Von Nürnberg nach Den Haag: Lehren aus der Vergangenheit ... · „Internationales Komitee vom...

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Von Nürnberg nach Den Haag: Lehren aus der Vergangenheit - Herausforderungen für die Zukunft Vorgeschichte: Zur Zivilisierung des Krieges Die Bemühungen, die Auswirkungen kriegerischer Auseinandersetzungen zu begrenzen, reichen bis weit in das 19. Jahrhundert zurück. Ein Wendepunkt kam mit den Erfahrungen Henry Dunants in Italien 1859: Über 30.000 Tote und Verwundete waren nach der Schlacht von Solferino nicht versorgt oder beerdigt worden. Zwar bemühte sich Dunant vor Ort um die Verwundeten und Toten, konnte aber nur sehr begrenzt helfen. In der Folge warb er für die Gründung einer neutralen Instanz zur Versorgung von Verwundeten, ein Anliegen, das auf breite Zustimmung stieß. 1863 gegründet, nahm diese Instanz 1876 den Namen „Internationales Komitee vom Roten Kreuz“ (IKRK) an. Schon im August 1864 verabschiedeten zwölf Staaten das erste Genfer Abkommen betreffend die Linderung des Loses der im Felddienst verwundeten Militärpersonen (I. Genfer Konvention). Das Rote Kreuz und die Genfer Konvention hatten allerdings „nur“ die Kriegsfolgen wie Verwundung der Soldaten oder Kriegsgefangenschaft im Blick, nicht die Kriegführung an sich (ius in bello) oder das Recht zum Führen eines Krieges (ius ad bellum). Zehn Jahre später wurde auf der Brüsseler Konferenz (August 1874) auf internationaler Ebene über die „Gesetze und Gebräuche des Krieges“ verhandelt. Zwar trat das Brüsseler Vertragswerk mangels ausreichender Ratifizierungen nicht in Kraft, aber mit dem darauf aufbauenden Vertragswerken, den Haager Abkommen von 1899 und 1907, gelang 25 Jahre später der Durchbruch. In der Haager Landkriegsordnung wurden bestimmte Mittel und Methoden der Kriegsführung verboten, sie kann als ein Versuch gewertet werden, die Kriegsführung selbst zu zivilisieren. Über das Verbot hinaus enthielten diese völkerrechtlichen Verträge jedoch keine Strafandrohungen. Dass diesem Ansatz noch die notwendige Durchsetzungskraft fehlte, zeigte sich nicht zuletzt bei den im Ersten Weltkrieg begangenen Verbrechen sowie deren juristischer Aufarbeitung. Abgesehen davon, dass Kaiser Wilhelm II. trotz der Vorgaben des Versailler Vertrages für die unter seinem Oberkommando verübten Kriegsverbrechen letztlich nicht zur Verantwortung gezogen wurde, wurden über tausend Personen, die verdächtig waren Kriegsverbrechen begangen zu haben, nicht strafrechtlich verfolgt. Von den 17 „Leipziger Prozessen“ von 1921 bis 1927, in denen auf Druck der Alliierten deutsche Kriegsverbrecher bestraft werden sollten, endeten sieben nach fragwürdigen Verfahren vor dem Reichsgericht mit Freisprüchen. 1 Die juristische Aufarbeitung der Verbrechen des Ersten Weltkriegs war 1 Vgl. Hankel, Gerd: Leipziger Prozesse. Hamburg 2003. S. 97ff. und öfters. Vgl. Safferling, Christoph: Lernen von Nürnberg. In: Rechtsgeschichte (RG). Band 14 (2009). S. 150 f.

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  • Von Nürnberg nach Den Haag: Lehren aus der Vergangenheit -

    Herausforderungen für die Zukunft

    Vorgeschichte: Zur Zivilisierung des Krieges

    Die Bemühungen, die Auswirkungen kriegerischer Auseinandersetzungen zu begrenzen,

    reichen bis weit in das 19. Jahrhundert zurück. Ein Wendepunkt kam mit den Erfahrungen

    Henry Dunants in Italien 1859: Über 30.000 Tote und Verwundete waren nach der Schlacht

    von Solferino nicht versorgt oder beerdigt worden. Zwar bemühte sich Dunant vor Ort um die

    Verwundeten und Toten, konnte aber nur sehr begrenzt helfen. In der Folge warb er für die

    Gründung einer neutralen Instanz zur Versorgung von Verwundeten, ein Anliegen, das auf

    breite Zustimmung stieß. 1863 gegründet, nahm diese Instanz 1876 den Namen

    „Internationales Komitee vom Roten Kreuz“ (IKRK) an. Schon im August 1864

    verabschiedeten zwölf Staaten das erste Genfer Abkommen betreffend die Linderung des

    Loses der im Felddienst verwundeten Militärpersonen (I. Genfer Konvention). Das Rote

    Kreuz und die Genfer Konvention hatten allerdings „nur“ die Kriegsfolgen wie Verwundung

    der Soldaten oder Kriegsgefangenschaft im Blick, nicht die Kriegführung an sich (ius in bello)

    oder das Recht zum Führen eines Krieges (ius ad bellum).

    Zehn Jahre später wurde auf der Brüsseler Konferenz (August 1874) auf internationaler

    Ebene über die „Gesetze und Gebräuche des Krieges“ verhandelt. Zwar trat das Brüsseler

    Vertragswerk mangels ausreichender Ratifizierungen nicht in Kraft, aber mit dem darauf

    aufbauenden Vertragswerken, den Haager Abkommen von 1899 und 1907, gelang 25 Jahre

    später der Durchbruch. In der Haager Landkriegsordnung wurden bestimmte Mittel und

    Methoden der Kriegsführung verboten, sie kann als ein Versuch gewertet werden, die

    Kriegsführung selbst zu zivilisieren. Über das Verbot hinaus enthielten diese

    völkerrechtlichen Verträge jedoch keine Strafandrohungen.

    Dass diesem Ansatz noch die notwendige Durchsetzungskraft fehlte, zeigte sich nicht zuletzt

    bei den im Ersten Weltkrieg begangenen Verbrechen sowie deren juristischer Aufarbeitung.

    Abgesehen davon, dass Kaiser Wilhelm II. trotz der Vorgaben des Versailler Vertrages für

    die unter seinem Oberkommando verübten Kriegsverbrechen letztlich nicht zur

    Verantwortung gezogen wurde, wurden über tausend Personen, die verdächtig waren

    Kriegsverbrechen begangen zu haben, nicht strafrechtlich verfolgt. Von den 17 „Leipziger

    Prozessen“ von 1921 bis 1927, in denen auf Druck der Alliierten deutsche Kriegsverbrecher

    bestraft werden sollten, endeten sieben nach fragwürdigen Verfahren vor dem Reichsgericht

    mit Freisprüchen.1 Die juristische Aufarbeitung der Verbrechen des Ersten Weltkriegs war

    1 Vgl. Hankel, Gerd: Leipziger Prozesse. Hamburg 2003. S. 97ff. und öfters. Vgl. Safferling, Christoph: Lernen von

    Nürnberg. In: Rechtsgeschichte (RG). Band 14 (2009). S. 150 f.

  • damit gescheitert. Dass eine nationale – in diesem Falle deutsche – Strafverfolgung sich als

    ungeeignet und unzureichend erwiesen hatte, war ein Grund dafür, dass nach dem Zweiten

    Weltkrieg die Alliierten selbst die Verfolgung der deutschen Kriegsverbrechen übernahmen.2

    Der Zweite Weltkrieg

    Das Internationale Militärtribunal: Der Nürnberger Prozess

    Spätestens seit Oktober 1941 erwogen die Alliierten, die von Deutschland und Japan

    begangenen Kriegs- und Menschheitsverbrechen strafrechtlich zu verfolgen.3 Zur

    Vorbereitung entsprechender Verfahren wurde am 20. Oktober 1943 die United Nations War

    Crimes Commission (UNWCC) in London gegründet.4 Zehn Tage später, am 30. Oktober

    1943, erklärten die Alliierten die Verfolgung von Kriegsverbrechen mit der Moskauer

    Deklaration zum Kriegsziel. Es wurde festgelegt, dass Kriegsverbrecher an diejenigen

    Staaten auszuliefern seien, in denen die Verbrechen begangen worden waren. Unbeschadet

    dessen, behielten sich die Alliierten vor, die deutschen Verbrechen, die nicht ortsgebunden

    begangen wurden, auf der Grundlage einer gemeinsamen Entscheidung der Siegermächte

    zu bestrafen.5 Konkret besprochen wurde die Verfolgung der Hauptkriegsverbrecher auf der

    Londoner Konferenz ab dem 26. Juni 1945.6 Mit dem dort am 8. August 1945 beschlossenen

    Statut des Internationalen Militärtribunals (IMT) gelang der Konferenz der Durchbruch für die

    Verfolgung der deutschen Hauptkriegsverbrecher, die Konstituierung des IMT und ein

    historisches Dokument von weitreichender Bedeutung. Nach dem Statut sollte das IMT

    „zwecks gerechter und schneller Aburteilung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der

    europäischen Achse gebildet werden.“7 Angeklagt werden sollten Verbrechen gegen den

    Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.8

    Das Internationale Militärtribunal war von der Idee getragen, mit der strafrechtlichen

    Verfolgung dieser Verbrechen auf der Grundlage eines rechtsstaatlichen Verfahrens einen

    Beitrag zur Sicherung der Menschenrechte und des Friedens zu leisten. Durch die

    strafrechtliche Verfolgung des Angriffskrieges sollte das Verbot des Kriegs als Fortsetzung

    der Politik mit anderen Mitteln effektiver werden.

    2 Der US-amerikanische Chefankläger Justice Robert H. Jackson führte dieses Scheitern in seiner Nürnberger

    Eröffnungsrede ausdrücklich zur Begründung der Einrichtung des Internationalen Militärtribunals an. 3 Vgl. u.a. Safferling, Christoph: Lernen von Nürnberg. In: Rechtsgeschichte (RG). Band 14 (2009). S. 151.

