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Philosophische Bibliothek Vladimir Jankélévitch Von der Lüge Meiner

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  • Philosophische Bibliothek

    Vladimir JanklvitchVon der Lge

    Meiner

  • VLADIMIR JANKLVITCH

    Von der Lge

    Aus dem Franzsischen von Sarah Dornhof und Vincent v. Wroblewsky

    Herausgegeben vonSteffen Dietzsch

    FELIX MEINER VERLAGHAMBURG

  • PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 637

    Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet

    ber http://portal.dnb.de abrufbar.ISBN 978-3-7873-2863-5

    ISBN eBook: 978-3-7873-2864-2

    Titel der franzsischen Originalausgabe: Du mensonge (Erstauflage Lyon 1942). Editions Flammarion, Paris, 1998.

    Felix Meiner Verlag Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch fr Vervielfltigungen, bertragungen, Mikro ver-filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elek tro-nischen Systemen, soweit es nicht 53 und 54 UrhG aus drcklich gestatten. Satz: work :at: book / Martin Eberhardt, Berlin. Druck und Bindung: Hubert & Co., Gttingen. Werkdruck papier: alte-rungsbestndig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

  • VorwortVladimir Janklvitch in memoriam . . . . . . . . . . . . . . 7von Xavier Tilliette

    Vladimir JanklvitchVon der Lge

    Kapitel i Die Lge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

    1. Das lgenhafte Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16a. Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16b. Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22c. Der Andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

    2. Ordo Mendacil und von der Unaufrichtigkeit . . . . 33a. Der Lgner ist oberflchlich, angespannt und allein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33b. Das Entziffern der Lge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

    Kapitel ii Das Missverstndnis . . . . . . . . . . . . . . 55

    1. Die Formen des Missverstndnisses . . . . . . . . . . . . . 57a. Begehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57b. Das Begriffliche und das Tatschliche . . . . . . . . . 60c. Die Erscheinung und die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . 63d. Von der Zweideutigkeit: Homonymie und Allegorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76e. Die gebrochene Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

    Inhalt

  • Inhalt6

    2. Die Ordnung des Missverstndnisses und wie es zu heilen ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

    a. Der stillschweigende Pakt oder die schiefe Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85b. Die falsche Situation ist negativ, heikel und lieblos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91c. Die Tlpelei, das Enfant terrible und der Tod . . . 98 d. Hygiene des Logos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106e. Von der Aufrichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

    NachwortLgen im Denken und Leben Vladimir Janklvitchs Du mensonge im Kontext europischer Lgentheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125von Steffen Dietzsch

    Zum Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

  • VORWORT

    Vladimir Janklvitch in memoriam

    von Xavier Tilliette

    Von Vladimir Janklvitch bleibt mir das durch die Er innerung stilisierte Bild einer nachdenklichen, Aufmerk samkeit ausstrahlenden Physiognomie, von der be-rhmten Strhne durchkreuzt, einer vorgebeugten, eilenden Silhouette und schlielich, nicht weniger bekannt als das kmpferische Haar, einer rauhen, hastigen Stimme, die die Zuhrer in Atem hielt. War er ein Redner, ein Virtuose des Wortes und des Vortrages? Ja und nein. Ohne Zweifel ver-fgte er ber Sprachgewandtheit, er nahm kraft der Worte fr sich ein, und wenn man ihn sah, war es nicht schwer zu erraten, dass er fast in Trance geriet, dass die Verkettung der Stze eine Art Pochen, Schwingen erzeugte, etwas wie ein freies Schweben. Doch sprach er wie sein Lehrer Schelling im Schweie seines Angesichts, er ging erschpft aus seinen Vorlesungen hinaus, und die Zuhrer blieben wie betubt zurck.

