Von Mäusen, Käfern und chronischen Rückenschmerzen Band1

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Von „Mäusen“, „Käfern“ und chronischen Rückenschmerzen

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Von „Mäusen“, „Käfern“ und chronischen Rückenschmerzen

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Dr. Rainer Heppunter Mitarbeit von Dip.-Psych. Runggaldier

Von „Mäusen“, „Käfern“ undchronischen Rückenschmerzen

oder:es muß nicht immer die Bandscheibe sein!

Eine multidimensionale Ursachenbetrachtungchronischer Rückenschmerzen samt kritischer Wertung

gängiger und alternativer Behandlungsmethoden für interessierte Patienten und Therapeuten.

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Dr. Rainer HeppKönigstr. 888422 Oggelshausen

R. RunggaldierDiplompsychologinSchloßklinik88422 Bad Buchau

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HeRaBuch-VerlagKönigstr. 888422 Oggelshausen

ISBN : 3-925171-40-1

Copyright by HeRaBuch-VerlagAlle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischenWiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Gesamtherstellung: VEBU Druck GmbH, Bad Schussenried

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Hepp, Rainer:Von „Mäusen“, „Käfern“ und chronischen Rückenschmerzen oder: esmuß nicht immer die Bandscheibe sein! : eine multidimensionaleUrsachenbetrachtung chronischer Rückenschmerzen samt kritischerWertung gängiger und alternativer Behandlungsmethoden fürinteressierte Patienten und Therapeuten / Rainer Hepp. Unter Mitarb.von Dip.-Psych. Runggaldier. - Bad Buchau : Federsee-Verl., 1998

ISBN 3-925171-40-1

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Inhaltsverzeichnis: Seite

Vorwort

Einleitung

Zunächst ein paar Zahlen 9Ein bißchen Philosophie 11Eine Reise durch den Rücken 15Wie können Bandscheiben zu Schmerzen führen? 34Arbeiten mit Modellen allgemein 40

A) Schulmedizinische Modelle in der Vergangenheit und Gegenwart 451. Anatomische Modelle 452. Biochemisches Modell 523. Durchblutungsmodell 534. Immunologisches Modell 535. Soziale Modelle 546. Psychosomatische Modelle 56

B) Alternative Modelle 791) Akupunktur und Akupunktmassage nach Penzel 822) Manuelle Medizin – Chirotherapie – Osteopathie 853) Und noch zwei Modelle 90

Diagnostik 991. Anamnese 992. Körperliche Untersuchung 1053. Laboruntersuchungen 1084. Röntgenuntersuchungen 1095. Computertomographie 1116. Kernspintomographie 1127. Myelographie 1148. Diskographie 1179. Besondere Röntgenaufnahmen 118

10. Neurographie 120

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Seite

Therapie 1211. Chirotherapie 1292. Medikamente 1353. Therapeutische Lokalanästhesie 1384. Neuraltherapie 1455. Krankengymnastik 1536. Massagetherapie 1617. Thermotherapie – Kryotherapie 1708. Balneotherapie 1729. Elektrotherapie im Trockenen 175

10. Kneipptherapie 17811. Akupunktur 17912. Operationen 181

A) Bandscheibenoperationen 181B) Die Versteifungsoperation 194C) Die Erweiterung des knöchernen Wirbelkanals 201

Ausblick 202

Stichwörter 217

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Von „Mäusen“, „Käfern“ und chronischenRückenschmerzen

Dankeschön!

Ich möchte mich bei allen bedanken, die zu diesem Büchlein beigetragenhaben. An erster Stelle wären meine früheren Lehrer in London, Johnnes-burg, Kapstadt, Düsseldorf und Münster zu nennen. Besonders erwähnenmöchte ich Herrn Professor Dr. K.-P. Schulitz, Direktor der orthopädischenUniversitätsklinik Düsseldorf, der in wenigen Jahren mein mechanistischesPatientenverständnis mit Stumpf und Stil ausgerottet hat.Genausoviel wie meinen akademischen Lehrern allerdings habe ich meinenPatientinnen und Patienten zu verdanken, die mir zahllose, nicht immer sehreinfache Lektionen erteilt haben. Stellvertretend für viele seinen benanntM.H., W.S., C.K.Ich möchte mich auch bei denen bedanken, die mir technisch bei der Erstel-lung des Manuskriptes und dem Druck des Buches geholfen haben, besondersbei meiner Schwester Barbara für die Schreibarbeit, bei Herrn M. Nicolescufür die wunderbaren Illustrationen und den Mitarbeitern der VEBU DruckGmbH für die ansprechende Gesamtkonzeption.Danke auch an meinen Freund Priv. Doz. Dr. med. W. Castro, der mir dieRöntgenbilder zur Verfügung stellte.Ein ganz besonderer Dank geht an Frau Priv.-Doz. Dr. med. B. Neumeister,Tübingen. Sie hat mir nicht nur unzählige Tips gegeben, sondern auch dieÜberzeugung, daß mein Skript veröffentlicht werden sollte. Ohne sie wäre esungelesen auf meiner Festplatte verstaubt.

Oggelshausen, 26. 9. 98

Rainer Hepp

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VorwortDer Körper ist die Eintrittspforte für den akuten Schmerz,

die Seele das Tor für den chronischen.

Vor etwa 10 Jahren bewarb ich mich an einer deutschen Universitätsklinikum eine Assistentenstelle in der orthopädischen Abteilung. Ich hatte durchmeine Tätigkeit als studentische Hilfskraft im Sektionssaal der Anatomieund Pathologie während des Studiums und durch monatelange Vorbereitun-gen auf deutsche, englische und amerikanische Prüfungen sehr profundeKenntnisse der Anatomie und Biomechanik und fühlte mich für meine neueAufgabe gut gewappnet.Patienten waren für mich in erster Linie Ansammlungen von Knochen, Bän-dern, Sehnen, Muskeln und Gelenken mit regional begrenzten Störungen inder wunderbaren Ordnung, die die Natur vorgegeben hat.Um den Patienten optimal zu helfen, war es aus meiner Sicht lediglich erfor-derlich, die betroffene Region zu lokalisieren, sodann die geschädigte Struk-tur zu identifizieren und schließlich das passende Instrument aus dem Werk-zeugkasten herauszuholen, um möglichst geschickt die erforderliche Repara-tur durchzuführen.Ich hatte mich geirrt.

Zunächst ein paar Zahlen...

Zahlen sind wunderbare Erfindungen des menschlichen Geistes. Sie sind klarund scharf definiert. Sie strahlen Objektivität und Wissenschaftlichkeit ausund sie sind leicht verständlich. Leider sind Zahlen auch für sich alleine ge-nommen völlig belanglos und nichtssagend. Sie bleiben immer oberflächlichund erreichen höchstens die Ebene von Kollektiven. Kaum eine Zahl vermages, die Ebene des Individuums zu erklimmen. Da aber andererseits das Indi-viduum in aller Regel mal genußvoll, mal ängstlich seine Nabelschnüre zumKollektiv hegt und pflegt und damit Teil des Kollektives wird, sind Zahlenauch auf kollektiver Ebene für den Einzelnen von Interesse. Der Einzelnevergleicht sich immer wieder mit anderen Einzelnen in der Gemeinschaft,ganz gleich ob es sich nun um Körpergewicht, Anzahl der Falten im Gesicht,sportliche Leistungen, Einkommen oder Anzahl der zur Verfügung stehen-den Pferdestärken auf der Autobahn handelt.Solche Vergleiche können trösten oder vernichten. Sie sind aber auf jedenFall geeignet, zumindest gedanklich die Ebene des Individuums zu verlassenund sich der Ebene der Gemeinschaft zu nähern. Dies kann, wie wir spätersehen werden, durchaus therapeutisch sinnvoll sein. Der orientierende Blick

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auf die Gemeinschaft hat schon manchen Irrläufer wieder auf den rechtenPfad zurückgebracht.Rückenschmerzen sind sehr häufig. Die meisten wissenschaftlichen Untersu-chungen geben an, daß etwa 50–70 Prozent aller Menschen wenigstens ein-mal in ihrem Leben unter starken Rückenschmerzen zu leiden haben. DieseZahlen betreffen allerdings den sogenannten akuten Rückenschmerz. Unterakuten Rückenschmerzen versteht man Rückenschmerzen, die innerhalb vonwenigen Tagen bzw. Wochen (viele Wissenschaftler geben eine Zeitspannevon 6–12 Wochen an) auftreten und dann wieder verschwinden. Davon abzu-grenzen sind chronische Rückenschmerzen (mit einer Dauer von mehr als6–12 Wochen) und chronisch rezidivierende Rückenschmerzen, das heißtchronische Rückenschmerzen, die immer wieder mal tagelang, wochenlangoder monatelang auftreten, dann verschwinden, um dann plötzlich wiederaufzutauchen. Die chronischen und chronisch rezidivierenden Rücken-schmerzen betreffen „nur“ etwa 10–20 Prozent der Bevölkerung in westlichenIndustriestaaten.In weniger industrialisierten Staaten scheinen die Zahlen niedriger zu liegen,was auf den ersten Blick zunächst verblüfft, da in diesen Staaten deutlich we-niger getan wird, um Arbeitsplätze in Industrie und Dienstleistung „rücken-freundlich“ zu gestalten. Wer hieraus den Schluß zieht, daß die Bemühungenbeispielsweise von seiten der Berufsgenossenschaften, Arbeitsplätze mög-lichst rückenfreundlich zu gestalten, in Wirklichkeit zu einer Zunahme vonRückenschmerzpatienten führen, der möchte bitte bedenken, daß beispiels-weise in der Bundesrepublik Deutschland die Anzahl der Geburten etwa zuder Zeit zurückging, als die Anzahl der Störche sank. Die wenigsten werdendaraus eine kausale Verknüpfung herstellen und damit „beweisen“ wollen,daß der Storch die Kinder bringt. Die Tatsache, daß zwei Entwicklungen par-allel verlaufen, bedeutet noch lange nicht, daß ein direkter innerer Zusam-menhang zwischen diesen beiden Entwicklungen besteht.Die Gesellschaft, in der man lebt, ist nur einer von vielen Faktoren, der Ein-fluß auf das Auftreten von chronischen Rückenschmerzen hat.Das Lebensalter ist ebenfalls von Bedeutung. Interessanterweise nehmen chro-nische Rückenschmerzen bei Männern bis zum Alter von 50 immer mehr zu,um dann wieder abzunehmen; bei Frauen nimmt die Anzahl der Patientinnenmit chronischen Rückenschmerzen auch über das Alter von 50 Jahren zu.Wer also glaubt, daß unsere steigende Lebenserwartung für die Zunahme derRückenschmerzen verantwortlich sei, der irrt.Die berufliche Belastung spielt eine sehr wichtige Rolle. Untersuchungenhaben gezeigt, daß es nachweislich Berufsgruppen mit einer deutlichen Er-höhung des Rückenschmerzrisikos gibt. Dazu gehören beispielsweise Wald-arbeiter und Bauarbeiter.

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Interessanterweise gehören Angestellte mit überwiegend sitzender Tätigkeitnicht zu den Bevölkerungsgruppen, die besonders rückenschmerzgefährdetsind, obwohl das Sitzen von den meisten Rückenexperten als besonders wir-belsäulenschädigend angeprangert wird.Eigentlich ergibt sich aus dem bislang Gesagten ein sehr einleuchtendes undklares Bild:Chronischer Rückenschmerz ist sehr häufig. Mit zunehmendem Alter nimmter zu (das leuchtet ein, da ja mit zunehmendem Alter auch die Wirbelsäuleimmer mehr verschleißt, und der Verschleiß offenbar zu Rückenschmerzenführt). Er tritt auch verstärkt auf bei Bevölkerungsgruppen, die häufigschwer und/oder in gebückter Stellung arbeiten müssen (auch hier kann mansich vorstellen, daß die schwere Arbeit zu vermehrten Abnutzungen der Wir-belsäule führt und damit zu Rückenschmerzen).

Wo liegt der Haken?1. Zunächst einmal haben bereits die bisher vorgelegten Zahlen belegt, daß

nach den vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen Rücken-schmerzen bei Männern über 50 eher wieder seltener werden. Der Ver-schleiß der Wirbelsäule nimmt aber ab 50 Jahren nicht wieder ab sondernweiter zu!

2. Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen, die zeigen, daß dasAusmaß eines Verschleißes – beispielsweise auf Röntgenbildern oder com-putertomographischen Bildern – nichts über das Ausmaß von Rücken-schmerzen aussagt!

3. Wie schon oben erwähnt, ist der chronische Rückenschmerz in Gesell-schaften, die körperlich eher schwerer arbeiten als die westlichen Gesell-schaften, seltener!

Alles in allem kann also die so einfache und einleuchtende Theorie, chroni-sche Rückenschmerzen wären ausschließlich eine natürliche Folge von Ver-schleiß in der Wirbelsäule, leider nicht aufrecht erhalten werden. Das bedeu-tet nun allerdings auch nicht, daß der Verschleiß in der Wirbelsäule über-haupt nichts zu tun hat mit chronischen Rückenschmerzen. Die Beziehungzwischen Verschleiß und chronischen Rückenschmerzen ist nur nicht linearund direkt. Weitere Faktoren müssen eine gewichtige Rolle spielen.

Ein bißchen Philosophie...

Ein Großteil der Bücher über chronische Rückenschmerzen beginnt mit einerSchilderung der natürlichen anatomischen und biomechanischen Verhältnis-se der Wirbelsäule. Es folgt eine Schilderung der verschiedenen Möglichkei-

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ten der Überlastung und der Abnutzung der einzelnen Strukturen. Dabeiwird meist klammheimlich eine mehr oder minder lineare Beziehung zwi-schen der Abnutzung und den klinischen Symptomen, sprich dem Schmerz,unterstellt.Ich habe bereits im ersten Kapitel versucht, allein auf Grund von statisti-schem Zahlenmaterial darzulegen, daß diese einfache und lineare Beziehungeindeutig falsch ist.Sie sollten sich an dieser Stelle einfach einmal ein paar Gedanken machen,was Schmerz ist und wann er von wem empfunden wird, unabhängig von derUrsache. Dies wäre meines Erachtens ein nettes kleines Aufwärmtraining fürdie nachfolgenden Kapitel.Ich hatte noch nie einen Patienten, der auf meine Frage:“ Haben Sie Schmer-zen“? mit der Gegenfrage reagiert hätte: „Was sind Schmerzen“?Vorausgesetzt, daß keine sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten vorlie-gen, scheint also jeder ein klares Verständnis des Begriffes „Schmerz“ zuhaben. Nichts allerdings wäre verkehrter als die Schlußfolgerung, daß alleunter „Schmerz“ dasselbe verstünden. Läßt man sich nämlich von den Pati-enten einmal erklären, was sie unter Schmerz verstehen, erhält man völlig un-terschiedliche Antworten. Die Schmerzen werden mal als „brennend“ oder„bohrend“, „pochend“ oder „klopfend“ beschrieben, mal als „ziehend“ oder„drückend“. Manche Patienten beschreiben sie aber auch sehr bildhaft: „Alswenn jemand ein Messer in meinen Rücken stoßen würde“, „als wenn sicheine eiserne Klammer um meinen Rücken legen würde, um sich dann immerenger zusammenzuziehen“, „als wenn mir jemand kochendes Wasser auf denRücken gießen würde“...Nicht nur die Art und Weise wie ein Schmerz empfunden wird, auch seine In-tensität wird sehr unterschiedlich empfunden. Für die einen ist der Schmerz„lästig, aber gut auszuhalten“, für die anderen „absolut unerträglich“: Darü-berhinaus ändern sich die Intensität und teilweise auch die Art des Schmer-zes von Stunde zu Stunde oder von Tag zu Tag. Dies ist übrigens ein weiteresgewichtiges Argument gegen die unselige Vorstellung, daß Verschleiß direktzu Schmerz führen würde. Obwohl ich nie von einer entsprechenden wissen-schaftlichen Untersuchung gelesen habe, behaupte ich einfach mal, daß derGrad des Verschleisses in der Wirbelsäule an einem „guten“, das heißtschmerzarmen Tag, nicht abnimmt, um am nächsten, schmerzreichen Tagwieder zuzunehmen.Der Begriff „Schmerz“ ist also auf den ersten Blick sehr klar und leicht ver-ständlich. Bei genauerer Betrachtung allerdings versteht jeder wieder etwasanderes darunter, das heißt der Begriff läßt sich nicht „objektiv“ fassen undscharf definieren. Es verwundert daher nicht, daß es in der Wissenschaftkeine zufriedenstellende Methode gibt, den Schmerz „objektiv“ zu messen.

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Allein der Versuch erinnert an eine alte Reklame, die ich neulich zufällig imFernsehen gesehen habe. Die Werbung müßte aus den 60er Jahren stammen.Eine Familie sitzt bei Tisch, plötzlich kommt ein Herr mit einem großen ther-mometerähnlichen Gerät und verspricht, daß mit diesem Gerät im vorausgemessen werden könne, ob ein Essen schmecken wird oder nicht.Schmerz gehört in den Bereich des subjektiven Empfindens und ist damit ge-nauso individuell wie Glück, Trauer und Freude. Schon der Versuch, ein sub-jektives Gefühl objektiv zu messen, ist aber höchst problematisch.Ich möchte mit Ihnen an dieser Stelle ein kleines Gedankenexperiment ma-chen und Sie sollten sich überlegen, wie Sie hundert Geburtstagskindern miteinem einzigen Geschenk eine Freude machen können. Diese hundert „Kin-der“ sollen einen Querschnitt durch die ganze Menschheit darstellen, dasheißt ihr Alter soll vom 1. Lebensjahr bis zum 100. Lebensjahr reichen, es sol-len zur Hälfte Frauen und Mädchen sein, zu anderer Hälfte Männer undJungen. Sie sollen aus allen Teilen dieser Welt stammen.Wie müßte ein Geschenk aussehen, mit dem man jedem dieser 100 Geburts-tagskinder eine große Freude machen könnte?Ich habe lange darüber nachgedacht und dann kapituliert. Ein schönes Hauswürde sicherlich viele dieser Geburtstagskinder sehr glücklich machen; ichbezweifle allerdings, ob ein 1jähriges Kind oder eine 100jährige Jubilarin sichdavon sehr beeindrucken lassen würden. Ein schickes Auto wäre sicherlichhöchstens für die Hälfte ein Grund zur großen Freude. Die meisten würdensich vermutlich noch über eine große Summe Geld freuen, wobei Geld natür-lich jedem die Möglichkeit eröffnet, sich dann in einem 2. Schritt das zu be-sorgen, was er sich wirklich wünscht. Bei 100 Geburtstagskindern allerdingsmuß man wohl unterstellen, daß es darunter Menschen gäbe, die unter Glücketwas anderes verstehen, als die Erfüllung materieller Wünsche, zumal wennsie erst 1–2 Jahre alt sind.Natürlich könnte man „Liebe“ als Geschenk betrachten, was nun wirklichjedes Geburtstagskind glücklich machen müßte. Liebe kann ich aber nir-gendwo kaufen oder anderweitig erwerben. Ich könnte natürlich das Ge-burtstagskind zusammenführen mit einer Person, die es sehr liebt. Damithätte ich aber wiederum nur ein Geschenk für 1–2 oder 10 Geburtstagskin-der, da eine bestimmte Person niemals bei allen das Gefühl der Liebe er-wecken könnte. Ich möchte daher Geschenke wie „Liebe“ und „Glück“ und„Gesundheit“ als Lösung unseres Problems nicht zulassen.Alles in allem gäbe es also sicherlich Geschenke, die einem sehr großen Teilder Geburtstagskinder eine Freude machen würden, es gäbe andererseitsauch Geschenke, die so gut wie keinem willkommen wären. Ein kostenloserFallschirmsprung aus 3000 m Höhe wäre wahrscheinlich nur wenigen Grundzur Freude.

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Was haben nun Geburtstagsgeschenke und Freude auf der einen Seite mit derWirbelsäule und chronischen Rückenschmerzen auf der anderen Seite zu tun?Genausowenig, wie ein Geschenk alle glücklich machen kann, gibt es eine Er-krankung im Bereich des Rückens, die jedem die gleichen Schmerzen zufügt.Es gibt Erkrankungen der Wirbelsäule, die bei fast allen Betroffenen mehroder minder starke Schmerzen auslösen. Dazu gehören beispielsweise Kno-chenbrüche. Gesunder Knochen bricht im Rahmen eines Unfalls, osteoporo-tischer Knochen durch eine leichte Überlastung. Die meisten Betroffenenhaben nach einem solchen Knochenbruch mehr oder minder starke Schmer-zen für Tage bis Wochen, manche sogar Monate und Jahre. Was das mehroder minder spontane Zusammenbrechen osteoporotischer Knochen anbe-langt, gibt es aber durchaus Patienten, die das Zusammensintern gar nicht re-gistrieren.Ähnliches gilt für akute Bandscheibenvorfälle. Ein Teil der Patienten hat imRahmen eines Bandscheibenvorfalls mehr oder minder starke Rücken-schmerzen, ein anderer Teil hat so gut wie keine Rückenschmerzen, sondernnur Schmerzen im Bein, wiederum andere haben weder im Rücken noch imBein Schmerz, sondern nur ein Taubheitsgefühl und ein Schwächegefühl imbetroffenen Bein und viele spüren von ihrem Bandscheibenvorfall überhauptnichts. Es gibt zahlreiche Untersuchungen, die zeigen, daß etwa zwischen 15und 25 Prozent aller Erwachsenen ohne wesentliche Rückenschmerzen min-destens einen Bandscheibenvorfall haben. Die meisten sind völlig überrascht,wenn sie davon erfahren.Umgekehrt gibt es natürlich Patienten mit sehr heftigen Rückenschmerzen,bei denen man mit den heute zur Verfügung stehenden technischen Hilfsmit-teln allenfalls eine kleine, theoretisch unbedeutende Bandscheibenvorwöl-bung nachweisen kann. Unter ganz bestimmten Voraussetzungen kann of-fenbar auch eine kleine Vorwölbung bereits zu mehr oder minder heftigenSchmerzen führen.Dies ist natürlich im Grunde genommen auch gar nicht einmal so schwernachzuvollziehen, wenn wir wieder einen Blick zurückwerfen auf unsere 100Geburtstagskinder. Wenn eines dieser Kinder zum Beispiel seit 2 Tagen ohneGetränke durch die Wüste irrt , würde es sich mit Sicherheit über einen Krugvoll Wasser viel mehr freuen, als über ein schönes Auto, ein schönes Hausoder einen Koffer voll Bargeld.Daraus ergibt sich eine ganz einfache Erkenntnis, deren Bedeutung nichthoch genug angesetzt werden kann:Es gibt keinen einfachen klaren Bezug zwischen Veränderungen der Wirbel-säule und der umgebenden Weichteile und der subjektiven Reaktion des betrof-fenen Patienten auf diese Veränderungen. Das subjektive Empfinden hängtvon vielen Faktoren ab, die wir nur zu einem kleinen Teil bislang kennen und

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verstehen. Da die Realität in diesem Fall so ungeheuer komplex und schwie-rig ist – zumal sie sich bei jedem einzelnen Patienten wiederum aus unter-schiedlichen Bauteilen mit unterschiedlicher Gewichtung zusammensetzt –gibt es nur eine Möglichkeit, in der Praxis das Dilemma zu lösen: Man schafftsehr stark vereinfachende Modellvorstellungen der Realität und versucht,aufgrund dieser Modellvorstellungen therapeutische Strategien zu ent-wickeln und Prognosen abzugeben. Dabei darf allerdings nie übersehen wer-den, daß diese Modelle nur dadurch zu klaren und einfach verständlichenAussagen kommen, daß sie 99 Prozent der Realität einfach ignorieren undsich auf 1 Prozent konzentrieren (diese Prozentangaben sind von mir natür-lich aus didaktischen Gründen sehr willkürlich gewählt worden ohne An-spruch auf wissenschaftliche Exaktheit).Wenn man nun überlegt, wie klein das Fenster ist, durch das man mit diesenModellen die Wirklichkeit betrachtet, ist die Erfolgsquote der therapeuti-schen Strategien, die auf diesen Modellen beruhen, erstaunlich hoch. Es wirdaber klar, daß damit niemals 100 Prozent Erfolge zu erzielen sind.Ich möchte mich nun im Folgenden mit einigen dieser Erklärungsmodelle imDetail beschäftigen.

Eine Reise durch den Rücken …

Kaum ein Erklärungsmodell zum Thema Rückenschmerz ist so populärunter Ärzten und Patienten wie das anatomische Modell.Dies geht soweit, daß die Mehrzahl meiner Patienten zu mir kommt und aufdie Frage: „Wo fehlt’s?“ nicht etwa antwortet: „Ich habe Rückenschmerzen“.Stattdessen kommen in der Mehrzahl der Fälle Antworten wie: „Ich habe esmit den Bandscheiben...“ oder „Ich habe einen Bandscheibenvorfall“.Aus diesem Grunde möchte ich mich natürlich auch in diesem Buch mit derAnatomie auseinandersetzen. Auch wenn sie längst nicht die Rolle spielt, dieihr von den meisten Patienten und leider auch von vielen Ärzten eingeräumtwird, ist sie dennoch von Bedeutung.Im Gegensatz zu vielen anderen Abhandlungen zum Thema Rückenschmerzmöchte ich mich allerdings nicht auf die Wirbelsäule begrenzen. Ich lade Siestattdessen ein zu einer Reise durch sämtliche Schichten und Anteile desRückens, beginnend an der Oberfläche mit der Haut, bis hinab auf die Ebeneder Bandscheiben und Bänder. Dabei sollten diese Strukturen nicht zumSelbstzweck möglichst detailliert geschildert werden, sondern es soll immerüber ihre Rolle beim Schmerzgeschehen diskutiert und spekuliert werden.Beginnen wir also mit der Betrachtung der Haut. Wenn ich Sie, als Leser undvielleicht auch als Patient, oder meine Kollegen fragen würde, ob die Rücken-

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haut etwas zu tun hat mit Rückenschmerzen, würden wohl die meisten miteinem klaren „Nein“ antworten. Sie würden mich darauf aufmerksam ma-chen, daß Schmerzen, die von der Haut ausgehen, sich ganz anders anfühlenals die üblichen Rückenschmerzen. Wenn man beispielsweise in die Hautkneift oder mit einer Nadel sticht oder sich an der Haut verbrennt, spürt manin aller Regel einen sehr oberflächlichen, scharfen Schmerz, der von der Qua-lität her ganz anders ist, als der meist tief und dumpf empfundene Rücken-schmerz.Trotzdem sollten wir das Thema Haut in unserer Betrachtung noch nicht alsbedeutungslos beiseite legen und uns der nächsten Schicht zuwenden. Es gibtnämlich doch eine Reihe von Hinweisen, daß die Haut in irgendeiner Weisein das Krankheitsbild der chronischen Rückenschmerzen eingebunden ist.Da wäre zunächst einmal die sogenannte Kiblerfalte. Die Kiblerfalte bildetman dadurch, daß man die Rückenhaut zwischen Daumen und Zeigefingersanft einklemmt und von der Unterlage etwas abhebt. Normalerweise ist dieskein Problem, bei sehr schlanken Patienten bekommt man meist eine sehrdünne Falte, bei korpulenteren Patienten eine etwas dickere. In beiden Fällenläßt sich aber die Hautfalte von der Unterlage relativ gut abnehmen und ver-ursacht beim Abheben keine wesentlichen Schmerzen. Bei Patienten mitchronischen Rückenschmerzen und besonders bei Patienten die mehrfachvoroperiert sind, findet sich dagegen im Bereich der unteren Lendenwirbel-säule eine Veränderung der Haut. Die Haut ist hier verhärtet, druckschmerz-haft und mit der Unterlage mehr oder minder fest verbacken. Bei diesen Pa-tienten kann man also in der betroffenen Region die Hautfalte nicht abhe-ben. Wird es trotzdem versucht, stellt man fest, daß einerseits die Falte sehrviel dicker als in den Etagen weiter oben ist, und daß andererseits allein derVersuch schon sehr schmerzhaft ist. Es scheint also so zu sein, daß zumindestbei einem Teil der Patienten mit chronischen Rückenschmerzen irgendwanneinmal die Haut in das Schmerzgeschehen mit eingebunden wird. Ich drückemich absichtlich sehr vorsichtig aus, denn es soll nicht verschwiegen werden,daß es positive Kiblerfalten auch im Zusammenhang mit Erkrankungenaußerhalb des Bewegungsapparates gibt. Ich erinnere mich lebhaft an einenPatienten mit Schmerzen im Bereich der mittleren Brustwirbelsäule und po-sitiver Kiblerfalte dort. Die weitere Abklärung ergab schließlich die Diagno-se eines Bauchspeicheldrüsentumors.Die Schulmedizin übrigens scheint sich mit diesem Phänomen wissenschaft-lich nicht auseinanderzusetzen. In einer sehr bedeutsamen medizinischenDatenbank („Medline“) kommt die Kiblerfalte nicht einmal als Suchbegriffvor. Beachtung findet sie vor allen Dingen in Veröffentlichungen von Ma-nualtherapeuten und Masseuren. Ich werden mich mit diesem Thema späternoch einmal etwas gründlicher beschäftigen.