    4 Vgl. United Nations War Crimes Commission: History of the United Nations War Crimes Commission and the

    Development of the Laws of War. London 1947. S. 112 ff. insbes. 119. Die Sowjetunion allerdings war wegen Auseinandersetzung über die Beteiligung einzelner Sowjetrepublik nicht Mitglied der UNWCC geworden. Vgl. ebenda. S.158f. 5 Moscow Conference, Joint Four-Nation Declaration vom 30. Oktober 1943, Abschnitt Statement on Atrocities.

    Mit ausdrücklichem Bezug auf die Moskauer Deklaration rief die UN-Resolution 3/I vom 13. Februar 1945 zu entsprechenden Auslieferungen auf. Zwar war die Frage der Verfolgung von Kriegsverbrechern sowohl bei der Teheraner Konferenz (Dezember 1943) als auch bei der Konferenz von Jalta (Februar 1945) Thema, jedoch wurde dort sachlich nichts Entscheidendes beschlossen. 6 Vgl. Jackson, Robert H.: International Conference on Military Trials. London 1945.

    7 Art. 1 IMT Statut.

    8 Art. 6 IMT Statut.

  • Am 18. Oktober 1945 wurde mit der Entgegennahme der Anklageschrift durch das Tribunal

    das Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher in Berlin eröffnet.9 Angeklagt wurden 24

    hochrangige Repräsentanten und sieben Organisationen des NS-Regimes.10 Das Verfahren

    selbst fand in Nürnberg statt. Die am 21. November 1945 dort gehaltene Eröffnungsrede des

    Chefanklägers der USA beim IMT, Robert H. Jackson, ist bis heute eine bedeutende

    Erklärung zur Verfolgung von Kriegsverbrechern. Wie bereits erwähnt, wies Jackson schon

    zu Beginn seiner Rede darauf hin, dass der Prozess notwendig sei, um eine Wiederholung

    der Untaten des Nazi-Regimes zu verhindern:

    „Mit dieser gerichtlichen Untersuchung wollen [...] vier der mächtigsten

    Nationen, unterstützt von weiteren siebzehn Nationen, praktisch das

    Völkerrecht nutzbar machen, der größten Drohung unserer Zeit

    entgegenzutreten: dem Angriffskrieg. Die Vernunft der Menschheit verlangt,

    daß das Gesetz sich nicht genug sein läßt, geringfügige Verbrechen zu

    bestrafen, die sich kleine Leute zuschulden kommen lassen. Das Gesetz muß

    auch die Männer erreichen, die eine große Macht an sich reißen und sich ihrer

    mit Vorsatz und in gemeinsamem Ratschlag bedienen, um ein Unheil

    hervorzurufen, das kein Heim der Welt unberührt läßt.“11

    Das Ende der Straflosigkeit als Gebot der Vernunft und als zwingende normative Grundlage

    jeder in die Zukunft gerichteten Ordnung der Völkergemeinschaft nahm für Jackson eine

    zentrale Stellung auch über das aktuelle, gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher

    gerichtete Verfahren hinaus ein:

    „Dieses Gesetz wird hier zwar zunächst auf deutsche Angreifer angewandt, es

    schließt aber ein und muß, wenn es von Nutzen sein soll, den Angriff jeder

    anderen Nation verdammen, nicht ausgenommen die, die jetzt hier zu Gericht

    sitzen. Wir können im Innern Gewaltherrschaft, Willkür, Zwang und Überfall

    derer, die gegen die Rechte ihres eigenen Volkes an der Macht sind, nur

    beseitigen, wenn wir jedermann vor dem Gesetz verantwortlich machen.

    Dieser Prozeß ist der verzweifelte Versuch der Menschheit, die Strenge des

    Gesetzes auf die Staatsmänner anzuwenden, die ihre Macht im Staate

    9 Vgl. Internationaler Militärgerichtshof: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen

    Militärgerichtshof. Amtliche Sammlung. Band 1, Nürnberg 1947. (im Folgenden: IMT Bd. 1). S. 26 ff. 10

    Vgl. IMT Bd. 1. S. 30 ff., 45 f., 46 ff. und 70 ff. Angeklagt wurden Hermann Göring, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel, Ernst Kaltenbrunner, Alfred Rosenberg, Hans Frank, Wilhelm Frick, Julius Streicher, Walter Funk, Hjalmar Schacht, Karl Dönitz, Erich Raeder, Baldur von Schirach, Fritz Sauckel, Alfred Jodl, Franz von Papen, Arthur Seyß-Inquart, Albert Speer, Konstantin von Neurath und Hans Fritzsche. Angeklagt waren weiterhin Robert Ley (Suizid am 25. Oktober 1945, also vor Verhandlungsbeginn), Martin Bormann (gegen den in Abwesenheit verhandelt wurde) und Gustav Krupp von Bohlen und Halbach (wegen Krankheit prozessunfähig). Die angeklagten Organisationen und Institutionen waren das Reichskabinett, das Korps der Politischen Leiter der NSDAP, die SS, der SD, die SA, die Gestapo und das OKW (inklusive dem Generalstab). Vgl. IMT Bd. 1. S. 29. 11

    Vgl. IMT Bd. 2. S. 115.

  • benutzt haben, die Grundlagen des Weltfriedens anzugreifen und die

    Hoheitsrechte ihrer Nachbarn durch Übergriff und Überfall zu verletzen.“12

    Da der Zweite Weltkrieg kaum Neutrale hinterlassen habe, so Jackson, sei es Aufgabe der

    Siegermächte, die Verbrechen des NS-Regimes zu verfolgen – wolle man dies nicht, wie

    nach dem Ersten Weltkrieg, den Besiegten selbst überlassen.13 Jackson war klar, dass dem

    Nürnberger Prozess in Zukunft weitere Prozesse gegen völkerrechtliche Verbrechen folgen

    würden, die sich an den Maßgaben von Nürnberg orientieren würden:

    „Denn wir dürfen niemals vergessen, daß nach dem gleichen Maß, mit dem

    wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte

    gemessen werden. Diesen Angeklagten einen vergifteten Becher reichen,

    bedeutet, ihn an unsere eigenen Lippen zu bringen.“14

    Sollte es beim Hauptkriegsverbrecherprozess von Nürnberg bleiben, so impliziert Jackson,

    mache sich nicht nur die Staatengemeinschaft unglaubwürdig, sondern auch das IMT selbst,

    werde delegitimiert.15

    Nicht nur Jackson, sondern wohl die meisten am Prozess Beteiligten waren sich der

    Bedeutung des Nürnberger Verfahrens bewusst. Jedoch formulierte Jackson dies in seiner

    Eröffnungsrede am deutlichsten. Bezogen auch auf vorbereitende Dokumente und

    Beschlüsse wie die Moskauer Deklaration oder das IMT-Statut, ergab sich für Jackson die

    historische Bedeutung des Nürnberger Prozesses aus folgenden Aspekten:

    Mit dem Nürnberger Prozess werde erstmalig wegen schwerer völkerrechtlicher Verbrechen

    (Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die

    Menschlichkeit) gegen Individuen verhandelt.16

    Ebenfalls würden erstmalig (hochrangige) Vertreter eines Staates, von dem völkerrechtliche

    Verbrechen ausgegangen waren, angeklagt. Ein Abwälzen der Verantwortung auf den

    „Staat“ sei damit unmöglich gemacht worden, Immunität qua Amt sei kein

    Strafausschlussgrund mehr.17

    Der Prozess sei das erste Verfahren, in dem, vor allem strafprozessual, Elemente

    verschiedener Rechtssysteme zum Tragen kämen.18

    12

    Vgl. IMT Bd. 2. S. 182. 13

    Vgl. IMT Bd. 2. S. 118. 14

    Vgl. IMT Bd. 2. S. 118. 15

    Vgl. IMT Bd. 2. S. 183 u.ö. 16

    Vgl. IMT Bd. 2. S. 115. 17

    Vgl. IMT Bd. 2. S. 177. 18

    Vgl. IMT Bd. 2. S. 180.

  • Der Prozess diene der Implementierung jener Rechtssetzung der internationalen Politik, mit

    der perspektivisch Krieg überhaupt kriminalisiert werden sollte.19

    Im Gegensatz zu denkbarer und im Vorfeld teils auch diskutierter Rache- und Lynchjustiz

    finde eine strafrechtliche Verfolgung mittels eines rechtsstaatlichen Verfahrens statt, was

    auch als Beitrag zur Sicherung der Menschenrechte nicht zuletzt der Angeklagten gewertet

    werden müsse.20

    Im Kern ging es also darum: Durch Verfolgung der völkerrechtlichen Straftatbestände durch

    ein internationales Strafgericht sollte das Völkerrecht zu einer wirksamen und verlässlichen,

    auf der Grundlage rechtsstaatlicher Verfahren funktionierenden Rechtsordnung ausgebaut

    werden.