    Bei sich zuhause, in seiner nchtern mblierten Wohnung am Quai aux Fleurs, mit dem im Salon thronenden offenen Klavier, war Janklvitch ein ganz anderer. Er empfing einen mit ausgesuchter Hflichkeit, fast mit Ehrerbietung. Er bot mir den Sessel an. Man setzte sich um eine Tasse Tee, den er vorbereitet hatte. Das Gesprch begann mit der Dissertation, doch er hielt sich dabei nicht auf, er hatte die Zeit seiner ei-genen Promotion vergessen, er hatte das posthume Schicksal seines Autors nicht verfolgt. Dennoch hatte er Schelling vom Autodaf ausgenommen, das alle deutschen Schriftsteller und Knstler traf. Schelling war die Ausnahme, und der Ge-danke seiner Anfnge, die Odyssee des Bewusstseins, rief

  • Xavier Tilliette8

    bei ihm ein Gefhl der Rhrung hervor. Er gab jedoch zu, den Kontakt verloren zu haben, und berlie mich einem kniglichen Frieden. Das Abenteuer whrte mehrere Jahre, und eine meinerseits ehrfurchtsvolle Freundschaft bildete sich heraus. Janklvitch war nicht berschwenglich, doch sparte er nicht mit der Anrede Pater. Am Tag der Verteidi-gung war er herzlich und lobte meine Schreibweise, was mir neue Kraft gab. Denn ber alles bewunderte ich seinen Stil, mitreiend, farbig, seine verbale Erfindungskraft und diese Art stndigen neuen Schwungs der Worte, das einem Japsen hnelte. Er erfand Neologismen, konstruierte Vokabeln, von denen manche eingebrgert wurden, wie z. B. semelfactif, futuricien, montique, nihiliser, itratif. Er frbte auf eifrige Zuhrer ab, die sich mit seinen Worten schmck-ten. Ich kannte einen, auf den das Wort futiliser anste-ckend wirkte und der es alle Nase lang benutzte.

    Sein Stil schuf einen Eindruck von Leichtigkeit, von spon-tanem Hervorquellen, ebenso wie seine Sprech weise. Als ich ihn auf diese Ungezwungenheit seines Schreibens ansprach, auf diesen scheinbar von selbst flieenden Schwung, sagte er mir, glauben Sie das nicht, ich muss Sie eines Besseren belehren, ich schreibe nicht mit leichter Hand. Ich arbeite und berarbeite, und der Schein des leichten Glanzes ist eine Eroberung. Ich habe mir diese Antwort gemerkt, ge-prgt von hellenistischer Weisheit. Dennoch haben seine Bcher eine mrchenhafte Lebendigkeit und Bewegtheit. Man liest sie wie ein Brutigam einen Liebesbrief. Das ab-geschriebene, sehr lesbare Manuskript drckte die Liebe zu festen Zgen, zu klar gezeichneten Buchstaben aus, vergleichbar den bewegten Baumreihen aus Macbeth. Von seinen Bchern ist mir vielleicht deshalb die berarbeitete Aufzeichnung des Gesprchs mit Batrice Berlowitz, Quelque part dans linachev ( Irgendwo im Unvollendeten ) am liebsten, in dem sich der mndliche Stil mit der Flle der Bil-der und der pdagogischen Erfindung verbindet. Es vereint

  • Vorwort 9

    die Lebhaftigkeit der Konversation mit der Beherrschung der Ausdruckskunst. Wir knnen jedoch sicher sein, dass es von den Beteiligten berarbeitet wurde und dass die verzau-berte Schrift auf die leidenschaftliche Gesprchspartnerin eingewirkt hat.

    Das Talent, mit Anstrengungen unangestrengte Verse hervorzubringen, war also das Vorrecht des improvisie-renden Gelehrten. Und selbst am Klavier erfand er Triller, Melodien. Er litt sicher darunter, kein Virtuose zu sein, was durchaus nicht heit, dass er nur klimperte. Er hatte, nach dem Ausschluss der deutschen Komponisten, seine Lieblings musiker: Russen, Franzosen, Spanier, das heit ein wun derbares Odeon, eine Sammlung von Meisterwerken, Rimski-Korsakow, Mussorgski, Tschaikowski, Faur, Chaus-son, Manuel de Falla, Albeniz, Ravel. Er erfreute sich eines vielfltigen Klanguniversums, und er schien Bach, Mozart und Beethoven nicht zu vermissen. Ich denke, Liszt und Chopin gehrten zu den Freigesprochenen.