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Die Bedeutung der Haut in der Therapie chronischer Rückenschmerzen istviel weniger umstritten als in der Diagnostik.Die meisten Patienten mit chronischen Rückenschmerzen werden mit lokalenWärmebehandlungen in Form einer Fangopackung, einer Wärmflasche odereiner Bestrahlung mit Rotlicht behandelt. Wissenschaftliche Untersuchun-gen haben nun gezeigt, daß die meisten dieser üblichen Wärmeanwendungennicht wesentlich unterhalb des Hautniveaus gelangen. Sie erreichen nichtannähernd die Rückenmuskulatur oder gar die tieferliegenden Strukturen,wie etwa kleine Wirbelgelenke oder Bandscheiben. Trotzdem berichten diemeisten Patienten über eine vorübergehende Linderung ihrer Rückenschmer-zen während und nach solchen Wärmeanwendungen.Ein sehr beliebtes und oft erstaunlich erfolgreiches therapeutisches Verfahrenbei Rückenschmerzen ist das sogenannte „Quaddeln“. Der Arzt spritzt dabeiin der Regel ein Betäubungsmittel in die oberste Hautschicht links und rechtsund neben der Wirbelsäule. Die Haut bildet dabei an der Einstichstelle einenkleinen Buckel, die sogenannte Quaddel. Dieses Verfahren ist sehr einfach,preisgünstig und harmlos und zeigt doch immer wieder erfreuliche therapeu-tische Effekte. Auch in diesem Fall wird nur die oberste Hautschicht behan-delt, und trotzdem erzielen wir bei vielen Patienten einen, allerdings oft nurvorübergehenden, Effekt auf die Rückenschmerzen.Auch die Akupunktur ist ein Verfahren, das bei der Behandlung chronischerRückenschmerzen mitunter erfolgreich eingesetzt wird. Je nach Stichtechnikwerden hier die Nadeln mal nur in die oberste Hautschicht, mal auch bis indas Unterhautfettgewebe gesetzt, so gut wie nie aber auch nur annähernd bisin den Bereich der Wirbelsäule oder der Bandscheibe.Einige Patienten schwören auf Roller, die die oberflächlichen Hautschichtendurch kleine Metallspitzen reizen.Alles in allem gibt es also eine Fülle von Verfahren, die mehr oder minder er-folgreich therapeutisch eingesetzt werden, und die letzten Endes nur ober-flächliche Hautreize setzen.Zu der eingangs gestellten Frage nach dem Zusammenhang von Haut undchronischen Rückenschmerzen: Auch ich glaube nicht, daß die Haut ursäch-lich an chronischem Rückenschmerz beteiligt ist, aber offenbar besteht trotz-dem eine Beziehung zwischen der Haut und den chronischen Rückenschmer-zen. Einerseits ist die Haut zumindest einiger Patienten mit chronischenRückenschmerzen verändert, andererseits kann man offensichtlich durchManipulation an der Haut auf Rückenschmerzen Einfluß nehmen.Wenden wir uns nun der nächsten Schicht zu, der Muskulatur:Kaum jemand wird bezweifeln wollen, daß die Rückenmuskulatur prinzipiellin der Lage ist, Schmerzen zu verursachen. Wer Zweifel hat, der möge einfachmal 2 Stunden lang Sand oder Kohle schaufeln oder in gebeugter Körperhal-

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tung Unkraut jäten. Wenn man diese Arbeiten nicht gewöhnt ist, wird manspätestens in 2 Stunden wissen, wie sich Rückenschmerz anfühlt, der primärvon der Muskulatur kommt.Dieser muskuläre Überlastungsschmerz unterscheidet sich aber doch in allerRegel vom Schmerz chronischer Rückenschmerzpatienten. Der reine Überla-stungsschmerz wird von den meisten Menschen nicht als beunruhigend undquälend empfunden, sondern sogar eher als „wohlig“. Er ruft häufig das Ge-fühl hervor, besonders fleißig gewesen zu sein, und man ist nicht selten sogarein wenig stolz darauf. Er läßt sich darüber hinaus durch Liegen oder Sitzenauf einem guten Stuhl sehr leicht behandeln. Seine Intensität hält sich meistin tolerablen Grenzen. Er hält auch nicht sehr lange an, sondern verschwin-det nach einer ruhigen Nacht, spätestens nach 2–3 Tagen.Alles in allem kann also eine kurzdauernde Überforderung der Rückenmus-kulatur durchaus Rückenschmerzen verursachen. Charakteristisch für dieseRückenschmerzen ist in aller Regel eine mechanische Abhängigkeit, das heißtsie werden durch Fortsetzung der Arbeit und Rumpfvorneigung verstärktund innerhalb von wenigen Minuten durch Ruhe und Entspannung gebessertoder völlig zum Verschwinden gebracht.Charakteristisch für diese Art von Schmerz ist auch die Schmerzlokalisation,die eher im Bereich der unteren Brustwirbelsäule, als tief in der Lendenwir-belsäule oder im Kreuzbein liegt.Diese Art von Rückenschmerzen wird häufig angetroffen bei Patienten mitsehr ausgeprägtem Rundrücken, bei denen die Muskulatur aus biomechani-schen Gründen auch ohne zusätzliche ungewohnte Belastung von außenhäufig am Rande ihrer Belastbarkeit arbeiten muß.Die Überforderung der Muskulatur durch ungewohnte Belastung ist abernur eine Möglichkeit, wie es zu muskelbedingten Rückenschmerzen kommenkann. Eine weitere Ursache für Muskelschmerzen wäre natürlich auch eineakute Verletzung der Rückenmuskulatur. Äußere Verletzungen durch Schnit-te und Stiche sind relativ selten und spielen keine bedeutende Rolle bei derEntstehung von chronischen Rückenschmerzen. Ich kann mich jedenfalls ankeinen einzigen Patienten erinnern, der plötzlich nach einer Stich- oderSchnittverletzung der Rückenmuskulatur chronische Rückenschmerzen ent-wickelt hat, nachdem er zuvor nie mit Rückenschmerzen Probleme hatte.Ein anderer Mechanismus der akuten Verletzung wäre eine innere Zerreißungdurch eine akute, kurzzeitig einwirkende Überforderung der Muskulatur.Solche Situationen kommen sowohl im Arbeitsleben wie im privaten Bereich(Sport!) relativ häufig vor und können durchaus Anlaß sein für hartnäckiganhaltende chronische Rückenschmerzen. Sehr umstritten ist allerdings nachwie vor der genaue Mechanismus der Schmerzentstehung bei solchen akutenÜberforderungen im Rahmen eines sogenannten „Verhebetraumas“.

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Eine akute Muskelüberdehnung oder gar ein Muskelfaserriß wäre dabei nureine Möglichkeit, wie eine schmerzrelevante Struktur im Rücken zu Schadenkommt. Weitere Ursachen für Schmerzen wären beispielsweise auch Verän-derungen im Bereich der kleinen Wirbelgelenke und natürlich auch derBandscheiben, auf die ich später noch ausführlicher eingehen werde.Fazit: Auch akute Überlastungen können theoretisch wie praktisch zu einerSchädigung der Rückenmuskulatur führen. Äußere Stich- und Schnittverlet-zungen sind relativ selten und haben bei der Entstehung von chronischenRückenschmerzen keine wesentliche Bedeutung. Innere Zerreißungen sindprinzipiell denkbar und möglich. Ihre Rolle bei der Entstehung akuter oderchronischer Rückenschmerzen allerdings ist nach wie vor nicht eindeutig ge-klärt, zumal sie sich der objektiven Befundung, beispielsweise durch bildge-bende Verfahren, weitgehend entziehen, sei es, daß die dafür erforderlichenVerfahren einfach viel zu aufwendig und zu teuer sind, um sie routinemäßígund möglicherweise wiederholt zur Verlaufskontrolle einzusetzen, sei es, daßdie Verletzungen einfach so klein sind, daß sie sich auch aufwendigen Ver-fahren entziehen.Ich möchte mich der nächsten Schicht zuwenden, nämlich dem Bandapparat.Im medizinischen Sinne ist ein Band strenggenommen eine bindegewebigeVerknüpfung von Knochen miteinander. Ich möchte hier aber den BegriffBandapparat großzügiger definieren und auch die Sehnen (d. h. Verbindun-gen von Muskeln und Knochen) und Faszien (die Bindegewebehülle derMuskulatur) einschließen.Wir wissen im Grunde genommen erstaunlich wenig über die Rolle dieserStrukturen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung chronischer Rücken-schmerzen. Die Ursachen dafür liegen einerseits darin, daß es eine unüber-schaubare Fülle von solchen Strukturen im Rücken gibt, andererseits aberauch darin, daß wir im Grunde genommen nach wie vor keine Möglichkeitenhaben, solche Strukturen objektiv darzustellen und zu bewerten. Eine bildli-che Darstellung ist allenfalls bei den größten Vertretern dieses Gewebes mög-lich. Eine Sichtbarmachung der kleineren Vertreter ist auf Grund ihrergroßen Zahl und des teils völlig unterschiedlichen Richtungsverlaufes mitunseren üblichen zweidimensionalen Darstellungsverfahren ausgeschlossen.Aber nicht nur die bildliche Darstellung dieser Strukturen ist nur in sehr be-scheidenem Umfang möglich. Auch die funktionelle Untersuchung ist pro-blematisch. Es gibt einige Tests, mit denen man – angeblich – einzelne Bänderüberprüfen kann. Diese Tests funktionieren in der Regel so, daß der Unter-sucher den Patienten so positioniert, daß das zu untersuchende Band oderdie zu untersuchende Struktur unter Spannung gebracht wird. Dabei wird inder Regel auf Schmerz geachtet, der durch diese mechanische Streßbelastungentsteht. Zusätzlich wird versucht, den Widerstand, den das Gewebe der

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langsam zunehmenden Belastung entgegensetzt, zu fühlen und zu beschrei-ben.Dieses Vorgehen ist aus sehr unterschiedlichen Gründen höchst problema-tisch. Einerseits werden durch diese Belastungstests nicht nur und aus-schließlich die zu untersuchenden Strukturen unter Spannung gesetzt, son-dern mehr oder minder alle anderen Nachbarstrukturen auch, das heißtMuskulatur, Gelenke, Bandscheiben, Nervenwurzeln, Gefäße usw. DieSchlußfolgerung, daß durch zunehmenden Zug an dieser Struktur ausge-rechnet sie verantwortlich für zunehmende Schmerzen ist und nicht dieseanderen Strukturen, ist daher zumindest gewagt.Auch der 2. Teil solcher Testverfahren, nämlich der Versuch des Untersu-chers, den Widerstand der Struktur gegen eine weitere Zugbelastung inirgendeiner Form wenigstens annähernd zu quantifizieren, ist höchst proble-matisch. Auch hier gilt natürlich, daß der Widerstand meistens nicht nur voneiner einzigen Struktur ausgeht. Darüber hinaus spielt das subjektive Empfin-den des Untersuchers bei diesem Test eine entscheidende Rolle. Wenn also ver-schiedene Untersucher denselben Patienten nach demselben Testverfahrenuntersuchen, kommen sie nicht selten zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen.Aufgrund dieser zahlreichen Schwierigkeiten bei der Beurteilung des Band-apparates haben sich viele Ärzte zu einem ganz pragmatischen Vorgehen ent-schlossen. Sie ignorieren diese Strukturen weitgehend. Während es also,zumal in Amerika, relativ häufig Diagnosen wie „Muskelzerrung“ oder„muskuläre Überlastung“ gibt, kommen Diagnosen wie „Überdehnung desBandes XYZ“ in Zusammenhang mit Rückenschmerzen bei den meisten Me-dizinern so gut wie nie vor.Dabei sprechen zumindest aus theoretischer Sicht durchaus einige guteGründe dafür, daß der Bandapparat unter Umständen sogar eine sehr be-deutsame Rolle bei der Entstehung oder beim Unterhalt chronischer Rücken-schmerzen spielt.Anatomische Studien haben gezeigt, daß die Bänder und Sehnen sowie auchdie Faszien eine Nervenversorgung haben, die zumindest theoretisch in derLage ist, dort entstandene Schmerzimpulse weiterzuleiten. Daß verletzteBänder durchaus erhebliche Schmerzen über lange Zeiträume verursachenkönnen, wissen wir aus anderen Beispielen. Eine Überdehnung des Außen-bandes am Sprunggelenk beispielsweise kann unter Umständen über Mona-te und Jahre Schmerzen verursachen und die künftige Belastbarkeit dieserRegion auf Dauer deutlich herabsetzen. Auch Wetterfühligkeiten nach sol-chen Bandverletzungen sind nicht selten. In diesem Zusammenhang er-scheint der Hinweis interessant, daß viele Patienten mit chronischen Rücken-schmerzen bei naßkalter Witterung mehr Probleme haben als bei warmemWetter.

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Darüber hinaus hat sich unser Verständnis des Bandapparates in den letztenzehn bis zwanzig Jahren deutlich geändert. Während wir noch bis vor etwa 20Jahren der Meinung waren, daß Bänder in erster Linie sehr kräftige aber„hirnlose“ Strukturen seien, die zwei oder mehrere Knochen miteinanderverbinden, haben wir in den letzten Jahren vor allen Dingen durch Untersu-chungen am Kreuzband im Kniegelenk erfahren, daß diese Vorstellung sehrnaiv war. Neuere wissenschaftliche Untersuchungen eben der Kreuzbänderim Kniegelenk weisen nach, daß diese Bandstrukturen nicht nur Ober- undUnterschenkel mechanisch miteinander verbinden. Vielmehr finden sich indiesen Kreuzbändern auch feinste Spannungsmeßfühler, die ständig Infor-mationen an Rückenmark und Gehirn abgeben, in welcher Position undunter welcher Spannung sich das Kniegelenk zu jedem gegebenen Zeitpunktbefindet. Kreuzbänder besitzen also überspitzt ausgedrückt eine gewisse„Intelligenz“.Wenn das Gleiche für die Bänder und Sehnen im Rücken gelten sollte – undhierüber kann zum jetzigen Zeitpunkt nur spekuliert werden – könnten alsoBänderverletzungen oder Bänderüberlastungen zumindest auf zwei ArtenRückenschmerzen hervorrufen: Einerseits direkt durch Verletzungen feiner„Schmerznerven“, andererseits durch Fehlinformationen, die laufend an dieZentralrechner Rückenmark und Gehirn abgegeben werden und dann zueiner Störung der Feinabstimmung der einzelnen Muskeln führen.An dieser Stelle sollten wir vielleicht einen kleinen Abstecher machen unduns kurz überlegen, wie die Muskulatur überhaupt funktioniert.Ich lade Sie zu einem kleinen Gedankenexperiment ein. Schließen Sie bittemal Ihre Augen und überlegen Sie sich jetzt, in welcher Position sich Ihr lin-ker Arm und Ihre linke Hand befinden. Zeigt die Handfläche nach vorne,nach hinten, oben oder unten, sind die Finger gestreckt oder gebeugt, ist dasEllenbogengelenk gestreckt oder gebeugt, in welcher Position befindet sichdie Schulter?Vermutlich hatten Sie keine Probleme, die Fragen zu beantworten. Dabeimußten Sie sich Ihren Arm und Ihre Hand nicht erst anschauen. Auch ohneZuhilfenahme Ihrer Augen verfügt Ihr Gehirn über die notwendigen Infor-mationen dazu. Wie ist dies möglich?Im Grunde genommen ist die Sache ganz einfach: Ihr Arm und Ihre Handsind über die Arm- und Handnerven mit Ihrem Rückenmark und Ihrem Ge-hirn verbunden und tauschen ständig Informationen aus. Einerseits kann IhrGehirn, solange diese Verbindung intakt ist, jederzeit beispielsweise IhrenFingern den Befehl geben, sich zu strecken oder sich zu beugen. Andererseitsinformieren aber auch die Finger sowohl vor diesem Befehl als auch währendund nach diesem Befehl ständig das Gehirn darüber, in welcher Position siesich befinden und wie weit sie die gegebene Anordnung bereits befolgt haben.

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In den Gelenkkapseln, in den Sehnen, in den Muskeln und auch in den Bän-dern befindet sich eine Vielzahl von teils sehr unterschiedlichen Meßfühlern,die ständig die Spannung und die Änderungen dieser Spannung in Abhän-gigkeit von der Zeit messen und die Informationen an das Gehirn weiterlei-ten. Aus diesen Millionen und Abermillionen Rückmeldungen, die allein auseiner Hand Sekunde für Sekunde auf das Gehirn einströmen, berechnet dasGehirn unter Zuhilfenahme seines für diese Aufgaben besonders geeignetenSupercomputers, des Kleinhirns, ständig die aktuelle Position der einzelnenMuskeln und Knochen und vergleicht sie mit den Zielgrößen, die es bereitserrechnet hat, als Sie ihm den Auftrag gegeben haben, die Finger zu beugenoder zu strecken. Die allermeisten dieser Rechenvorgänge laufen natürlichfür Sie völlig unbewußt ab. Nur wenn Sie sich bewußt darauf konzentrieren,können Sie einen winzigen Bruchteil dieses Informationsflusses mitverfolgen.Der Vorgang ist aber noch viel komplizierter. So werden nämlich beispiels-weise auch noch Informationen von der Haut und dem Unterhautfettgewebemitverarbeitet. Darüber hinaus wird die Position des Armes, aber auch diePosition des restlichen Körpers im Raum und seine Beziehung zur Schwer-kraft miteinkalkuliert. Schließlich wird auch die Umgebung der Hand unddes Armes berücksichtigt, wenn man eine Faust in der Luft schließt, läuft derBewegungsapparat anders ab, als wenn man die Hand beispielsweise in einemfeinen Sand zur Faust schließen möchte. Auch besteht eine ständige Verbin-dung zum Bewußtsein um sicherzustellen, daß die geplante und eingeleiteteBewegung sofort unterbrochen wird, wenn das Bewußtsein plötzlich seineMeinung ändert und doch keine Faust mehr schließen möchte.Man muß nicht unbedingt Fachmann für Informationsverarbeitung undSteuertechnik sein, um in Anbetracht dieser gigantischen Leistung unseresNervensystems überwältigt zu sein, zumal das Gehirn natürlich „ganz ne-benbei“ nicht nur eine Faust schließen kann, sondern nach Belieben gleich-zeitig den Füßen noch den Befehl geben kann, sich auf die Zehenspitzen zustellen und die Halsmuskulatur anweisen kann, den Kopf nach links zu dre-hen. Selbstverständlich können sämtliche Bewegungen gleichzeitig mit hoherGeschwindigkeit durchgeführt werden, ohne daß dabei beispielsweise dieProgramme abstürzen, die für die Verarbeitung der optischen Informationen,der akustischen Informationen oder für die Atmung verantwortlich sind.Zurück zum Rückenschmerz: Obwohl also die Datenverarbeitungskapazitätunseres Nervensystems gigantisch ist und durch eine Vielzahl von Mechanis-men auch vor Störungen geschützt wird, kann man sich natürlich trotzdemvorstellen, daß ständige Fehlinformationen, die von einer verletzten Band-struktur im Rücken ausgehen, zumindest Teile des Rückens anhaltend störenund auf Dauer vielleicht auch schädigen. Zumindest theoretisch könnten alsoBänder, Sehnen und Faszien durchaus eine gewichtige Rolle bei der Entste-

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hung oder beim Unterhalt von Rückenschmerzen spielen. Ihre praktische Be-deutung im Einzelfall entzieht sich allerdings meist der ärztlichen Würdigung.Die nächste Struktur, der wir uns zuwenden wollen, sind die kleinen Wirbel-gelenke.Wie Sie auf der Abbildung 1 erkennen können, werden zwei Wirbel in ihremhinteren Anteil jeweils durch ein sogenanntes „kleines Wirbelgelenk“ oderauch „Facettengelenk“ links und rechts miteinander verbunden. Diese klei-nen Wirbelgelenke sorgen im Zusammenspiel mit den Bandscheiben, die sichim vorderen Anteil der Wirbelsäule befinden, dafür, daß sich die Wirbel un-tereinander innerhalb gewisser Grenzen gegeneinander drehen und verschie-ben können. Obwohl diese Bewegungsmöglichkeiten zwischen zwei Wirbeln ,das heißt in einem sogenannte Bewegungssegment, relativ gering sind, addie-ren sie sich doch von Etage zu Etage und sorgen schließlich für eine erstaun-liche Beweglichkeit der gesamten Wirbelsäule.

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Abb. 1: 2 Wirbel mit einer Bandscheibe (vorne) und zwei kleinen Wirbel-oder Facettengelenken (hinten) dazwischen

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Leider scheint es nichts im Leben zu geben, was wir umsonst bekommen. DerPreis, den wir für diese Beweglichkeit bezahlen müssen, ist die Gefahr des Ge-lenkverschleißes. Die kleinen Wirbelgelenke können natürlich genauso ver-schleißen wie ein Hüft- oder Kniegelenk. Dabei sind das Auftreten und dasAusmaß des Verschleißes abhängig von vielen verschiedenen Faktoren. Ei-nerseits scheint es gewisse Veranlagungsfaktoren zu geben, die einem Patien-ten das Schicksal eines frühzeitigen Gelenkverschleißes allgemein oder be-grenzt auf bestimmte Körperregionen bescheren. Andererseits ist ein Ge-lenkverschleiß natürlich immer auch dann zu erwarten, wenn ein Gelenküber längere Zeit, sprich über Monate oder Jahre, übermäßig belastet wird.Das Ausmaß der Belastung der kleinen Wirbelgelenke wiederum hängtnatürlich ebenfalls von verschiedenen Faktoren ab. Einerseits wäre zumin-dest theoretisch eine Überlastung der kleinen Wirbelgelenke vorstellbar,wenn der Patient langjährig in Rumpfrückneigung arbeiten müßte. In dieserKörperhaltung nämlich schieben sich die Facettengelenke verstärkt ineinan-der und werden biomechanisch mehr belastet. Ein Arbeitsplatz, der dauer-haft eine solche Arbeitsposition abverlangt, ist mir allerdings aus meiner bis-herigen beruflichen und gutachterlichen Erfahrung nicht bekannt. Vorüber-gehende Tätigkeiten in dieser Position für Stunden oder Tage scheinen keineschädigende Wirkungen zu entfalten.Die kleinen Wirbelgelenke biegen sich aber auch vermehrt ineinander undwerden dadurch mechanisch mehr belastet, wenn die dazugehörige Band-scheibe an Höhe verliert (s. Abbildung 2).Diesen Mechanismus kann man in der Praxis häufig antreffen. Dabei könnenzwischen Auftreten der Bandscheibenerkrankung und der Facettengelenks-arthrose Jahre oder gar Jahrzehnte liegen.Ein weiterer Faktor, der uns aus wissenschaftlichen Untersuchungen be-kannt ist, und der ebenfalls zu einem Verschleiß der kleinen Wirbelgelenkebeitragen kann, ist eine Asymmetrie der Gelenkebenen in einem Segment.Wenn beispielsweise das rechte Facettengelenk nach „vorne schaut“ und daslinke nach der Seite, werden beide Gelenke unphysiologisch belastet, dasheißt sie werden stärker gefordert als ihnen auf Dauer guttut (s. Abbildung 3).Solche Asymmetrien müssen wohl als „Webfehler der Natur“ betrachtet wer-den.Nun leuchtet es sicherlich den meisten von uns ein, daß ein verschlissenes Ge-lenk Schmerzen verursacht. Leider muß man in der Medizin immer wiederfeststellen, daß viele Zusammenhänge einleuchten, obwohl sie bei genauerBetrachtung doch zumindest nicht in der zunächst angenommenen, sehrstark vereinfachten Form miteinander verknüpft sind. Das gilt auch für denZusammenhang zwischen Gelenkverschleiß und Schmerz und im verstärktenMaße für den Facettengelenkverschleiß und Rückenschmerz.

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Abb. 2: a) 2 Wirbel mit einer gesunden Bandscheibe;b) 2 Wirbel mit einer verschlissenen, abgeflachten Bandscheibe.

Beachten Sie bitte, wie sich mit zunehmender Abflachung der Bandscheibedie Facettengelenke immer mehr ineinanderschieben (Pfeile).

a)

b)

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Abb. 3: Wirbel, von oben gesehen. Beachten Sie bitte die assymmetrischeAusrichtung der Gelenkachsen.

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Jeder Orthopäde und jeder Allgemeinmediziner weiß aus praktischer Erfah-rung, daß die meisten Patienten mit einer fortgeschrittenen Arthrose imKniegelenk mehr oder minder starke Schmerzen haben. Er weiß aber auchgleichzeitig, daß der Schmerz häufig von Tag zu Tag oder von Woche zuWoche unterschiedlich intensiv ist. Es gibt Tage, an denen der Patient starkeSchmerzen hat und kaum einige Schritte gehen kann, und dann gibt es Tage,an denen er wenig Schmerz hat oder ganz schmerzfrei ist. Kein Arzt käme aufdie Idee, das Knie an einem schmerzfreien Tag zu röntgen und dabei zu er-warten, daß der Verschleiß in dieser Phase plötzlich verschwunden ist. DerVerschleiß, der in der Regel durch ein Röntgenbild sichtbar gemacht wirdund annähernd in Schweregrade eingeteilt werden kann, hat also eindeutigmit den Knieschmerzen etwas zu tun. Der Zusammenhang ist aber nicht soeinfach, daß man sagen kann, Verschleiß gleich Schmerz. Weitere Faktoren,die uns nur zum Teil bekannt sind, spielen dabei eine wichtige Rolle.Nicht nur der zeitlich schwankende Verlauf der Beschwerden im Rahmeneiner Arthrosekrankheit deutet darauf hin, daß Verschleiß allein nicht aus-reicht, um Schmerzen zu erzeugen. Immer wieder sieht man in der Sprech-stunde Patienten mit ausgesprochen schweren Formen von Arthrose imKniegelenk, die so gut wie keine Schmerzen haben. Über dieses Phänomenwurde und wird viel spekuliert, der Schlüssel zum Verständnis fehlt uns abernoch nach wie vor.Während es bei ausgeprägten Kniearthrosen nur relativ wenige Patientengibt, die keine Schmerzen haben, ist dies bei nachgewiesenem Verschleiß derkleinen Wirbelgelenke recht häufig. Es gibt tatsächlich so viele Patienten mitauf dem Röntgenbild oder auf dem Computertomogramm (CT) nachgewie-senem Verschleiß der kleinen Wirbelgelenke ohne Rückenschmerzen, daß deralleinige Nachweis einer Facettenarthrose auf einem Röntgenbild oder CTnoch nicht einmal als krankhaft gewertet werden darf. Schließlich werdenauch Falten im Gesicht oder Haarausfall beim Mann als natürliche Alte-rungsphänomene betrachtet, die beim einen stärker, beim anderen wenigerstark zum Ausdruck kommen, die aber letzten Endes bei keinem als echteKrankheit aufgefaßt werden.Ein klein wenig hinkt dieser Vergleich natürlich. Denn während man auf dereinen Seite nicht sagen kann, daß ein nachgewiesener Facettengelenkverschleißmit Sicherheit die Ursache für Rückenschmerzen darstellt, kann man auf deranderen Seite bei der Abklärung chronischer Rückenschmerzen diesen Ge-lenkverschleiß auch nicht völlig ignorieren, da es doch immer wieder Patientengibt, bei denen dieser Gelenkverschleiß vielleicht nicht die einzige, aber docheine wichtige oder entscheidende Rolle bei der Schmerzentstehung spielt.Wie kann man nun als Arzt zwischen symptomatischen und asymptomati-schen Facettenarthrosen unterscheiden?

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Wie bereits ausgeführt, läßt uns das Röntgenbild in diesem Fall völlig imStich. Es verbleiben im Grunde genommen zwei Tests, auf die man sich ver-lassen muß. Der eine basiert auf dem direkten Druckschmerz über diesemBewegungssegment bei der Untersuchung. Hier wird unterstellt, daß Bewe-gung in einem bereits in Ruhe schmerzhaften Gelenk die Schmerzen nochverstärkt. Dieses Phänomen kennen wir ja beispielsweise wieder von Patien-ten mit einer Kniegelenksarthrose. Während der Schmerz in der Ruhe oft er-träglich ist, wird er durch Beugen des Kniegelenks deutlich verstärkt.Eine zweite Methode, die klinische Bedeutung einer Facettenarthrose im Zu-sammenhang mit chronischen Rückenschmerzen nachzuweisen, wäre die dia-gnostische Infiltration.Dabei werden die verdächtigen Gelenke mit einem örtlichen Betäubungsmit-tel angespritzt und für einige Stunden betäubt. Wenn im Anschluß an dieseInjektionen der Schmerz für einige Stunden verschwunden ist, spricht diesdafür, daß diese Gelenke entweder die alleinige Schmerzursache sind oder zu-mindest aber eine ganz entscheidende Rolle in einem sehr komplexenSchmerzgeschehen spielen.Es muß aber nicht immer Verschleiß sein, der zu Schmerzen führt, die vonden kleinen Wirbelgelenken herrühren. Ein anderer Mechanismus ist die so-genannte Blockierung. Darunter versteht man eine prinzipiell umkehrbareFunktionsstörung eines kleinen Wirbelgelenkes. Verglichen wird das oft miteiner Schublade, die plötzlich verklemmt und nicht mehr richtig auf- oder zu-geht. Die Folge der Blockierung eines kleinen Wirbelgelenkes reicht aberüber das eigentliche Gelenk hinaus. Innerhalb von Minuten oder Stundenbildet sich eine örtlich begrenzte Verspannung der kleinen Muskeln aus, diedas Gelenk überziehen. Gleichzeitig kommt es zu einer Fehlermeldung andas betroffende Rückenmarksegment. Das kann nun sekundär zu Verände-rungen beispielsweise der darüberliegenden Haut führen (vgl. Kiblerfalte).Im Halswirbelbereich kann es unter Umständen zu Schwindel oder Kopf-schmerzen führen. Diese Fernwirkungen sind oft viel störender als die ei-gentliche Blockierung, die oft genug stumm ist, das heißt keine direktenSchmerzen auslöst.Solche Blockierungen können oft in Sekunden durch Chirotherapie erfolg-reich behandelt werden. Aber auch Akupunktur und andere Maßnahmenkönnen zur Lösung der Blockierung führen.Wenden wir uns nun den knöchernen Wirbeln als möglicher Ursache chroni-scher Rückenschmerzen zu.Die einfachste Art knöchern bedingter Rückenschmerzen sehen wir beim Zu-sammenbrechen eines Wirbels, das heißt dem Knochenbruch. Prinzipiell kannman zwei Arten des Knochenbruchs unterscheiden. Auf der einen Seite kannein kräftiger gesunder Wirbel dann zusammenbrechen, wenn die Belastung

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von außen – beispielsweise im Rahmen eines Sturzes oder Unfalles – so hochist, daß sie seine Belastbarkeitsgrenze überschreitet. Betroffen hiervon sind inder Regel jüngere Patienten, die in einen schweren Unfall verwickelt waren.Ein solcher Knochenbruch verursacht so gut wie immer sehr starke Rücken-schmerzen, die zumindest einige Wochen, häufig einige Monate und gar nichtso selten sogar jahrelang anhalten, wobei die Intensität im Laufe der Zeitnatürlich abnimmt.Eine zweite Möglichkeit des Knochenbruches wäre die sogenannte „patholo-gische Fraktur“, das bedeutet der krankhafte Knochenbruch. Darunter ver-steht man das Zusammenbrechen eines Wirbels ohne übermäßige Belastung,das heißt ohne adäquaten Unfall. Die Ursache dafür liegt in einer deutlichenVerminderung der Widerstandskraft des Wirbelkörpers. Die Widerstands-kraft des Wirbelkörpers wird beispielsweise durch eine ausgeprägte Osteo-porose, in selteneren Fällen auch durch gut- oder bösartige Geschwülste,durch Infektionen und eine Reihe von Stoffwechselerkrankungen deutlichgemindert.Die zweite Gruppe von Patienten hat häufig Knochenbrüche auf mehrerenEtagen. Die einzelnen Knochenbrüche treten oft zu verschiedenen Zeiten aufund können im Laufe der Jahre zu einer Schrumpfung der Körpergröße von5–10 cm führen. Manche Patienten haben nur einige Tage bis Wochen nacheiner frischen Fraktur Rückenschmerzen, andere mehr oder minder ständig,besonders dann, wenn durch die einzelnen Knochenbrüche ein deutlicherBuckel entstanden ist, der zu einer mechanischen Überforderung derRückenmuskulatur führt.Die vielgeschmähten Bandscheiben spielen nach heutigem Verständnis wederbeim akuten noch beim chronischem Rückenschmerz auch nur annähernddie zentrale Rolle, die ihnen immer noch von seiten der Patienten eingeräumtwird. Selbstverständlich können Bandscheibenerkrankungen zu Rücken-schmerzen führen. In diesem Zusammenhang sollten wir uns einmal über-legen, wozu eine Bandscheibe dient und wie sie aufgebaut ist.Vom 2. Halswirbelkörper bis zum ersten Kreuzbeinwirbelkörper gibt es zwi-schen zwei Wirbeln jeweils eine Bandscheibe. Die meisten Menschen habendaher insgesamt 23 Bandscheiben (s. Abbildung 4).Die Aufgabe der Bandscheiben ist es, zwei Wirbel miteinander so zu verbin-den, daß einerseits die Wirbel gegeneinander nicht verrutschen, andererseitsaber kleine Bewegungen nach allen Richtungen möglich sind. Darüber hin-aus haben sie die Aufgabe, Spitzenbelastungen, die die Wirbelsäule zusam-menzustauchen drohen, wie ein Stoßdämpfer abzufedern.Die Natur hat sich dazu einen zweiteiligen Aufbau der Bandscheibe ausge-dacht: In der Mitte finden wir den sogenannten Kern der Bandscheibe, deraus großen Eiweißmolekülen und viel Wasser besteht. Dieser Kern wird ein-

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Abb. 4:

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geschlossen durch einen festen Faserring, der aber innerhalb gewisser Gren-zen in der Lage ist, sich ein wenig auszudehnen und Dreh- und Biegebewe-gungen in kleinem Rahmen zuzulassen.Man kann sich den Aufbau auch in etwa so vorstellen wie den Aufbau einesFahrradreifens. In der Mitte finden wir beim Fahrradreifen die Luft, dieunter Druck steht, und dafür sorgt, daß auch beim Besteigen des Fahrradesder Reifen nicht zusammengequetscht wird. Die Rolle der Luft übernimmtbei der Bandscheibe der Kern, der soviel Wasser enthält, daß auch beispiels-weise ein 50 kg schwerer Rucksack nicht in der Lage ist, die Bandscheibenplatt zu drücken. Eingeschlossen wird dieser Kern durch den Faserring unddurch die sogenannten Grund- und Deckplatten der benachbarten Wirbel-körper (s. Abbildung 5).