    Mit den Urteilssprüchen vom 1. Oktober 1946 wurden drei Angeklagte freigesprochen,21

    sieben zu Freiheitsstrafen zwischen zehn Jahren und lebenslang und zwölf der 22

    Angeklagten zum Tod durch den Strang verurteilt.22

    Trotz aller Bemühungen um ein rechtsstaatliches Verfahren, trotz der Dimensionen der

    verfolgten Verbrechen und trotz mangelnder Alternativen: Unumstritten war auch der

    Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess nicht. Schon während des Verfahrens kritisierte

    vor allem die Verteidigung den Prozess als „Siegerjustiz“. Kritik richtete sich in diesem

    Zusammenhang beispielsweise gegen die überwiegend aus Vertretern der Alliierten

    zusammengesetzten Kammern und Anklagevertretung. Vielfach wurde auch die angebliche

    Verletzung des Grundsatzes nullum crimen sine lege gerügt, da bis dato ungeklärt gewesen

    sei, ob die strafrechtliche Verantwortung für die unter die Jurisdiktion der IMT fallenden

    Tatbestände völkerrechtlich anerkannt war.23 Weiterhin wurde die Regelung der

    Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe im IMT-Statut kritisiert. Art. 8 des Statuts sah

    vor, dass das Handeln auf Befehl zwar keinen Strafausschluss, jedoch eine Strafmilderung

    begründen konnte. Dadurch werde dem Angeklagten die Berufung auf einen

    „Befehlsnotstand“ als Ausdruck seiner aussichtslosen Lage verwehrt. Ein weiterer Kritikpunkt

    betraf den Umgang mit Organisationsverbrechen, da die mögliche Verurteilung aufgrund der

    Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation mit dem Grundsatz der

    Individualverantwortlichkeit, normiert in Art. 6 des Statuts, unvereinbar sei, wenn bereits die

    reine Mitgliedschaft eine unwiderlegliche Vermutung der Teilnahme an den verbrecherischen

    19

    Vgl. IMT Bd. 2. S. 183. 20

    Vgl. IMT Bd. 2. S. 119. Siehe hierzu auch die Bemerkungen des US-amerikanischen Kriegsministers Henry L. Stimson zu einer möglichen summarischen Bestrafung der NS-Täter. Vgl. Weinke, Annette: Die Nürnberger Prozesse. München 2006. S. 58. Zu Racheplänen von Opfern des NS-Regimes an NS-Tätern vgl. Tobias, Jim G. / Zinke, Peter: Nakam. Berlin 2003. 21

    Vgl. IMT Bd. 1. S. 350, 370 und 383. 22

    Vgl. IMT Bd. 1. S. 412 f. 23

    Vgl. Eser, Albin: Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg aus deutscher Perspektive. In: Reginbogin, Herbert R. / Safferling, Christoph J.M. (Hg.): Die Nürnberger Prozesse. München 2006. S. 55 f.

  • Taten der Organisation darstelle. Weitere Defizite, so die Kritiker, zeigten sich im Hinblick auf

    die Verteidigung der Angeklagten. So sei der Verteidigung nicht nur weniger Zeit zur

    Vorbereitung gegeben, sondern auch nur ein Teil der Akten, auf die die Anklage

    zurückgreifen konnte, zur Verfügung gestellt worden24. Diese Situation habe die

    „Waffengleichheit“ der Parteien in Frage gestellt.25 Doch auch im größeren Zusammenhang

    zeigten sich Widersprüche, und die Kritik am Nürnberger Verfahren entzündete sich nicht

    zuletzt am Ausschluss von Fragen zu Vorwürfen gegen die Alliierten, beispielsweise wegen

    der Flächenbombardierung deutscher Städte durch britische und US-amerikanische

    Bomberverbände, der Ermordung polnischer Offiziere in Katyn durch die Rote Armee oder

    des vom französischen Militär verübten Massakers im algerischen Setif im Mai 1945.26

    Gerade die letztgenannten Kritikpunkte verweisen auf ein grundlegendes Problem des

    Nürnberger Prozesses, das sich daraus ergab, dass die rechtlichen Prinzipien und

    Maßstäbe, die das Nürnberger Verfahren leiteten, zwar universalistisch und menschheitlich

    begründet wurde, in der Folgezeit aber keine internationale und allgemeine Verbindlichkeit

    erhielten.27

    Das International Military Tribunal for the Far East: Der Tokioter Prozess

    Ein dem Nürnberger IMT vergleichbarer Prozess fand mit dem International Military Tribunal

    for the Far East (IMTFE) für den pazifischen Kriegsraum des Zweiten Weltkrieges zwischen

    dem 3. Mai 1946 und 12. November 1948 in Tokio statt. Allerdings bestanden zwischen dem

    IMT und dem IMTFE bedeutende Unterschiede. Der Oberbefehlshaber der alliierten Truppen

    im Pazifik, US-General Douglas MacArthur, übte großen Einfluss auf das Gericht und das

    Verfahren aus: Er setzte das von der Anklagebehörde erarbeitete Statut sowie das Gericht

    per Anordnung ein und hatte die Urteile zu bestätigen sowie deren Vollzug anzuordnen.28 Die

    Auswahl der elf Richter war insofern problematisch, als mit Ausnahme des indischen

    Richters kein Richter Erfahrung im Völkerrecht hatte, und weder der französische noch der

    sowjetische Richter die Sprachen des Gerichts – Japanisch und Englisch – verstanden.

    Außerdem muss die Neutralität des philippinischen Richters, der selbst ein japanisches

    Massaker überlebt hatte, und des australischen Vorsitzenden Richters, der zuvor für seine

    Regierung einen Bericht über japanische Kriegsverbrechen verfasst hatte, angezweifelt

    24

    Vgl. Mangold, Christoph: Die völkerstrafrechtliche Verfolgung von Individuen durch internationale Strafgerichtshöfe. Frankfurt/M. 2007. S. 22. 25

    Vgl. Safferling, Christoph / Graebke, Philipp: Strafverteidigung im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW), Bd. 123 (2011). S. 73 ff. 26

    Vgl. u.a. Echternkamp, Jörg: Nach dem Krieg. Zürich 2003. S. 170 und Weinke, Annette: Die Nürnberger Prozesse. München 2006. S. 56 f. 27

    Vgl. Weinke, Annette: Die Nürnberger Prozesse. München 2006. S. 57. 28

    Vgl. Osten, Philipp: Tokioter Kriegsverbrecherprozess und die japanische Rechtswissenschaft. Berlin 2003. S. 52, 70 u.ö. Diese Kompetenzen erinnern an die Rolle des Gerichtsherrn oder Confirming Officer, die in der Militärjustiz westlicher Armeen gängig waren. Insofern war das IMTFE viel näher an einem gängigen Militärgericht, als der IMT.

  • werden.29 Weil zudem das Gericht über Beweisanträge der Verteidigung restriktiver als über

    solche der Anklage entschied,30 muss es fraglich erscheinen, ob es sich in Tokio um ein

    faires und akzeptables Verfahren handelte.

    Auch die Nichtverfolgung des in Japan bis 1945 gottgleich verehrten Tennō Hirohito stellte

    die Prämisse, alle Verbrecher, auch Staatsoberhäupter, wegen schwerer

    Völkerrechtsverbrechen verfolgen zu wollen, in Frage. Wenn es auch kurzfristig sinnvoll

    gewesen sein mag, Hirohito zum Bannerträger der zu errichtenden Demokratie in Japan zu

    machen, langfristig hat diese Nichtverfolgung in Japan sowohl der Akzeptanz des IMTFE als

    auch der Glaubwürdigkeit des Anspruchs die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen

    geschadet.31 Ähnliches gilt auch für die unter dem Aspekt des fairen Verfahrens zum Teil

    problematischen nachgeordneten Prozesse32 sowie für die Entlassungspolitik der

    japanischen Regierung nach dem Friedensvertrag von 1952, die dazu führte, dass bis Ende

    1958 alle Kriegsverbrecher entlassen worden waren. Mit Mamuro Shigemitsu, der vom

    IMTFE zu sieben Jahren Haft verurteilt worden war, übernahm ein verurteilter

    Kriegsverbrecher sogar ein Ministeramt.33 „Vor diesem Hintergrund“, resümiert Philipp Osten,

    „breitete sich ab Mitte der 1950er Jahre eine Sichtweise des Tokioter Prozesses als

    kurzatmige Siegerjustiz aus, das Opferbewusstsein in der japanischen Bevölkerung nahm

    zu.“34

    Trotz ihrer bedeutsamen Stellung in der Geschichte des Völkerstrafrechts agierten sowohl

    das Nürnberger IMT als auch das IMTFE in einem Spannungsfeld zwischen politischer und

    juristischer Legitimation und der moralischen Verantwortung der Alliierten, die Verbrechen

    der Achsenmächte juristisch aufzuarbeiten. Die Tribunale von Nürnberg und Tokio waren

    wichtige Schritte in der Entwicklung des Völkerstrafrechts und der Bemühungen gegen die

    Straflosigkeit von Makroverbrechen. Die Probleme und Defizite dieser Verfahren ändern

    daran nichts.

    Kontrollratsgesetz Nr. 10 – die nationale Seite der Strafverfolgung

    Die etwa 15.000 Verfahren, die vor nationalen Gerichten weltweit wegen Kriegsverbrechen

    während des Zweiten Weltkriegs durchgeführt wurden, hatten insbesondere in Deutschland,

    aber auch in einigen anderen europäischen Staaten, das Kontrollratsgesetz Nr. 10 (KRG 10)

    zur Grundlage. Dieses Gesetz war das Äquivalent zum IMT-Statut für die nationalstaatliche

    Verfolgung der entsprechenden völkerrechtlichen Straftatbestände. Verabschiedet am 20.

    29

    Vgl. Boister, Neil / Cryer, Robert: The Tokyo International Military Tribunal. Oxford 2008. S. 83 f. 30

    Vgl. Boister, Neil / Cryer, Robert: The Tokyo International Military Tribunal. Oxford 2008. S. 104 f. 31

    Vgl. Osten, Philipp: Tokioter Kriegsverbrecherprozess und die japanische Rechtswissenschaft. Berlin 2003. S. 105ff. 32

    Vgl. Osten, Philipp: Tokioter Kriegsverbrecherprozess und die japanische Rechtswissenschaft. Berlin 2003. S. S. 25. 33

    Vgl. Boister, Neil / Cryer, Robert: The Tokyo International Military Tribunal. Oxford 2008. S. 252 und 317. 34

    Osten, Philipp: Tokioter Kriegsverbrecherprozess und die japanische Rechtswissenschaft. Berlin 2003. S. 124.