    Diese antigermanische chtung [ seit 1940 ], deren Nach-teile, Ungerechtigkeiten und Last er empfand, hielt er bis zum Ende heroisch aufrecht, trotz der deutsch-franzsi-schen Vershnung, die sie hinfllig machte. Er hatte vor sich selbst einen Eid abgelegt, und weder Janklvitch noch Lvinas wollten meineidig werden. Ihre Haltung, ebenso unhaltbar wie edel, fand keine Nachahmer. Aber vor allem Janklvitch hat ber das Verzeihen meditiert. Verzeihen heit nicht die Schuld wegwischen, sondern den Schuldigen aufnehmen, unter der Bedingung, dass er um Verzeihung bittet. Kann man jedoch das Unverzeihliche verzeihen, kann man das Unvergessliche vergessen? Auch Dostojewski stie, durch Iwan Karamasow hindurch, auf das Unmgliche. Es geht nicht darum, Rache, Vergeltung oder Strafe gutzuhei-en. Doch die Ethik hat ihre uersten Ansprche, und das Grauen vor dem Verbrechen gehrt zu ihnen, es darf nicht banalisiert werden. Christus verzeiht Petrus, doch fr seine

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    Henker erfleht er das Verzeihen des Vaters. Das Recht der Opfer ist unverjhrbar.

    Janklvitch war ein ebenso besonnener wie anspruchs-voller Moralist. Seine Ethik ist keine der Verordnungen und Vorschriften. Sie ist auf ferne Ufer gerichtet, die sich den Landschaften des Evangeliums anschlieen. Es ist keine Mo-ral der Vorschriften und Verordnungen, sondern des Begeh-rens, der Tugenden und der Hoffnungen. Sie ist jdisch, sie ist christlich und sie ist griechisch. Das bedeutet, dass sie Saft und Kraft aus der reinsten Menschlichkeit gewonnen hat, ohne Eklektizismus, doch lsst sie sich, wie die von Simone Weil, vom Prinzip des Besten inspirieren, sie sucht nach dem Wesen des Menschseins, und es ist nicht berraschend, dass sie es im am wenigsten greifbaren, im flchtigsten Ele-ment findet, in der Liebe. Unter den Mglichen findet sie sich ab mit der unwahrscheinlichsten Wahrscheinlichkeit, mit der Konversion des Herzens. Alle Texte Janklvitchs drehen sich um diese zerbrechliche Achse, die Gte, das so geheimnisvolle Gute, vom Bsen unverwundbar. Es wird [ in der Oper ] von der mythischen Unterwasserstadt Kitige [ von Rimski-Korsakow ( 1907 ) ] und der Jungfrau Fbronia [ christliche Mrtyrerin, 3. Jh. ] symbolisiert, die, das Ohr auf den Boden gepresst, die berschwemmten Glocken luten hrt. Das ist das bewegendste Symbol unseres Philosophen.

    Er war in unserer Zeit, als echter Schler Bergsons, der Philosoph der Zeit. Die Zeit ist seine Sorge und seine uner-schpfliche Quelle des Denkens. Als Musiker lebt er in der Dauer. Die Dauer ist Flieen und Streben. Sie ist unendlich, und fr den Menschen wird sie zur Zeit. Janklvitch hat ohne Unterlass die Natur der Zeit ergrndet, ihre Unum-kehrbarkeit, ihre Nichtfassbarkeit, ihre Launen, ihre Ewig-keit. Die Zeit ist unerbittlich, und sie ist der Trost, die Be-friedung. Die Zeit hrte niemals auf, unseren Philosophen heimzusuchen. Und am Ende der gezhlten Zeit fand er den Tod, wobei er sich von Heidegger abgrenzte. Das nach