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Abb. 4: Wirbelsäule von vorne, seitlich und hinten. Man unterscheidet vonoben nach unten:a) Halswirbelsäule, 7 Wirbel, die als HWK („Halswir-belkörper“) oder oft auch nur als „C“ (C steht für „cervical“, lat. cervix= der Hals) bezeichnet werden. Die einzelnen Wirbelkörper werde vonoben nach unten durchnummeriert, der oberste Halswirbel ist also HWK 1oder C1, der nächste HWK 2 oder C 2.Bandscheiben werden nach ihren beiden Nachbarwirbeln benannt. Die Bandscheibe C5/C6 ist also die Bandscheibe zwischen dem 5. und 6.HWK.b) Brustwirbelsäule, 12 Wirbel, die als BWK („Brustwirbelkörper“) oder„Th“ (Th steht für „thorakal“, griech. Thorax = Brustpanzer) bezeichnetwerden.c) Lendenwirbelsäule, meist 5 (selten 4 oder 6) Wirbel, die als LWK oder„L“ (L steht für“lumbal“, lat. zur Lende gehörend) bezeichnet werden.d) Kreuzbein, 5 Wirbel, die beim Erwachsenen zu einem großen Knochenverschmolzen sind. Man spricht deshalb auch nicht von KWK. Wohl gibtes aber die Bezeichnung „S“ (S steht für „sacral“, lat sacrum = dasKreuzbein).Achtung: Nervenwurzeln und Wirbelkörper werden lateinisch – leider! -gleich bezeichnet. „C5“ kann also für den 5. Halswirbelkörper oder für die5. Halsnervenwurzel stehen. Klarheit wird durch den Zusammenhang odereinen Zusatz wie „- Wurzel“, bzw. „- Wirbel“ geschaffen.

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Abb. 5: Die beiden Lendenwirbel L4 und L5 mit der Bandscheibe L4/5 undder Nervenwurzel L4, sowie dem Facettengelenk L4/5. Beachten Sie bitte,daß es sich hier um eine schematische Zeichnung handelt. In Wirklichkeitgibt es je eine Nervenwurzel L4 und je ein Facettengelenk L4/5 links undrechts.

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Die Bandscheiben haben im Kernbereich keine Blutgefäße. Die Ernährungder Bandscheiben erfolgt über einen raffinierten Pumpmechanismus. Tags-über werden durch den aufrechten Gang die Bandscheiben so belastet, daßsie ganz langsam über viele Stunden ein wenig Wasser aus dem Kern durchdie Grund- und Deckplatten in die Wirbelkörper abgeben. Dieses Wasserwird dann von den Blutgefäßen des Knochens aufgenommen und abtrans-portiert. Mit diesem Wasser geben die Bandscheiben gleichzeitig ihre ganzen„Schlacken“ und Stoffwechselendprodukte ab. Im Liegen fällt die Belastungder Bandscheiben durch äußeren Druck deutlich ab. Nun ist die Sogkraft desBandscheibenkernes höher als der Druck von außen, der versucht, das Was-ser aus den Bandscheiben herauszudrücken. Der Nettoeffekt ist also einlangsames Ansaugen von Wasser aus dem benachbarten Knochen in dieBandscheibenkerne. Mit diesem angesogenen Wasser gelangen nun wieder-um Nährstoffe in die Bandscheiben. Dieser Effekt läßt sich übrigens ganzeinfach nachmessen: morgens sind wir in der Regel 1–2 cm größer als abends.Astronauten, die längere Zeit in der Schwerelosigkeit zubringen, könnenmehrere Zentimeter an Länge wachsen. Sie verlieren diese Größe allerdingsauf der Erde wieder sehr rasch.Nun soll auf keinen Fall der Eindruck entstehen, daß man bereits durch dasAnheben einer Kiste Bier schon ein oder zwei Zentimeter kleiner werdenwürde. Diese Anpassungsvorgänge der Bandscheiben sind sehr langsam underfordern eine ganze Reihe von Stunden. Dies zeigte sich in einem interes-santen Experiment, das sich Privatdozent Dr. C. Jantea, ein guter Freundund Kollege, vor Jahren ausgedacht hatte. Er wollte damals der Frage nach-gehen, was mit den Bandscheiben passiert, wenn sie über einige Stunden be-lastet werden. Er suchte sich dazu 5 Kollegen aus, die eine Kernspintomogra-phie der Lendenwirbelsäule durchführen ließen. Mittels dieser Kernspinto-mographie konnte man die Bandscheiben ziemlich genau darstellen und aus-messen. Im Anschluß an diese Kernspintomographie mußten wir 5 Freiwilli-gen dann über 3 Std. ein Gewicht von 20 kg mit uns herumschleppen. Nachdiesen drei Stunden wurde dann ein erneutes Kernspintomogramm der Len-denwirbelsäule durchgeführt und die Bandscheiben wurden möglichst exaktvermessen.Das Ergebnis dieser Untersuchung war überraschend: Einerseits hatte sichdie Form und die Höhe der Bandscheiben nach der dreistündigen Belastungnicht eindeutig verändert, andererseits zeigte das Kernspintomogramm vordem Experiment bei einem der Berufskollegen nicht nur einen, sonderngleich zwei Bandscheibenvorfälle. Dieser Kollege hatte übrigens bis zu die-sem Zeitpunkt keine wesentlichen Rückenprobleme. Die Befürchtung, daßman 1–2 cm schrumpft, wenn man eine Bierkiste vom Auto in das 2. Stock-werk trägt, ist also völlig unbegründet.

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Wie können diese Bandscheiben aber nun zu Schmerzen führen?

Es gibt prinzipiell verschiedene Mechanismen, die zu bandscheibenbedingtenSchmerzen führen können:1. Teile des oberflächlichen Faserringes sind von feinen „Schmerzfasern“ be-

deckt und durchzogen. Wenn nun dieser Faserring seine ursprünglicheElastizität verliert und einreißt, kann es dadurch zu Irritationen an diesenNervenendigungen kommen, die Schmerzen auslösen können („diskogenerSchmerz“).

2. Wenn der Faserring einreißt, kann sich ein Teil des Bandscheibenkernsdurch diesen Spalt durchpressen und nach hinten drücken. Hinter derBandscheibe aber befindet sich der Rückenmarkkanal, in dem sich nebenreichlich Fettgewebe und einigen großen Blutgefäßen vor allen Dingen dasRückenmark bzw. einzelne Nervenwurzeln befinden (s. Abbildung 6).Nun kann man sich natürlich in der Theorie sehr einfach vorstellen, daßein solcher mechanischer Druck auf eine Nervenwurzel massive Rücken-und/oder Beinschmerzen auslösen kann („radikulärer Schmerz“ von„radix“, lateinisch für die (Nerven-) Wurzel). Hier handelt es sich aber wie-der einmal um einen typischen Fall in der Medizin, in dem etwas sehr ein-leuchtend klingt, was bei genauer Betrachtung längst nicht so einleuchtendist.Während Druck und Zug an den feinen Endverzweigungen bestimmterNerven (oft fälschlicherweise „Schmerzfasern“ genannt) unbestrittenSchmerzen verursachen können, scheinen Druck auf oder Zug an einemgroßen Nervenwurzelstamm nicht unbedingt die gleichen Reaktionen aus-zulösen. Aus mehreren Untersuchungen ist bekannt, daß es eine Reihe vonschmerzfreien Probanden gibt, bei denen im Kernspintomogramm eindeu-tige Nervenwurzelkompressionen vorliegen.Bei der Operation akuter Bandscheibenvorfälle wiederum fällt auf, daß diebetroffenen Nervenwurzeln nicht nur unter teils erheblicher Spannung ste-hen, sondern meistens auch entzündlich gereizt sind. Anscheinend führtmechanischer Zug oder Druck an einer Nervenwurzel alleine nicht unbe-dingt zu Schmerzen. Um Schmerzen auszulösen, muß die Nervenwurzeloffenbar zusätzlich noch entzündet sein. Dabei ist ohne weiteres vorstell-bar, daß das Bandscheibenkerngewebe selbst für die Entzündung der Ner-venwurzel verantwortlich ist, da es, üblicherweise gut abgeschlossen imZentrum der Bandscheibe, keinen Kontakt mit dem Immunabwehrsystemdes Körpers hat (wir erinnern uns, daß der Kern der Bandscheibe nichtdurchblutet wird!).Wenn nun im Rahmen eines akuten Bandscheibenvorfalles Bandscheiben-gewebe durch den Faserring dringt, kommt dieses Bandscheibengewebe in

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Berührung mit dem Immunsystem. Das Immunsystem erkennt das Band-scheibengewebe nicht als körpereigenes Gewebe und greift es an. Dadurchentsteht eine örtliche Entzündung, die auf die Nervenwurzeln übergreifenkann. So ungefähr kann man sich die begleitende Nervenentzündung vor-stellen, eindeutig bewiesen ist dieser ohnehin sehr stark vereinfachte Zu-sammenhang noch nicht.Während also zur Schmerzerzeugung offenbar mehr als nur mechanischerDruck oder Zug notwendig sind, scheint die alleinige mechanische Beein-trächtigung der Nervenwurzel durchaus auszureichen, um den Informati-onsfluß zwischen beispielsweise Bein und Fuß und Rückenmark bzw. Ge-hirn zu stören. Das bedeutet, daß der Druck alleine zwar wahrscheinlichkeine Schmerzen auslöst, aber durchaus Taubheitsgefühl und Schwäche imBein bzw. Fuß sowie einen Reflexverlust oder eine Reflexabschwächung er-zeugen kann.Die klinische Erfahrung untermauert diese Vermutung insofern, als esimmer wieder Patienten mit akuten Bandscheibenvorfällen gibt, die selbsterstaunt sind, daß sie wenig oder keine Rücken- oder Beinschmerzenhaben; sie haben dagegen eine deutliche Fußheber- oder Fußsenker-schwäche und einen kompletten Reflexverlust auf der betroffenen Seite,verbunden mit mehr oder minder ausgeprägtem Taubheitsgefühl in einemumschriebenen Hautbezirk.Während also der Zusammenhang zwischen einem akuten Bandscheiben-vorfall und Rücken- und/oder Beinschmerzen offenbar sehr kompliziert zusein scheint, ist der Zusammenhang zwischen dem akuten Bandscheiben-vorfall und „neurologischen Ausfällen“ (Reflexabschwächung, Taubheits-gefühl, Muskelschwäche bzw. Lähmung) in der Regel relativ einfach undklar.

3. Der akute Bandscheibenvorfall ist nur eine von mehreren möglichen Er-krankungen der Bandscheibe. Eine weitere Möglichkeit wäre der sich überMonate und Jahre hinziehende chronische Verschleiß, der letzten Endesdazu führt, daß der innere Kern immer mehr an Spannung verliert, dasheißt also an Fähigkeit, Wasser zu binden. Dadurch wird die Bandscheibeimmer flacher, wie ein Fahrradreifen, der zu wenig Luft enthält. Ein solcherFahrradreifen führt dann zu einer gewissen Instabilität des Fahrverhaltens.Ähnlich kann man sich nun vorstellen, daß sich zwei Wirbelkörper ver-mehrt gegeneinander drehen und verschieben können, wenn die zwischenihnen liegende Bandscheibe an Höhe und Spannung verliert. Dies wieder-um kann einerseits zu vermehrten Zugbelastungen beispielsweise des vor-deren und hinteren Längsbandes führen, andererseits aber auch zu einervermehrten mechanischen Belastung der beiden betroffenen Facettengelen-ke (s. Abbildung 7).

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Abb. 6: Bandscheibe L4/5a) normale Bandscheibe im Längsschnittb) normale Bandscheibe im Querschnitt.

Beachten Sie bitte den Wirbelkanal (= Spinalkanal) samt Inhalt(Rückenmark, bzw. Nervenwurzeln), sowie das Gelbe Band (= ligamentum flavum).

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c) Bandscheibenvorfall und Verdickung des Gelben Bandes im Längs-schnitt

d) Bandscheibenvorfall und Verdickung des Gelben Bandes im Querschnitt

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Schließlich erfährt natürlich auch die Muskulatur von dieser regionalen „In-stabilität“, und sie reagiert so, wie sie reagieren soll. Sie versucht durch er-höhte Spannung das instabile Segment ruhig zu stellen. Wir haben also be-reits zumindest 4 Elemente, die im Rahmen einer solchen Erkrankung zuRückenschmerzen führen können: der sich langsam überdehnende Faserring,die benachbarten überforderten Längsbänder, die Facettengelenke undschließlich die lokale Muskulatur. Wir werden uns weiter unten noch etwaskritischer mit diesem Konzept der „Instabilität“ auseinandersetzen.Selbstverständlich gibt es auch Strukturen im Körper, die nicht im engerenSinne zum Rücken gehören und die trotzdem Rückenschmerzen verursachenkönnen. Hierzu zählen unter anderem die Nieren und Harnleiter, die großenBlutgefäße im Bauch- und Beckenraum, die weiblichen Geschlechtsorganeund eine Reihe anderer Strukturen und Organe. Die Unterscheidung zwi-schen „orthopädischen“ Rückenschmerzen, die ihren Ursprung primär imRücken haben, und „nicht-orthopädischen“ Rückenschmerzen aus anderenRegionen ist in der Praxis meist nicht sehr schwierig, vorausgesetzt es liegenkeine Mischformen vor. Mit einigen „nicht-orthopädischen“ Ursachen vonRückenschmerzen werde ich mich später etwas ausführlicher beschäftigen.

Zusammenfassung:

Auf unserer kleinen Reise durch die verschiedenen Strukturen des Rückenshaben wir unterschiedliche Gewebe kennengelernt, die mehr oder minder alle

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Abb. 7: a) Gesunde Bandscheibeb) Verschleißbedingte Höhenminderung einer Bandscheibe mit

1) vermehrter Belastung des vorderen und hinterenLängsbandes (Instabilität)

2) vermehrter Belastung der Facettengelenke

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zum Rückenschmerz beitragen können. Wir haben erfahren, daß die Zusam-menhänge zwischen den einzelnen Geweben und dem subjektiven Schmerz-empfinden sehr kompliziert sind und daß viele Zusammenhänge noch völligunklar sind, auch den Fachleuten! Dies liegt einerseits daran, daß unsereKenntnisse vom normalen Zusammenspiel der einzelnen Strukturen auchheutzutage noch sehr lückenhaft sind. Größer scheint allerdings das Problemzu sein, daß die Vorgänge im Zusammenhang mit Rückenschmerzen alleinauf somatischer (körperlicher) Ebene so ungeheuer komplex sind, daß sie imkonkreten Einzelfall wohl in den nächsten hundert Jahren nicht komplett er-faßt werden können. Wenn wir vielleicht früher in der Schulzeit über Glei-chungen mit zwei Unbekannten gestöhnt haben, haben wir es jetzt hier mitGleichungen mit Millionen oder Milliarden Unbekannten zu tun. Die klassi-sche Logik und Mathematik lassen uns natürlich bei der Lösung solcher Pro-bleme im Stich. Dies umso mehr, als nicht nur die Vorgänge selbst ungeheuerkomplex sind, sondern weil wir in der Praxis auch mit all unserer „High-Tech-Medizin“ nicht annähernd in der Lage sind, selbst nur einen Bruchteildieser theoretisch relevanten Variablen zu erfassen und zu messen. Die Situa-tion erinnert ein wenig an die eines Fußballtrainers, der jeden Montag die Ta-belle der Bundesliga vorgelegt bekommt und sieht, daß seine Mannschaft dieletzte ist. Er kennt zwar die einzelnen Spieler seines Teams, hat aber keineMöglichkeit, den Spielen seiner Mannschaft zuzuschauen. Alles, was ihm zuVerfügung gestellt wird, ist das jeweilige Endergebnis und der Tabellenplatz.Seine Aufgabe ist es, quasi aus der Ferne mit diesem Minimum an Informa-tionen Entscheidungen bezüglich Trainingsaufbau, Spieltaktik und Spielein-satz zu treffen. Natürlich hat er einige einfache Zusammenhänge klar vorAugen: So kann er beispielsweise anhand des Ergebnisses ablesen, ob dasProblem in erster Linie darin besteht, daß zuviele eigene Tore kassiert werden– in diesem Fall müßte er sich natürlich zunächst mit der Abwehr und demTorwart auseinandersetzen – oder darin, daß keine eigenen Tore erzielt wer-den – was Konsequenzen für den Sturm hätte. Es wäre aber naiv von unseremTrainer, in Anbetracht der hohen Anzahl von eigenen Toren einfach den Tor-wart auszuwechseln und durch einen neuen Torwart zu ersetzen und dann zuhoffen, daß alle Probleme gelöst sind. Ähnlich naiv wäre es, bei chronischenRückenschmerzen eine Bandscheibe zu operieren und zu meinen, man hättedamit den Schmerz „wegoperiert“.Nachdem Sie nun gesehen haben, daß allein auf der körperlichen Ebene dieZusammenhänge ungeheuer komplex sind und im Detail auch für den Fach-mann nicht immer durchschaubar, werden Sie nun im folgenden Teil des Bu-ches erfahren, wie die einzelnen Fachleute es doch in der Praxis schaffen,mehr oder minder zielgerichtete Therapiestrategien zu entwickeln und umzu-setzen.

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Arbeiten mit Modellen allgemein

Zur Auflockerung würde ich gerne noch einmal ein kleines Experiment mitIhnen machen: Setzen Sie sich bitte bequem zurück, entspannen Sie sich,schließen Sie die Augen und horchen.Hören Sie den Sender Bayern-4-Klassik oder SWR3? Nein? Dann öffnen Siedoch bitte wieder die Augen und konzentrieren sich auf das ZDF. Sie könnenden Sender ohne Fernseher nicht sehen?Dann können Sie wahrscheinlich auch keinen Ultraschall hören, kein Ultra-violett sehen und keine Magnetfelder spüren.Keine Bange, ich bin nicht verrückt geworden. Ich wollte Ihnen mit diesenkleinen Experimenten nur in Erinnerung rufen, daß wir als Menschen prinzi-piell nicht in der Lage sind, die Wirklichkeit in ihrer ungeheuren Komplexitätvoll und ganz zu erfassen. Alles, was wir als Menschen vermögen, ist, mit denuns gegebenen Sinnesorganen einen kleinen Bruchteil der Realität zu erfas-sen und diesen Ausschnitt der Wirklichkeit so stark zurückzustutzen, daßunser Bewußtsein mit dieser immer noch gigantischen Fülle von Informatio-nen zurecht kommt. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob letzten Endes 1 Prozent oder 1/10 000 Promill der zu einem gegebenen Zeitpunkt vorhan-denen Informationen in unserer Umgebung in unser Bewußtsein eindringt.Feststeht, es ist ein sehr kleiner Teil. Wer sich für diese Problematik der un-geheuer komplexen Realität auf der einen Seite und des nur sehr einge-schränkten Vermögens unseres Bewußtseins, Realitäten wahrzunehmen, an-dererseits mehr auseinandersetzen möchte, sollte sich mit dem klassischenWerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ von Schopenhauer beschäftigen.Das Durchackern dieses Werkes wäre sicherlich die optimale Vorbereitungauf das folgende Kapitel.Eine der wichtigsten Fähigkeiten, die wir Menschen schon sehr früh in unse-rem Leben entfalten, ist die Fähigkeit, äußerst komplexe reale Vorgänge aufeinfache, verständliche Modelle zu reduzieren. Ein klassisches Beispiel dafürwäre das nach meinem Wissen in jeder Kultur entwickelte Konzept von „gut“und „böse“. Auch wenn die Definitionen von gut und böse sicherlich injedem Kulturkreis unterschiedlich sind, versucht doch jede Kultur das Gutezu fördern und das Böse zu bekämpfen. Die Konzepte von gut und böse sindin der Regel eng verflochten mit den jeweiligen religiösen Vorstellungen, undfür religiöse Menschen ist der Gedanke, daß solche Attribute von Menschennach bestimmten Regeln gleichsam auf die Realität aufgepropft werden undnicht von vorneherein schon wesentlicher Bestandteil der Realität sind, sehrschwer nachvollziehbar. Nur der Vergleich verschiedener Kulturen und derVergleich verschiedener Definitionen von gut und böse läßt den Gedankenaufkommen, daß es sich letzten Endes nicht um einen von Gott gegebenen

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Aspekt der Realität handelt, sondern um ein Etikett, was erst von Men-schenhand umgehängt wurde.Solche Etikette benutzen wir ja zuhauf, ob „groß und klein“, „dick unddünn“, „leicht und schwer“, „hell und dunkel“ oder „warm und kalt“. Mitsolchen Begriffen arbeiten wir, um reale Personen, Pflanzen und Tiere oderDinge in ein Koordinatensystem einzufügen, das uns erlaubt, einerseits ver-schiedene Dinge miteinander zu vergleichen, andererseits die Anzahl der proPerson und Tier, Pflanze oder Sache registrierten und in der Erinnerung ab-gespeicherten Details drastisch zu reduzieren.Wenn mir beispielsweise meine Katze entläuft, brauche ich auf der Suchenach ihr nicht jedem, den ich anspreche, exakt das Aussehen einer Katze imallgemeinen zu schildern. Ich brauche das Tier nur beim Namen zu nennenund etwa das Alter und die Größe sowie die Farbe anzugeben, und schonhaben die meisten der Angesprochenen eine ziemlich genaue Vorstellung vomAussehen meiner Katze und können mir sagen, ob sie das Tier gesehen habenoder nicht.Offenbar liebt es unser Gehirn, in Kategorien und Rastern zu denken.Warum sollten also Mediziner und medizinische Therapeuten hier eine Aus-nahme machen?Sehr aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang beispielsweise die Ge-spräche zwischen zwei oder mehreren Ärzten im Rahmen einer Visite. Wennein Stationsarzt einen Patienten bei der Chefarztvisite neu vorstellt, wird er,wenn er nur ein bißchen Erfahrung hat, nicht etwa 15 Minuten lang zu er-klären versuchen, wo der Patient seine Schmerzen hat, wie sie sich anfühlenund wie sie auf 35 verschiedene Situationen des Alltags reagieren. Er wirdstattdessen diese Informationen eindampfen auf ein sehr dichtes Konzentrat,das in wenigen Sätzen ungefähr folgendermaßen lauten könnte: „Herr XYhat chronische Kreuzschmerzen mit Ausstrahlung in den linken Oberschen-kel bis zum Knie ohne neurologische Ausfälle. Er liegt bei uns stationär zurintensiven konservativen Therapie.“Obwohl der Stationsarzt in diesem Beispiel nur zwei Sätze gesagt hätte, wäredamit bereits ein sehr großer Teil der aus ärztlicher Sicht bedeutsamen Infor-mationen mitgeteilt worden. Die Bezeichnung „chronische“ Kreuzschmerzensignalisiert eine Dauer von in der Regel mehr als 6–12 Wochen. Jeder Fach-mann weiß, daß solche Schmerzen anders zu werten sind als akute Kreuz-schmerzen mit einer Dauer von 3–4 Tagen.Der Begriff „Kreuzschmerzen“ gibt die Lokalisation des Schmerzes an, unddie Ausstrahlung der Schmerzen bis zum Knie deutet für den Fachmann sehrstark darauf hin, daß keine Nervenwurzeleinklemmung stattgefunden hat.Dies wird durch den Zusatz „keine neurologischen Defizite“ noch bestätigt.Mit diesem einen Satz fällt der Patient automatisch in eine bestimmte Kate-

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gorie, die Patienten mit einer in der Regel nicht sonderlich günstigen Progno-se umfaßt, die aber für einen operativen Eingriff in aller Regel nicht in Fragekommen. Konsequenterweise folgt hier auch der Nachsatz „Herr XY ist füreine intensive konservative Therapie vorgesehen“. Obwohl in diesem Nach-satz nicht detailliert erläutert wird, was während dieser intensiven konserva-tiven Therapie gemacht werden soll, würde diese Aussage den meisten opera-tiv oder konservativ tätigen Ärzten absolut ausreichend erscheinen. Dieser 2. Satz bezüglich der Therapie erscheint natürlich nur dann ausreichend,wenn im Zusammenhang mit vielen anderen Patienten in der Vergangenheitein mehr oder minder klares konservatives Therapieschema festgelegt wurdeund in seinen wesentlichen Grundzügen jedermann bekannt ist.Der Vorteil einer solchen kurzen Vorstellung liegt natürlich auf der Hand,der Nachteil genauso. Nur wenn Stations- und Chefarzt einerseits die gleicheNomenklatur und das gleiche Koordinatensystem bezüglich Diagnose undTherapie verwenden, und wenn sich gleichzeitig der Chefarzt sicher seinkann, daß der Stationsarzt bereits im Vorfeld viele Fragen geklärt hat, ohnedaß er darüber während der Visite auch nur ein Wort verliert, erscheint einesolche kurze Präsentation akzeptabel.Massive Probleme ergäben sich allerdings, wenn Stationsarzt und Chefarzteine unterschiedliche Nomenklatur und ein unterschiedliches Krankheits-verständnis, sprich Koordinatensystem, hätten. Angenommen, der Stati-onsarzt verstünde beispielsweise unter „intensiver konservativer Therapie“lediglich die Verabreichung von klassischen Massagen, während der Chef-arzt ein mehr oder minder ausgeklügeltes Programm erwarten würde, be-stehend aus Massagen, Elektrotherapie, Krankengymnastik, medizinischerTrainingstherapie und praxisbezogenen Anleitungen zum Verhalten imAlltag, so könnte dies bereits der Beginn eines folgenschweren Mißver-ständnisses sein. Sollte unser Stationsarzt denselben Patienten nämlich3 Wochen später erneut bei der Chefarztvisite vorstellen mit dem Satz„trotz intensiver konservativer Maßnahmen über 3 Wochen verspürt HerrXY bislang keine Besserung,“ wäre der Chefarzt unter Umständen bereitsgeneigt, zu drastischeren Maßnahmen zu greifen; er würde also vielleichtzumindest an Injektionen denken, möglicherweise an einen größeren ope-rativen Eingriff. Die Verwendung von Rastern, Kategorien und Konzepten,die wir in der Medizin meistens als Diagnosen und Therapien bezeichnen,ist das Ergebnis einer gigantischen Reduktion einer immens komplexenRealität auf das wirklich oder vemeintlich Wesentliche. Die Vorteile liegenauf der Hand: schnelle, unkomplizierte Kommunikation zwischen ver-schiedenen Therapeuten, einfache Dokumentation, mehr oder minderklare Therapiekonzepte auf der Basis von mehr oder minder einfachenKrankheitsmodellen.

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Bei allen Vorteilen sollte man allerdings den wichtigsten Nachteil nicht ver-gessen: die Entscheidung, was wesentlich ist und was nicht, bleibt letztenEndes immer subjektiv und bis zu einem gewissen Grad willkürlich. Das er-klärt auch speziell im Zusammenhang mit chronischen Rückenschmerzen dieinternational gigantische Vielfalt von unterschiedlichen Diagnosen, die sichinhaltlich häufig weitgehend überlappen. Ich werde im Zusammenhang mitder Besprechung der einzelnen Krankheitsmodelle auf einige dieser Diagno-sen eingehen. Wir werden dabei sehen, daß eine unterschiedliche Nomenkla-tur meist eine unterschiedlichen Betrachtung der Realität widerspiegelt.Diese unterschiedliche Betrachtung der Realität ergibt sich einerseits aus derVorbildung des Betrachters, das heißt daß das Raster, durch das ein Thera-peut einen Patienten und seine Erkrankung beurteilt, zu einem großen Teilwährend seiner Ausbildung errichtet wurde. Wir werden darüber hinaus fest-stellen, daß ein Therapeut bereits in seinen diagnostischen Überlegungen nieden Blick auf seine eigenen individuellen therapeutischen Möglichkeiten ver-lieren wird. Seine therapeutische Fähigkeiten werden immer ein ganz wichti-ger Bestandteil seines diagnostischen Rasters sein, gemäß dem amerikani-schen Sprichwort: „Wenn man in seiner Werkzeugkiste nur einen Hammerhat, sieht alles um einen herum aus wie ein Nagel.“ Ein begeisterter Operateur wird eher eine „operationswürdige Diagnose“stellen, ein konservativer (das bedeutet im medizinischen Sinne ein „nichtoperierender“) Orthopäde wird eher eine Diagnose stellen, die nicht zu einerOperation führt. Eine „Blockierung“ kann im Grunde nur ein Therapeut dia-gnostizieren, der eine Ausbildung in Chirotherapie hat.

Eine Diagnose ist daher keine absolute Wahrheit, sondern ein Produkt ausRealität und Vorkenntnissen!

