des Ortes der

Ausnahme nochmals begreiflich zu machen. Dieser wird per exekutiver Entscheidung

ausgerufen und führt kurz gefasst zu einer Ununterscheidbarkeit, sowie zu einer Entrechtung

und damit einer Beschränkung des Individuums auf das nackte Leben (Agamben 2004). Wie in

den vorangegangen Kapiteln bereits erwähnt, veränderte sich die Grenze weg von der Linie

und hin zu einem Raum. Für Migranten bedeutet dies im Umkehrschluss, dass für sie nun kaum

mehr die Möglichkeit besteht nach Europa zu gelangen. Zwar ist es ihnen nach wie vor

möglich, physisch auf das Gebiet der EU zu treten, jedoch werden sie nie den „sicheren Hafen“

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17 Die Grenzen der Menschenrechte Von der Grenzlinie zum Grenzraum/ Martin Wunderlich, Tobias Wötzel

erreichen. Denn durch den Ausbau der Grenzkontrollen und die damit verbundene totale

Durchdringung der EU besteht für sie überall und jederzeit die Möglichkeit, entdeckt und

kontrolliert zu werden. Agamben selbst bezeichnet seinen Ausnahmezustand als „ungewisse

Zone“ (Agamben 2004: 8). Und in genau jener befinden sich die Flüchtlinge, in einer Zone in

der sie jederzeit wieder, zum Beispiel durch Rückübernahmeabkommen, aus der Europäischen

Union ausgewiesen werden können. Für die eigentlichen Staatsbürger der EU gilt dies

selbstverständlich nicht. Deshalb kann man auch weiter von der Grenzziehung zwischen

Staatsbürger und Mensch als bloßes Leben reden. Klepp sagt dazu: „Es kommt bei der

Überquerung der Grenzen vielmehr auf den persönlichen Status als auf die Unterscheidung in

Binnen- und Außengrenzen der EU an“ (Klepp 2011: 73). Auch hier ist es essentiell die

Aufteilung in Insider und Outsider als Aufteilung in Rechtsbesitzer und Rechtlose zu verstehen.

So kann man sagen, dass der Ausnahmezustand innerhalb des Grenzraumes existiert und die

Rechtsaussetzung auch, jedoch lediglich im Hinblick auf den Migranten. Entscheidend ist

demnach nicht die Territorialität, sondern das Subjekt selbst, dass sich in diesen begibt.

Doch was bleibt von der Grenze am Ende übrig? Zumindest ist es ein fader Beigeschmack. Denn all

die theoretischen und empirischen Befunde dieser Arbeit heben immer wieder die

Schließungsfunktion der Grenze hervor. Sowohl Staat als auch Grenzlinie und Grenzraum sind nach

unserer Untersuchung Mechanismen der Exklusion von Menschen und diese systematisch

Exkludierten werden aus der Sicht der Insider als eine Bedrohungskulisse aufgebaut vor denen es sich

zu schützen gilt. Aus der Sicht der Individuen, der Outsider, wiederum bleibt damit vor allem die

negative Konnotation der Grenze. Und doch sollte an dieser Stelle noch einmal auf die kategoriale

Dichotomie der Grenze hingewiesen werden, denn ganz gleich ob als Linie oder als Raum sind

Grenzen auch Mechanismen der Inklusion. Wird man gegenwärtig in der europäischen Politik auch

nicht müde das schließende Potential der Grenze zu betonen, so ist es gerade der Grenzraum der hier

Potentiale zur Öffnung hat. So kann gerade die Grenze als Raum ein Ort der Begegnung von

Menschen sein und ein Ort des Austausches von Ideen und Lebensentwürfen. Und so sollten weder in

Theorie noch Empirie vergessen werden, dass die Grenze in Zeiten der Globalisierung und der

grenzüberschreitenden Prozesse ein Ort des Handelns von Individuen sein kann.

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18 Die Grenzen der Menschenrechte Von der Grenzlinie zum Grenzraum/ Martin Wunderlich, Tobias Wötzel

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