  • Dezember 1945, griff es in Artikel 2 Abs. 1 lit. d die Tätigkeit des IMT insofern ausdrücklich

    auf, als die Mitgliedschaft zu einer vom IMT als „verbrecherisch“ qualifizierten Organisation

    kriminalisiert wurde. Auch das in Artikel 7 des IMT-Statuts geregelte Verbot einer

    strafrechtlichen Immunität für Staatsoberhäupter wurde übernommen.35

    Angewandt wurde dieses Gesetz nicht zuletzt in den Nürnberger Nachfolgeprozessen. Vor

    allem der Ärzteprozess (1946/47) hatte nachhaltige Bedeutung. In diesem Prozess wurde

    wegen Menschenversuchen in Konzentrationslagern, Euthanasiemorden und anderer

    Verbrechen gegen insgesamt 24 Ärzte und andere an solchen Verbrechen Beteiligte

    Anklage erhoben. Sieben Ärzte wurden am 20. August 1947 zum Tode durch den Strang

    verurteilt und am 2. Juni 1948 hingerichtet. Im Urteil formulierte das Gericht bis heute

    geltende medizinethische Grundsätze für die Durchführung medizinischer und

    psychologischer Experimente, die vor allem auf die Freiwilligkeit der Teilnahme und die

    Verpflichtung zur geringstmöglichen Schädigung der Teilnehmer abzielen.36 Diese als

    „Nürnberger Kodex“ bekannt gewordenen Richtlinien stellen eines der anhaltend wirksamen

    Ergebnisse der Nürnberger Nachfolgeprozesse dar.37 Das KRG 10 wurde auch in den

    „Dachauer Prozessen“ (US-Zone), in einigen Prozessen in Rastatt und Baden-Baden

    (französische Zone), in den Curiohaus-Prozessen in Hamburg (britische Zone) und vom

    Obersten Gerichtshof für die britische Zone angewandt.38 In der US-Zone wurde über die

    Angeschuldigten später in aller Regel von den Spruchkammern auf Grundlage des

    Befreiungsgesetzes vom 5. März 1946 geurteilt. Auch wenn die große Mehrheit der in der

    Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR verfolgten Kriegsverbrecher nach

    Gesetzen der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) verfolgt wurden, so

    sind dort auch mehr als 120 Kriegsverbrecher nach dem KRG 10 verurteilt worden.39

    Es bleibt festzuhalten, dass die Zweigliedrigkeit von internationaler und nationaler

    Strafverfolgung schwerer Völkerrechtsverbrechen im besetzten Deutschland umgesetzt

    35

    Vgl. Art. 2 Abs. 4 KRG 10. Vgl. auch Werle, Gerhard: Bestrafung von NS-Unrecht in Westdeutschland. In: Marxen, Klaus / Koichi, Miyazawa / Werle, Gerhard (Hg.): Der Umgang mit Kriegs- und Besatzungsunrecht in Japan und Deutschland. Berlin 2001. S. 139. 36

    Vgl. Wortportokoll des Nürnberger Ärzteprozesses, S. 11587. Veröffentlicht in Dörner, Klaus / Ebbingshaus, Angelika / Linne Karsten (Hg.): Der Nürnberger Ärzteprozeß 1946/47. (Mikrofiche-Edition) München 1999. Fiche 122. 37

    Vgl. Eckart, Wolfgang U.: Fall 1: Der Nürnberger Ärzteprozeß. In: Ueberschär, Gerd R. (Hg.): Der Nationalsozialismus vor Gericht. 2. Aufl. Frankfurt/M. 2000. S. 73 ff., insbes. S. 75 und 83, sowie und Ebbinghaus, Angelika: Einleitung. In: Dörner, Klaus / Ebbingshaus, Angelika / Linne Karsten (Hg.): Der Nürnberger Ärzteprozeß 1946/47. München 2000. S. 68 f. 38

    Vgl. u.a. Ostendorf, Heribert: Die Bedeutung der Nürnberger Prozesse für die Strafverfolgung von Kriegsverbrechen durch die UN. In: Ueberschär, Gerd R. (Hg.): Der Nationalsozialismus vor Gericht. 2. Aufl. Frankfurt/M. 2000. S. 264 ff. 39

    Vgl. Wentker, Hermann: Justiz in der SBZ / DDR 1945-1953. München 2001. S. 400, sowie und Marxen, Klaus: Bestrafung von NS-Unrecht in Ostdeutschland. In: Derselbe / Koichi, Miyazawa / Werle, Gerhard (Hg.): Der Umgang mit Kriegs- und Besatzungsunrecht in Japan und Deutschland. Berlin 2001. S. 162.

  • wurde, das für die nationale Ebene vorgesehene KRG 10 aber nur in der britischen

    Besatzungszone konsequent angewandt wurde.40

    Seit Beginn der 1950er Jahre fanden keine größeren Verfahren wegen NS-Verbrechen mehr

    statt. Die internationale Strafgerichtsbarkeit war nach dem Ende des IMT aus dem

    Handlungsbereich der internationalen Staatengemeinschaft geraten. Die Verfahren der

    Alliierten, inklusive der Entnazifizierungsverfahren, waren weitgehend beendet, und die

    deutsche Strafjustiz beschäftigte sich in aller Regel mit einzelnen oder nachgeordneten

    Verbrechen, nicht aber mit größeren zusammenhängenden Verbrechenskomplexen. Erst der

    Ulmer-Einsatzgruppenprozess, der mit dem am 29. August 1958 verkündeten Urteil beendet

    wurde, machte auch der Öffentlichkeit klar, dass viele Verbrechenskomplexe, die

    systematische und sachkundige Ermittlungsarbeiten erfordern würden noch nicht in den

    Fokus der Justiz gerückt waren. Vor diesem Hintergrund wurde in der Bundesrepublik die

    „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer

    Verbrechen“ in Ludwigsburg gegründet.41 Auch die folgenden, in diesem Zusammenhang

    bedeutenden Verfahren, wie z.B. der Frankfurter Ausschwitzprozess (1963-65) oder der

    Düsseldorfer Majdanek-Prozess (1975-81) fanden vor deutschen Landgerichten, also

    nationaler in Gerichtsbarkeit statt.

    Die Festschreibung globaler Standards durch die Nürnberger Prinzipien

    Auf internationaler Ebene hatte das IMT-Statut von 1945 anfänglich große Bedeutung

    erlangt. Das von den vier alliierten Siegermächten abgeschlossene Londoner Abkommen

    wurde bei Prozessbeginn in Nürnberg von insgesamt 19 weiteren Staaten aller Kontinente

    unterstützt.42 Schon damit wird deutlich, dass das im Nürnberger Prozess vertretene

    Anliegen völkerrechtliche Verbrechen zu ahnden, für weit mehr Staaten als nur die vier

    Siegermächte von Bedeutung war. 23 der 51 Gründungsstaaten der Vereinten Nationen

    unterstützten das IMT. Die UN-Generalversammlung bekräftigte mit der Resolution 95/I vom

    11. Dezember 1946 die durch das Statut des IMT aufgestellten Prinzipien des internationalen

    Strafrechts und beauftragte mit Resolution 177 vom 21. November 1947 die neu gegründete

    International Law Commission (ILC) der Vereinten Nationen mit der Ausformulierung der

    Nürnberger Prinzipien. Die von der ILC der UN-Generalversammlung 1950 schließlich

    vorgelegten Prinzipien tragen den Titel „Nürnberg Principles“:

    40

    Dort wurden über 27.000 Verfahren von den Spruchgerichten durchgeführt. Vgl. Römer, Sebastian: Mitglieder verbrecherischer Organisationen. Frankfurt/M. 2005. S. 25. 41

    Vgl. Weinke, Annette: Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Darmstadt 2008. S. 10 ff. 42

    Das sind Griechenland, Dänemark, Jugoslawien, die Niederlande, Tschechoslowakei, Polen, Belgien, Äthiopien, Australien,Honduras, Norwegen, Panama, Luxemburg, Haiti, Neuseeland, Indien, Venezuela, Uruguay und Paraguay. Vgl. die Anmerkung zu Artikel 5 des Londoner Abkommens in: IMT Bd. 1. S. 8 und Safferling, Christoph: Lernen von Nürnberg. In: Rechtsgeschichte (RG). Band 14 (2009). S. 149, Anm. 9. Darauf geht auch Jackson in seiner Eröffnungsrede ein: vgl. IMT Bd. 2. S. 115.

  • “Principle I

    Any person who commits an act which constitutes a crime under international

    law is responsible therefore and liable to punishment.

    Principle II

    The fact that internal law does not impose a penalty for an act which

    constitutes a crime under international law does not relieve the person who

    committed the act from responsibility under international law.

    Principle III

    The fact that a person who committed an act which constitutes a crime under

    international law acted as Head of State or responsible Government official

    does not relieve him from responsibility under international law.

    Principle IV

    The fact that a person acted pursuant to order of his Government or of a

    superior does not relieve him from responsibility under international law,

    provided a moral choice was in fact possible to him.

    Principle V

    Any person charged with a crime under international law has the right to a fair

    trial on the facts and law.

    Principle VI

    The crimes hereinafter set out are punishable as crimes under international

    law:

    (a) Crimes against peace:

    (i) Planning, preparation, initiation or waging of a war of aggression or a

    war in violation of international treaties, agreements or assurances;

    (ii) Participation in a common plan or conspiracy for the accomplishment

    of any of the acts mentioned under (i).

    (b) War crimes:

    Violations of the laws or customs of war include, but are not limited to,

    murder, ill-treatment or deportation to slave-labour or for any other

  • purpose of civilian population of or in occupied territory, murder or ill-

    treatment of prisoners of war, of persons on the seas, killing of

    hostages, plunder of public or private property, wanton destruction of

    cities, towns, or villages, or devastation not justified by military

    necessity.

    (c) Crimes against humanity:

    Murder, extermination, enslavement, deportation and other inhuman

    acts done against any civilian population, or persecutions on political,

    racial or religious grounds, when such acts are done or such

    persecutions are carried on in execution of or in connexion with any

    crime against peace or any war crime.