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A) Schulmedizinische Krankheitsmodelle in der Vergangenheit und Gegenwart

1. Anatomische Modelle

Moden gibt es nicht nur in der Textilindustrie, sondern auch beispielsweise in derMedizin.Zu Beginn unseres Jahrhunderts wurden beispielsweise kleine Einbrüche derBandscheibe in die benachbarten Wirbelkörper (sog. Schmorl`sche Knoten) alsmögliche Ursache von Rückenschmerzen diskutiert. Ein klarer Bezug zwischendem Auftreten der Knoten und Rückenschmerzen konnte sich aber nicht herstel-len lassen.Ein anderes Konzept aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts war das Konzept derZerrung und Überdehnung am Übergang zwischen Lendenwirbelsäule undKreuzbein bzw. im Bereich des Gelenkes zwischen Kreuzbein und Darmbein. Andiesem Beispiel läßt sich auch sehr klar die ungeheure Bedeutung solcher Mo-dellvorstellung für die Therapie darstellen: basierend auf dieser Vorstellung wur-den nämlich therapeutisch Gipsverbände und Korsetts angelegt, ja sogar Ver-steifungsoperationen der Kreuzdarmbeingelenke durchgeführt. KritischeNachuntersuchungen der operierten Patienten allerdings ergaben dann sehr baldeinerseits einen relativ schlechten Behandlungserfolg, andererseits eine er-schreckend hohe Komplikationsrate: etwa 4 Prozent aller operierten Patientenstarben im Zusammenhang mit diesem Eingriff!In den 30er Jahren wurden dann zwei verschiedene Mechanismen beschrieben,die zu einer Einklemmung von Nervenwurzeln führten. Zunächst wurde dasPhänomen der knöchernen Einklemmung veröffentlicht.Eine Nervenwurzel muß auf ihrem Weg vom Wirbelkanal ins Bein durch ein üb-licherweise ausreichend großes knöchernes Loch oder besser gesagt, durch einenknöchernen Kanal hindurch (s. Abbildung 8).Die Größe des knöchernen Kanals kann bereits anlagebedingt schwanken, istaber in jüngeren Jahren praktisch immer ausreichend. Wenn nun ein Patient vonNatur aus einen engen Kanal hat und im mittleren und höheren Lebensalter zu-sätzlich in diesem Bewegungssegment einen Bandscheibenverschleiß entwickelt,der zu einer Abflachung der Bandscheibe führt, dann schieben sich die beidenknöchernen Partner, die den Kanal bilden, nämlich die Decke des Kanals (gebil-det vom oberen Wirbel) und der Boden des Kanals (gebildet vom unteren Wir-bel) etwas enger zusammen. Gleichzeitig kommt es durch dieses Zusammen-schieben und auch durch die damit verbundene vermehrte Beweglichkeit der bei-den Wirbelkörper gegeneinander zu einer deutlichen Mehrbelastung der betrof-fenen Facettengelenke, die daraufhin dann mit Verschleiß reagieren können.

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Abb. 8:a) Nervenwurzeln inihrem Verlauf vomWirbelkanal durch dasZwischenwirbelloch inRichtung Bein.b) Die einzelnen Ner-venwurzeln verflechtensich zu den großenBeinnerven, wie z. B.dem Ischiasnerven.

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Abb. 9:Spinalkanalstenosea) Normale Weite des

Spinalkanalesb) knöcherne Einen-

gung des Spinalka-nales

c) knöcherne Einengungdes Spinalkanalesund zusätzliche Einengung durchWeichteile wie Band-scheibenvorwölbung(von vorne) und ver-dicktes Gelbes Band(von hinten)

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Wenn nun ein solches Facettengelenk verschleißt, kommt es einerseits zueiner Schwellung der Gelenkkapsel, die zu einer weiteren Einengung des Ka-nals führt; längerfristig kommt es aber darüber hinaus auch zu einerknöchernen Anlagerung. Das Gelenk versucht gewissermaßen die Kontakt-fläche zu vergrößern, um die Belastung auf eine größere Fläche zu verteilen(weitere Einzelheiten s. u. unter dem Stichwort „Facettensyndrom“.) Ein weiterer Faktor, der zu einer zusätzlichen Einengung dieses Kanalesführen kann, ist natürlich die betroffene Bandscheibe. Hier kann es entwederzu einem ziemlich seitlich gelegenen Bandscheibenvorfall kommen, der,selbst wenn er sehr klein ist und für sich alleine genommen noch keine Be-drängung der Nervenwurzel verursachen würde, im Verbund mit den obengenannte Faktoren das Faß zum Überlaufen bringen kann. Es genügt aberauch, wenn sich der Bandscheibenfaserring durch die Abflachung des Band-scheibenkerns breitbasig nach hinten und seitlich vorwölbt. Dieses Krank-heitsbild wird als „seitliche Spinalkanalstenose“ bezeichnet (s. Abbildung 25,Seite 205)Daneben gibt es auch eine „zentrale Spinalkanalstenose“. Dabei ist der zentra-le Wirbelkanal insgesamt von Natur aus relativ eng. Durch Vorwölbung derBandscheibe nach hinten oder durch Verdickung der gelben Bänder kann nunder Kanal zusätzlich eingeengt werden (s. Abbildung 9).Im Laufe der Zeit kann es zu zunehmenden Beschwerden durch Druck auf dasRückenmark, bzw. seine Fortsetzung kommen. Während also bei der seitlichenStenose meist nur eine Nervenwurzel bedrängt wird, führt die zentrale Stenoseoft zur Irritation mehrerer Wurzeln. Entsprechend ist die Symptomatik bei derseitlichen Stenose meist auf eine Seite begrenzt, während die zentrale Stenoseoft zu ausstrahlenden Schmerzen in beide Beine führt. Dabei werden die Be-schwerden typischerweise durch Gehen verstärkt, durch Sitzen gebessert. Manspricht deshalb auch von einer „Claudicatio spinalis“. Dabei bedeutet „Claudi-catio“ Lahmwerden der Beine, „spinalis“ deutet darauf hin, daß die Ursache inder Wirbelsäule zu suchen ist. Das Gegenstück wäre die „Claudicatio intermit-tens“ (die sogenannte Schaufensterkrankheit), die ganz ähnliche Beschwerdenverursachen kann, ihre Ursache aber in einer Durchblutungsstörung der Beinehat.Glücklicherweise haben die meisten Menschen von Natur aus einen sehr großenKanal, der auch durch die Summe der oben angeführten Faktoren in der Regelnicht soweit eingeengt wird, daß die Nervenwurzeln in Bedrängnis kommen.Bereits 1911 wurde über die Rolle der kleinen Wirbelgelenke bei der Entste-hung von Rücken-und ausstrahlenden Beinschmerzen spekuliert. Auch die-ses Konzept war relativ einfach: wie jedes andere Gelenk können eben auchdie kleinen Wirbelgelenke an der Wirbelsäule verschleißen und dadurch zuSchmerzen führen (siehe oben).

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1934 berichteten 2 amerikanische Ärzte namens Mixter und Barr erstmalsvon einem akuten Bandscheibenvorfall als Ursache für ausstrahlendeSchmerzen ins Bein und die erfolgreiche Therapie dieser Schmerzen durcheine Bandscheibenoperation. Dies führte zu einer Revolution unseres Ver-ständnisses der „Ischialgie“ (darunter versteht man einen ausstrahlendenSchmerz ins Bein, bzw. bis in den Fuß entlang dem Verlauf des Ischiasner-ven – siehe Abbildung 10).Viele tausend Ärzte in der ganzen Welt waren von diesem relativ einfachverständlichen Konzept der Ischialgie fasziniert, zumal es nicht nur dieSchmerzen erklären konnte, sondern gleichzeitig einen Weg aufzeigte, dieSchmerzen zu behandeln. Problematisch war allenfalls die Tatsache, daßman mit der damals zur Verfügung stehenden Röntgentechniken die Band-scheiben selbst nicht direkt sichtbar machen konnte – Bandscheiben beste-hen aus Knorpel und sind auf einem normalen Röntgenbild nicht sichtbar!Durch Einbringen von Kontrastmitteln in den Schlauch, der das Rücken-mark umhüllt, war es allerdings indirekt möglich, Bandscheibenvorwöl-bungen zur Darstellung zu bringen.Direkt darstellbar wurden die Bandscheiben dann aber mittels der Compu-tertomographie, die vor allen Dingen in den 70er Jahren in die Praxen undKliniken Einzug hielt und durch die Kernspintomographie, die seit den80er Jahren zunehmend zur Verfügung stand. Mit diesen beiden Verfahrenkonnte man endlich die Bandscheiben direkt sichtbar machen und den„Übeltäter“ darstellen. Damit war das Zeitalter der „Mechaniker“ ange-brochen, die mit missionarischem Eifer jedem Bandscheibenvorfall nach-spürten, um ihn zu reparieren, das heißt zu operieren, getreu dem amerika-nischen Motto: “ If in doubt, cut it out“ (im Zweifelsfall immer heraus-schneiden).Es ist eine Ironie der Medizingeschichte, daß die modernen bildgebendenVerfahren wie Computertomographie und Kernspintomographie auf dereinen Seite das Zeitalter der „Mechanik“ einläuteten, auf der anderen Seiteaber auch immer mehr Sand in das Getriebe der mechanistischen Wirbel-säulenmedizin streuten.Während nämlich eine Vielzahl von Ärzten von diesem so einfach verständ-lichen Konzept hingerissen war, mehrten sich immer mehr die kritischenStimmen, die eben dieses Konzept in Frage stellten. Kritische Forscherkamen nämlich auf die Idee, Erwachsene ohne jegliche Rückenproblememittels Computertomographie oder Kernspintomographie zu untersuchenund dabei besonders auf den Zustand der Bandscheiben zu achten. Dabeizeigte sich, daß etwa 15–25 Prozent dieser beschwerdefreien Probanden min-destens 1–2 Bandscheibenvorfälle hatten! Es setzte also eine „Gegenreforma-tion“ ein, die den Krankheitswert eines Bandscheibenvorfalles an sich in

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Abb. 10: „Ischialgie“,d.h. Schmerzen, die demVerlauf des Ischiasnervenfolgen. Die Ursache liegtmeist im Bereich der un-teren Lendenwirbelsäule(z. B. Bandscheibenvor-fall). Im Einzelfall kanndie Ausstrahlung sehr va-riabel sein. Mal zieht derSchmerz mehr in Rich-tung Kleinzehe, mal mehrin Richtung Großzehe,mal nur zum Außen-knöchel.

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Frage stellte. Ein Bandscheibenvorfall konnte, mußte aber nicht zu Rücken-problemen führen.In den 80er Jahren wurde ein weiteres Konzept verbreitet, das Konzept der„Instabilität“. Die Vorstellung dabei ist wieder relativ einfach und mechani-stisch: Die feste Verbindung zwischen zwei Wirbelkörpern durch Bandschei-be und verschiedene Bänder sowie Muskulatur lockert sich, aus welchenGründen auch immer; dadurch entstehen Schmerzen.Die bislang geschilderten Krankheitsrezepte haben sich bis zum heutigen Tagteilweise gegenseitig ergänzt, teilweise aber auch ersetzt. Insbesondere dasBandscheibenkonzept hat jahrzehntelang die Diskussion so stark beherrscht,daß ältere Konzepte, wie beispielsweise das Facettensyndromkonzept, langeZeit in Vergessenheit gerieten. Der Kampf der Meinungsführer innerhalb derFachwelt um Anerkennung ihres Konzeptes trug (und trägt bis zum heutigenTag gelegentlich) tatsächlich die Züge eines Verdrängungswettbewerbes in-ternationaler Modemacher. Bis zum heutigen Tage gibt es Ärzte, die beiRückenproblemen immer nur an das eine denken: die Bandscheibe.Differenzierte Mediziner allerdings akzeptieren, daß all die oben erwähntenKonzepte – und vermutlich noch eine ganze Reihe weiterer – bei jedem Pati-enten mit Rückenproblemen zumindest in Betracht gezogen werden müssen.Sie treten praktisch nie „ideal“, das heißt in Reinkultur auf. Stattdessen mi-schen sich meist 2, 3 oder noch mehr dieser Konzepte in jedem einzelnen Pa-tienten in jeweils unterschiedlicher Wertigkeit.Allein diese bei jedem Patienten unterschiedliche Mischung anatomisch-bio-mechanischer Konzepte wäre schon schwierig genug. Der an Rücken-schmerzpatienten interessierte Arzt muß aber seit einigen Jahren immer mehrzur Kenntnis nehmen, daß es außerhalb der Anatomie und Biomechanik eineFülle weiterer Wissenschaften gibt, die ihrerseits wieder Krankheitskonzepteentwickelt haben mit dem Ziel, Rückenschmerzpatienten besser zu verstehenund zu behandeln.Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich exemplarisch einige Beispie-le dafür nennen:

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2. Biochemisches Modell

Die Computertomographie und Kernspintomographie haben nicht nur ge-zeigt, daß es eine Reihe von Erwachsenen gibt, die trotz eines Bandscheiben-vorfalls keine wesentlichen Rückenprobleme haben. Sie haben vielmehr auchgezeigt, daß selbst Bandscheibenvorfälle, die eindeutig Nervenwurzeln be-drängen, nicht automatisch zu Ischiasbeschwerden führen müssen. EineStörung der Form muß also nicht unbedingt zu einer Störung der Funktionführen.Andererseits reagieren die meisten Patienten mit einem akuten Bandschei-benvorfall und einer Ischialgie oft positiv auf die Gabe von entzündungs-hemmenden Medikamenten. Das bedeutet, daß eine Funktionsstörung zu-mindest vorübergehend gebessert werden kann, ohne nachweisbaren Einflußauf die gestörte Morphologie zu nehmen.Daraus ergibt sich ein Konzept, das erst seit einigen Jahren ernsthaft disku-tiert wird und das ich oben schon skizziert habe. Dieses Konzept geht davonaus, daß eine mechanische Reizung einer Nervenwurzel normalerweise keineSchmerzen verursacht. Wenn der mechanische Druck auf eine Nervenwurzelzu groß wird, kommt es allenfalls zu Ausfallserscheinungen wie Taubheitsge-fühl oder Lähmung.Schmerz entwickelt sich nach diesem Konzept erst dann, wenn eine Nerven-wurzel entzündet ist. Eine Entzündung wiederum wird nicht in erster Liniedurch eine mechanische Reizung ausgelöst, sondern durch eine biochemi-sche. Im Rahmen eines Bandscheibenvorfalles werden nach dieser Vorstel-lung biochemische Substanzen freigesetzt (beispielsweise Phospholipase A2,die in sehr hohen Konzentrationen in der Bandscheibenkernflüssigkeit vor-kommt), die auf die Nervenwurzel übergreifen und dort zu einer örtlichenEntzündung führen. In der Tat kann man bei den meisten Bandscheibenope-rationen feststellen, daß die betroffene Nervenwurzel nicht nur mechanischbedrängt ist, sondern in der Regel auch entzündlich gerötet und geschwollenist.Aus biochemischer Sicht nun würde es zumindest in den Fällen, in denen derPatient keine bedeutsame Lähmung hat, ausreichen, die Entzündung durchMedikamente zu bekämpfen und abzuwarten, bis sich das mechanische Pro-blem durch Schrumpfungen und Vernarbungen des Bandscheibenvorfallesvon selbst entspannt.Während die biochemischen Details erst in letzter Zeit etwas klarer werden,hat sich das therapeutische Vorgehen, das sich daraus ableiten läßt, seit Jahr-zehnten in der Praxis hervorragend bewährt. Die empirische Therapie warhier also der Grundlagenforschung um Jahrzehnte voraus.

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3. Durchblutungsmodell

Einige wenige Autoren vermuten, daß eine Minderdurchblutung der betrof-fenen Nervenwurzel für den Ischiasschmerz verantwortlich ist. Dieses Kon-zept der Minderdurchblutung steht nicht unbedingt im Widerspruch mit demmechanischen – und/oder biochemischen Modell, sondern kann durchaus alsErgänzung angesehen werden.Vorstellbar wären beispielsweise drei unterschiedliche Mechanismen, die zu-sammen diese Minderdurchblutung auslösen:a) eine mechanische Komponente durch Druck oder Zug an den Blutge-

fäßen, die aber für sich genommen noch nicht ausreicht, tatsächlich einebedeutsame Minderdurchblutung der Wurzel auszulösen.

b) die oben angesprochenen biochemischen Vorgänge können die an sichgegen Druck und Zug widerstandsfähigen Blutgefäße so sensibel machen,daß die Kombination von a+b zu einer Gefäßverengung mit nachfolgen-der Minderdurchblutung führt.

c) biochemische Faktoren, die im Rahmen des Bandscheibenvorfalles entste-hen, können unabhängig von den eigentlichen Entzündungssubstanzen zueiner Minderdurchblutung führen. Dabei sind wiederum zwei Mechanis-men denkbar: entweder könnnen diese Faktoren direkt zu einer Gefäßver-engung in der Nervenwurzel führen oder sie führen zu einer Erweiterungoberflächlicher Gefäße und entziehen damit den tiefer gelegenen Nerven-fasern einen Teil ihrer Durchblutung.

Der zweite Mechanismus wäre mit der Beobachtung der Operateure verein-bar, daß eine Nervenwurzel im Rahmen eines Bandscheibenvorfalles meistentzündet ist. Dies bedeutet, daß zumindest die oberflächlichen Blutgefäßeerweitert sind. Was mit den Blutgefäßen im Inneren der Nervenwurzel pas-siert, entzieht sich natürlich der Betrachtung.Therapeutische Ansätze ergeben sich aus diesem Konzept der Minder-durchblutung derzeit noch nicht. Die Faktoren a+b werden bereits aus an-derweitigen Überlegungen heraus, soweit möglich, therapiert. Ob irgend-wann einmal neue Medikamente entwickelt werden, die, unabhängig voneiner Entzündungshemmung, spezifisch gefäßerweiternd wirken, bleibt ab-zuwarten.

4. Immunologisches Modell

Der Körper besitzt eine Reihe von spezialisierten Zellen, die die Aufgabehaben, fremde Zellen, Bakterien, Viren und andere Krankheitserreger zu be-seitigen. Im einfachsten Fall geschieht dies dadurch, daß die Zellen die Ein-

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dringlinge einfach auffressen. In anderen Fällen werden sie mit Eiweißmo-lekülen, die Antikörper genannt werden, unschädlich gemacht.Diese Eiweißkörper setzen sich auf die Oberfläche der Eindringlinge und sor-gen durch Aktivierung zellzerstörender Immunmechanismen dafür, daß dievon ihnen als fremd erkannte Strukturen beseitigt werden. Damit diese kom-petente Waffe im Kampf mit Erregern auf diesen Bereich beschränkt bleibtund sich nicht gegen Strukturen des eigenen Körpers richtet, entwickeln wirnoch während der Entwicklungszeit im Mutterleib die Fähigkeit, körpereige-nes Gewebe von körperfremden Gewebe zu unterscheiden. Diese Fähigkeitwird als „Selbst-Immuntoleranz“ bezeichnet. Unreife Immunzellen, die Kon-takt mit den körpereigenen Strukturen des ungeborenen Kindes bekommen,werden dabei inaktiviert oder abgetötet. Die verbleibenden Zellen bilden einbreitgefächertes Repertoir an Rezeptoren aus, die beim späteren Kontakt mitfremden Zellen oder Infektionserregern zur Immunabwehr beitragen.Im Inneren der Bandscheibe gibt es nun Eiweißmoleküle, die unter normalenVoraussetzungen weder in der Fetalzeit noch später Kontakt mit den Ab-wehrzellen des Körpers haben. Diese Eiweißmoleküle werden auch „ver-steckte Antigene“ genannt.Wenn nun im Rahmen eines Bandscheibenvorfalles die schützende Hülledurchbrochen wird, kommt es zu einem Kontakt zwischen Abwehrzellen ausdem Blut und den vom Körper nicht als eigen anerkannten Molekülen aus demBandscheibenkern. Dies wird von einigen Wissenschaftlern als eine wesentlicheUrsache für die Entzündungsreaktion angesehen, die im Rahmen eines akutenBandscheibenvorfalles örtlich begrenzt auftritt. Das immunologische Modellkann also als ein Teil des biochemischen Modells verstanden werden.

5. Soziale Modelle

Jeder Mensch kommt immer wieder in die Situation, in der von ihm Dingeverlangt werden, die er selber aus unterschiedlichsten Gründen nicht odernicht mehr oder noch nicht machen möchte. Die Anforderungen, die von derGesellschaft an den Einzelnen gestellt werden, hängen natürlich sehr starkvon der jeweiligen Kultur ab. Gleiches gilt natürlich auch für die akzeptiertenVerhaltensmuster der Einzelnen in der Gesellschaft.Während es im antiken Sparta zumindest für Männer absolut ungebührlichwar, Schmerzreaktionen zu zeigen, sind solche Reaktionen bei uns in West-Europa innerhalb gewisser Grenzen durchaus erlaubt. Dabei gibt es regiona-le Unterschiede, was erlaubt ist und was nicht.Während in den nördlicheren Ländern ein „richtiger Mann“ eher wenig biskeine Gefühlsreaktionen zeigen sollte, wenn er Schmerzen erleidet, ist es in

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den südlichen Ländern durchaus akzeptabel, wenn ein Mann unter Schmer-zen schreit oder weint. Für Frauen gelten in den meisten Gesellschaftenetwas andere Regeln, die mal großzügiger, mal aber auch strenger sein kön-nen, als die Regeln für die Männer.Wer sich an die kulturellen Gepflogenheiten seines Landes hält, kann in denmeisten europäischen und darüber hinaus in vielen anderen Ländern derWelt mit wohlwollendem Entgegenkommen seiner Mitmenschen rechnen,wenn er ihnen signalisiert, daß er z.B. Rückenschmerzen hat.Nicht nur das Schmerzverhalten ist kulturspezifisch, sondern auch die Ein-stellung zu Arbeit und Leistung. In vielen Ländern der Welt nehmen Arbeitund Leistung eine sehr beherrschende Rolle im täglichen Leben ein. Es herr-scht in vielen Kulturen und Ländern ein gesellschaftlicher Konsens, daß jederErwachsene im Rahmen seiner Möglichkeiten die Pflicht hat, zu arbeiten undLeistung zu erbringen.Gerade in solchen sehr stark leistungsbezogenen Gesellschaften gibt es häu-fig nur eine akzeptable Entschuldigung, wenn die geforderten Leistungennicht erbracht werden: das ist Krankheit bzw. Schmerz. Wer also in einer sol-chen Gesellschaft seinen Mitmenschen gegenüber Schmerz signalisiert, kannnicht nur damit rechnen, zumindest für eine begrenzte Zeit aus der Lei-stungsgesellschaft entlassen zu werden, vielmehr kann er darüber hinausnoch auf Mitleid, Sympathie und Aufmerksamkeit von seiten seiner Mit-menschen hoffen. Dieses Entgegenkommen der Gesellschaft beschränkt sichoft nicht nur auf freundliche Gesten und aufmunternde Worte, sondern zeigtsich nicht selten in Form handfester Vorteile wie Krankengeld und vorzeit-iger Berentung.Zumindest theoretisch ist nun vorstellbar, daß dadurch bei einigen Mitmen-schen sehr früh ein Verhalten eingeübt wird, mit dem sie sich über Jahre oderJahrzehnte der von ihnen als recht unangenehm empfundenen Leistungs-pflicht entziehen können, ohne der Ächtung der Gesellschaft anheimzu-fallen.Welche Rolle dieses erlernte Verhalten im Rahmen des chronischen Rücken-schmerzproblems spielt, und inwieweit dieses Verhalten dann von den Be-troffenen bewußt oder unbewußt eingesetzt wird, darüber kann man nur spe-kulieren. Fest steht, daß die Anzahl chronischer Rückenschmerzpatientendeutl. zurückgeht, wenn die Politiker des betroffenen Landes beschließen, ei-nige Maschen aus dem sozialen Netz zu entfernen. Vor diesem Hintergrundkann man es nicht als reinen Zynismus abtun, wenn einige Politiker und Me-diziner behaupten, daß zwei oder drei Karenztage im Krankheitsfall wesent-lich mehr zur Senkung der Rückenschmerzen in der Bundesrepublik beitra-gen als der weitere Bau von 50 Spezialkliniken. Die Gesellschaft kann sicher-lich durch ihre Spielregeln, zum Beispiel in Form der sozialen Gesetzgebung,

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maßgeblichen Einfluß auf Erkrankungen wie z. B. den chronischen Rücken-schmerz nehmen. Kurzfristig können nach Verschärfung der sozialen Gesetz-gebung verbesserte Krankheitsstatistiken nachgewiesen werden, dies habenErfahrungen außerhalb Deutschlands gezeigt.Bezogen auf das Individuum scheinen allgemein die Patienten mittel- undlangfristig weniger Probleme zu haben, die gegen sich selbst eher härter sind,während Wehleidigkeit und Selbstmitleid in aller Regel mit einer ungünstigenPrognose einhergehen. Man darf also nicht den Denkfehler begehen zu glau-ben, eine Verschärfung der sozialen Gesetzgebung wäre nur eine Maskierungdes Problems! Zumindest theoretisch wäre es vorstellbar, daß durch Einübeneines sozial weniger anspruchsvollen Verhaltens (und sei es gezwungener-maßen durch eine Verschärfung der sozialen Gesetzgebung!) auch der sub-jektive Leidensdruck einzelner Betroffener nachlassen kann. Die Erwachse-nen unterscheiden sich dabei nicht sehr von kleinen Kindern, die nach einemSturz erst einmal die Reaktion ihrer Umgebung abwarten, um sofort loszu-heulen, wenn sie Angst und Anteilnahme der Erwachsenen in der Umgebungwahrnehmen. Dieselben Kinder übergehen das Mißgeschick aber oft nacheiner kurzen Schrecksekunde, wenn sie keine entsprechende Reaktion derUmgebung erkennen.In einer Gesellschaft, in der eine 50-Stunden-Arbeitswoche die Regel ist, wirdsich kaum einer überfordert fühlen, wenn er 40 Stunden arbeiten muß. Beieiner Regelarbeitszeit von 20 Stunden pro Woche werden dagegen einige Ar-beitnehmer ängstlich in sich hineinhorchen, ob sie schon erste Hinweise aufeinen Herzinfarkt verspüren, wenn sie plötzlich 30 Wochenstunden ableistenmüssen. Dieser Einfluß gesellschaftlicher Konventionen auf das Individuumist nicht nur oberflächlich.Sollte also die Gesellschaft tatsächlich in der Lage sein, durch eine verschärftesoziale Gesetzgebung die Mitglieder der Gesellschaft – auch subjektiv! – belast-barer zu machen, wäre dies nicht nur für die Sozialversicherungen von Vorteil.Hier habe ich allerdings keine verläßlichen Daten gefunden, die einen solchenEffekt nach einer Gesetzesänderung wissenschaftlich nachgewiesen hätten.Selbst wenn ein solcher Effekt aber nachweisbar wäre, wäre dies mit Sicher-heit nur ein statistischer Durchschnittseffekt. Eine Minderheit von einzelnenPatienten würde dadurch auf jeden Fall benachteiligt.

6. Psychosomatische Modelle

Stärkt Ihnen Ihr Rücken den Rücken?... Oder hat er Ihnen das Kreuz gebrochen? Kann man Ihnen den „Buckelherunterrutschen“ oder bieten Sie sein Ende einer devoten Handlung an?

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Wie auch immer, nach den vielen Beschwerden und Möglichkeiten derRückenerkrankungen, die hier beschrieben wurden, fragt man sich, was ist ei-gentlich ein „gesunder Rücken“?Bei genauer Betrachtung ist eine endgültige Definition für Gesundheit, obIhres Rückens, Ihres ganzen Körpers oder Ihrer Seele, sehr schwierig. Viel-fach wird deshalb mit einer Negativdefinition gearbeitet. Gesundheit ist ge-nerell das Fehlen von Krankheit. Nicht, daß uns das wirklich weiterhelfenwürde. Denn nun stehen wir vor der Schwierigkeit, Krankheit definieren zumüssen. Sind Schmerzen eine Erkrankung? Oder sind sie schlichtweg lästig?Ist jemand mit einer Skoliose (Seitverbiegung der Wirbelsäule), die dem Be-treffenden (noch?) keinerlei Probleme bereitet, krank? Fest steht, daß ein gesunder Rücken ein Rückgrat ist, das wir nicht bemerken.Solange er funktioniert, besteht er nicht aus Bandscheiben oder Wirbelkör-pern mit Fortsätzen oder einer degenerierten Muskulatur. Solange wir be-schwerdefrei sind, ist der Rücken eben da und wird ignoriert. Sollten wir ihneinmal mehr als üblich belasten, mahnt uns ein „Muskelkater“ an Muskeln,von denen wir nie geglaubt haben, daß sie existieren. Doch wenn das unan-genehme Zwicken und Ziehen vorbei ist, vergessen wir in der Regel, daß wireinen Rücken haben.Nicht nur das, solange wir als Individuum funktionieren, vergessen wir ge-nauso auch unseren Magen, unseren Blutdruck oder unsere Seele. Wir sindgesund und basta!Die neue psychologische Forschung, vornehmlich in den USA und England,beschäftigt sich seit kurzem intensiv mit dem Begriff der Gesundheit, ein-sichtigerweise vordringlich mit der Gesundheit der Seele. Haben Sie sichschon einmal überlegt, was eine „gesunde Partnerschaft“ bedeutet? Oder wieschwer Sie an einer „kranken Beziehung“ tragen? Schon vage bildet sich derVerdacht, Seele und Körper könnten irgendwie miteinander in Zusammen-hang stehen...Nach Jahrzehnten der Defizitpsychotherapie scheint in letzter Zeit die ressour-cenorientierte Richtung an Boden zu gewinnen. Die Defizitpsychotherapieversucht herauszufinden, was dem Patienten „fehlt“, um es dann im Rahmender Möglichkeiten „von außen“ zu ersetzen. Der ressourcenorientierte Thera-peut überlegt sich, welche Anteile der Psyche noch „funktionieren“ und wiediese Anteile vom Patienten eingesetzt werden können, um seine Defizite „voninnen“ selbst auszugleichen. Wir Therapeuten sehen also – oder sollten dies zu-mindest – weniger das Versagen des Klienten, seine Defizite, sondern versu-chen, die konstruktiven Anteile der Psyche herauszufiltern wie ein Land, dasnicht darüber jammert, daß es keine Diamantenadern hat, sondern freudigseine Zinnvorhaben abbaut. Ein solches Land wird sich nach anderen Ressour-cen umsehen, wenn absehbar ist, daß die Zinnadern sich dem Ende zuneigen.