  • Vorwort 11

    Luft ringende Buch ber den Tod ist Beichte und Testament. Wenige Denker haben in diesem Mae berprft, dass das Mysterium die Nahrung der Philosophie ist, ein Wunder-manna, das durch Teilen vervielfacht wird, so wie die Liebe. Die Zeit Janklvitchs hat die Frbung des Todes bewahrt, das heit die Sehnsucht und die Hoffnung. Der Unglubige war zu sehr von jdischer, griechischer und christlicher Kul-tur durchdrungen, um sich dem Skeptizismus und der Ver-zweiflung hinzugeben. Der Stoizismus des Mark Aurel hat nur das vorletzte Wort. [ Das letzte Wort ] ist das Testament des Odysseus, der auf den Wellen der Zeit schweifend sich dem Untergang entgegenstellt

    [ Paris, Oktober 2004 und Mai 2015]

  • VLADIMIR JANKLVITCH

    Von der Lge

  • KAPITEL I

    Die Lge

    Die Mglichkeit der Lge ist mit dem Bewusstsein selbst gegeben, es ermisst sowohl deren Gre als auch deren Erbrmlichkeit. Und so wie die Freiheit nur frei ist, weil sie zwischen dem Guten und dem Bsen whlen kann, so liegt die Dialektik der Lge ganz und gar in jenem Miss-brauch der Macht, der dem erwachsenen Bewusstsein eigen ist. Auch wenn es die Art der Lge definiert, bestimmt das Bewusstsein jedoch nicht seine spezifische Differenz: Da-raus, dass der Lgner in seiner lgenhaften Tiefe nie ganz unbewusst ist, folgt nicht, dass alles Bewusstsein lgenhaft ist. Die Litotes1 zum Beispiel setzt wie jede ironische Pseudo- gorie die extreme Spaltung des Bewusstseins voraus, die un-endliche Wendigkeit einer Reflexion, die weder lnger am Gegenstand noch an sich selbst haftet; dennoch ist die Lito-tes nicht lgnerisch, sie beabsichtigt im Gegenteil, uns auf dem indirekten Weg der Simulation zur Wahrheit zu fhren: Sie verfhrt nicht aus Egoismus, sondern stellt uns auf die Probe, um zu sehen, ob wir verstehen werden. Es ist folglich die betrgerische Intention, die den Unterschied macht zwi-schen der Lge und den anderen Pseudogorien.

    Wir sind jedoch keinen Schritt weiter, wenn wir statt der Lge den Betrug selbst definieren mssen. Knnen wir, be-vor wir benennen, was genau an der Lge lgenhaft ist, be-stimmen, in welchem Ma das Bewusstsein daran beteiligt ist?

    1 [ Rhetorischer Topos, der mittels doppelter Verneinung eine dis-tan zierende Bestimmung erzeugt. ]

  • Kapitel 1 Von der Lge16

    1. Das lgenhafte Bewusstsein

    a. Bewusstsein

    Ich nenne es die doppelte Beziehung oder das Verhltnis zweier Verhltnisse.2 Wie viele ineinander verwobene Ur-teile verbergen sich in einer simplen Lge! Der Begriff des Wahren und seines Gegenteils sowie die Kenntnis des Ge-setzes, das den bergang von dem einen zum anderen regelt, all diese Verwicklungen verraten das odysseeische Bewusst-sein, den schelmischen, den listigen, den weisen Odysseus, ; darin liegt der schne Hinterhalt. Egoismus macht erfinderisch. Durch einen blitzschnellen Schluss, der vielleicht nichts anderes ist als eine intuitive Sicht auf die Situation, hat der Lgner sein wahres Interesse erkannt und das erforderliche Vorgehen beschlossen, denn selbst der behbigste Plattfu legt in diesen Dingen eine un-glaubliche Geschicklichkeit an den Tag. Und wie die Reife gleichzeitig das Bewusstsein von sich selbst und von der Ju-gend ist, so ist das lgenhafte Bewusstsein ein a fortiori und doppelt bewusstes Bewusstsein, da es die Naivitt einschliet und zugleich berschreitet. Deshalb sagt Platon im Hippias minor: Der Lgner, der fhig ist, absichtlich ( ) oder wissentlich zu betrgen, ist dem Aufrichtigen berlegen, denn er kann das eine wie das andere , , .3 Nur der Starke kann es sich leisten, schwach zu sein. So wird Odysseus erst recht und um so mehr Achilles sein. In Wirklichkeit betont Platon, nicht ohne einen gewissen Zynismus, die paradoxe berlegenheit des willentlich L-

    2 [ Vgl. ] Simon Petropavlovski, K philosophii lgi ( Zur Philoso-phie der Lge ) Petrograd, 1906 ( russisch ).