    Principle VII

    Complicity in the commission of a crime against peace, a war crime, or a crime

    against humanity as set forth in Principle VI is a crime under international

    law.”43

    Damit sollten die wichtigsten Grundlagen des IMT-Statuts und der IMT-Rechtsprechung in

    verallgemeinerter Form für die internationale Rechtsprechung als verbindlich festgehalten

    werden.44 Eine förmliche Annahme der 1950 vorgelegten ausformulierten Prinzipien durch

    die Generalversammlung kam jedoch vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Ost-

    West-Konflikts nicht zustande, die Versammlung gab den Mitgliedsstaaten lediglich die

    Gelegenheit, sich zu diesen zu äußern.45

    Blockade völkerstrafrechtlicher Anstrengungen im Zeichen des Kalten Krieges

    In Deutschland und in Japan zeugten zahlreiche Begnadigungen und Haftentlassungen

    verurteilter Kriegsverbrecher von der deutlich nachlassenden Intensität der Strafverfolgung.

    Auch verstärkte sich in beiden Ländern der Vorwurf der „Siegerjustiz“. Deutlich wurde die

    Infragestellung der Nürnberger Prinzipien bei der deutschen Ratifikation der Europäischen

    Menschenrechtskonvention (EMRK) am 5. Dezember 1952. Die Bundesrepublik erklärte

    damals einen Vorbehalt zu Art. 7 Abs. 2 EMRK, (nach dem eine Handlung auch dann

    verfolgbar ist, wenn sie zur Tatzeit zwar im nationalen Recht nicht ausdrücklich verboten,

    aber „nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen

    strafbar war”). Der Vorbehalt sollte deutlich machen, dass die Bundesrepublik Deutschland

    43

    Yearbook of the International Law Commission 1950. Vol. II. New York 1957. S. 374 ff. 44

    Vgl. Cassese: Affirmation of the Principles of International Law, Part 1 (Introduction). In: http://untreaty.un.org/cod/avl/ha/ga_95-I/ga_95-I.html (29.03.2011). 45

    Vgl. Cassese: Affirmation of the Principles of International Law, Part 2 (The Formulation). In: http://untreaty.un.org/cod/avl/ha/ga_95-I/ga_95-I.html (29.03.2011).

  • im vergangenheitspolitischen Klima der 1950er Jahre mit dieser sogenannten „Nürnberg-

    Klausel“ nicht den Nürnberger Prozess rechtfertigen wollte.46

    Die sich verhärtenden Fronten im Kalten Krieg bewirkten unterdessen auch anderenorts eine

    zunehmende Lähmung der Durchsetzung der Nürnberger Prinzipien. Sobald machtpolitische

    und geostrategische Überlegungen und Interessen berührt waren, zeigten weder der Westen

    noch der Osten eine wirkliche Bereitschaft, sich für die Implementierung des

    Völkerstrafrechts und der Nürnberger Prinzipien einzusetzen. Der Wille, eigene

    Souveränitätsrechte an neue Institutionen des Völkerstrafrechts abzugeben, hatte

    weitgehend nachgelassen.47 Ein Beleg hierfür ist das Durchsetzungsregime der Genfer

    Konventionen von 1949. Als Folge der verheerenden Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges

    auf die Zivilbevölkerung bestand die damals wichtigste Erweiterung in dem Genfer

    Abkommen zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten (IV. Genfer Konvention).

    Allerdings sah man davon ab, für die als „grave breaches“ in den Konventionen definierten

    „schweren Verstöße“, eine internationale Strafgerichtsbarkeit zu schaffen. Stattdessen legte

    man die Strafverfolgung, zu der sich die Unterzeichner des Abkommens verpflichteten, in die

    Hände der nationalen Gerichte.48

    In den militärischen Auseinandersetzungen während der Entkolonialisierung der 1950er und

    frühen 1960er Jahre, beispielsweise in Indochina und Algerien, entfernte sich die

    internationale Staatengemeinschaft weiter von der Durchsetzung der Nürnberger Prinzipien.

    Schwerste Menschenrechtsverletzungen wurden kaum verfolgt, auch nicht von nationalen

    Gerichten. Vielmehr wurden sie als Vorwurf an die jeweils andere Seite funktionalisiert, wenn

    es den jeweiligen propagandistischen Zwecken dienlich schien. Die Sowjetunion versuchte

    beispielsweise so, die nach Unabhängigkeit strebenden Kolonien der Westmächte in das

    eigene politische Lager zu ziehen.49 Auch das International War Crimes Tribunal von

    1966/67, besser bekannt als „Russell-Tribunal“50, fungierte nicht als ein internationales

    Strafgericht. Allerdings wurden dadurch auf internationaler Ebene, zumindest was die

    Zusammensetzung des Tribunals mit Intellektuellen betrifft, erstmals wieder schwere

    Völkerrechtsverbrechen öffentlichkeitswirksam thematisiert. So wurde das militärische

    Eintreten der USA auf Seiten Südvietnams als Verbrechen gegen den Frieden und der

    Einsatz von Splitterbomben als Kriegsverbrechen eingestuft. Mitten im Kalten Krieg konnte

    damit zwar politisch Aufsehen erregt werden, jedoch blieb das Russell-Tribunal (wie auch die

    46

    Vgl. Safferling, Christoph: Lernen von Nürnberg: In: Rechtsgeschichte (RG). Band 14 (2009). S. 152. Dieser Vorbehalt wurde erst lange nach dem Ende des Kalten Krieges, nämlich 2001 zurückgenommen. 47

    Vgl. Ferencz, Benjamin B.: Von Nürnberg nach Rom. Bonn 1998. S. 4. 48

    Vgl. Art. 146 Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten. 49

    Vgl. Klose, Fabian: Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt. München 2009. S. 53. 50

    Benannt nach seinem Gründer dem Mathematiker, Philosophen und Friedensaktivisten Bertrand Russell

  • drei nachfolgenden Tribunale) auf staatlicher Ebene hinsichtlich der Verfolgung von

    schweren Völkerrechtsverbrechen, national wie international, weitgehend folgenlos.51

    Die Veröffentlichung von Bildern der Massaker im Vietnamkrieg schärfte aber das

    Bewusstsein dafür, dass insbesondere die Zivilbevölkerung von der modernen Kriegführung

    stark betroffen war. Proteste gegen diese Art der Kriegsführung in Vietnam, 1,2 Millionen

    Tote im Biafra-Krieg in Nigeria von 1967 bis 1970, und andere ähnlich exzessive Kriege

    veranlassten auch die internationale Politik zu vorsichtigen Korrekturen.52 Die von der UN-

    Generalversammlung am 19. Dezember 1968 verabschiedete Resolution 2444 „Respect for

    Human Rights in Armed Conflicts“ kann als erster vorsichtiger Schritt zu einem Wandel

    gedeutet werden. Sie bekräftigte die bereits 1965 auf der 20. Internationalen Konferenz des

    Roten Kreuzes in Wien verabschiedeten Grundsätze des humanitären Völkerrechts, wonach

    die zulässigen Mittel und Methoden der Kriegführung beschränkt sind, dass die

    Zivilbevölkerung vor Angriffen zu schützen und zwischen Kombattanten und Zivilisten zu

    unterscheiden ist. Die Resolution 2444 forderte den UN-Generalsekretär auf, in

    Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz weitere Schritte zur Vereinheitlichung des

    humanitären Völkerrechts zu unternehmen. Dies war Ausgangpunkt für eine internationale

    Konferenz von 1974 bis 1977, die mit der Annahme des ersten und zweiten Zusatzprotokolls

    zu den Genfer Konventionen von 1949 abgeschlossen wurde. Das erste Zusatzprotokoll

    spezifizierte die Regelungen der Genfer Konventionen und integrierte die Anforderungen der

    Resolution 2444 als rechtsverbindliche Garantien in die Genfer Konvention. Darüber hinaus

    sollten im Zweifelsfall „feststehende Gebräuche“, die „Grundsätze der Menschlichkeit“ und

    das „öffentliche Gewissen“53 als Handlungsmaximen im bewaffneten Konflikt gelten. Das

    zweite Zusatzprotokoll spezifizierte die in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten

    anwendbaren Regeln des humanitären Völkerrechts, fand jedoch in der Praxis kaum

    Anwendung.54

    Wegen ihrer schweren Menschenrechtsverbrechen gerieten auch die lateinamerikanischen

    Diktaturen, die bis Ende der 1980er Jahre demokratischen politischen Systemen wichen, in

    den Fokus des internationalen Strafrechts.55 Der Übergangsprozess in Ländern wie

    Argentinien beinhaltete jedoch nicht selten Amnestien für die unter der Diktatur begangenen

    51

    Vgl. Limqueco, Peter / Weiss, Peter (Hg.): Prevent the Crime of Silence. London 1971. S. 10 f., 59 f., S. 66 und S. 369-372. 52

    Vgl. Best, Geoffrey: Humanity in Warfare. New York 1980. S. 316. 53

    Art. 1 Abs. 2 Zusatzabkommen zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opferinternationaler bewaffneter Konflikte vom 08.06.1977. 54

    Vgl. Menz, Simon: Verantwortlichkeit der Mitarbeiter privater Militär- und Sicherheitsunternehmen. Berlin 2011. S. 89ff. Der Verweis auf dieses zweite Protokoll im Statut des ICTR (Art. 4 Statut des ICTR) blieb eine Ausnahme. 55

    Neben langjährigen Diktaturen in u.a. Paraguay (1954 bis 1989/92), Brasilien (1964 bis 1985) erregten insbesondere die Diktatur unter Augusto Pinochet in Chile (1973 bis 1990) und die argentinische Militärdiktatur von 1976 bis 1983 mit ihren brutalen Verfolgungsmaßnahmen auch im Ausland Aufsehen und Unmut.