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Haben Sie sich in beschwerdefreien Zeiten nach anderen Ressourcen umgese-hen? Wenn Sie im Augenblick keine Rückenbeschwerden haben, wieviel inve-stieren Sie in die Zukunft, damit es dabei bleibt? In Ordnung, Sie wären be-reit zu investieren, Sie machen Sport, treiben Gymnastik, ernähren sich ge-sundheitsbewußt...und was ist mit dem Streß am Arbeitsplatz? Mit demÄrger in der Partnerschaft? Mit dem Kummer um den Sohn, der den drittenAusbildungsplatz gerade geschmissen hat und der Ansicht ist, seine Existenzallein sei ausreichend für eine lebenslange Unterstützung...?Ja, werden Sie sagen, da kann man nun mal nichts ändern! Kann man nicht?Wir werden sehen...Kehren wir zurück zur Bandscheibe. Es scheint klar zu sein, daß Bandschei-ben bei extremer Belastung die Tendenz haben, sich vorzuwölben und dannkeine Absicht mehr zeigen, sich ohne größeren Aufwand wieder in ihr altesBett zurückzubewegen. Auch scheint gesichert zu sein, daß ein ausreichendentwickeltes Muskelsystem die Wirbelsäule entsprechend stärkt und solchesverhindert. Damit wäre dann alles getan, was an Vorbeugung zu tun ist,oder?Das Problem ist, daß das Ganze mehr ist als die Summe der Teile (woraufmein Co-Autor in seinem Vorwort hingewiesen hat). Nun, fragen Sie sichmöglicherweise, wie soll das denn funktionieren, daß Seele und Körper zu-sammenhängen und der eine am anderen leidet (oder gesundet, je nachdem)?Betrachten wir zum Beispiel einmal die Körpersprache, ein in der Zwi-schenzeit durchaus gängiger Begriff. Wenn Sie jemanden sehen, der mit hän-genden Schultern, gefurchter Stirn, herabgezogene Mundwinkeln und gräm-lichen Blick vor Ihnen herschluft, werden die wenigsten auf die Idee kom-men, dieser Mensch sprüht vor Lebensfreude und Zuversicht. Achten Sie nunauf seine Schultern. Die hängenden Schulterblätter, die Beugung nach vorn,der geneigte Nacken.... und nun denken Sie an die Muskeln, die das allesmöglich machen. Überlegen Sie, dieser Mensch bleibt in seiner Haltung für,sagen wir, ein paar Stunden, was wird die Folge sein? Natürlich, er wird Ver-spannungen bekommen. Nehmen wir an, dieser Mensch ist aufgrund seinerschwierigen Arbeitsplatzsituation seit Monaten (vielleicht Jahren?) belastet,dann kann man unschwer folgern, daß Schmerzen im Schulter-Nacken-Be-reich auftreten.Stellen Sie sich nun weiter vor, Sie kämen zu einem Arzt, der Ihnen für IhreNackenschmerzen keine Tabletten verordnet, sondern rät, zu einem Thera-peuten zu gehen und sich mit ihm zusammen die Probleme am Arbeitsplatzanzusehen. Was würden Sie erwidern? Okay, das ist möglicherweise nichtdruckreif...Auf der Suche nach Auslösern und Ursachen vieler akuter und chronischerSchmerzen werden wir früher oder später auf zwei Begriffe stoßen, die auf

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den ersten Blick nicht viel gemeinsam haben, aber doch eng miteinander ver-knüpft sind: Angst und Streß. Streß ist ein oft zitiertes Wort, der urspünglichaus der Materialprüfung stammt und Umstände bedeutet, die zum Zerbre-chen oder Zerspringen von Materialien führen. Dieser Begriff paßt ziemlichgenauf auf den Zustand, wenn unsere Nerven „zum Zerreißen gespannt“sind oder wir kurz vor einer „Explosion“ stehen. Angst wiederum ist ein ausdem Agressions- und Fluchttrieb entstandenes Gefühl, das uns befähigt, Ge-fahrensituationen realistisch einzuschätzen und zu überleben. Beiden Me-chanismen liegt dergleiche körperliche Vorgang zugrunde, nämlich die Aus-schüttung des Hormons Adrenalin durch die Nebennieren. Der steigendeAdrenalinspiegel im Blut führt nun zur Erhöhung der Puls- und Atemfre-quenz und der Muskelspannung. Aus dem Blickwinkel der Entwicklungsge-schichte wären wir nun befähigt, mit maximaler Leistung der Gefahr gegenü-ber zu treten oder vor ihr davonzulaufen. Mit diesem Signal einher geht dieinstinktive Reaktion, die Schultern nach oben zu ziehen, um den Nacken zuschützen. Als wir noch in Höhlen wohnten, war das eine gute Sache, und so-bald die Gefahr vorbei war, entspannten wir uns auch wieder.In der heutigen Zeit ist es eher keine körperliche Gefahr, der wir uns täglichgegenüber sehen, wir sind überwiegend mit sozialen „Gefahren“ konfrontiert.Das beginnt beim morgendlichen Streß, durch den Stau zur Arbeitsstelle zukommen und einen Parkplatz zu finden, setzt sich im beruflichen Alltag fortund endet am Abend, wenn die Partnerin oder der Partner sich vernachlässigtoder unverstanden fühlt. Während der ganzen Zeit hatten wir immer wiederAdrenalinschübe, so daß der Sympathicus (Seite 60) über lange Zeit hinwegaktiviert bleibt und der Parasympathicus (Seite 60) nicht zum Zuge kommt.Bleibt dies lange genug auf diesem Niveau, kommt es irgendwann zum „burnout“ (Seite 60), dem körperlichen und seelischen Zusammenbruch oder zurDepression, bei der man ein ähnliches Gefühl des Leerseins hat.Ähnlich verhält es sich mit Angst. Angst ist ein Wort, vor dem viele LeuteAngst haben, besonders Männer (und offenbar besonders Männer, dieRückenprobleme haben, wie ich in meiner Praxis als Therapeutin immer wie-der die Erfahrung gemacht habe). Angst ist ein Instinkt, ein aus dem An-griffs- und Fluchttrieb entstandenes Gefühl, das uns unter anderem dazubringt, unseren Nacken zu schützen. Wir ziehen die Schultern hoch, umeinen Angriff von hinten auf unseren ungeschützten Nacken zu verhindern.Daher kann man an Nacken und Schultern deutlicher als am Kreuz aufzei-gen, wie eng Körper und Seele zusammenwirken.Angstauslösende Situationen spielen sich heutzutage, ähnlich wie streßaus-lösende, auf einer sozialen Ebene ab. Dabei kann Folgendes passieren: Siestehen am Morgen auf mit dem Gedanken, „Was wird es heute wieder im Be-trieb geben“ und die erste Anspannung ist da. Nach Verkehrsstau und Park-

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platzsuche überlegen Sie, was wohl Ihr Vorgesetzter sagt, wenn Sie schon wie-der zu spät kommen... und bereits um acht Uhr morgens haben Sie deutlicheVerspannungen in Schultern und Rücken, ohne daß Sie diese bemerken. Undso geht es weiter, denn oft belasten wir unseren Rücken an der Arbeitsstelleauch mit einer Zwangshaltung. Wartet dann auch noch abends ein Berg vonunbezahlten Rechnungen zuhause, fühlt sich unser Rücken „wie ein Brett“an. Irgendwann wird er streiken und sich melden.Gedankliche Katastrophenvorstellungen führen zu Angstzuständen, diegleich einer Streßreaktion den Körper in Spannung versetzen. Wir empfindendas Gefühl Angst als Bedrohung und müssen es abwehren. Abwehren heißtverdrängen, nichtbewußtwerden, aber leider nicht verarbeiten oder überwin-den. Dies gelingt uns nur, wenn wir imstande sind, die Gefühle, die unserekörperliche und seelische Anspannung hervorrufen, an den Tag zu bringenund uns bewußt damit konfrontieren.Eine Steigerung der schmerzfördernden Muskelverspannung erfolgt, wenn esuns nicht mehr gelingt, abzuschalten und den Sympathicus „herunterzufah-ren“. Sympathicus und Parasympathicus sind die beiden – man könnte sagen– Regelkreise, die unsere „automatischen“ , das heißt willentlich nicht beein-flußbaren Körperfunktionen (Blutdruck, Verdauung etc.) steuern. Wenn derSympathicus lange Zeit über das normale Erregungsniveau aktiviert bleibt,kommt es zum „burn out“, einem körperlichen und seelischen Zusammen-bruch, der oft lange Zeit verborgen bleibt. Burn out heißt „ausbrennen“ undbeschreibt den Zustand sehr plastisch. Fatal bei der Entwicklung zum burnout ist, daß diesem eine Phase der energiegeladenen Aktivität vorausgeht.Hier haben wir also einige Zutaten – Adrenalinüberschuß – Hyperaktivität –Anspannung -Angst – Schmerz, die zu dem verhängnisvollen Cocktail „De-pression“ führen können.Wenn Sie nun einwenden: „Typisch! Ich habe Rückenschmerzen und schonbin ich für diese Therapeuten depressiv!“ haben Sie so gesehen recht. DieseVerallgemeinerung wäre unzulässig. Tatsache ist jedoch, daß chronischeRückenschmerzen sehr oft zu depressiven Verstimmungen führen. Schmer-zen allgemein heitern die Stimmung nicht gerade auf und chronischenSchmerzen ist ein wesentlicher Teil verloren gegangen, der akute Schmerzenin unseren Augen sinnvoll und damit erträglich macht. Sie haben ihre Über-wachungsfunktion verloren, sie sind damit aus unserer Sicht „sinnlos“. IhrEnde ist nicht absehbar, daraus ergibt sich eine hohe emotionale Belastungund sie haben eine deutliche affektive Komponente, Rückenschmerzen kön-nen „mörderisch“ oder „quälend“ oder „schrecklich“ sein. Ein fruchtbarerBoden, auf dem Depressionen gedeihen...Soweit sind wir jedoch noch nicht. Kehren wir zurück zur Funktion desSchmerzes, der ursprünglichen Funktion, der Meldung über irgendeinen

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„Defekt“ an unserem Körper, den wir bemerken. Wir haben schon oben an-gedeutet, daß Körperwahrnehmung bei vielen Menschen nur dann erfolgt,wenn etwas nicht funktioniert. Also nehmen wir unseren Rücken erst dannwahr, wenn er schmerzt. Dauert dieser Schmerz länger an, werden wir ärger-lich oder besorgt (auch kein Seelenzustand, der unseren Muskeln zu ange-nehmer Entspannung verhilft). Also ergibt sich ein Teufelskreis, wir kommenaus der Anspannung nicht mehr heraus.Was tun? Der erste Gedanke ist, Entspannung muß her! Wir gehen zum Mas-seur. Wohltuend entspannt und unverkrampft kommen wir zuhause an, wosich unsere Partnerin immer noch unverstanden und vernachlässigt fühlt.Obendrein ist am nächsten Tag im Betrieb wieder mal die Hölle los... Wasglauben Sie, wie lange die Massage anhält? – Richtig geraten!Wenn Massagen nichts mehr helfen, kommen als nächstes Medikamente, Ta-bletten oder Spritzen, zum Schluß eine Kur. Hier in schöner Umgebung, demStreß des Alltags entronnen, gelingt es uns endlich, zu entspannen, locker zuwerden, und oft tun „morgens Fango, abends Tango“ ein übriges. Alles wie-der im Lot, oder?Aha, Sie haben bereits gemerkt, wie der Hase läuft. Nach der Kur kehren wirja wieder zurück zu.... siehe oben. Vielleicht war ja der Rat des Arztes dochgar nicht so schlecht?Man könnte nun einwenden, wenn ich nur auf meine Haltung achte, meinenRücken immer schön entspannt lasse und dabei genügend Muskelsubstanzaufbaue, wäre das Problem vom Tisch. Im Prinzip steht dieser Ansicht nichtsim Wege, jedoch wer vermag es, trotz Belastungen am Arbeitsplatz und/oderin der Partnerschaft ein dauerndes Gefühl der Entspannung und Lockerheitzu halten? Und was ist mit der Zwangshaltung am Arbeitsplatz? Wer trägtdenn die Getränkekisten in den Keller? Und wie soll man eine zweitstündigeAutofahrt zur Schwiegermutter überstehen? So besehen können Rücken-schmerzen auch von Vorteil sein. Kommt Ihnen der Gedanke ketzerisch vor?Wir werden später noch darauf zurückkommen.Werfen wir noch einen Blick auf das heute so viel strapazierte Wort derPsychosomatik. Psyche und Soma, Seele und Körper, gehören irgendwiezusammen, hören wir. Diese Ansicht ist für viele Leute dann neu, wenn esum ihre Seele und um ihren Körper geht. Rein grundsätzlich könnte mander Idee ja durchaus näher treten, daß Körper und Psyche in Wechselwir-kung miteinander stehen, aber persönlich? Erlauben Sie mir, Ihnen einbißchen dabei zu helfen, auch Ihren Körper und Ihre Seele als Einheit zusehen.Erinnern Sie sich zurück, als Sie ein Kind waren. Denken Sie daran, wie Sievor einer schweren Prüfung in diesem ungeliebten Fach Physik oder Mathe-matik standen oder... Zog es Ihnen den Magen zusammen? Mußten Sie

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mehrfach auf die Toilette oder hat Ihnen sogar die Stimme versagt?. Nun...damals schon waren Sie „psychosomatisch!"Ja, werden Sie jetzt sagen, das waren wirkliche Situationen! Reale Angst, da istdas ja ganz klar, daß mein Körper reagiert. Gut, ich akzeptiere Ihren Einwand.Leisten Sie mir bei einem kleinen Test Gesellschaft? Ja? In Ordnung... Leh-nen Sie sich entspannt zurück, schließen Sie die Augen und stellen Sie sichvor, vor Ihnen steht ein Teller mit einer großen saftigen Zitronenhälfte. Siesehen die gelbe, dicke Schale, das saftige Fruchtfleisch... und nun beißen Siein diese Zitrone! Machen Sie nun die Augen wieder auf und stellen Sie fest,was passiert ist. Richtig! Ihre Speicheldrüsen haben auf die gedankliche Vor-stellung reagiert und mehr Speichel produziert. Möglicherweise haben IhreZungenpapillen den sauren Geschmack weitergeleitet an Ihr Gehirn, sodaßSie den Mund verzogen haben und den sauren Geschmack wie in der Realitätin Ihrem Mund gespürt haben. Nun? Überzeugt? Auch gedankliche Vorstel-lungen bringen unseren Körper zur Reaktion.Zurück zum Rücken. Wenn wir nun das gerade Erfahrene anwenden, heißtdas, daß die gedankliche Vorstellung an die Probleme am Arbeitsplatz unse-re Muskulatur unter Spannung bringt. Das scheint nun zumindest klar. Wiewir gesagt haben, ist jedoch das Ganze mehr als die Summe der Teile. Undeinem Teil müssen wir uns nun doch zuwenden.Es ist nicht nur die bewußte, gedankliche Vorstellung, die sich auf unsereHaltung und auf unsere Körperfunktionen auswirkt, auch „das Unbewußte“mischt hier gehörig mit.Halt, halt, werden Sie sagen. Nun habe ich mich gerade davon überzeugenlassen, daß meine Gedanken Auswirkungen auf meinen Körper haben, aberdas geht dann doch zu weit. Mein Unterbewußtsein soll da ebenfalls mitspie-len? Nee, nicht mit mir...Geben Sie mir noch ein paar Minuten Zeit in unserer Lerngeschichte. Erin-nern Sie sich noch daran, wie Sie Autofahren gelernt haben? Oder radfahren?Oder schwimmen? Der Anfang war mühsam und Sie mußten sich die einzel-nen Schritte immer wieder ins Gedächtnis rufen, also vom Gas gehen, kup-peln, den Gang rausnehmen, einen Gang einlegen und die Kupplung loslas-sen. Wenn Sie dann noch gleichzeitig nach links abbiegen mußten, artete dasGanze in Schwerarbeit aus. Der Blinker mußte betätigt werden, der Gegen-verkehr beachtet.... Erinnern Sie sich? Wie oft haben Sie heute beim Nachhausefahren gekuppelt und geschalten? Wieoft den Blinker betätigt? Sie wissen es nicht mehr, denn es ist „in Fleisch undBlut“ übergegangen, Sie haben automatisch reagiert wie der Pawlowsche Hund.Das ist kein Spielfilm von Steven Spielberg, wie Sie vielleicht vermutet haben.Dieses Tier gehörte einem russischen Physiologen im vorigen Jahrhundert,der die atemberaubende Entdeckung machte, daß sein Hund immer dann

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zu speicheln begann, wenn er den Futternapf gereicht bekam. Pawlowmachte sich darüber so seine Gedanken und beschloß, dieser „Konditio-nierung“ (Verknüpfung von Futternapf und speicheln) einen weiterenSchritt hinzuzufügen. Also schlug er jedesmal, bevor er den Futternapfgab, eine Glocke. Mit der Zeit kapierte der Hund, daß immer auf denGlockenton die Futtergabe folgte, also schlabberte er bereits, wenn dieGlocke erklang. Ein Reiz, der ursächlich nichts mit füttern zu tun hatte(Glocke), wird konditioniert und daraufhin erfolgt die Reaktion (schlab-bern).Auch wir tun das täglich. Nehmen wir an, Sie haben eine Nachbarin, dieIhnen immer wieder lästig ist, da sie ständig etwas benötigt. Einmal ist dieLampe in der Abstellkammer kaputt, ein anderes Mal die Klingel gestörtund vorige Woche klemmte die Kühlschranktür. Lassen wir einmal außeracht, welch finstere Hintergründe den Handlungen dieser Dame zugrundeliegen könnten, so ist doch leicht nachvollziehbar, daß sich Ihre Nacken-muskeln spannen, wenn Sie das nervige „Ach, Herr Sowieso, wie gut daßich Sie sehe“... hören. Würde man Sie am Abend fragen, wie haben Sie rea-giert, als die Nachbarin Sie auf der Stiege ansprach, wüßten Sie mögli-cherweise, was Sie gedacht oder gemurmelt haben, aber wie Ihre Rücken-muskulatur in diesem Moment beschaffen war, wahrscheinlich nicht. DieKonditionierung ist bereits erfolgt.Wir sind alle auf eine ähnliche Art und Weise groß geworden. Wahr-scheinlich wurden bei jedem von uns Handlungen, die verboten waren,entsprechend bestraft. Also haben wir sie (mehr oder weniger) unterlas-sen. Handlungen, die belohnt wurden oder bei denen eine Strafe ausblieb,wurden dagegen weiterhin durchgeführt. Ein Beispiel: es gab Zimmerar-rest, wenn ich die Scheibe vom Nachbarn mit dem Fußball zertrümmerthabe. Andererseits klaute ich weiterhin Äpfel vom Nachbarn, da ich nieerwischt wurde. Im großen und ganzen handeln wir alle mehr oder weni-ger nach diesem Lernprinzip. Wir nennen das eine „operante Konditio-nierung“.Führen wir rasch noch einen Begriff ein, den des „nonverbalen Leidens-verhaltens“. Das klingt etwas hochgeschraubt, heißt aber nur, daß wir mitunserer Körperhaltung, unserer Gestik und dem Gesichtsausdruck vermit-teln können, daß wir Schmerzen haben, ohne daß wir ein einziges Wortäußern müssen. Wir verzerren das Gesicht, stöhnen etwas und greifen mitder Hand an den schmerzenden Rücken. Die Botschaft kommt an. UnsereUmgebung ist gewöhnlich mitfühlend und hilfsbereit. „Schatz, warte... ichtrage die schwere Kiste! Du mit Deinem schlimmen Rücken...“ Mit derZeit zeigen sich die durchaus angenehmen Aspekte der Beschwerden. Zumeinen werden wir entlastet, zum anderen erhalten wir Aufmerksamkeit und

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Zuwendung, die wir sonst nicht erhalten hätten. Welchem Partner fiele ein,langjährige Aufgaben freiwillig zu übernehmen, es sei denn, dem anderen be-reiten sie Beschwerden?Damit sind wir die lästigen Schwiegermutterbesuche endgültig los. Auchder penetranten Nachbarin kann man so entrinnen...„Tut mir leid, ichwürde ja gerne ihren Wasserhahn reparieren, aber mein Rücken...“ undselbst der mißratene Sohn zeigt Ansätze von Sozialverhalten und schlepptdie Bierkiste in den Keller. Halt... Moment... ich behaupte ja gar nicht, daßSie sich die Rückenschmerzen zugelegt haben, um diesen unangenehmenAufgaben zu entrinnen, keinesfalls. Die meisten von uns würden lieber „gesund“, zumindest beschwerdefrei sein und mit Freude jeden Tag dieSchwiegermutter besuchen... aber wenn die Schmerzen nun schon malda sind...Auch auf die Gefahr hin, nun endgültig Ihre Aufmerksamkeit zu verlieren,möchte ich noch einen Schritt weiter gehen. Durch chronische Rückenbe-schwerden erwirtschaften wir nicht nur eine gehörige Portion „Leidensge-winn“, sie sind auch gesellschaftlich sanktioniert, vor allem dann, wenn siedurch den Beruf hervorgerufen werden. Es gibt – so unglaublich das auchklingt – eine Hierarchie der Krankheitssymptome (in dieser Liste stehen z.B.psychische Erkrankungen an der untersten Stelle). Beruflich bedingteRückenschmerzen signalisieren einen leistungsorientierten, aufopferndenEinsatz für die Gesellschaft! Überspitzt gesehen siedeln sie sich damit in derNähe eines Märtyrertums an – und ein Martyrium können sie wahrlich sein,diese chronischen Rückenschmerzen.Wir haben nun ausführlich die beiden Seiten der Medaille beleuchtet undwenn Ihnen nun der Kopf raucht, kann ich es Ihnen gut nachfühlen. AtmenSie durch, entspannen Sie sich... und begleiten sie mich noch ein kleinesStück. Möglicherweise finden wir außer Gymnastik, körperlicher Ertüchti-gung und gesundheitsbewußter Ernährung noch etwas, womit Sie IhrenRücken entlasten und damit (hoffentlich) schmerzfrei erhalten können.Die Diagnostik hinsichtlich des Rückenschmerzes – neben Kopfschmerzdie häufigste Lokalisation von Schmerzen – wird durch mehrere Faktorenerschwert. Zum einen ist die Schmerzintensität objektiv nicht meßbar.Zwar gibt es eine apparative Technik, die versucht, ein objektives Maß derSchmerzempfindungsschwelle anzuzeigen, wobei sich die entsprechendenApparate mit den einzelnen Schmerzschwellen befassen. Der Wissen-schaftler unterscheidet dabei Sensationsschwelle (der Reiz ist so leicht, daßer gerade noch verspürt wird), Reaktionsschwelle (der Reiz wird stärkerund führt zu Reaktionen der Versuchsperson), Beschwerdeschwelle (derReiz verursacht subjektive Beschwerden) und Toleranzschwelle (der Reizsteht kurz vor der Schwelle zum Unerträglichen).

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An subjektiven Verfahren haben wir ebenfalls eine Reihe von Meßverfah-ren, wie z. B. die Visuellen Analogskalen, die das Ausmaß des Schmerzes er-fassen. Bei der Visuellen Analogskala wird dem Patienten eine Linie vorge-legt, die eine Skalierung von in der Regel 0 bis 10 trägt. Der Patient muß nunauf dieser Skala anzeigen, wo sein augenblicklicher Schmerzpegel steht;dabei bedeutet 0 keine Schmerzen, 10 die schlimmsten Schmerzen, die mansich vorstellen kann.Schon allein diese Hinweise mögen zeigen, wie komplex und vielfältig die Er-fassung von Schmerz und dessen subjektiver Intensität ist.Darüber hinaus bereitet es den Ärzten oft Schwierigkeiten, die beklagten Be-schwerden mit den objektivierbaren Befunden in Einklang zu bringen. Diesist bei Rückenschmerzen besonders schwierig, da objektivierbare Befunde,sollten sie bestehen, nicht generell Schmerzen verursachen. Viele Menschenhaben klinische Diagnosen, aber keine Beschwerden, und ebenso viele habenBeschwerden, aber kaum klinische Diagnosen, für viele Mediziner ein ver-wirrender Tatbestand. Vielleicht ist auch das der Grund dafür, daß sie wei-terhin an ihrem Bild vom Rückenschmerz als einer rein körperlicher Krank-heit „halsstarrig“ festhalten, bis die Diagnostikschiene ausgeschöpft ist. Die-ses Beharren im althergebrachten Reiz-Reaktionskonzept wird erst dann auf-gegeben, wenn keine Schädigung nachgewiesen wird. Damit wird die Verant-wortung dann an den Betroffenen und dessen Psyche verlagert, der verständ-licherweise ärgerlich und aggressiv reagiert, wenn der Gedanke an ihn heran-getragen wird, seine Rückenschmerzen könnten auch psychische Ursachenhaben. „Ich bin doch nicht verrückt!“ lautet in den meisten Fällen die ent-schiedene Ablehnung solcher Vorstellungen.Diese Verärgerung ist gut nachvollziehbar, wenn wir bedenken, daß mono-kausale Zusammenhänge zwischen organischer Ursache und Schmerz dasDenken der Medizin und Patienten seit Jahrhunderten bestimmt. Werdennun ärztlicherseits keine ausreichenden organischen Defizite für eine beste-hende Schmerzsymptomatik gefunden, wird in vereinfachender Weise eine„psychogene“ Quelle herangezogen, wobei die Vorstellung von Ursache undWirkung unverändert bleibt. Frei übersetzt lautet die Begründung: wir Ärztefinden zu wenige ausreichende körperliche Faktoren, also werden Sie, lieberPatient, schon irgendwelche Probleme in Ihrer Psyche haben, die die Schmer-zintensität erklärt. Gehen Sie doch mal zum Therapeuten. Leider erfolgt die-ser gutgemeinte Rat meist erst dann, wenn sämtliche diagnostische Möglich-keiten in einer nicht endenwollenden Schleife mehrfach ausgeschöpft wur-den, in vielen Fällen damit um Jahre zu spät.Die Vorstellung der Ärzte bewegt sich dabei auf derselben Ebene wie im or-ganisch-medizinischen Konzept. Entweder gibt es ein körperliches oder einpsychisches Defizit, wobei – was sich im Wort „Defizit“ bereits andeutet –

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beides behebbar sein sollte. Man substituiert, also man gleicht das Defizitaus. Diese Einstellung ist auch unter nicht medizinisch gebildeten Menschenweit verbreitet. Haben Sie sich schon einmal überlegt, was eine „gesundePartnerschaft“ bedeutet oder wie schwer Sie an einer „kranken Beziehung“tragen? Ein Patient mit chronischen Rückenschmerzen gehört in die Gruppevon Betroffenen, die am schwersten davon zu überzeugen sind, daß belasten-de psychische Probleme, die sie im wahrsten Sinne des Wortes zu „tragen“haben, ihren Rücken auf Dauer schädigen können.Damit ist das Abschieben an einen Therapeuten für einen solchen Men-schen kränkend und entmutigend. Wenn er noch genügend Widerstands-fähigkeit besitzt, wird er zum x-ten Mal den Arzt wechseln und hoffen, die-ser finde endlich eine Schädigung, die „ausreicht“ seine chronischenSchmerzen zu erklären. Wenn er aber seine Kräfte bereits in zahlreichen„doctor hopping“ Aktivitäten (darunter versteht man die Neigung man-cher Patienten, immer wieder den Arzt zu wechseln, weil sie sich nie richtigverstanden und behandelt fühlen) verbraucht hat, wird er in einer depressi-ven Spirale weiter nach unten absinken. Dies müßte jedoch nicht sein. Erhätte auf den Rat seines Arztes hören und einen Therapeuten aufsuchensollen. Idealerweise hätte er sich innerhalb der ersten 6 Monate seinerSchmerzsymptomatik ambulant oder stationär in die Hände eines thera-peutischen Teams, bestehend aus Psychologen, Ärzten, Sporttherapeutenund Physiotherapeuten begeben, deren Therapieangebot dem modernenAnsatz von chronischen Schmerzpatienten folgt. Er hätte dann gute Aus-sichten gehabt, eine Chronifizierung seiner Rückenschmerzen weitgehendzu verhindern.Wie geht das? fragen Sie. Was wäre in den ersten sechs Monaten anders ge-laufen?Die moderne Schmerzforschung hat schon seit einigen Jahren ein bio-psy-cho-soziales Schmerzkonzept entwickelt, das die verschiedenen Ebenen(Körper, Seele, soziales Umfeld), auf denen sich Schmerzen manifestieren,berücksichtigt und miteinander in Wechselwirkung setzt. Damit ist auch dieIntervention eines multifaktoriellen Teams einsichtig. Aber überlieferte Vor-stellungen haben die Tendenz, schwer veränderbar zu sein und zäh in derVorstellungswelt der Menschen zu kleben.So mag es auch dem französischen Philosophen Rene Descartes vor 350 Jah-ren ergangen sein, als er sein sehr stark vereinfachendes Reiz-Reaktionskon-zept postulierte:Er erklärte als Bedingung für Schmerz einen peripheren Reiz (z.B. eine Ver-

brennung) und spezielle Nervenbahnen, die den Schmerz zu einem speziellenZentrum leiten, wo er in derselben Intensität wie am Entstehungsort emp-funden wird. Für die damalige Zeit ein wahrhaft ketzerischer Gedanke, re-

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gierte doch bis zu diesem Zeitpunkt die Vorstellung, Schmerzen sind StrafenGottes für Schuld und Sünde.Dieses somato-sensorische Schmerzkonzept Descartes hat die mittelalterli-che Vorstellung radikal abgelöst und bis heute Bestand, ungeachtet der Tat-sache, daß bereits seit mehr als dreißig Jahren multimodale Konzepte ent-wickelt wurden, die – in der heutigen Zeit eine absolute Mußbedingung –auch statistisch ausreichend abgesichert sind. Nach diesen Modellen ist eineChronizifierung von Schmerzen als Regelkreis zu sehen, in den verschiedeneVariablen der Persönlichkeitsentwicklung eingehen, wie z.B. Selbstwertge-fühl, Körpererleben, Bindungs- und Beziehungsverhalten, Konfliktbewälti-gungsstrategien oder emotionale Entbehrung in der Kindheit.Ehe ich mich nun allzusehr in psychologischen Theorien und Modellvorstel-lungen versteige, möchte ich Sie, lieber Leser, liebe Leserin, mit Herrn DieterMühlbach bekannt machen.Dieter Mühlbach ist vierundfünfzig, verheiratet und hat zwei erwachseneTöchter und einen siebzehnjährigen Sohn. Herr Mühlbach arbeitet in derWerkzeugausgabe einer mittelgroßen Firma. Genau genommen arbeitet ernicht, denn er ist seit einem halben Jahr krank geschrieben. Chronische Lum-balgien lautet die Diagnose. Herr Mühlbach leidet seit Jahren unter Kreuz-schmerzen.In diesem Augenblick ist Herr Mühlbach dabei, seine Koffer zu packen, ersoll morgen zur Kur. Unschlüssig beginnt er, seine Sachen zusammenzutra-gen, wobei er sich immer wieder an den Rücken greift. Endlich sinkt er miteinem lauten Stöhnen auf sein Bett und sagt zu seiner Frau Margarete: heuteist es aber wieder einmal besonders schlimm! Die Ehefrau sieht ihn besorgt,aber auch etwas ungeduldig an. Sie kennt das schon. Ihr Mann hat in denletzten Jahren dauernd unter Schmerzen gelitten. Manchmal denkt sie, daßdie Schmerzen offenbar immer dann besonders schlimm werden, wenn esetwas zu erledigen gibt. Aber sofort verbietet sie sich solche Gedanken undschämt sich dafür.Herr Mühlbach füht sich nicht gut. Er hat schlecht geschlafen, schwarze Ge-danken haben seine Stimmung weiter gedrückt, die ohnehin seit langer Zeitnicht gut ist, und wieder und wieder dachte er an die vergangenen Jahre undwie es dazu kommen konnte, daß ein so pflichtbewußter und leistungsorien-tierter Mann wie er derart ins Abseits geraten ist.Vor neun Jahren stand Dieter Mühlbach eines Morgens auf, zog sich seinenlinken Socken an und konnte sich kaum mehr aufrichten. Sein Kreuz tat ihmweh und jede Bewegung jagte messerscharfe Spitzen in seinen Rücken.Ächzend verharrte er in seiner gebückten Haltung und rief nach seiner Frau.Diese eilte besorgt herbei und mit gemeinsamer Anstrengung gelang es,Herrn Mühlbach wieder ins Bett zu bringen. Da lag er nun, gekrümmt und