    3 374a. [ kann nicht der dem Leibe nach Bessere beides hervorbrin-gen, das Starke und das Schwache, das Hssliche und das Schne? ] [ siehe auch ] , 367a, 374e, 375e, 376a.

  • 1. Das lgenhafte Bewusstsein 17

    genden, des Listigen, des [Vielgewandten], weil er nicht ernsthaft glaubt, dass man wissentlich Bses tun kann: das ist der Preis der Wissenschaft, dass die sachkundi-ge Arglist gegebenenfalls4 mehr wert ist als naive Aufrichtig-keit. Doch versteht es sich von selbst, dass man die Wahrheit nicht kennen kann, ohne das Bedrfnis zu verspren, sie zu uern; derart, dass Odysseus schlielich nicht nur die List verkrpert, sondern auch Tapferkeit, Weisheit und Gerech-tigkeit ist, der Ritter des wahren Rechts, der ewige Odysseus, der die elende Herde der Freier mit dem Schwert verjagt. Die-ser Optimismus beruht selbst auf einer intellektualistischen Auffassung des [ Freiwilligen ], aufgefasst als ganz und gar spekulativer und kognitiver Geist, das heit passiv in Bezug auf die Wahrheit: rezeptive Intelligenz, welche die Mglichkeit des Falschen begreift, es jedoch weder artikulie-ren noch von sich geben kann. Sicher ist es unmglich, die Evidenz nicht anzuerkennen, denn die Evidenz ist evident wegen der Universalitt der Grnde; doch man kann sich weigern, sie einzugestehen und gerade das zeichnet die Unaufrichtigkeit aus. Zwar hat Malebranche nicht unrecht, die inneren Vorwrfe der Vernunft gegenber jenen vorzu-bringen, die sich dem ewigen Wort widersetzen, aber man kann immer die Evidenz verneinen, Widerspruch uern und sich schlielich nicht berzeugen lassen. Vorstzlich zu lgen ist fr Platon wohlberlegtes, absichtliches Handeln, [ als Vorhaben ]; ganz bewusst, also im Wissen um die Sache: Es ist ein Widerspruch, dass man sich irren kann, wenn man unterrichtet ist! Indessen wissen wir, seit uns der christliche Pessimismus den Sinn der Schuld zu-rckgegeben hat: Das Sagen der Wahrheit ist ein irrationaler

    4 376b [ Der also vorstzlich fehlt und das Schlechte und Unrechte tut, o Hippias, wenn es einen solchen gibt, wre kein anderer als der Gute. Hippias: Auf keine Weise kann ich dir dieses einrumen, o Sokrates. Sokrates: Auch ich nicht mir selbst, Hippias. ]