  • Taten.56 Dies wurde vielfach damit begründet, dass Strafprozesse gegen die Täter des

    „alten“ Regimes den Übergangsprozess von der Diktatur zur Demokratie hätten gefährden

    können. Um zumindest das Schweigen über begangene Verbrechen zu durchbrechen,

    wurden sogenannte „Wahrheitskommissionen“ eingesetzt.57 Die in diesen Kommissionen

    gewonnenen Erkenntnisse waren frei zugänglich, und konnten später, als die Amnestien

    aufgehoben wurden,58 auch als Beweismaterial in Strafverfahren (beispielsweise in

    Argentinien) verwertet werden.59 Ähnlich bedeutend ist die mit den Transitional Justice-

    Prozessen einhergehende Erinnerungskultur. Transitional Justice steht dabei für Versuche,

    massive Menschenrechtsverletzungen und Gewalttaten aufzuarbeiten, um den Übergang zu

    einer nachhaltig friedlichen, meist demokratischen Gesellschaftsordnung zu ermöglichen.

    Diese Erinnerungskultur geht mit Gedenkstätten zumindest erinnerungspolitisch die

    Aufarbeitung der Vergangenheit an und weist darauf hin, dass die eine fortgesetzte

    Auseinandersetzung mit der Vergangenheit notwendig bleibt.60

    Fraglich bleibt, ob derartige Transitional Justice-Prozesse, einschließlich der

    Wahrheitskommissionen, geeignet sind, die Probleme im Übergang zu friedlichen und

    demokratischen Gesellschaften zu lösen. Zweifel ergeben sich aus den Erfahrungen der

    Truth and Reconciliation Commission (TRC) in Südafrika nach dem Ende der Apartheid. Dort

    wurde die Wahrheitsfindung eng mit der Gewährung von Amnestien verknüpft, so dass im

    Fall öffentlicher Schuldbekenntnisse selbst schwerste Straftaten straffrei blieben.61 Auch

    wenn die TRC das enorme Ausmaß der Apartheidsverbrechen erst fassbar gemacht hat,

    deuten neuere Studien darauf hin, dass dies bei zwei Dritteln der Bevölkerung im Nachhinein

    als die Konfliktlinien verschärfend empfunden wurde.62 Die Straffreiheit und Veröffentlichung

    des Ausmaßes der Verbrechen führten weiterhin dazu, dass die soziale Spaltung zwischen

    den Ethnien in Südafrika perpetuiert wurde. Die Spaltung der Gesellschaft, die nicht

    56

    Vgl. Müller-Plantenberg, Urs: Abgang am Tag der Menschenrechte. In: Lateinamerikanachrichten. Ausgabe 391 vom Januar 2007. (http://www.lateinamerikanachrichten.de/index.php?/artikel/1013.html, 18.05.2011). 57

    Beispielsweise wurde erst durch die Wahrheitskommission das Ausmaß der guatemaltekischen Verbrechen bekannt (200.000 Tote und 626 Massaker), was schockierend auf die Bevölkerung wirkte. Vgl. Buckley-Zistel, Susanne: Handreichung Transitional Justice. Berlin 2007. S. 4 f. 58

    Zum Beispiel in Brasilien (vgl. Russau, Christian: Der Schatten der Operation Condor erreicht Brasilien. In: Lateinamerikanachrichten Nr. 405 vom März 2008 (http://www.lateinamerikanachrichten.de/index.php?/artikel/2715.html, 18.05.2011), Argentinien (Amnestie für Junta-Mitglieder gekippt. In: Süddeutsche Zeitung vom 14.07.2007 (http://www.sueddeutsche.de/politik/argentinien-amnestie-fuer-junta-mitglieder-gekippt-1.843858, 18.05.2011) und Chile (Chile kippt Diktatur-Amnestie. In: Die Tageszeitung (taz) vom 16.12.2006. (http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2006/12/16/a0118, 18.05.2011). 59

    Vgl. Buckley-Zistel, Susanne: Transitional Justice als Weg zu Frieden und Sicherheit. Berlin 2008. S. 6 f. 60

    Vgl. zu den lateinamerikanischen Entwicklungen Aguilar, Paloma: The Timing and the Scope of Reparation, Truth and Justice Measures. In: Ambos, Kai / Large, Judith / Wierda, Marieke (Hg.): Building a Future on Peace and Justice. Berlin 2009. S. 511 f., sowie S. 524. Als Beispiele wären u.a. der Parque de la Memoria am Rio de la Plata in Argentinien und das Museo de la Solidaridad Salvador Allende in Santiago de Chile zu nennen. 61

    Vgl. Abrahamsen, Therese / van der Merwe, Hugo: Reconciliation through Amnesty? Ohne Ort (Johannesburg / Kapstadt) 2005 und Valji, Nahla: Truth and Reconciliation. In: http://www.csvr.org.za/index.php?option=com_content&view=article&id=2305:truth-and-reconciliation--lessons-from-the-south-african-context&catid=139:media-articles&Itemid=37 (18.05.2011). 62

    Vgl. Buckley-Zistel, Susanne: Handreichung Transitional Justice. Berlin 2007. S. 5.

    http://www.lateinamerikanachrichten.de/index.php?/artikel/1013.htmlhttp://www.csvr.org.za/index.php?option=com_content&view=article&id=2305:truth-and-reconciliation--lessons-from-the-south-african-context&catid=139:media-articles&Itemid=37http://www.csvr.org.za/index.php?option=com_content&view=article&id=2305:truth-and-reconciliation--lessons-from-the-south-african-context&catid=139:media-articles&Itemid=37

  • Gegenstand des Transitional Justice-Konzepts war, stellt bis heute auf Grund ihrer

    delegitimierenden Wirkung eine Bedrohung für die junge südafrikanische Demokratie dar.63

    Nach dem Ende des Kalten Krieges

    Die Desintegration des Ostblocks fand mit dem Ende des Kalten Kriegs 1989/90 und der

    Geburt zahlreicher neuer Staaten ihren Schlusspunkt. Diese Entwicklung ging einher mit

    dem immer lauter werdenden Ruf nach der strafrechtlichen Ahndung schwerer

    völkerrechtlicher Verbrechen.

    Die Ad hoc-Tribunale für Jugoslawien und Ruanda

    Denn die Auflösung oktroyierter Ordnungen führte nicht immer in eine friedliche Zukunft. So

    löste der Jugoslawienkonflikt mit seinen schwerwiegenden Menschrechtsverletzungen und

    Kriegsverbrechen ab Oktober 1991 auf UN-Ebene eine Dynamik aus, welche schließlich zur

    Errichtung des International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY) führte. Ab Juli

    1992 bezog der Sicherheitsrat konkret Stellung und bestätigte die individuelle strafrechtliche

    Verantwortlichkeit der Täter.64 Daraufhin erfolgte die Einsetzung einer Expertenkommission

    unter der Leitung von Frits Kalshoven zur Untersuchung möglicher

    Menschenrechtsverletzungen bzw. Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht.65 Die

    Kommission bestätigte den Verdacht schwerwiegender Verbrechen und empfahl die

    Errichtung eines Ad hoc-Tribunals zur juristischen Aufarbeitung der begangenen

    Verbrechen. Auf Grundlage des Berichts stellte der Sicherheitsrat am 22. Februar 1993 den

    Bruch des Friedens und der internationalen Sicherheit fest und beschloss die Schaffung

    eines internationalen Tribunals zur Verfolgung der begangenen Verbrechen unter der

    vorbereitenden Ägide des Generalsekretärs.66 Nachdem das Generalsekretariat einen

    Satzungsentwurf für ein Tribunal vorgelegt hatte, verabschiedete der Sicherheitsrat am 25.

    Mai 1993 einstimmig die Resolution 827, welche den Gerichtshof unter Berufung auf Kapitel

    VII der UN-Charta ins Leben rief und den Satzungsentwurf des Generalsekretariats

    unverändert übernahm. Damit einher ging eine Rückbesinnung auf die Nürnberger

    Prinzipien. So wurde in den Begründungen des Statuts ausdrücklich auf das IMT

    verwiesen.67 Seit der Aufnahme seiner Tätigkeit am 15. November 1993 hat das Tribunal bis

    Juni 2011 insgesamt 161 Personen angeklagt und bislang 126 Verfahren endgültig

    63

    Vgl. u.a. Hamber, Brandon / Maepa, Traggy / Mofokeng, Tlhoki / van der Merwe, Hugo / Centre for the Study of Violence and Reconciliation: Survivors‘ Perceptions of the Truth and Reconciliation Commission and Suggestions for the Final Report. In: www. http://www.csvr.org.za/wits/papers/papkhul.htm (14.09.2011), Madlingozi, Tshepo: Good Victims, bad victims. In: le Roux, Wessel / van Marle, Karin (Hg.): Law, memory and the legacy of apartheid. Pretoria (Pretoria University Law Press) 2007. S. 107-127 und Valji, Nahla: Gerichtsverfahren und Wahrheitskommissionen. In: Utz, Britta (Hg.): Handbuch der Menschenrechtsarbeit. Edition 2010 / 2011. CD-ROM. Berlin 2010. 64

    Vgl. Resolution des Sicherheitsrates Nr. 764. 65

    Vgl. Resolution des Sicherheitsrates Nr. 780. 66

    Vgl. Resolution des Sicherheitsrates Nr. 808. 67

    Vgl. Report of the Secretary-General Pursunant to paragraph 2 of the Security Council Resolution 808 (1993) vom 3. Mai 1993. Para. 42 und 47.

    http://www.csvr.org.za/wits/papers/papkhul.htm

  • abgeschlossen.68 Mit der Verhaftung von Goran Hadžić wurde am 22. Juli 2011 die letzte

    flüchtige Person gefasst.

    Ein weiterer wichtiger Schritt in der Entwicklung der internationalen Strafgerichtsbarkeit

    erfolgte in Reaktion auf den Bürgerkrieg in Ruanda, dessen Brutalität und Geschwindigkeit

    die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf das ostafrikanische Land zog.