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mit schmerzverzerrtem Gesicht, während seine Frau ratlos daneben stand„Soll ich den Arzt holen?“ fragte sie besorgt.Ohne daß sich Dieter Mühlbach dessen bewußt war, stand er in diesem Au-genblick vor einer psychologischen Weggabelung, die entscheidenden Ein-fluß auf den weiteren Verlauf seiner Krankheitskarriere haben sollte. Erkonnte sich entscheiden, solange abzuwarten, bis die Schmerzen halbwegs er-träglich werden, diese dann soweit wie möglich ignorieren und „gesund“ blei-ben. Oder er konnten den Arzt aufsuchen und „krank“ werden. Dieter Mühl-bach sah jedoch die erste Möglichkeit nicht, denn soweit er wußte, mußte eseinen Grund für diesen infernalen Schmerz geben. Der Arzt würde ihn findenund dann heilen. Er hatte Schmerzen, also war etwas mit ihm nicht in Ord-nung, folglich war er krank. So einfach war das.Dieter Mühlbach fühlte sich ganz und gar nicht gesund. Auch belasteten ihnsolche Überlegungen in keiner Weise. Wie die meisten Menschen hatte erschon von Kind an gelernt, daß Schmerzen als eine Art Frühwarnsystem desKörpers fungieren und damit lebenserhaltende Bedeutung haben. Er ent-scheidet sich also für die zweite Alternative, Dieter Mühlbach erklärt sich fürkrank. Mit zusammengebissenen Zähnen nickt er seiner Frau zu, die zum Te-lefon eilt.Während Herr Mühlbach auf den Arzt wartet, schießen die Gedanken durchseinen Kopf. Angestrengt versucht er den Grund für seine Erkrankung zufinden. Er denkt an den Hausbau, vielleicht hätte er sich doch mehr schonensollen? Er denkt an seine Firma und die lange Zeit, die er in den letzten Mo-naten über dem neuen Computersystem gesessen ist. Dann noch gestern dielange Fahrt zur Schwiegermutter im Auto, das mußte ja so kommen. Darandenkt Herr Mühlbach und diese Gedanken sind ihm bewußt. Er sucht einenGrund für seine Schmerzen, einen ersichtlichen, körperlichen Grund.Vage Ideen eines Tumors im Rückenmark oder eines verschobenen Wirbels,der ihn für den Rest seiner Tage in den Rollstuhl fesselt, tauchen zwar ver-schwommen am Horizont auf, aber Dieter Mühlbach verdrängt sie sofortwieder. „Quatsch!“ denkt er „sei vernünftig!“ und reißt sich am Riemen. Einstechender Schmerz schießt sein linkes Bein hinab und raubt ihm für einenMoment den Atem. Unmöglich, heute zur Arbeit zu gehen!Herr Mühlbach arbeitet als Abteilungsleiter seit Jahren in einem Kfz-Betrieb.In letzter Zeit gefiel es ihm nicht mehr so gut dort. Der alte Firmenchef warin Rente gegangen und sein Nachfolger war ein Scharfmacher, wie er imBuche steht, dessen Ehrgeiz es war, die Lohnkosten zu senken, aber den Pro-fit zu steigern. Seit Monaten war eine Stelle nicht besetzt und die Gerüchtebesagten, daß statt eines ausgebildeten Mannes ein Lehrling eingestelltwürde. Das bedeutete für die gesamte Mannschaft mehr Überstunden. Viel-fach war es in den letzten Monaten vorgekommen, daß Herr Mühlbach deut-

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liche später nach Hause kam. Meistens war er dann schlapp und abgekämpft.Frau Mühlbach hatte die ersten kritischen Anmerkungen angebracht, siefühle sich vernachlässigt. Ein Krankenstand würde die Situation für einigeZeit bessern, er könnte sich seiner Frau widmen, besser gesagt, sie könntesich ihm widmen, aber das kam aufs gleiche hinaus... Sollten sie im Betriebdoch sehen, wie sie zurechtkamen... Wie besorgt Margarete gewesen war, wieliebevoll sie ihm ins Bett geholfen hatte. Wann hatte sie ihn zum letztenmal soangesehen?Daran denkt Herr Mühlbach – und auch wieder nicht. Das sind Gedanken,die er nicht bewußt zur Kenntnis nimmt. Er muß sie abwehren, es sähe ja soaus, als würde er einen Vorteil aus seinem Schmerz ziehen! Undenkbar.Der Arzt, der Dieter Mühlbach untersucht, verpaßt ihm eine Spritze,schreibt ihn 14 Tage krank und drückt ihm ein Rezept über ein Schmerzmit-tel in die Hand. Die Rückenschmerzen legen sich nach vier Wochen, DieterMühlbach kehrt zur Arbeit zurück, der neue Lehrling ist eingestellt, aber dieArbeitssituation wie zu erwarten nicht wesentlich entspannter.Für Dieter Mühlbach war dieser Vorfall schnell vergessen. Er war wieder be-schwerdefrei und ging weiterhin seiner Arbeit nach. Zwar fühlte sich seinRücken hin und wieder wie ein Brett an, aber achselzuckend tat er dies ab.Niemand machte ihn auf seine Körpersprache aufmerksam, die angespann-ten Schultern, die gefurchte Stirn über den zusammengezogenen Augenbrau-en, der gereizte Ton und das schnelle Aufbrausen. Er selbst hatte das Gefühlfür seinen Körper und sein Verhalten verloren. Er ignorierte nicht nur dieverkrampfte Schulter-Nacken-Partie, den Druck in der Magengegend unddas Ziehen im Kreuz, er achtete auch nicht auf sein schnelles Verärgertsein,seinen aggressiven Ton und die fahrige Art, mit der er seine Umgebung oftdie Wände hoch trieb. Dieter Mühlbach war mit Wichtigerem beschäftigt. Erversuchte eine Gratwanderung. Schuld war natürlich die Überbelastung imBeruf, die sich bereits auf den Familienfrieden ausgewirkt hat. Seine Fraureagierte zunehmend gereizt und der Sohn brachte eine schlechte Note nachder anderen nach Hause. Seine beiden Töchter sah er ohnehin nur spora-disch. Herr Mühlbach versuchte sein Bestes, Familie und Beruf unter einenHut zu kriegen – es gelang nicht besonders gut. Damit beschäftigt ignorierteer weiterhin seine Spannung im Rücken und bekämpfte die immer öfter auf-tretenden Kopfschmerzen mit mehr und mehr Medikamenten.Ein neuer Anfall von Kreuzschmerzen erfolgt ein knappes Jahr später undDieter Mühlbach wird nun durch die ärztliche Diagnostikmühle gedreht. DieUntersuchungen bringen ein zufriedenstellendes Ergebnis, es wird eine Vor-wölbung an einer Bandscheibe festgestellt. Außerdem habe er starke Ver-spannungen im Rückenbereich, meint der Arzt und verordnet Massage undSchonung. Dieter Mühlbach läßt sich massieren und beginnt sich zu scho-

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nen. Er geht nicht mehr zu seinem Kegelverein und ersetzt den Wanderurlaubin Tirol durch vorsichtiges Spazieren in seinem Garten. Seine Frau ist nichtmehr gereizt, sondern besorgt und fürsorglich. Sie entlastet ihn, wo sie nurkann, und bringt ihm, was immer er braucht. Das einzige an sozialen Kon-takten, die er weiterhin pflegt, ist sein Stammtisch. Hier findet er Verständnisfür seine schwierige Situation und erklärt in immer schaurigeren Details dieHerkunft seiner mörderischen Rückenschmerzen. Beeindruckt hört man ihmzu.Mit der Zeit erntet Herr Mühlbach mit seiner Leidensgeschichte jedochimmer weniger Mitleid und mehr und mehr betretenes Schweigen oder ge-langweiltes Gähnen. Herr Mühlbach beschließt, sich mehr zu schonen undgeht nur mehr selten zum Stammtisch. Auch bei Margarete hat sich eine ge-wisse Ungeduld eingeschlichen, die sie nur unvollkommen verbergen kann.Unwirsch reagiert er daher auf die leisen Vorhaltungen seiner Frau, daß seinBierkonsum in der letzten Zeit drastisch angestiegen sei. Sie müsse es ja wis-sen, denn schließlich schleppe sie die schweren Kisten in den Keller. HerrMühlbach fühlt sich ungerecht behandelt. Habe er sich vielleicht seine Er-krankung ausgesucht? Na, eben!Herr Mühlbach befindet sich, ohne daß er sich dessen bewußt ist, auf einergefährlichen Straße. Die körperliche Schonung läßt seine Rückenmuskulaturverkümmern. Damit wird die Wirbelsäule weniger gestützt und die Schmer-zen verschlimmern sich eher. Diese quälende Situation verschiebt seine Stim-mung weiter in Richtung depressiver Symptomatik und er beginnt unterSchlafstörungen und Antriebslosigkeit zu leiden. Dadurch zieht er sich vonden meisten sozialen Kontakten zurück, erhält weniger positive Bestätigungvon seiner Umwelt und konzentriert sich mehr und mehr auf seine Schmer-zen.Wäre Dieter Mühlbach zu diesem Zeitpunkt in die Hände eines Psychothe-rapeuten gefallen, dann hätte ihm dieser möglicherweise den Zusammenhangzwischen Körper und Seele erklärt. Psyche und Soma, hätte dieser gesagt,Seele und Körper, gehören zusammen. Schmerzen drücken auf die Stim-mung und machen traurig und depressiv, wodurch wiederum Schmerzenstärker empfunden werden. Ein Teufelskreis.Vielleicht hätte sich Herr Mühlbach damals überzeugen lassen, daß Vorstel-lungen und Gefühle Verspannungen in seiner Muskulatur hervorrufen, übri-gens nicht nur in der Rückenmuskulatur. Womöglich hätte Herr Mühlbachauch den Zusammenhang mit seiner schwierigen Arbeitsplatzsituation her-gestellt. Wenn der Therapeut dem multimodalen Schmerzkonzept gefolgtwäre, hätte er Herrn Mühlbach auch auf sein verändertes Sozialverhaltenhingewiesen und ihn dazu angehalten, wieder zu seinem Kegelclub zu gehenund Wandern weiterhin regelmäßig zu betreiben.

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Nun, Herr Mühlbach fiel nicht in die Hände eines Therapeuten und bis zuseinem psychosomatischen Rehabilitationsaufenthalt sollte es noch eineWeile dauern. In der Zwischenzeit sind Jahre vergangen, die Rückenschmer-zen wurden chronisch und die Chirurgen aktiv. Herr Mühlbach hat nun zweiOperationen hinter sich. In seinem Beruf bekam Herr Mühlbach durch dievielen Krankenstände mehr und mehr Probleme und endlich hatte es derjunge Kollege geschafft und ihn von seinem Posten verdrängt. Es war einschwerer Schlag für Dieter Mühlbach, daß ihn seine Firma in die Material-ausgabe verbannte. Aber auch hier bereitete ihm sein Rücken mehr und mehrProbleme.Zuhause hat sich ebenfalls einiges verändert, zentrales Thema ist nur mehrseine Behinderung, die das Familiengeschehen bestimmt. Frau Mühlbach istmanchmal etwas genervt, wenn sie wieder alleine zu ihrer Mutter fahren muß(„zwei Stunden im Auto stehe ich nicht durch, Margarete, das weißt Dudoch“) oder die schweren Bierkisten in den Keller zu tragen hat. Herr Mühl-bach hat aufgehört, sich dafür zu entschuldigen und sieht nicht mehr hin.Auch über den sich stetig steigernden Bierkonsum wird kein Wort mehr ver-loren. Die beiden Mädchen sind ausgezogen und kommen nur mehr selten zuBesuch. Der Sohn hat vor kurzem die Lehre hingeschmissen und scheint derAnsicht zu huldigen, seine Existenz allein sei ausreichend für eine lebenslan-ge, elterliche Unterstützung. Dieter Mühlbach ist zu erschöpft, seinem Sohnzu sagen, wo es lang geht, und läßt ihn in ärgerlicher Resignation gewähren.Die sozialen Kontakte sind nahezu völlig erloschen, nur der Nachbar kommthin und wieder, und Urlaube gibt es schon lange nicht mehr. Die Versetzungin der Firma hatte auch die entsprechende Rückstufung im Lohn zur Folge.Herr Mühlbach bewegt sich auf der depressiven Spirale weiter und weiternach unten, die Schmerzen verschlimmern seine Niedergeschlagenheit, dieNiedergeschlagenheit beeinflussen seine pessimistischen Gedanken und dieseGedanken wiederum verschlimmern die Schmerzen. Oft liegt er nun in derNacht wach und grübelt. Sein Selbstbewußtsein ist ihm abhanden gekom-men, er fühlt sich überflüssig und nutzlos und manchmal hat er schon mitdem Gedanken an Selbstmord gespielt.Gerade jetzt geht es ihm besonders schlecht. Nicht nur, daß ihn die Schmer-zen plagen, nun hat ihm auch sein Arzt erklärt, er könne nichts mehr für ihntun und, offen gesagt, hätte er keine Erklärung, warum die Schmerzen immernoch so stark seien. Die Operationen wären erfolgreich verlaufen und es gäbekeinerlei Hinweise im Röntgenbild, die seine Schmerzsymptomatik erklärenwürden. Herr Mühlbach fühlt sich wie ein Simulant. Er ist entsprechend är-gerlich und gekränkt. Was weiß denn dieser Arzt! denkt er.Aber auch Herr Mühlbach weiß vieles nicht. Er weiß zum Beispiel nicht, daßdiese Gedanken seine Muskulatur zur Verspannung bringen. Er weiß auch

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nicht, daß gerade in dieser Zeit eine Untersuchung an der Ulmer Universitätläuft, die nachweisen wird, daß psychischer Streß bei chronischen Schmerz-patienten die Rückenmuskulatur stärker anspannen läßt als bei schmerzfrei-en Vergleichspersonen. Diese Untersuchung wird auch zeigen, daß im unte-ren Rückenbereich nicht der Zusammenhang Schmerz-Verspannung im Vor-dergrund steht, sondern die Deaktivierung, also der Abbau von Muskulaturdurch Schonverhalten. Zusätzlich fand das Ulmer Team heraus, daß ge-hemmte Aggressivität auch die Muskulatur des Lendenwirbelbereichs deut-lich anspannt.Herr Mühlbach weiß auch nicht, daß für die Chronifizierung von Schmer-zen ungeeignete Bewältigungsmechanismen als gut gesichert gelten. Zumeinen spielt die depressive Niedergeschlagenheit eine große Rolle bei derChronifizierung (wobei nicht geklärt ist, ob diese Depression Ursache oderFolge des Schmerzes ist), zum anderen das gedankliche Bewerten derSchmerzsymptomatik, das „Katastrophisieren“. Der Glaube des Betroffe-nen, er könne seine Schmerzen beeinflussen (locus of control), hat, wie Un-tersuchungen an der Universität Leiden und Pittsburgh zeigten, eine großeBedeutung beim Umgang mit Schmerzen. Betroffene, die ihre Schmerzenunter Kontrolle glauben („internalisierende Patienten“ – vgl S. 160f) undselbst als nicht allzu bedeutsam einschätzen, zeigen mehr Aktivität im All-tag und eine geringere emotionale Belastung im Sinne einer depressivenVerstimmung.Damit wird das bio-psycho-soziale Modell als Regelkreis verstanden, der so-wohl die körperliche, als auch die psychische und die soziale Ebene einbindet,vergleichbar einem Regelkreis, bei dem sich mit Hilfe von Rückkoppelungund anderen Mechanismen ein Gleichgewichtszustand einstellt. Diese Rege-lung läuft nicht nur über automatische Reaktionen des Nervensystems.Neben dem Rückenmark ist auch das Großhirn beteiligt. Dies sagt z.B. derNeurophysiologe Manfred Zimmermann, der nun wirklich kein Psychothe-rapeut ist, ganz klar: „Damit unterliegen auch unsere Handlungen, das, waswir bewußt oder unbewußt tun, der Regelung; auch sie beeinflussen dasSchmerzgeschehen und schließlich laufen auch unsere sozialen Interaktionenüber das Nervenystem ab. Etwas von dem, was unsere schmerzempfindlichenNerven an das Gehirn melden, geben wir in anderer Form an die Umgebungweiter. Wir zeigen eine bestimmte Mimik, wir sagen etwas in Verbindung mitdem Schmerz und bekommen die Reaktion eines anderen Menschen.“ Beichronischen Schmerzen arbeitet dieses Regelsystem nicht mehr zweckdien-lich, es kippt. Die Rückkopplungen schaukeln sich auf, der Schmerz wirdstärker.Dies alles weiß Herr Mühlbach nicht und wahrscheinlich hätte er mit diesentrockenen Ausführungen auch nicht viel anfangen können. Mehr beein-

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druckte ihn die Geschichte von seiner Frau. Margarete war auf einer Eisplat-te ausgerutscht und hatte sich das Steißbein angeschlagen. Bei der routi-nemäßig erfolgten Röntgenaufnahme hat der Arzt ihr mitgeteilt, daß sieeinen Bandscheibenschaden habe. Margarete war hell erstaunt, noch niehatte sie Probleme mit ihrem Rücken. Etwas spitz hat sie ihrem Mann erklärt,daß das wahrscheinlich Zeichen einer guten Ehe sei, sie habe den Bandschei-benschaden und er die Schmerzen. Irritiert schleppt sich Herr Mühlbach insWohnzimmer, wo er sich mühsam in einen Sessel quält. Dabei schwirren ihmGedanken durch den Kopf, die seine Laune nicht gerade heben. Ist das zuglauben, da läuft seine Frau schon seit Jahren mit einem Bandscheibenvorfallherum, ohne daß sie dies in irgend einer Weise behinderte! Und bei ihm hatman den Bandscheibenvorfall erfolgreich operiert und trotzdem muß er seitJahren mit Schmerzen leben!Dieter Mühlbach versteht nichts mehr. Keiner glaubt ihm die Schmerzen, ja,ist er denn ein Simulant? Hat er sich nicht Jahrzehnte abgeschuftet! SeinenBeitrag geleistet, ein Haus gebaut, Kinder und Ehefrau erhalten? DieterMühlbach ist neuerlich gekränkt und verärgert, er frißt es in sich hinein.Wieder spürt er seine körperliche Anspannung nicht unmittelbar, sondernerst in den Auswirkungen. Der vertraute Kopfschmerz stellt sich wieder ein.So geht das nicht weiter! Irgend etwas muß geschehen, denkt Dieter Mühl-bach und reicht die Rente ein.Dies hat erwartungsgemäß den Rentenversicherer auf den Plan gerufen undHerr Mühlbach wurde zu einer Rehamaßnahme geschickt. Das wäre ja so-weit in Ordnung, wenn es eine orthopädische Klinik gewesen wäre, aber ineine psychosomatische? – Die nächste Kränkung. Alles, was ihm fehlte, warein heiles Kreuz! Gottseidank hatte er seine fünf Sinne noch beisammen undverwahrte sich dagegen, als verrückt zu gelten. Kritisch sieht er zu, wie seineFrau die Koffer packt!Nehmen wir nun einfach an, daß Herr Mühlbach trotz seiner jahrelangenKarriere als Schmerzpatient, seiner mangelnden Körperwahrnehmung, sei-ner deutlichen Aggressionshemmung und seiner depressiven Stimmungslagesich immer noch eine gewisse Neugierde und ein gutes Stück Zielstrebigkeitbewahrt hat.Wenn das so wäre, würde Herr Mühlbach in dieser Klinik erst einmal ver-dutzt seinen Verordnungsplan betrachten. Da gibt es zwar vereinzelt Massa-ge und auch Fango, der überwiegende Teil der Verordnungen beinhaltet je-doch Dinge wie Sport, Krankengymnastik, Entspannungstraining und psy-chotherapeutische Gruppen. Langsam würde sich Herr Mühlbach hineinfin-den. Die ungewohnte körperliche Betätigung hätte zur Folge, daß er wie einmüder Sack am Abend ins Bett fallen und nahezu durchschlafen würde, einseit Jahren nicht mehr gekanntes Erlebnis.

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In den therapeutischen Gruppen könnte er erfahren, daß es anderen Men-schen ähnlich erging, daß auch sie wenig Möglichkeiten hatten, mit ihrenSchmerzen anders umzugehen, als mit depressiver Verstimmung und Kata-strophengedanken zu reagieren.Der Therapeut würde versuchen, den Zusammenhang zwischen Seele, Ge-danken und körperlichen Symptomen zu erklären und er würde Herrn Mühl-bach an Beispiele aus seiner Kindheit erinnern. Ja, aber... würde Herr Mühl-bach einwenden, damals war er ein Kind! Er erinnere sich genau, daß esSchläge bedeutet habe, eine Prüfung zu verpatzen, da brauchte er sich garnicht viele Katastrophengedanken zu machen. Wenn der Vater auch noch an-getrunken war, war das eine ziemlich schlimme Sache. Heute sei das etwasanderes. Heute habe er keine Ängste mehr. Höchstens hin und wieder Sorgen,wie das mit seinem Rücken weitergehe.Gut, würde darauf der Therapeut antworten, aber dann würde er ihn ge-danklich in die große, saftige Zitronenhälfte beißen lassen mit dem Ergebnis,daß Herr Mühlbach plötzlich einen sauren Geschmack im Mund hat undreichlich Speichel produziert. Der Therapeut würde ihn darauf hinweisen,daß eben auch gedankliche Vorstellungen körperliche Reaktionen auslösenkönnen.Herr Mühlbach wäre wahrscheinlich immer noch etwas skeptisch. Zitronenund Ängste seien doch ziemlich verschieden, oder nicht?Der Therapeut würde mit den Achseln zucken und meinen, nicht in ihrenAuswirkungen. Körperliche Reaktionen bringen beide zustande, die Vorstel-lung von Zitronen habe nur weniger Konsequenzen.An diesem Punkt der Therapie könnte etwas ganz Erstaunliches passieren. Eswäre möglich, daß Herr Mühlbach plötzlich seine Gefühle, seine Angst spürt,sie aufsteigen spürt bis zum Hals, wo sie ihm den Atem nimmt, seinen Pulsemporjagt. Die Angst vor dem sozialen Abstieg, die Angst, sein Sohn könneins Drogenmilieu abrutschen, seine Frau könne ihn betrügen, er würde dasLeben nicht mehr meistern können, die Angst alt zu werden, zu sterben....Aber statt darüber zu sprechen, beginnt Herr Mühlbach aus einem ihm selbstnicht bekannten Grund von seiner Kindheit zu berichten, berichtet von derAngst vor dem Vater, wenn dieser wieder betrunken nach Hause kam, erzähltstockend die Sorge um die Mutter, die er als kleiner Bub nicht schützen konn-te, die endlosen Nächte, als er sich die Ohren zuhielt, um das Stöhnen nichtzu hören, mörderische Wut im Bauch.In diesem Augenblick, als er dem Therapeuten davon berichtet, fühlt er dieWut und die Trauer. Tränen rinnen ihm über das Gesicht. Plötzlich stutzt er,etwas fehlt und fassungslos spürt Herr Mühlbach, daß die Schmerzen in sei-nem Rücken, die ihn seit Jahren ununterbrochen begleitet haben, wie durchein Wunder völlig verschwunden sind.

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Der Therapeut freut sich mit ihm, warnt ihn aber davor, daß dieser Zustandnicht anhalten würde. Die Schmerzen würden wiederkommen. Der Therapeutbehält recht und am nächsten Tag sind die Schmerzen wieder da. Doch diesesEreignis hat Dieter Mühlbach sehr beeindruckt und er beginnt über die Zu-sammenhänge nachzudenken. Er beginnt, wieder auf seinen Körper zu ach-ten, seine Verspannungen und seine schnelle Gereiztheit zu bemerken. Er hatbegonnen, auf der depressiven Spirale ein kleines Stück nach oben zu klettern.Wie wird es weitergehen mit Herrn Mühlbach? Er würde auf jeden Fall seineLebensqualität verbessern, wenn er aktiv bleibt, sich sportlich betätigt, sichwieder mit seinen Freunden trifft und seine Katastrophengedanken nichtmehr so ungehindert laufen läßt. Wird er schmerzfrei sein? Nein, das wird erwahrscheinlich nicht. Dazu hätte sehr viel früher ein Einstieg in ein Team ausÄrzten, Psychologen, Physiotherapeuten und Sporttherapeuten erfolgenmüssen, als es bei Herrn Mühlbach der Fall war. Als Präventivmaßnahme.Und auch dann wäre es natürlich nicht hundertprozentig sicher gewesen.Aber seine Schmerzen müßten nicht mehr im Mittelpunkt stehen, um densich das gesamte Leben dreht. Er könnte sie besser handhaben, besser mitihnen umgehen, indem er das Gelernte anwendet.Trotz Beschwerden wäre er an seine Arbeit zurückgekehrt, aber Beruf wärenicht mehr alles gewesen. Zuhause würde er viele Dinge wieder tun, die erbisher vermieden hat, er trüge auch die Bierkisten wieder in den Keller, dochdas wäre nicht schwierig, da sein Alkoholkonsum deutlich zurückginge.Vor zwei Monaten wäre er mit seiner Frau im Harz in Urlaub gewesen, undsie wären insgesamt über fünfhundert Kilometer mit dem Rad gefahren. Nunneigte Margarete zu Rückenschmerzen, seit sie das mit ihrem Bandscheiben-vorfall wisse, glaubte Herr Mühlbach und täte alles, damit sich Margaretenicht in das gleiche Fahrwasser begäbe wie er vor zwei Jahren.Alle diese Chancen liegen vor Dieter Mühlbach, der auf dem Weg zu seinemRehabilitationsaufenthalt in einer psychosomatischen Klinik ist. Wird er sienützen? Die Vorhersage ist nicht leicht. Es kommt sehr viel darauf an, wasHerr Mühlbach an Erfahrungen in seiner Entwicklung gemacht hat.Wir verlassen nun Dieter Mühlbach mit den besten Wünschen für einen er-folgreichen Rehaaufenthalt und wenden uns abschließend einigen theoreti-schen Modellen und Erklärungsmodalitäten zu, um Herrn Mühlbachs Kran-kengeschichte entsprechend zu erläutern.Ein großer Faktor für Schmerzbewältigungsmechanismen stellt die soziokul-turelle Situation dar, in der wir uns befinden. So wird bei Südländern allge-mein ein stärkeres emotionales Ausdrucksverhalten toleriert als bei Nordeu-ropäern oder Amerikanern. Die Erziehung ist in den nördlichen Industrie-staaten eher gefühlsärmer als im Süden. Dementsprechend unterschiedlichist auch der Umgang mit Gefühlen.

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Ebenfalls soziokulturell bedingt ist die Hierachie der Erkrankungen. Unter-suchungen haben gezeigt, daß die Bewertung von chronischen Rückenbe-schwerden auch davon abhängt, ob der Betroffene diese durch Arbeitsplatz-situationen erklären kann oder nicht. Wenn ja, wird der Schmerzsymptoma-tik ein höherer Stellenwert zugerechnet und die Chronifizierungschance er-höht. Auch die soziale Akzeptanz durch die Umgebung ist in jedem Fallhöher als bei Erkrankungen, die nicht unmittelbar auf eine harte Arbeitsbe-lastung hindeuten. Am unteren Ende dieser Krankheitshierarchie stehenübrigens die psychischen Erkrankungen, dementsprechend heftig verwahrensich viele Menschen gegen eine psychosomatische Diagnose, die sie mit einerpsychiatrischen gleichsetzen. So entsteht auch von Seiten der Patienten Druckauf die Ärzte, eine möglichst akzeptable körperliche Diagnose zu finden.Wie wir gesehen haben, ist der Einfluß unserer Gedanken ein Hauptfaktor,ob ein Schmerzzustand chronifiziert. Dazu wollen wir uns zwei Modelle an-sehen, die den Zusammenhang deutlich machen sollen.Viele Eltern haben die Erfahrung gemacht, daß kleine Kinder akute Schmer-zen (z. B. ein Sturz) völlig verdrängen, wenn sie durch irgend etwas abgelenktwerden. Das bedeutet offenbar, daß der Schmerz „nicht mehr gespürt“ wird,ein Mechanismus, der bereits in den sechziger Jahren von Melzack und Wallmit der „Gate-Control-Theorie“ wissenschaftlich postuliert wurde. Die Über-tragung und Verarbeitung des Schmerzes hängt nicht nur von körperlichenProzessen der Schmerzweiterleitung ab, sondern ebenso von der Bewertungdieser einkommenden Informationen durch das Bewußtsein. Vereinfachendhaben wir uns das Rückenmark als Schmerzleitung ins Gehirn mit verschie-denen Toren (gates) vorzustellen, die gesteuert über das Bewußtsein mehr ge-schlossen (Ablenkung) oder geöffnet (Schmerzwahrnehmung) werden kön-nen. So wird verständlich, daß Schmerzwahrnehmung in direkten Zusam-menhang mit Schmerzbewältigung steht und daß Aktivitäten und sozialeKontakte imstande sind, die Schmerzwahrnehmung zu reduzieren. Schmerz-fördernd wirken dagegen Vereinsamung, Inaktivität und gedankliches Krei-sen um den Schmerz.Dieses gedankliche Kreisen um den Schmerz wirkt sich dadurch nachteiligauf die Schmerzverarbeitung aus, da eine negative Bedeutungszuweisungerfolgt. Das theoretische Modell dazu stellt dar, daß ein und dieselbe Situa-tion emotional anders bewertet wird, je nachdem, welche Bedeutung wir ihrzumessen, wie wir sie interpretieren. Frei übersetzt, läßt es sich mit demSprichwort: für den Optimisten ist das Glas halbvoll, für den Pessimistenhalbleer, gut erklären. Bei chronischen Schmerzpatienten nun ist die Be-deutung der Schmerzsymptomatik dann besonders belastend, wenn depres-sive Gedanken wie: „das hört nie mehr auf! Dieser dauernde Schmerz!“ imVordergrund stehen. Wenn Betroffene ihre Schmerzintensität der letzten

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Zeit aus dem Gedächtnis nachvollziehen sollen, haben sie meist durchgehendunerträgliche Schmerzen gehabt. Erst die Beschäftigung mit einem Schmerz-tagebuch, das den Betroffenen dazu anhält, alle zwei Stunden seine augen-blicklich spürbaren Schmerzen auf einer Skala aufzulisten, zeigt oft überra-schenderweise, daß die Schmerzintensität über den Tag hinweg variiert undmanchmal auch ganz verschwunden ist.Ein weiterer Faktor für die Chronifizierung von Schmerzzuständen sindLernprozesse. Im Verlauf der Zeit bilden sich spezifische schmerzbezogeneVerhaltensmuster heraus, die durch die Art des Umgangs mit dem Schmerz,aber auch durch das soziale Umfeld geprägt und aufrechterhalten werden.Anfänglich reagiert die Umgebung meist besorgt und liebevoll, in Beziehun-gen werden verbale Ebenen eröffnet, die schon lange nicht mehr existentwaren und die emotionale Zuwendung wäre ohne die Schmerzen nicht er-folgt. Das bedeutet, daß der Bedürfnisübermittlung über nonverbale Verhal-tensmuster (Mimik, Gestik) eine entscheidende Rolle zukommt und dieWirk- und Auslösemechanismen weitgehend unbewußt bleiben. Untersu-chungen zeigen z.B. eine Zunahme von Schmerzäußerungen bei Patientenmit Rückenschmerzen, wenn diese in Gegenwart von Partnern befragt wur-den. Mit der Zeit wird dieses positive Feedback an emotionalem Inhalt imSinne einer liebevollen Zuwendung verlieren, jedoch – so seltsam es klingt –auch eine mürrische oder ärgerliche Reaktion ist Zuwendung und damit bes-ser als Schweigen.Bezogen auf chronische Schmerzzustände ist in der Behandlung in letzterZeit ein deutlicher Wandel eingetreten, wobei man das französische Sprich-wort „Bei großen Schmerzen wirken Worte wie Fliegen auf Wunden“ zu-grunde legen könnte. Entsprechend dem oben erwähnten bio-psycho-sozia-len Erklärungsmodell arbeiten in modernen Fachkliniken die verschiedenenAbteilungen Hand in Hand. Dabei schlägt sich der Bogen vom Arzt zumPsychologen, Physiotherapeuten und Sporttherapeuten, die in einem Teamverbunden sind und regen Austausch untereinander halten. Das ist auch not-wendig, denn anfänglich reagiert jeder Schmerzpatient „der alten Schule“ärgerlich bis verstört, wenn von ihm Aktivität statt Passivität verlangt wird.Zielrichtung der therapeutischen Intervention ist dabei eine Änderung desSchmerzverhaltens und der aufrechterhaltenden Bedingungen. Das bedeutetschon mal konkret, daß auch der Partner gebeten wird, seine fürsorglicheHaltung aufzugeben und wieder mehr Verantwortung an den Betroffenen zudelegieren. Dabei ist viel Aufklärungsarbeit zu leisten, denn vielfach wirdHilfe zur Selbsthilfe als Vernachlässigung oder Gleichgültigkeit empfundenund es braucht eine gute Portion Verständnis von beiden Seiten, bis einge-fahrene Geleise verlassen werden können und defiziterhaltende Verhaltens-muster veränderbar werden.