  • Kapitel 1 Von der Lge18

    und leidenschaftlicher Akt des Willens, und der Wille selbst ist eine etwas wilde Kraft in uns, die einem anderen Rhyth-mus folgt als die Erkenntnis; deshalb spricht Descartes zu Recht von ihrer unendlichen Amplitude. Video meliora deteriora sequor: In diesem kaprizisen Auseinanderfal-len des probo und des sequor, in der absurden Dichotomie des savoir faire in Wissen und Tun, erkenne ich bereits den ganzen Wahn, die ganze Barbarei eines Aktivismus, der nicht auf Transkriptionen des Verstandes zurckzufhren ist. Ich erstrebe nicht das Gute, das ich bewundere, ich will das Schlechte, das ich verachte.5 In der Tat bevorzugen die Heuchler willentlich und absichtlich das Schlechte, nicht, weil sie das Wahre nicht kennen wrden, sondern gerade weil sie es kennen, und es gibt fast kein Beispiel dafr, dass wohlunterrichtet zu sein jemals den Gemeinen von seiner Niedertracht abgehalten htte. Lsst diese eigensinnige und wahrhaft diabolische Bswilligkeit nicht Zweifel am guten Willen der Menschen im Allgemeinen aufkommen? Des-halb mildert der Vorsatz unsere Verantwortung keineswegs, er ist vielmehr ein erschwerender Umstand: Der bewusst Schuldige ist doppelt schuldig, zunchst als Verursacher und dann als Bewusster, da das Bewusstsein im Laster ein Laster mehr ist. Wenn die Snde kein Irrtum, sondern et-was ist, das man absichtlich begeht, dann wird die Lge per definitionem die Snde [ schlechthin], nicht un-bedingt die schlimmste, aber die bezeichnendste, sie wird zur Quintessenz der Snde. Denn man lgt niemals, ohne es zu wollen. Daher ist die erste Lge eines Kindes auch so schwerwiegend. Der Tag der ersten Lge ist ein wahrhaft fei-erlicher, an dem wir beim Unschuldigen die beunruhigende Tiefe des Bewusstseins entdecken. Der Unschuldige wusste also genau Bescheid: fr einen Unschuldigen war er ganz

    5 [ Vgl. ] Saint Francois de Sales, Trait de l'Amour de Dieu [ Ab-handlung ber die Gottesliebe , hg. v. Franz Sales, Wien 1957 ].

  • 1. Das lgenhafte Bewusstsein 19

    schn aufgeweckt Woher wusste er das alles? Und seit wann erlaubt man sich, Geheimnisse zu haben, uns etwas zu verheimlichen? Hrt, emprt sich Golaud, die gro-en Geheimnisse der anderen Welt sind mir weniger fern als das kleinste Geheimnis dieser Augen!6 Und wir entrs-ten uns beinahe, als wren wir persnlich in unseren Rech-ten verletzt, als htte all dies Reine versprochen, uns ewig seine Reinheit zu bewahren. Woher wissen diese arglosen Augen so viel? Wer hat es sie gelehrt? Doch nein, niemand hat sie etwas gelehrt, das Bewusstsein verliert seine Unbe-darftheit von ganz allein, eines schnen Tages entdeckt es seine bewundernswerte Fhigkeit zur Verstellung und List. So ereignet sich das Bewusstwerden ganz pltzlich. Von Nahem betrachtet wrde sich vielleicht herausstellen, dass das uralte Thema der weiblichen Perfidie auf seine Weise die Enttuschung des nachdenkenden Mannes ausdrckt, conscius sibi, secum exsistens, der in seiner Gefhrtin die Unteilbarkeit der ursprnglichen Naivitt vermisst. Denn warum sollte die Naive nicht ihrerseits das Recht haben, unrein und bewusst zu werden? Stellt die Schamhaftigkeit der Frauen nicht jene Dimension des Geheimnisvollen und der Tiefgrndigkeit wieder her, die fr die Mnner eher das Ergebnis von Strategie ist? Die erste Lge ist also sehr wohl die erste Falte auf der glatten Stirn der Unschuld, die erste von Duplizitt kndende Komplikation, der erste Schatten, der das makellose Linnen unserer Arglosigkeit trbt. Ob die Lge harmlos oder schwerwiegend ist, ndert nichts an ih-rer Bedeutung, denn es geht nicht um das Ausma der Lge, sondern um die Intention selbst zu lgen, und es ist diese Absicht, die mit einem Schlag unsere verlorene Jungfru-lichkeit bezeichnet: Die geringste Tuschung hat uns unsere unerschpflichen Mglichkeiten zu spielen und zu betrgen offenbart. Derart ist die uerste Losgelstheit des Geistes.

    6 [ Vgl. Maurice Maeterlinck, Pelleas und Melisande, Jena 1913, S. 51. ]