    Dem Völkermorde in Ruanda fielen 1994 innerhalb von drei Monaten etwa 800.000

    Menschen zum Opfer.69 Nach überwiegender Tatenlosigkeit während des Konflikts reagierte

    im Juli 1994 der Sicherheitsrat der UN mit der Einrichtung einer Expertenkommission,

    welche die Vorgänge in Ruanda untersuchen sollte. Die zugrunde liegende Resolution 935

    betonte wie bereits im Falle Jugoslawiens die individuelle Verantwortlichkeit der Täter für die

    Verletzungen des humanitären Völkerrechts. Wie bei ihrem Vorbild, der „Karlshoven-

    Kommission“ in Jugoslawien, oblag es der Kommission in Ruanda, vor allem Beweise für die

    Verletzungen des humanitären Völkerrechts und die Begehung von Völkermord zu sammeln.

    Sie stellte sowohl Verbrechen gegen die Menschlichkeit als auch völkerrechtliche

    Verbrechen fest und forderte den Sicherheitsrat auf, die Voraussetzungen für eine

    strafrechtliche Verfolgung zu schaffen. Die Kommission sprach sich für ein Tribunal aus und

    schlug vor, das Statut des ICTY mit leichten Modifikationen zu Grunde zu legen. Die

    rechtliche Grundlage für die Errichtung des International Criminal Tribunal for Rwanda

    (ICTR) legte der Sicherheitsrat in seiner Resolution 995 vom 8. November 1994 mit der

    erneuten Bezugnahme auf Kap. VII der UN-Charta. Entgegen den Kommissionsvorschlägen

    entschied sich der Sicherheitsrat für ein eigenständiges Tribunal, das aufgrund von

    Sicherheits- und Infrastrukturerwägungen im tansanischen Arusha seinen Sitz fand. Um den

    von der Kommission angestrebten Synergien Rechnung zu tragen, sah das Statut die

    Zusammenlegung einiger Organe von ICTY und ICTR, insbesondere der Berufungskammer,

    in Den Haag vor. Mit der Ernennung der Richterkandidaten konnte das ICTR am 27. Juni

    1995 seine Arbeit aufnehmen. Bis heute wurden 78 Verfahren vor dem ICTR durchgeführt,

    von denen sich noch zwei im Vorverfahren und 16 im Hauptverfahren befinden. Von den

    abgeschlossenen Verfahren wurden 51 mit Strafaussprüchen, acht durch Freisprüche und

    zwei durch den Tod der Angeklagten beendet.70

    Die konkrete Bilanz der beiden Ad hoc-Tribunale fällt trotz ihres unbestreitbaren Beitrags zur

    Fortentwicklung des Völkerstrafrechts gemischt aus. Bereits im Abstimmungsprozess zur

    Errichtung des ICTY zeigte sich eines der Kernprobleme der juristischen Aufarbeitung von

    Makroverbrechen durch internationale Strafgerichte: die politische Dimension des

    68

    Vgl. http://www.ICTY.org/sections/TheCases/KeyFigures, Stand: August 2011. 69

    Vgl. Jones, Bruce D.: Peacemaking in Rwanda. Boulder 2001. S. 17 f. und Organization of African Unity: The Report of the Panel of Eminent Personalities to Investigate the 1994 Genocide in Rwanda and the Surrounding Events. Addis Abeba 2000. Abschnitt 16.15. 70

    Vgl. www.unictr.org, Stand Juni 2011.

    http://www.icty.org/sections/TheCases/KeyFigureshttp://www.unictr.org/

  • Vorhabens. Insbesondere die Entwicklungsländer kritisierten, dass der Sicherheitsrat mit der

    Errichtung des Jugoslawienstrafgerichtshofs über seine eigentliche Kompetenz hinaus

    gegangen sei.71 Darüber hinaus kämpfte der ICTR in den ersten Jahren mit bürokratischen

    Hürden, chronischer Unterfinanzierung durch die Vereinten Nationen, einem Mangel an

    qualifiziertem Personal und ernsthaftem Missmanagement.72 Problematisch gestaltete sich

    für beide Spruchkörper auch die Kooperation mit den betroffenen Staaten. Obwohl der

    Jugoslawienkrieg mit dem Friedensvertrag von Dayton 1995 offiziell sein Ende fand, blieb die

    Zusammenarbeit mit den jugoslawischen Nachfolgestaaten für das ICTY, mit Ausnahme

    Bosnien-Herzegowinas, schwierig bis unmöglich.73 Auch das Verhältnis des ICTR zur

    ruandischen Regierung, die notwendige Kooperation mit dem Tribunal immer wieder als

    Druckmittel einsetzt, um Ermittlungen und ggf. Verurteilungen im eigenen Lager zu

    verhindern, ist hoch problematisch.74 Diese praktischen Zwänge haben den Tribunalen auf

    Seiten ihrer Gegner den Vorwurf der „Siegerjustiz“ bzw. der ethnischen und/oder politischen

    Parteilichkeit eingebracht.75 Weiterhin erschwerte die inkonsistente Strategie der

    Peacekeeping-Truppen im de facto auch nach 1995 nicht befriedeten ehemaligen

    Jugoslawien die Arbeit des ICTY, da sie lange Zeit ihre Aufgabe nicht in der Unterstützung

    des Tribunals sahen, mit der Folge, dass zahlreiche Fahndungserfolge erst nach

    mehrjähriger Tätigkeit des ICTY eintraten.76

    Auch aus der Arbeitsweise der Tribunale ergaben sich zahlreiche Kritikpunkte. So zogen und

    ziehen sich die Verfahren vor beiden Tribunalen trotz aller Bemühungen oftmals derart in die

    Länge, dass das Recht des Angeklagten auf ein zügiges Verfahren in Frage steht.77 Kritisch

    bewertet wurde auch der Umgang sowohl des ICTY als auch des ICTR mit den Opfern. Hier

    kam es nicht selten zu einer Nichteinhaltung grundlegender Standards und zur Verletzung

    von Opferrechten.78 Schwierig erwies sich für das ICTR auch der Umgang mit

    Freigesprochenen, da diese aus Angst vor Vergeltung oftmals nicht nach Ruanda

    zurückkehren können, das Tribunal jedoch Drittstaaten nicht zur Aufnahme dieser Personen

    verpflichten kann. Dies führt dazu, dass die Betroffenen weiterhin abgeschottet in

    71

    Vgl. Ratner, Steven R. / Abrams, Jason S. / Bischoff, James L.: Accountability for Human Rights Atrocities in International Law. 3. Aufl. Oxford 2009. (Im Folgenden: Ratner et al.: Accountability for Human Rights Atrocities). S. 214. 72

    Vgl. Bericht des Generalsekretärs über die Aktivitäten des Office of Internal Oversight Services vom 06.02.1997 (UN GA-Res. A/51/789). 73

    Vgl. Stroh, Dagmar Patricia: Die nationale Zusammenarbeit mit den Internationalen Straftribunalen für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda. Berlin 2002. S. 364. 74

    Vgl. Ratner et al.: Accountability for Human Rights Atrocities. S. 228. 75

    Vgl. Ratner et al.: Accountability for Human Rights Atrocities. S. 222 und 229. 76

    Vgl. Safferling, Christoph / Melčić, Dunja: Das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Rechtsgrundlage und Entwicklung. In: Melčić, Dunja (Hg.): Der Jugoslawien-Krieg. 2. Aufl. Wiesbaden 2007. S. 511. 77

    Vgl. Ratner et al.: Accountability for Human Rights Atrocities. S. 252. 78

    Vgl. Cryer, Robert / Friman, Hakan / Robinson, Darryl / Wilmshurst, Elizabeth: An Introduction to International Criminal Law and Procedure. Cambridge 2007. S. 141.

  • geschützten Unterkünften des Tribunals leben müssen.79 Während die juristische

    Begründungsleistung der Urteile und Entscheidungen des ICTR variiert, muss sich das ICTY

    eine in der Gesamtschau nicht immer juristisch nachzuvollziehende Strafzumessungspraxis

    vorwerfen lassen.80 Im Zuge der von den Vereinten Nationen vorgesehenen Beendigung

    (sog. Completion Strategy) haben beide internationale Tribunale in den vergangenen Jahren

    zunehmend Verfahren an nationale Gerichte abgegeben. Dies hat in beiden Fällen zu einer

    deutlichen Entlastung der Gerichte geführt, aber gerade im Falle des ICTY haben die

    nationalen Gerichte der Nachfolgestaaten mehrfach die Verfahrensrechte der Angeklagten

    nicht gewahrt.81 Schließlich muss auch der Einfluss der Tribunale auf die betroffenen

    Bevölkerungen und Gesellschaften kritisch hinterfragt werden. So führte die geografische

    Entfernung der Tribunale (Den Haag/Niederlande bzw. Arusha/Tansania) auch dazu, dass

    die betroffenen Gesellschaften sich nicht mit den internationalen Strafbemühungen

    identifizierten. Die Arbeit der Tribunale konnte daher nur in bescheidenem Umfang zur

    Versöhnung der Gesellschaften und der Verbesserung der nationalen Justizsysteme

    beitragen. Auch ein Abschreckungseffekt auf potenzielle Täter kann nur sehr bedingt

    festgestellt werden. Das Prinzip, nur einen geringen Prozentsatz der Täter anzuklagen, ist

    dafür sicher eine der Ursachen. Schließlich müssen auch die Versuche zur Entkräftung des

    Vorwurfs der Parteilichkeit oder der „Siegerjustiz“ als gescheitert betrachtet werden, da die

    eingeleiteten Outreach-Programme zur Einbindung der Bevölkerung kaum greifbare Erfolge

    erzielen konnten.82

    Zusammenfassend lässt sich vor allem feststellen: Eine Neuauflage der Ad hoc-Tribunale

    wird es kaum geben, denn nach fast 20-jähriger Tätigkeit dieser Gerichtshöfe hat sich eine

    gewisse Müdigkeit eingeschlichen. Diese bezieht sich sowohl auf den politischen Willen, eine

    unter UN-Mandat stehende Bürokratie vom Ausmaß des ICTY und des ICTR zu errichten,

    als auch auf die damit einhergehenden finanziellen Verpflichtungen. Es ist zu bezweifeln,

    dass die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen bereit sind, weiterhin so kostspielige und

    langwierige Aufgaben mit ihren Pflichtbeiträgen zu finanzieren.