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Am Beginn jeder sinnvollen therapeutischen Intervention steht die Erzieh-ungsphase, bei der der Patient über biologische und psychologische Mecha-nismen informiert wird und die auch dazu dient, die notwendige Motiva-tionsarbeit für eine vielschichtige Therapie zu leisten.Wie wir schon gesehen haben, ist das Führen eines Schmerztagebuchs fürviele Betroffene ein aufschlußreiches Unterfangen, setzt man voraus, daß siees ehrlich ausfüllen. Verbindet man dieses Schmerztagebuch mit einem Tätig-keitskatalog im gleichen Zeitraum, wie es das Ulmer Schmerztagebuch tut,können sich Zusammenhänge zwischen Verhalten und Schmerzempfindenherauskristallisieren.In der anschließenden Phase lernt der Patient, sich systematisch zu entspan-nen (Progressive Muskelrelaxation nach Jacobsen oder Autogenes Training).Aufmerksamkeitsfokussierung, Ablenkung und Vorstellung sind wichtigeBewältigungsstrategien für Schmerzempfindungen. Dabei lernt der Patient,wie er entweder über spezielle Suggestionsübungen (imaginative Verfahren)oder Ablenkungsstrategien (Phantasiereisen) sich vom Schmerz ablenkenkann. Kognitive Umstrukturierung helfen, negative Gedanken zu verändern.So werden auf denselben Ebenen, auf denen der Regelkreis „chronischeSchmerzsymptomatik“ entstanden ist, Strategien entwickelt, um einer weite-ren Chronifizierung den Riegel vorzuschieben. Die größten Schwierigkeitendabei ergeben sich dann, wenn der Patient erwartet, daß von diesen thera-peutischen Interventionen dieselbe spontane Wirkung ausgeht wie von einemMedikament – wobei oft übersehen wird, daß auch Schmerztabletten nichtimmer helfen, vor allem nicht, wenn man sie jahrelang nimmt. Der Vorteil be-steht darin, daß die Lebensqualität steigt und die Bedeutung der Schmerz-symptomatik ebenso wie die Wahrnehmung derselben sinkt.

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B) Alternative ModelleEs gibt eine Fülle von alternativen Modellen, die sich von der westlichen Hu-manmedizin oft sehr deutlich unterscheiden, sowohl was Krankheitsbegriffals auch Krankheitsursachen und Therapieformen anbelangt. Im folgendensollen nun einige wenige Konzepte ohne irgendeinen Anspruch auf Vollstän-digkeit vorgestellt werden. Die Denkmodelle stelle ich in erster Linie vor, umeinige wenige Ideen zu geben, wie man chronische Rückenschmerz erklärenkann, ohne das Wort „Bandscheibe“ auch nur einmal in den Mund zu neh-men.Die allermeisten dieser Methoden haben zumindest über Jahre und Jahr-zehnte, einige über Jahrhunderte und Jahrtausende überlebt, und sie habendies deswegen getan, weil sie sich bei einer Fülle von Patienten – nicht nur mitchronischen Rückenschmerzen – bewährt haben. Dies bedeutet allerdingsnicht automatisch, daß das Konzept, das hinter dieser oder jener Methodesteht, „richtig“ ist. Genau wie die Schulmedizin, ist auch die alternative Me-dizin außerstande, die komplexe Realität in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Siearbeitet daher wie die Schulmedizin mit Modellvorstellungen (ohne sich des-sen immer bewußt zu sein)! Wie schulmedizinische Modellvorstellungen, sindauch diese alternativen Vorstellungen mal ausreichend realitätsnah undhaben damit therapeutisch Erfolg, mal sind sie soweit von der Realität ent-fernt, daß sich der Therapieerfolg nur in seltenen Fällen einstellen kann. Einewissenschaftliche Überprüfung dieser Methoden, z. B. in Form einer ent-sprechenden Erfolgsstatistik, ist in aller Regel noch schwieriger als eine Un-tersuchung der Schulmedizin. Der Grund dafür liegt meist darin, daß derdiagnostische Teil dieser Konzepte sehr subjektiv, das heißt auf den Thera-peuten zugeschnitten ist.Ich möchte dies an einem einfachen Beispiel erläutern: Nehmen wir an, HerrDr. Müller, ein „klassischer Schulmediziner“ möchte herausfinden, wie erfolg-reich eine bestimmte Operationstechnik beim akuten Bandscheibenvorfalltatsächlich ist.Zunächst muß sich Herr Dr. Müller Gedanken machen, welche Patienten erin die geplante Studie aufnimmt und welche nicht. Selbstverständlich möch-te er nur Patienten aufnehmen, die auch tatsächlich einen akuten Bandschei-benvorfall haben. Er wird also darauf bestehen, daß zumindest ein bildge-bendes Verfahren wie z. B. die Computertomographie und/oder die Kern-spintomographie vor der Operation durchgeführt wird, um den Bandschei-benvorfall nachzuweisen. Diese Verfahren sind in der Regel – unter optima-len technischen Voraussetzungen – relativ „objektiv". Das bedeutet, daß derbefundende Radiologe A und der befundende Radiologe B und der befun-dende Radiologe C in den meisten Fällen in ihrer Diagnose wenigstensannähernd übereinstimmen. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist also

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relativ wenig abhängig vom Untersucher (es gibt allerdings Studien, die auchbei diesen Verfahren eine erstaunlich geringe Übereinstimmung der Befundeunterschiedlicher Radiologen zeigen – man sollte also selbst von diesen Ver-fahren nicht allzuviel Objektivität erwarten!).Noch deutlich subjektiver würde die Sache unter Umständen aussehen, wennals bildgebendes Verfahren nicht die Computertomographie oder die Kern-spintomographie gewählt würden, sondern eine Ultraschalluntersuchung.Die Bandscheiben lassen sich mit diesem Verfahren oft überhaupt nicht odernur sehr schlecht darstellen, so daß es durchaus denkbar wäre, daß bei 100untersuchten Patienten der Arzt A 50mal, der Arzt B 10mal und der Arzt C95mal die Diagnose eines Bandscheibenvorfalls stellen würde. Dr. Müllerkäme also nicht einmal im Traum auf die Idee, die Ultraschalluntersuchungzur Patientenauswahl heranzuziehen. Er wird sich im Zusammenhang mitseiner Studie noch viele Gedanken bezüglich Einschluß- und Ausschlußkrite-rien sowie statistischer Auswertung und Kontrollgruppe machen müssen.Irgendwann allerdings wird er dann die von ihm ausgewählten Patienten –selbstverständlich nach ausgiebiger Aufklärung – operiert haben. Er wirddann kurz nach der Operation, dann vielleicht 1/2 Jahr später und vielleicht3–5 Jahre später seine Patienten nach einem genau festgelegten Protokollnachuntersuchen um zu sehen, welche Änderungen sich bezüglich Beschwer-den und Untersuchungsbefunden ergeben haben. Idealerweise wird er übri-gens noch eine zweite Gruppe von Patienten bilden, die er nicht operiert, an-sonsten aber nach den identischen Ein- und Ausschlußkriterien auswählt undin der gleichen Manier nachuntersucht wie die operierten Patienten. Diesesogenannte Kontrollgruppe gibt Herrn Dr. Müller Auskunft darüber, welcheEffekte allein durch den Zeitablauf und durch Selbstheilungsprozesse imKörper auftreten. Diese Effekte darf er natürlich nicht als Operationserfolgeverbuchen.Alles in allem hat Herr Dr. Müller reichlich 5 Jahre zu tun, möchte er einesolche Studie in der Praxis durchführen. Danach allerdings kann er – soferner keine groben systemischen Fehler begangen hat – auf jedem wissenschaft-lichen Kongreß auftreten und mit Stolz über seine sehr umfangreiche Arbeitberichten.Mag sein, daß er auf einem solchen Kongreß dann Herrn Dr. Meier begeg-net, der der Bandscheibenoperation, egal nach welcher Technik, sehr skep-tisch gegenübersteht und der seine Patienten mit Rückenproblemen lieber mitAkupunktur behandelt. Es wäre in diesem Fall nicht verwunderlich, wenn dieDiskussion zwischen den beiden Kollegen immer heftiger werden und damitenden würde, daß Herr Dr. Müller seinen Kollegen aufforderte, seine eigeneStudie zu wiederholen, wobei er die Gruppe A seiner Patienten eben nichtoperierte sondern akupunktierte und die Gruppe B seiner Patienten mög-

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lichst identisch behandelte wie Dr. Müller vor ihm. Herr Dr. Müller würdeseinen Kollegen dabei bedrängen, sich bei der Akupunktur immer exakt andas gleiche „Rezept“ zu halten, um die Patienten vergleichbar zu machen.Allein mit dieser Forderung gibt er sich natürlich als krassen Akupunkturig-noranten zu erkennen. Sein Kollege Dr. Meier würde ihn nämlich darauf auf-merksam machen, daß für ihn als Akupunkteur ein akuter Bandscheibenvor-fall keine Diagnose und das Stechen von 100 Patienten nach dem gleichenRezept keine Therapie ist. Stattdessen würde er seinen Kollegen darauf hin-weisen, daß er als Akupunkteur nur Energieflußstörungen therapieren kannund das höchst individuell. Dr. Müller möchte zu diesem Zeitpunkt natürlichgerne wissen, was eine Energieflußstörung ist und mit welchem Gerät sie wis-senschaftlich exakt zu messen sei. Herr Dr. Meier erklärte ihm daraufhin,daß er die Energieflußstörungen nur durch eine Reihe von Informationsquel-len, wie z.B. Anamnese, Zungenbefund oder Pulsbefund und anderem mehrfeststellen könnte. Herr Dr. Müller könnte sich nun gar nicht vorstellen, daßein Patient 12 Pulstaststellen haben sollte, daß davon immer 2 übereinander-liegen sollten und daß letztendlich ein Therapeut in der Lage sein sollte, „ob-jektiv“ und „reproduzierbar“ einen Pulstastbefund zu ermitteln. Spätestenszu diesem Zeitpunkt fürchtete er um die Wissenschaftlichkeit der von ihmvorgeschlagenen Untersuchung des Behandlungserfolges der Akupunkturbei Patienten mit akutem Bandscheibenvorfall. Dabei wüßte er das Schlimm-ste noch gar nicht: in diesem Augenblick müßte ihn nämlich Herr Dr. Meierdarauf aufmerksam machen, daß beispielsweise die Pulstastung tatsächlichsehr schwierig sei; so schwierig in der Tat, daß die meisten westeuropäischenAkupunkturärzte diese Methode gar nicht beherrschten und daß sogarfernöstliche Experten sehr oft bei ein und demselben Patienten völlig unter-schiedliche Diagnosen stellten. Darüberhinaus, gäbe Herr Dr. Meier zu ver-stehen, wollte er in diesem Zusammenhang nun doch einmal darauf hinwei-sen, daß beispielsweise eine Energieflußstörung im sogenannten Blasenmeri-dian (siehe unten) zwar durchaus eine Ischialgie auslösen könnte, wie sie beiakuten Bandscheibenpatienten ja sehr häufig angetroffen wird. Genauso gutallerdings könnte eine Energieflußstörung in einem anderen Teil des Blasen-meridans auch zu Kopfschmerz führen.Umgekehrt könnte auch ein Patient mit einer Ischialgie seine Energiefluß-störung nicht im Blasen-, sondern im Gallenblasenmeridian haben. Wenn eralso tatsächlich die Herausforderung seines Kollegen annehmen sollte, dannnur unter der Bedingung, daß er die Patienten nicht nach einer westlichen,sondern nach einer fernöstlichen Diagnose auswählte und in zwei Gruppeneinteilte. Dabei wäre es durchaus vorstellbar, daß der eine Patient eineIschialgie hätte, der andere dagegen Kopfschmerzen.Herr Dr. Müller wäre fassungslos. „Wie soll eine einheitliche Gruppe gebildet

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werden von Patienten mit Kopfschmerz einerseits und einer Ischialgie ande-rerseits?“ fragte er und bäumte sich noch einmal auf. „Eine einheitlicheGruppe von Patienten läßt sich überhaupt nicht bilden“, gäbe ihm Herr Dr.Meier etwas ungehalten zu verstehen, „denn wir haben bisher ja noch nichtüber begleitende Energieflußstörungen in anderen Meridianen gesprochen.Und wir haben auch noch nicht die energetische Veranlagung erwähnt. Undwas, bitte sehr, hat ein Yang-Fülle-Typ mit einer Füllestörung im unterenBlasenmeridian gemein mit einem Yang-Leere-Typ mit einer Blasen-Leere-Störung im Kopfbereich? Darüberhinaus muß natürlich die Ernährungberücksichtigt werden und das Vorliegen von Störfeldern, bzw. von Vergif-tungen, die durch Akupunktur ausgelöste Heilvorgänge blockieren könnten.Wenn ich also die von Ihnen vorgeschlagene Studie nur annäherungsweisesauber und wissenschaftlich exakt durchführen möchte, muß ich jeden Pati-enten individuell behandeln, da ich fürchte, daß sich auf der ganzen Weltkeine zwei Patienten finden werden, die auch nur annähernd identische Vor-aussetzungen mit sich bringen. Eine völlig uneinheitliche Gruppe von Patien-ten aber mit derselben Akupunktur zu behandeln, das wäre, wie wenn ich 100Menschen mit unterschiedlichen Erkrankungen mit ein und demselben Me-dikament behandeln würde.“Verlassen wir nun die beiden Streithähne und wenden uns einigen alternati-ven Therapiekonzepten konkret zu.

1. Akupunktur und Akupunktmassage nach Penzel

Das prinzipielle Menschenbild der Akupunkturlehre ist eigentlich sehreinfach: es geht davon aus, daß jeder Mensch über eine bestimmte Menge„Energie“ verfügt, die auf mehr oder minder festen Bahnen, den sogenannte„Meridianen“, fließt.Dabei muß beachtet werden, daß es unterschiedliche Formen der „Energie“gibt, die aus unterschiedlichen Quellen kommen:So gibt es beispielsweise die Erbenergie, das heißt die Energie, die jedem Men-schen von Natur aus ohne eigenes Zutun mitgegeben wird. Wer einmal dieGelegenheit hat, durch eine Säuglingsstation zu gehen, der wird sicherlich be-stätigen können, daß es vom 1. Tag an Säuglinge gibt, die sehr aktiv und en-ergisch sind und andere, die sich eher träge und apathisch verhalten. Dieeinen haben eben etwas mehr, die anderen etwas weniger Erbenergie abbe-kommen. Diese Unterschiede lassen sich auch durch eine Therapie nicht odernur sehr sehr begrenzt ausgleichen, sie sind mehr oder minder schicksalhaft.Eine weitere Energieform wäre beispielsweise die Nahrungsenergie. Die Vor-stellung, daß Nahrung Energie vermittelt, ist uns sehr vertraut, nicht zuletzt

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auf Grund der Werbung für einen Schokoladenriegel, der verbrauchte Ener-gie sofort zurückbringen soll. Innerhalb gewisser Grenzen kann man alsodurch Nahrungszufuhr ein Energiedefizit ausgleichen. Die Betonung aller-dings liegt auf „innerhalb gewisser Grenzen", denn:1. Ein Zuviel an Nahrung kann eher wieder Energie verbrauchen (wer isteine Stunde nach einem Festtagsmenü schon energiegeladen?)2. Die einzelnen Energieformen sind eben nicht beliebig austauschbar, dasheißt man kann einen Mangel an angeborener Energie nicht durch ein über-mäßiges Angebot von Nahrungsenergie kompensieren.Eine weitere Energieform wäre die kosmische Energie. Wenn das zunächsteinmal eher esoterisch klingen mag, sollte man bedenken, daß gerade dasAkupunkturkonzept sehr pragmatisch entwickelt wurde. Am Anfang standeben nicht eine philosophische oder religiöse Idee, der man die Wirklichkeituntergeordnet hat, sondern viele tausend Therapeuten haben über tausendevon Jahren Millionen von Patienten sehr exakt beobachtet und aus diesenBeobachtungen diagnostische und therapeutische Schlüsse gezogen. Dertheoretische Unterbau ist nur eine Vereinfachung dieser enormen prakti-schen Erfahrungen (Vor diesem Hintergrund relativiert sich natürlich aucheine 20 oder 30jährige persönliche Berufserfahrung).Wenn wir uns nun einen ersten warmen Frühlingstag nach einem langen kal-ten Winter vorstellen, wenn wir uns weiterhin vorstellen, wir hätten an die-sem Tag frei und könnten uns am frühen Nachmittag sonnen, so könnten wirwahrscheinlich dieses Konzept der kosmischen Energie, die dann wohligdurch uns strömt, gut nachvollziehen, ohne in esoterische Sphären eintau-chen zu müssen.Auch zwischenmenschliche Beziehungen können eine Quelle der Energiezu-fuhr sein. Dies läßt sich mit einem Gedankenexperiment sehr einfach unter-mauern. Angenommen wir hätten eine Gruppe von 10 Jungen im Alter von16 Jahren, die im Sportunterricht den Weitsprung übt. Wir lassen diese Jun-gen nach einer Aufwärmphase den ersten Sprung absolvieren und messen dieWeiten.Im Anschluß an den ersten Sprung bitten wir eine Gruppe von gleichaltrigenMädchen, sich neben der Sprunggrube aufzustellen und die Jungen beimzweiten Sprung zu beobachten. Ich bin mir sicher, daß die Anwesenheit die-ser Mädchen die Sprungweiten beim zweiten Durchlauf deutlich steigert.Krankheit und Schmerz entstehen nach dem Akupunkturkonzept ganz ein-fach dann, wenn irgendwo eine Störung des Energieflusses auftritt. Mankann sich vielleicht am einfachsten „Energie“ als Wasser und die Energie-bahnen, das heißt die Meridiane, als Gräben vorstellen. Krankheit undSchmerz entsprechen nun einem Hindernis in einem der Gräben oder auch inmehreren. Die Folge ist auf der einen Seite des Hindernisses ein Zuviel an

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Wasser, was zu Überschwemmungen führen kann, auf der anderen Seite einZuwenig, was zu Trockenheit führt. Konsequenterweise wird in der Aku-punkturlehre dann auch zwischen einer „Füllestörung“ und einer „Lee-restörung“ unterschieden.Theoretisch müßte jeder Patient, der irgendwo in seinem Körper eine offen-sichtliche Füllestörung aufweist, anderswo eine Leerestörung haben. Ganz soklar sind die Verhältnisse in der Praxis allerdings häufig nicht, da es eineReihe von Querverbindungen zwischen den einzelnen Energiestraßen gibt,die solche energetischen Ungleichgewichte zumindest teilweise ausgleichenkönnen. Es ist also durchaus nicht ungewöhnlich, daß bei einem konkretenPatienten die Füllestörung, die durch ein Energieflußhindernis ausgelöstwurde, dadurch relativ gut kompensiert wird, daß das Zuviel an Energie überQuerverbindungen an andere Meridiane abfließt, während umgekehrt, aufder Leereseite zuwenig Zuflüsse aktiviert werden können, so daß sich unterdem Strich der Eindruck einer mehr oder minder isolierten Leerestörungohne begleitende Füllestörungen ergibt.Für Rückenschmerzen und ausstrahlende Ischiasschmerzen sind nach derAkupunkturlehre in erster Linie Energieflußstörungen in den beiden Meridi-anen „Blase“ und „Gallenblase“ verantwortlich. Diese beiden Meridiane zie-hen vom Gesicht über den Rücken bis in die Füße. In Abhängigkeit davon,wo nun die Energieflußstörung auftritt, können daher in beiden Fällen Kopf-und/oder Nackenschmerzen oder aber Rückenschmerzen und Beinschmer-zen auftreten.Wenn ersteinmal die Art der Energieflußstörung und die Lokalisation klarsind, können nach teils sehr komplizierten Regeln die Energieflußhindernissebeseitigt und der normale Energiefluß wieder hergestellt werden.Mit der Akupunkturlehre haben wir also ein Konzept, mit dessen HilfeRückenschmerzen und Ischiasschmerzen erklärt werden können, ohne daßirgendwelche anatomischen Erkenntnisse dafür erforderlich wären! Es um-faßt sowohl den diagnostischen wie den therapeutischen Anteil der Krank-heitslehre.Es wäre meines Erachtens völlig unsinnig, dieses Modell mit dem Hinweis inFrage zu stellen, daß die moderne wissenschaftliche Medizin längst über die-ses Stadium hinaus ist und viel besser weiß, „was in der Realität passiert“.Wer so argumentiert, hat ganz offensichtlich Goethes Faust nie gelesen odernie verstanden. Seine Erkenntnis: „.... und ich sehe, daß wir nichts wissenkönnen! Das will mir schier das Herz verbrennen...“ hat heute genau die glei-che Gültigkeit wie vor hundert oder zweihundert oder fünfhundert oder tau-send Jahren und wird auch in fünftausend Jahren gültig sein. Erst wenn wirdiese bittere Pille geschluckt haben, erhalten wir die intellektuelle Freiheit,bewußt zwischen den einzelnen Gedankenwelten lustzuwandeln und uns mal

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diese, mal jene Brille aufzuziehen. Die Intention des Therapeuten wird dabeinicht sein, dem Phantom „Realität“ nachzujagen, sondern das Konzept fürjeden individuellen Patienten auszuwählen, was am ehesten und am schnell-sten zum Erfolg führt. Das mag im einen Fall ein biomechanisches Konzeptsein, im anderen Fall ein psychosomatisches und im dritten Fall das Aku-punkturkonzept. Sehr oft läßt sich das optimale Konzept nicht auf Anhieberkennen. In diesem Fall muß pragmatisch mal das eine oder mal das andereoder eine Mischung aus mehreren Konzepten eingesetzt werden, wobei si-cherlich mit den ungefährlichsten Konzepten begonnen werden sollte. Auchheutzutage gilt noch der jahrtausendalte Spruch: „Primum nihil nocere“ –das bedeutet, die erste Aufgabe eines Arztes ist zunächst einmal, dem Patien-ten keinen weiteren Schaden zuzufügen. Erst in zweiter Linie kann er danndarangehen, den vorhandenen Schaden zu begrenzen oder zu beseitigen (vgl.Kapitel „Therapie“).

2. Manuelle Medizin – Chirotherapie – Osteopathie

Einige Ärzte werden es mir sicherlich übelnehmen, daß ich die manuelle Me-dizin unter den „alternativen Methoden“ abhandle. Schließlich ist die manu-elle Medizin inzwischen schulmedizinisch weitgehend anerkannt und wirdvon den Krankenkassen in Deutschland beispielsweise schon längst pro-blemlos bezahlt.Ich habe sie trotzdem in dieses Kapitel hereingenommen, weil es von der klas-sischen, schulmedizinischen anerkannten Chirotherapie fließende Übergängeüber die Osteopathie bis hin zur sehr alternativen Geisterheilung gibt.Wir müssen uns also die manuelle Medizin als eine Therapieform vorstellen,die ein sehr breites Spektrum umfaßt. Beginnen wollen wir quasi „ganzlinks“ mit der Chiropraktik.Die Chiropraktik hat im Grunde genommen ein sehr einfaches Krankheits-verständnis: Sie geht davon aus, daß sich zwei Wirbel ineinander verhakenkönnen und damit blockiert sind. Diese Blockierungen kann man sich ähn-lich vorstellen wie eine Schublade, die verklemmt ist. Für den Patientenmacht sich eine solche Blockierung in der Regel durch eine Bewegungsein-schränkung, durch Schmerz und durch eine lokale Muskelverspannung be-merkbar. Eine solche Blockierung kann durch eine mechanische Manipulati-on therapiert werden; das entspräche in etwa einem Rütteln an der ver-klemmten Schublade. Mit etwas Glück und Geschick läßt sich die mechani-sche Blockierung dadurch auch mechanisch wieder lösen und die Einschrän-kung der Beweglichkeit verschwindet ebenso wie der Schmerz und die Mus-kelverspannung.

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Chiropraktik wird in Deutschland meist von Masseuren, Krankengymnastenund Heilpraktikern durchgeführt.Ärzte, die sich mit der manuellen Medizin beschäftigen, bezeichnen ihreKunst in der Regel als „Chirotherapie“. Der Unterschied zur Chiropraktikliegt formal darin, daß die Ausbildung zur Chirotherapie in Deutschland nurÄrzten und Krankengymnasten offensteht. Inhaltlich basiert das Konzeptähnlich wie die Chiropraktik auf einem relativ einfachen mechanistischenKonzept, das allerdings ständig weiterentwickelt wird. Das profundere ana-tomische und physiologische Wissen der Ärzte führte sehr bald zu der Er-kenntnis, daß es zwar durchaus primär mechanische Blockierungen gibt, diein der Folge allerdings sehr rasch zu höchst komplizierten Veränderungen derInformationsverarbeitung auf der Ebene des Nervensystems führen. Umdiese Veränderungen etwas besser erklären zu können, muß ich ein wenigausholen und das Konzept der „segmentalen Gliederung“ erläutern.Stellen wir uns einmal vor, wir würden den menschlichen Rumpf in einzelneScheiben mit einer Dicke von etwa 5 cm zerlegen (s. Abbildung 11).Betrachten wir nun im einzelnen, woraus eine solche Scheibe z. B. auf Höhedes Bauchnabels besteht, so entdecken wir eine Fülle von einzelnen Elemen-ten wie Haut, Muskulatur, Darmgewebe, Blutgefäße, Knochen, Nerven undein Stück Rückenmark. Das Konzept der segmentalen Gliederung sagt nun,daß die Informationsverarbeitung für all die Strukturen, die sich in dieserScheibe befinden, über das zugehörende Segment des Rückenmarks verläuft.Das betreffende Rückenmarksegment ist also der Zentralrechner für diesesKörpersegment. Es erhält alle Informationen, die aus dieser Region durch dieNerven an das Rückenmark abgegeben werden, und es vermittelt umgekehrtdie Information, die vom Rückenmark an das Gewebe weitergegeben werden.Dieses Segment steht natürlich in engem Kontakt zu benachbarten Rücken-markssegmenten und über längere Leitungen mit dem Gehirn.Vergleichen kann man es eventuell mit einer Abteilung eines größeren Betrie-bes. Das Rückenmarkssegment entspräche dem Abteilungsleiter, der alles ko-ordiniert und überwacht.Wenn nun etwas in dieser Abteilung schief läuft, ist es durchaus vorstellbar,daß die ganze Abteilung mehr oder minder davon betroffen wird. Nehmenwir nun an, daß im Bereich der Knochen eine Blockierung auftritt, so würdenach diesem Modell die Information sofort an das entsprechende Rücken-marksegment weitergeleitet werden. Dieses Rückenmarksegment würde dieInformationen allen anderen Geweben in dieser „Scheibe“ mitteilen. Eswürde aber nicht nur über die Blockierung selbst berichten, sondern auchallen Geweben mitteilen, daß jede falsche Bewegung wehtut. Dies wiederumwürde dazu führen, daß die Muskulatur, die die beiden Wirbelkörper mitein-ander verbindet, sich verspannen würde, um die Wirbelkörper quasi zu schie-

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Abb. 11: Querschnitt durch den Oberbauch

„Segmentale Gliederung“ bedeutet, daß ein Segment des RückenmarkesInformationen von einer Fülle von Geweben empfängt und teilweise auchaussendet, z.B. von inneren Organen wie Darm, Leber, Milz etc., zusätz-lich von Muskulatur, knöchernen Wirbeln, Bandscheibengewebe und Haut.

nen und eine Bewegung möglichst auszuschließen. Dieser sinnvolle Mecha-nismus würde der Schmerzbegrenzung dienen. Möglicherweise würde auchdie Haut über dem betroffenen Segment verquellen – vgl. Kiblerfalte S. 16.Gleichzeitig würde natürlich das entsprechende Segment Rückenmark die In-formation über die Vorgänge weitermelden in Richtung Gehirn. Idealerweisewürde also das Gehirn dann die Information bekommen: „Achtung, an die-ser Stelle Blockierung verbunden mit Rückenschmerz, bitte bestimmte Bewe-gungen vermeiden.“Bei dieser Informationsübertragung können allerdings Fehler unterlaufen.Die fehlerhafte Information könnte beispielsweise lauten: „Achtung Gehirn,Schmerzen aus dem Nabelsegment, Ursache nicht ganz klar, vermutlichBauchschmerzen.“In diesem Fall hätte der Patient also ausstrahlende Schmerzen in den Bauch,obwohl die Ursache in der Wirbelsäule liegt.

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Umgekehrt können Erkrankungen aus dem Bauchraum als Rückenschmerzweitergemeldet werden, ob mit oder ohne begleitende Blockierung in diesemSegment. Wir sehen, dieses Konzept der segmentalen Informationsverarbei-tung geht weit über das einfache biomechanische Blockierungsmodell hin-aus. Gemeinsam allerdings hat die Chirotherapie mit der Chiropraktik dieVorstellung, daß es mechanische Blockierungen im Bereich der Wirbelsäulegibt, und daß diese Blockierungen nach bestimmten Techniken gelöst werdenkönnen.Während die Chiropraktik in aller Regel die schnelle ruckartige Manipulati-on anwendet, kennt die Chirotherapie neben diesen „harten Techniken“ auch„weiche Techniken“. Dabei wird eben nicht versucht, die Blockierung quasiim Hauruckverfahren zu lösen, sondern durch weiche mobilisierende Bewe-gungen soll der Körper dazu überredet werden, die Muskulatur zu entspan-nen, damit sich die Blockierung von selbst löst. Ich habe den Unterschiedzwischen Chiropraktik und Chirotherapie bewußt aus didaktischen Gründenetwas überzeichnet, in der Praxis gibt es meist fließende Übergänge von dereinen zur anderen Methode.Während die Chirotherapie und die Chiropraktik sich sehr stark auf dieknöcherne Wirbelsäule und Blockierungen in diesem Bereich konzentrieren,beschäftigt sich eine in Deutschland immer noch relativ unbekannte, in denU.S.A. aber sehr populäre Form der manuellen Medizin, die sogenannteOsteopathie, viel stärker mit den Weichteilen, das heißt mit Sehnen, Muskeln,Faszien und inneren Organen.Während die Chirotherapie davon ausgeht, daß die knöcherne Blockierungdie Wurzel allen Übels ist und die Weichteile, besonders die Muskulaturdarauf nur sekundär reagieren, neigt die Osteopathie eher zur umgekehrtenBetrachtungsweise. Für sie ist die knöcherne Blockierung nur die Spitze desEisberges, die dann von selber abschmilzt, wenn das Fundament, das heißtdie Störungen in den Weichteilen, beseitigt wird. Viele Osteopathen lehnendaher die von den Chirotherapeuten häufig betriebenen Manipulationenmehr oder minder ab. Sie wollen mit sanften Methoden den Körper dazuüberreden loszulassen, damit sich die Blockierung von selber wieder löst.Hier gibt es durchaus Verwandschaften mit den weichen Techniken aus derChirotherapie.Der theoretische Blickwinkel allerdings ist eben etwas anders: Vereinfachtausgedrückt denken Chirotherapeuten und Chiropraktier in erster Linie anein knöchernes Skelett, wenn sie versuchen, sich die Probleme eines Patientenklarzumachen. Osteopathen hingegen stellen sich eher ein sehr komplexesdreidimensionales Gebilde aus bindegewebigen Strukturen vor, das den Kör-per von den Haarwurzeln bis zur Großzehe durchzieht. Dieses sehr kom-plexe dreidimensionale Gebilde umfaßt unter anderem Muskeln, Sehnen,

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Faszien, Bänder und die harten und weichen Hirnhäute. Wenn nun irgendwoin diesem Gebilde eine Störung auftritt, kann diese Störung durchaus aneiner ganz anderen Stelle des Körpers zu Symptomen führen.Vergleichen kann man dies beispielsweise mit einer großen Tischdecke, anderen einem Ende gezogen wird, woraufhin am anderen Ende dann Faltenentstehen. Die Osteopathen werden daher häufig die schmerzhafte Körperre-gion zunächst völlig außer acht lassen und an Stellen therapieren, die ausSicht des Patienten mit seinen aktuellen Beschwerden überhaupt nichts zutun haben.Die Osteopathie ist keine klar definierte einheitliche Lehre, sondern es gibtinnerhalb der Osteopathie unterschiedliche Richtungen und entsprechendetherapeutische Techniken. Während eine Schule mehr die Bedeutung vonMuskeln und Sehnen in den Vordergrund stellt, konzentriert sich die anderemehr auf die harte Hirnhaut, wieder eine andere Schule auf die inneren Or-gane.Neben diesen noch sehr stark somatisch orientierten Schulen gibt es dann al-lerdings auch Konzepte, die versuchen, den Zusammenhang zwischen Kör-per und Seele zu berücksichtigen und beide zu behandeln. Die Vorstellungengehen dabei in ähnliche Richtungen, wie die Gedanken der psycho-somati-schen Medizin: Körper und Seele sind eine Einheit, und eine Störung aufpsychischem Bereich kann auch zu „Verwerfungen“ auf körperlicher Ebeneführen. Eine alleinige somatische Therapie ist daher oft nicht anhaltend wir-kungsvoll.Eine große amerikanische Schule für Osteopathie versucht daher, klassischeOsteopathie mit einem begleitenden Gespräch zu kombinieren. Als Ergebniswird ein sogenanntes „Somatoemotional release“ angestrebt. Man könntedas vielleicht übersetzen mit „Lösen eines seelischen Knotens und Wieder-herstellung der Harmonie zwischen Körper und Seele“.Von hier aus wagen dann einige Osteopathen auch den Schritt hin zur Gei-sterheilung. Die Osteopathie ist insofern sicherlich umfassender und teilwei-se auch schillernder als die klassische Chirotherapie, bzw. Chiropraktik undder Schritt zur Esotrik ist mitunter klein.Es gibt eine ungeheure Vielfalt von esoterischen Gedankenmodellen zurmenschlichen Existenz, zur Funktionsweise des menschlichen Körpers undder menschlichen Seele und zum Thema Krankheit. Die Fülle der Gedankenund Ideen ist so riesig und die Konzepte sind zum Teil so unterschiedlich, daßich es mir nicht zutraue, auch nur den Versuch zu unternehmen, einzelneStrömungen herauszufiltern. Die meisten Richtungen und Schulen entziehensich der wissenschaftlichen Betrachtungsweise. Dies sollte keinesfalls als ab-wertendes Kriterium mißverstanden werden! Es zeigt vielmehr einfach dieGrenzen der wissenschaftlichen Betrachtung auf. Solange die in unserer Ge-

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sellschaft akzeptierten und festgelegten grundlegenden ethischen und mora-lischen Vorstellungen durch diese Konzepte nicht verletzt werden, sollte mansich meines Erachtens über diese Bereicherung der menschlichen Vorstel-lungswelt freuen. Jeder, der mit der Esoterik Bekanntschaft schließt, wirdbald feststellen, daß es Bereiche gibt, die ihm sehr nahe liegen und andere, dieihm immer fremd bleiben werden.Die blühende „Esoterikindustrie“ (Bücher, Kongresse etc.) zeigt aber klar, daßsich auch in unserer Gesellschaft eine „Gemeinde“ herausgebildet hat, dieweit über die Größe einer Randgruppe hinaus geht. Wer als Arzt meint, dieseGedankenwelt als „wissenschaftlich unhaltbar“ abtun zu können, läuft Ge-fahr, daß er einen Großteil seiner Patienten nicht versteht! Dies bedeutet an-dererseits natürlich auch nicht, daß wir Ärzte passiv alles akzeptieren sollten,was aus der esoterischen Ecke in die Medizin drängt. Immer wieder werdennämlich auch Konzepte entwickelt, die zu eindeutig gefährlichen und schädli-chen Therapien führen. Während bei der Behandlung von Patienten mit chro-nischen Rückenschmerzen meist nur eine vorübergehende Verschlechterungder Beschwerden droht, kann dies in der Behandlung von Krebspatienten töd-liche Konsequenzen haben. Während man also im einen Fall relativ großzügigesoterische Konzepte im therapeutischen Gesamtkonzept des Patienten zu-mindest tolerieren kann, wird man im anderen Fall immer sehr klar Risikenund Chancen der einzelnen Therapieformen gegeneinander abwägen müssen.Eine verbindliche Entscheidung, was noch richtig oder bereits falsch ist, gibtes in den meisten Fällen nicht. Hier müssen Arzt und Patient vertrauensvollzusammenarbeiten, um diese Entscheidungen gemeinsam zu fällen.

3. Und noch zwei Modelle

Von „Mäusen“, „Käfern“ und chronischen Rückenschmerzen

Ich habe Ihnen eine ganze Reihe von Konzepten vorgestellt, die versuchen,Rückenschmerzen, insbesondere chronische Rückenschmerzen, über ver-schiedene Mechanismen zu erklären. Ich habe Ihnen anatomische Konzepteentwickelt, wie beispielsweise den Bandscheibenvorfall mit Zerreißung vonNervenfasern im Bandscheibenfaserring oder mit Druck auf die Nervenwur-zel und mechanische Irritation, oder die Facettengelenksarthrose.Ich habe ihnen dann von biomechanischen Modelle erzählt, wie beispielswei-se der Instabilität der Wirbelsäule mit vermehrtem Zug an Bändern und Seh-nen und dadurch bedingter Schmerzauslösung.Ich habe von biochemischen und immunologischen Modelle berichtet, beidenen Entzündungsvorgänge eine wichtige Rolle spielen. Ich habe das

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Durchblutungsmodell angesprochen, demzufolge eine Minderdurchblutungvon Nervengewebe zu Schmerz führt.Ich habe dann die Ebene des Patienten verlassen und versucht klarzuma-chen, daß die soziale Umwelt beim Rückenschmerz eine wichtige Rollespielen kann. Frau Runggaldier hat dann einige psychologische Modellevorgestellt und letztendlich habe ich dann auch „alternative Modelle“ an-gesprochen.Ich hoffe, es ist mir gelungen, Sie heillos zu verwirren. Wenn ja, dann habenSie innerhalb kürzester Zeit das geschafft, wofür ich annähernd 10 Jahre ge-braucht habe. Wie bereits erwähnt, ging auch ich vom einfachen anatomi-schen Modell aus und habe dann die oben angeführten Stufen Schritt fürSchritt durchlaufen, mit dem Ergebnis, zum Schluß überhaupt nicht mehr zuwissen, woher der Rückenschmerz eigentlich kommt und wie man ihn zu be-handeln hat.Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich weiß es auch heute noch nicht und ichwerde es nie wissen!„Den Rückenschmerz“ kann man nämlich gar nicht behandeln, weil es ihngar nicht gibt. Stattdessen gibt es eine Vielzahl von einzigartigen und einma-ligen Patienten mit Rückenschmerzen (Machen Sie Sich doch einfach mal dasVergnügen und studieren die Titel der zahllosen Rückenschmerzbücher. DerTitel allein offenbart viel über die Philosophie des Autors).Wenngleich sich viele Patienten ähneln, finden sich niemals zwei identischePatienten.Auch ich bin natürlich nicht in der Lage, jeden einzelnen Patienten in seinergrenzenlosen Vielfalt in allen Aspekten auch nur annähernd zu erfassen. Ichhabe mir daher seit geraumer Zeit Gedanken gemacht über ein sehr stark ver-einfachendes Modell, das mir hilft, in der täglichen Praxis pragmatische The-rapiekonzepte zu entwickeln. Meine Anforderungen an ein solches Modellwaren dabei sehr klar:1. Das Modell sollte universell einsetzbar sein, das heißt auf jeden Patienten

anwendbar.2. Das Modell sollte die bislang bekannten Konzepte (siehe oben) integrieren

und nicht ersetzen.3. Das Modell sollte möglichst einfach sein, getreu dem englischen Motto:

„KISS – Keep it simple and stupid (halten Sie es einfach und dumm)“.4. Das Modell sollte nicht die Diagnose, sondern die Therapie in den Vorder-

grund stellen.5. Das Modell sollte möglichst nicht nur von mir selbst, sondern auch von

anderen Therapeuten angewandt werden können.Im Zeitalter der Informationsverarbeitung war das Modell natürlich sehrrasch gefunden: es war der Computer.

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Erlauben Sie mir bitte für all diejenigen, die noch nie mit einem Computergearbeitet haben, ganz einfach und primitiv zu erklären, was ein Computerist und wie er funktioniert.Der Begriff Computer ist etwas verwirrend, weil nicht alle darunter dasselbeverstehen. Ich möchte zunächst zwei andere Begriffe erläutern, die wesentlichsind für das Verständnis der Computertechnologie: Es sind die Begriffe„Hardware“ und „Software“.Der Begriff „Software“ wird im Deutschen auch schon einmal mit „Pro-gramm“ übersetzt. Wie wir noch sehen werden, ist diese Übersetzung nichtganz korrekt. Vom Begriff „Hardware“ kenne ich keine gute deutsche Über-setzung.Der Begriff Hardware läßt sich am besten mit einem zugegebenermaßen sehrmakaberen Beispiel erklären. Nehmen wir an, Sie hätten einen uralten Schä-ferhund, dessen Stunde geschlagen hat. Sie setzen sich neben das Tier undstreicheln es und in diesem Augenblick tritt der Tod ein.Was ist passiert?Am Körper des Tieres hat sich zumindest nach außen sichtbar nichts verän-dert. Die äußere Gestalt ist zunächst noch erhalten. Was schlagartig zusam-mengebrochen ist, das sind die „Vitalfunktionen“, das heißt Atmung, Blut-druck, Herzschlag etc.Die Hundeleiche entspräche in der Computerfachsprache nun in etwa der so-genannte Hardware. Die Summe aller Vitalfunktionen, einschließlich der„Seele“, wäre nun die Software. Wie sich zeigt, ist Hardware ohne Softwarenutzlos. Umgekehrt hat aber auch Software keinen Sinn ohne Hardware (hierhinkt das Beispiel natürlich ein wenig, wenn man daran glaubt, daß Hundeeine Seele haben, die auch unabhängig vom Körper existieren kann).Unter Computer verstehen nun viele nur den in der Regel quaderförmigenKasten, in dem sich unter anderem Hauptprozessor, Festplatte, Disketten-laufwerk usw. befinden. Für andere gehören zum Computer auch noch dieTastatur und der Monitor, sowie die sogenannte Maus, das heißt die Summeder Hardware. Keine Bange, die angesprochene Maus lebt nicht. Unter„Maus“ versteht man vielmehr ein mausähnliches Gerät mit einer langenKabelverbindung zum Computer (dem „Schwanz“). Mit Hilfe dieses Geräteskann man dem Computer ganz elegant anzeigen, was man von ihm habenmöchte.Manche rechnen automatisch zum Computer auch die Software, da er ohnesie völlig nutzlos ist.Die Software kann nun in zwei unterschiedliche Anteile aufgetrennt werden,nämlich in das sogenannte Betriebssystem zum einen und in einzelne Pro-gramme zum anderen. Man kann das Ganze relativ einfach mit einer gut sor-tierten Bibliothek vergleichen, in der eine Vielzahl von Büchern stehen: Jedes

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Buch entspräche einem Programm; die Sprache, in der das Buch geschriebenist, entspräche dem Betriebssystem. Konkrete Betriebssysteme wären derzeitbeispielsweise DOS, WINDOWS, OS/2 oder MAC-OS. Während also die An-zahl der gängigen Betriebssysteme im PC-Bereich auf etwa eine Handvoll be-grenzt ist, gibt es tausende von unterschiedlichen Programmen für Textverar-beitung, Tabellenkalkulation, Datenbanken oder Graphikanwendungen.Wenn nun ein Computer nicht so funktioniert, wie man es sich als Anwenderwünscht, können Störungen auf allen möglichen Ebenen vorliegen:1. Ein Anwenderfehler: wer immer den Computer bedient, bedient ihn feh-lerhaft. Hardware und Software dagegen sind in Ordnung.2. Ein Softwarefehler: der Anwender und die Hardware funktionieren fehler-frei, aufgrund eines Fehlers entweder im Programm oder im Betriebssystemkommt es allerdings nicht zu dem gewünschten Ergebnis.3. Ein Hardwarefehler: hier funktionieren nun Anwender und Software feh-lerfrei, das Problem liegt beispielsweise im Bereich des Mikroprozessors, derFestplatte, der Tastatur oder des Monitors etc.4. Eine Kombination der oben genannten Punkte.Die schlimmsten Funktionsstörungen, die bei einem Computer auftretenkönnen, sind in der Regel die sogenannte „Abstürze“. Dies bedeutet konkret,daß der Computer plötzlich seine Dienste einstellt und auf kein Kommandomehr reagiert. In der Regel gehen dabei häufig Daten, die gerade in Bearbei-tung sind, verloren. Ursache können dafür die oben genannten 4 Punkte sein.Was nun konkret zum Absturz eines Computers geführt hat, läßt sich längstnicht immer im Detail rekonstruieren.Wenn ein Computer immer wieder abstürzt, muß natürlich eine möglichst ex-akte Fehleranalyse durch einen Fachmann durchgeführt werden. Selbst derFachmann kann allerdings häufig nicht die genaue Ursache feststellen. Erwird in der Regel zunächst einmal die Hardware kontrollieren um sicher zugehen, daß die Anschlüsse richtig gelegt sind und keine groben technischenDefekte vorliegen. Dann wird er gegebenenfalls das zuletzt benützte Pro-gramm löschen und neu einspielen, um Programmfehler auszuschalten. Alsnächstes wird er möglicherweise das Betriebssystem löschen und neu laden,um Fehler auf der Ebene des Betriebssystemes auszuschließen. Schließlichwird er vielleicht Veränderungen im Bereich der Hardware vornehmen unddie Tastatur oder die Festplatte oder andere Anteile austauschen. Selbstwenn es ihm gelingt, das System wieder funktionstüchtig zu machen, stehtnicht fest, daß er danach exakt weiß, wo der Fehler lag. In aller Regel werdenaber sowohl Computerfachmann wie auch Anwender mit der Tatsache zu-frieden sein, daß alles wieder funktioniert.Wenn ein Computer nur gelegentlich abstürzt, so werden die meisten An-wender den Fachmann überhaupt nicht in Anspruch nehmen. Sie werden

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vielmehr den Computer aus- und wieder einschalten und hoffen, daß sich da-durch der Fehler behebt – was oft genug der Fall ist!Die Ursache für solche einmaligen Programmabstürze sind beispielsweise so-genannte „Bugs“ (wörtlich übersetzt: Käfer). Darunter versteht man Fehlerim Programm, die unter bestimmten Voraussetzungen für den Anwender er-kennbare Störungen verursachen. Das kann beispielsweise dazu führen, daßin einem Textverarbeitungsprogramm Anführungszeichen nur bei der Ver-wendung von bestimmten Schriften funktionieren, während sie bei anderenSchriften nicht gesetzt werden können. Ein „Bug“ kann aber auch dafür sor-gen, daß in einem Rechenprogramm ab der zweiten Stelle hinter dem Kommafalsch gerechnet wird, oder er kann unter bestimmten Umständen das ganzeSystem abstürzen lassen. Grobe Fehler werden bei der Erstellung eines neuenProgrammes bereits in den frühen Stadien erfaßt und ausgemerzt. KleineFehler allerdings können unter Umständen nur „alle Jubeljahre“ auftretenund werden dann häufig erst in der Zweit- oder Drittversion des Programmesausgemerzt.Was hat nun ein Computerabsturz mit chronischen Rückenschmerzen zutun?Wenn ein Patient mit chronischen Rückenschmerzen zu mir kommt, sehe ichmich häufig in einer Situation ähnlich einem Computerexperten, der zueinem abgestürzten Computer gerufen wird. Der Rückenschmerz kann Ursa-chen haben, die im Bereich der „Hardware“ liegen, das heißt im Bereich vonMuskeln, Sehnen, Bandscheiben, Knochen, Gelenken usw. (siehe oben).Es kann aber auch ein Fehler im Bereich der „Software“ vorliegen (vergleichesoziales und psychosomatisches Modell des Rückenschmerzes). Schließlichkann eine Kombination von Hardware- und Softwarefehlern vorliegen undnatürlich gibt es auch Anwendungsfehler: Hardware und Software sind imgroßen und ganzen in Ordnung, werden aber durch den Patienten selbst oderbeispielsweise durch den Arbeitgeber des Patienten überfordert.Der Vergleich endet hier aber noch nicht ganz. Er führt auch noch zur thera-peutischen Strategie: ähnlich wie ein Computerfachmann werde auch ich alsArzt orientierend die Hardware überprüfen müssen, um grobe Störungenauszuschließen. Neben der körperlichen Untersuchung werde ich vor allenDingen auf bildgebende Verfahren und Laboruntersuchungen zurückgrei-fen, um Störungen wie beispielsweise Knochenbrüche, Bandverletzungen, In-fektionen, Entzündungen und Tumore auszuschließen. In den meisten Fällenführen diese Untersuchungen allerdings nur zu Ausschlußdiagnosen, dasheißt ich kann danach die – allerdings ungeheuer wichtige – Aussage machen,daß eben keine Infektion vorliegt und kein Knochentumor. Eine klare Ursa-che für die Funktionsstörung, das heißt für den chronischen Rückenschmerz,werde ich in aller Regel nicht finden. In diesem Fall werde ich also mein

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Hauptaugenmerk darauf richten, nicht die Diagnostik bis an die Grenzenauszureizen, sondern erst einmal versuchen, mit möglichst einfachen undwenig belastenden Mitteln „den Schaden zu beheben.“ Sollte ich damit Er-folg haben, genügt unter Umständen eine Kontrolluntersuchung, bzw. dieAufforderung an den Patienten, sich bei wieder auftretenden Beschwerden er-neut vorzustellen. Eine „komplette Diagnostik“ von A-Z ist in den allermei-sten Fällen nicht erforderlich. Abgesehen davon, daß es unter Fachleuten garkeinen Konsens darüber gibt, was eine solche komplette Diagnostik umfas-sen sollte, wäre sie einfach unbezahlbar.Die Strategie ist also im Grunde genommen ganz einfach: grobe Untersu-chung der Hardware, Ausschluß ungewöhnlicher aber sehr wichtiger Ursa-chen für chronischen Rückenschmerz wie z. B. Entzündung, Infektionen,Tumor, sodann erste Therapieversuche und Erfolgskontrolle. Sollte dies zukeiner Besserung der Beschwerden führen, müßten dann Therapie und gege-benenfalls weiterführende Diagnostik stufenweise fortgesetzt werden.Dieses Computermodell stimmt übrigens auch in etwa mit den Gedanken dermodernen Schmerzforschung überein. Seit einigen Jahren zeichnet sich näm-lich international eine Tendenz ab, die Schmerztherapie übergeordnet überdie einzelnen medizinischen Fachdisziplinen als eigenständige Wissenschaftzu etablieren. Dabei steht in erster Linie der chronische Schmerz im Zentrumdes Interesses.

Das Drei-Ebenen-Modell

Die moderne Schmerzforschung hat gezeigt, daß „chronische Schmerzen“etwas ganz anderes sind als „akute Schmerzen“, die nur etwas länger dauern.Bei akuten Schmerzen läßt sich beispielsweise eine mehr oder weniger einfa-che und klare Beziehung herstellen zwischen der schmerzauslösenden Ursa-che und dem empfundenen Schmerz.Nehmen wir ein konkretes Beispiel:Angenommen, ich kneife 5 verschiedene Testpersonen mit derselben Stärkein den linken Unterarm an dieselbe Stelle, was kann ich erwarten?1. Alle Testpersonen würden in dem Augenblick einen Schmerz verspüren,indem ich zukneife.2. Der Schmerz würde sofort nachlassen (wenngleich nicht völlig verschwin-den), sobald ich wieder loslasse.3. Je stärker ich zukneife, desto stärker ist der Schmerz.4. Aufgrund unterschiedlicher Schmerzempfindlichkeiten wäre allerdings dersubjektiv empfundene Schmerz bei gleicher Reizstärke bei jedem wieder un-terschiedlich. Selbst bei ein und derselben Testperson käme es an unter-

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schiedlichen Tagen zu unterschiedlichen Schmerzangaben bei gleichem Reiz(wenn wir gut gelaunt und optimistisch gestimmt sind, empfinden wirSchmerzen viel weniger unangenehm oder gar bedrohlich, als wenn wir inWeltuntergangsstimmung sind)!Akuter Schmerz wird also nicht von jedem immer gleich empfunden. Trotz-dem besteht eine relativ enge Beziehung zwischen dem Schmerzreiz und demSchmerzempfinden: Je stärker der Reiz desto größer die Schmerzempfin-dung.Bereits aber beim akuten Schmerz – und erst recht beim chronischen! – kannman stark vereinfacht drei separate Ebenen unterscheiden:1. die Schmerzempfindung (Peripherie)2. die Schmerzweiterleitung und Schmerzverarbeitung (Rückenmark, Gehirn)3. die Schmerzbewertung (Gehirn).Um die Bedeutung der 3. Ebene besser zu erklären, möchte ich ein Beispielaus einem anderen Bereich der Sinnesphysiologie heranziehen:Angenommen, Sie hören eine Minute lang „Geräusche“, so gilt doch, jehöher die Schwingungsamplitude der Geräusche, desto lauter hören Sie sie(1. und 2. Ebene). Je stärker also der physikalische Reiz, desto stärker wird erauch von uns wahrgenommen (innerhalb gewisser Grenzen). Ein Mensch miteinem guten Gehör wird diesselben Geräusche lauter hören als ein Schwer-höriger. Die Wahrnehmung alleine sagt allerdings nichts aus über die Gefüh-le, die wir dabei empfinden (3. Ebene).Wenn es sich bei den Geräuschen um Straßenverkehrslärm handelt, so wer-den die meisten das mit sehr unangenehmen Gefühlen verbinden und hoffen,daß der Lärm bald aufhört. Handelt es sich dagegen um eine schöne Musik,so reagieren wir in der Regel sehr positiv und freuen uns darüber. Wenn unsdie Musik allerdings um 3 Uhr in der Frühe aus dem Schlaf holt, ist die Freu-de doch eher getrübt.Wir verknüpfen also in aller Regel mit diesen Reizwahrnehmungen positiveoder negative Gefühle. Diese Gefühle sind von vielen Faktoren abhängig, sievariieren von Mensch zu Mensch und auch innerhalb einer Person von Zeitzu Zeit.Welchen Einfluß hat diese Erkenntnis nun auf unser Schmerzverständnis?Wir können daraus folgern, daß es theoretisch drei Möglichkeiten gibt,Schmerzen zu therapieren:1. Beseitigung der physikalischen Schmerzursache.2. Blockierung der Schmerzpfade (Nerven, Rückenmark, Gehirn) im Körper.3. Positive Beeinflussung der durch den Schmerz ausgelösten Gefühle.In der Medizin werden bei der Behandlung der akuten Schmerzen fast aus-schließlich die ersten beiden Wege beschritten. Der Grund hierfür ist relativeinfach: akute Schmerzen lassen sich meist rasch und zuverlässig durch Me-

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dikamente solange behandeln, bis die Schmerzursache abgeklungen ist. Derdritte Weg der Schmerzbeeinflussung ist dagegen sehr zeitaufwendig und fürTherapeut wie Patient mühsam. Der Erfolg ist nicht sicher vorherzu-sagen. Deshalb greifen wir alle „am Tag danach“ zur Kopfschmerztabletteund versuchen nicht stundenlang, uns selbst davon zu überzeugen, daß derSchmerz ja gar nicht so schlimm ist.Bei chronischen Schmerzen (Schmerzdauer länger als 3 Monate) sieht dieSache anders aus:Hier scheint die physikalische Ursache oft mehr und mehr an Bedeutung zuverlieren. Es besteht keine klare Korrelation mehr zwischen der Intensität desschmerzhaften Reizes einerseits und dem Ausmaß des empfundenen Schmer-zes. Offenbar haben hier „Bahnungen“ auf der Ebene des Rückenmarkesbzw. Gehirnes stattgefunden. Was bedeutet das?Stellen Sie sich einfach einmal eine tiefverschneite Winterlandschaft vormit 1 Meter Neuschnee. Ein Postbote muß sich nun für jeden Brief mühseligvon Haus zu Haus kämpfen. Da ist es doch verständlich, wenn er die er-kennbar unwichtigen Briefe, z. B. Drucksachen mit Reklame, gar nicht aus-liefert.Anders sähe die Sache aus, wenn er an einem Haus vorbeikäme, dessen Zu-gangstraße bestens präpariert wäre und wo schon der Hausherr persönlicham Straßenrand auf ihn und die Post wartet. Da schaut er doch im Zweifels-fall seine ganze Tasche nocheinmal durch, um auf gar keinen Fall auch nurdie unbedeutendste Wurfsendung für den so eifrigen Kunden zu übersehen.Ein akuter Schmerzreiz findet sich in der ersten Situation: er muß mühseligeine Nervenzelle nach der anderen davon überzeugen, daß er so bedeutendist, daß er bis zum Bewußtsein vordringen darf. Dabei versuchen viele Zellen,ihm Steine in den Weg zu legen und sein Vordringen zu verhindern. Einschwacher Reiz schafft es daher oft nicht bis zum Ziel.Ein lange anhaltender Schmerzreiz dagegen trampelt sich seinen Pfad biszum Bewußtsein durch – und sorgt dafür, daß der Pfad offenbleibt! Auf die-sem offenen Weg können nun auch Reize passieren, die eigentlich aufgrundihrer Stärke unterdrückt werden müßten. Selbst schwache Reize können sichnun plötzlich Gehör verschaffen und gewinnen eine Bedeutung, die ihnen ei-gentlich gar nicht zusteht!Stellen Sie sich nun bitte einmal vor, der Postbote steht alle 5 Minuten vorIhrer Tür und will etwas abgeben. Zunächst würden Sie wahrscheinlich sehrungehalten reagieren. Nach einiger Zeit aber wären Sie mürbe und verzwei-felt. Ihr ganzer Tagesablauf würde sich nur noch darauf konzentrieren, stän-dig an die Tür zu gehen und Post abzuholen, die Sie nie haben wollten (ichbitte alle Postbotinnen und Postboten um Nachsicht, daß ausgerechnet siefür mein Schmerzmodell herhalten müssen).

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Bei chronischen Schmerzen gilt die Annahme, daß ein starker Schmerz einenstarken Schmerzreiz signalisiert, nicht! Selbst kleinste Reize (z. B. Wetter-wechsel) können auf den ausgetrampelten Pfaden starke Schmerzen provo-zieren. Darüberhinaus sind diese chronischen Schmerzen immer mit beson-ders negativen Gefühlen behaftet. Während akute Schmerzen zwar von denmeisten Menschen als unangenehm empfunden werden, führen sie doch inder Regel nicht zu Verzweiflung und Depressionen, da der betroffene Patientin der Regel weiß, daß es sich um eine vorübergehende Einschränkung seinerLebensqualität handelt. Chronische Schmerzen dagegen zermürben und ent-ziehen einem jegliche Energie.Bei der Behandlung chronischer Schmerzen ist es daher nicht unbedingt sinn-voll, die Therapie hauptsächlich oder ausschließlich auf die schmerzhafteRegion zu konzentrieren. Oft ist es besser, die ausgetrampelten Pfade zuzu-schütten (Medikamente, Reflextherapien wie APM, Akupunktur, physikali-sche Therapie) und die Verzweiflung anzugehen (Entspannungsverfahren,Schmerzbewältigung, ev. Medikamente).Ich halte es aber auch nicht für richtig, die schmerzhafte Region völlig außeracht zu lassen, wie es manche Schmerztherapeuten in ihrem Übereifer tun,und nur die Schmerzverarbeitung und Schmerzbewertung zu beeinflussen.Die Kunst besteht darin, für jeden einzelnen Patienten den optimalen Weg zufinden und nicht nach einem festen Schema vorzugehen.In den folgenden Kapiteln möchte ich daher etwas detaillierter die einzelnendiagnostischen und therapeutischen Methoden vorstellen, die der Untersu-chung und Behandlung der symtomatischen Region dienen. Im Anschlußdaran spielen wir dann einmal durch, wie das Ganze in einem praktischenBeispiel verknüpft werden könnte.

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