    Gemischte und internationalisierte Gerichte: Der Sondergerichtshof für Sierra Leone

    und die Außerordentlichen Kammern in den Gerichten von Kambodscha

    Nach einem Jahrzehnt, in dem zehntausende Menschen ihr Leben verloren, ging 2000 einer

    der grausamsten und blutigsten Bürgerkriege der jüngeren Vergangenheit zu Ende. Auch

    wenn der Hauptschauplatz in Sierra Leone lag, war eine Reihe von Staaten wie Liberia, die

    Elfenbeinküste und Guinea ebenfalls beteiligt. Kennzeichnend für diesen Konflikt waren vor

    79

    Vgl. Heller, Kevin Jon: What happens to the Aquitted? In: Leiden Journal of international Law (LJIL). Vol. 21 (2008). S. 664. 80

    Vgl. Drumbl, Mark A.: Atrocity, Punishment and International Law. Cambridge 2007. S. 59 ff. 81

    Vgl. Ratner et al.: Accountability for Human Rights Atrocities. S. 221. 82

    Vgl. Ratner et al.: Accountability for Human Rights Atrocities. S. 223.

  • allem der verbreitete Einsatz von Kindersoldaten, die besondere Grausamkeit gegenüber der

    Zivilbevölkerung in der Form massenhafter Amputationen zur Bestrafung, und die

    Anwendung anderer Mittel zur Terrorisierung der Menschen.83 Nach einer Phase der

    Abkühlung des Konflikts und der Wiederherstellung eines brüchigen Friedens durch britische

    Einsatzkräfte und Truppen der Vereinten Nationen von 2000 bis 2002 schlossen die

    Vereinten Nationen und die Regierung Sierra Leones am 16. Januar 2002 einen

    völkerrechtlichen Vertrag zur Errichtung eines gemischt international-nationalen Gerichts.84

    Aufgabe dieses Gerichts sollte es sein, die Hauptverantwortlichen für die während des

    Bürgerkriegs begangenen Verbrechen abzuurteilen. Der daraus erwachsene Special Court

    for Sierra Leone (SCSL) mit Sitz im sierraleonischen Freetown hat nach seinem Statut

    konkurrierende Zuständigkeit, wobei der SCSL bezüglich der Verfolgung der im Statut

    aufgeführten Taten jedoch Vorrang vor den nationalen Gerichten genießt.85 Darüber hinaus

    ist der SCSL spezifisch nicht als Bestandteil des sierraleonischen Justizsystems ausgeformt,

    was sich auch in der internationalen Besetzung von Anklagebehörde und Richterkammern

    niederschlägt. Nach den notwendigen innerstaatlichen Umsetzungsakten konnte der SCSL

    bereits im Juli 2002 seine Arbeit aufnehmen. Bis zum heutigen Tage wurden 13 Personen

    angeklagt, davon acht verurteilt, drei Personen sind im Laufe des Verfahrens verstorben und

    eine Person gilt weiterhin als flüchtig.86

    Eine vorläufige Bewertung der Arbeit des SCSL zeigt eine Reihe von Problemen, auch wenn

    in diesem Fall innerhalb der Gemengelage von politischen und praktischen/juristischen

    Faktoren der Schwerpunkt eher bei den praktischen Defiziten liegt. Wie bereits im Falle des

    ICTY und des ICTR, bereitet auch dem SCSL die Umsetzung einer effizienten

    Staatenkooperation erhebliche Schwierigkeiten.87 Da der SCSL als hybrides Gericht nicht auf

    Grundlage einer Sicherheitsratsresolution nach Kapitel VII der UN-Charta geschaffen wurde

    und sich auch keine entsprechenden Regelungen im Statut des SCSL finden,88 fehlt es an

    einer rechtlichen Verpflichtung der anderen Staaten, mit dem SCSL zu kooperieren.89

    Ebenfalls problematisch ist, dass der SCSL zwar Vorrang vor den nationalen Gerichten

    Sierra Leones genießt, dies jedoch nicht auf die nationalen Gerichte der Nachbarstaaten

    zutrifft. Dabei waren gerade auch die Nachbarstaaten Sierra Leones direkt und indirekt in

    den Konflikt verwickelt, und sowohl die politischen als auch faktischen geografischen

    83

    Vgl. Akin, Wanda M.: Nuremberg, Justice and the Beast of Impunity. In: Reginbogin, Herbert R. / Safferling Christoph J.M. (Hg.): Die Nürnberger Prozesse. München 2006. S. 257. 84

    Vgl. Bohlander, Michael / Winter, Renate: Internationalisierte Strafgerichte auf nationaler Ebene. In: Kirsch, Stefan (Hg.): Internationale Strafgerichtshöfe. Baden-Baden 2005. S. 271. 85

    Art. 8 SCSL Statut. 86

    Vgl. www.sc-sl.org, Stand Juni 2011. 87

    Vgl. Cryer, Robert / Friman, Hakan / Robinson, Darryl / Wilmshurst, Elizabeth: An Introduction to International Criminal Law and Procedure. Cambridge 2007. S. 198. 88

    Es findet sich weder eine positiv formulierte Verpflichtung, noch eine Vorschrift zu Konsequenzen von Nichtkooperation. 89

    Auch aus dem Völkergewohnheitsrecht ist bislang keine derartige Verpflichtung erwachsen Vgl. Seibert-Fohr, Anja: Prosecuting Serious Human Rights Violations. Oxford 2009. S. 257 ff.

    http://www.sc-sl.org/

  • Grenzen verlaufen fließend. Die Flucht in ein Nachbarland liegt daher für die Täter nahe.90

    Weiterhin stellen sich in einem strukturschwachen Land wie Sierra Leone zahlreiche

    praktische Probleme für die Arbeit des Gerichts, aber auch der Verteidigung. Bereits das

    Fehlen rudimentärer und vor allem fortgesetzter Verwaltungsstrukturen wie beispielsweise

    das Führen eines Geburtenregisters zieht gravierende Folgen nach sich. Art. 7 des SCSL

    Statuts sieht eine Strafmündigkeit erst ab einem Alter von 15 Jahren zur Zeit der

    Tatbegehung und für das Alter von 15 bis 18 Jahren einen erzieherischen Ansatz für die

    Strafzumessung vor. Fällt der Täter also in eine der beiden Altersgruppen ist das für ihn

    vorteilhaft. Aufgrund des häufig deutlich jünger erscheinenden Aussehens und der Tatsache,

    dass viele Personen selbst ihr Alter nur ungefähr oder gar nicht kennen, gibt es keinen

    Schutz vor Missbrauch der Altersregelungen. Zugleich erschwert dies aber auch die

    Verteidigung91 und wirkt sich damit negativ auf die Gewährleistung der Angeklagtenrechte

    aus. Schwierig in Bezug auf die Stellung des Angeklagten ist das Fehlen von Regelungen

    zur Prozesskostenhilfe, welche eine angemessene Verteidigung der häufig wenig begüterten

    Angeklagten sicherstellen könnte.92

    Auch die Zuständigkeit des Gerichts beginnt sich als zunehmend problematisch zu erweisen.

    Dies ist auf die Verfolgung der Hauptverantwortlichen des Bürgerkriegs beschränkt, und die

    mittleren und niedrigen Kommandoränge sind der nationalen Strafverfolgung unterworfen.

    Die Zahlen für die Täter der mittleren und niedrigen Stufe gehen in die Tausende.93 Trotzdem

    stehen der Strafverfolgung auf nationaler Ebene gewichtige Hindernisse entgegen. Zunächst

    sieht der Friedensvertrags von Lomé von 1999 für alle Konfliktparteien eine Generalamnestie

    vor, die zwar nicht den SCSL, jedoch die nationalen Gerichte bindet.94 Hinzu kommt, dass,

    obwohl wichtige Justizreformen angestoßen sind wurden, das sierraleonische Justizsystem

    selbst in grundlegenden Bereichen erhebliche rechtsstaatliche Defizite aufweist.95 Und

    schließlich steht auch das Strafrecht Sierra Leones noch immer nicht im Einklang mit den

    internationalen Menschenrechtsgarantien.96

    Anders stellte sich die Ausgangssituation in Kambodscha dar. Im Gegensatz zu Sierra Leone

    dauerte es in dem südasiatischen Land fast drei Jahrzehnte, bis die juristische Aufarbeitung

    90

    Vgl. Staggs, Michael: Second Interim Report on the Special Court for Sierra Leone. Berkeley 2006. S. 23. 91

    Beispielhaft dazu: Akin, Wanda M.: Nuremberg, Justice and the Beast of Impunity. In: Reginbogin, Herbert R. / Safferling Christoph J.M. (Hg.): Die Nürnberger Prozesse. München 2006. S. 262 f. 92

    Vgl. Cassese, Antonio: Role of Internationalized Courts and Tribunals in the Fights Against Criminality. In: Romano, Cesare P.R. / Nollkaemper, André / Kleffner, Jann K. (Hg.): Internationalized Criminal Courts and Tribunals. Oxford 2004. S. 10. 93

    Vgl. Statistical Appendix to the Report of the Truth and Reconciliation Commission of Sierra Leone. A Report by the Benetech Human Rights Data Analysis Group to the Truth and Reconciliation Commission. Appendix 1 to the Report of the Truth and Reconciliation Commission of Sierra Leone. Palo Alto 2004. S. 15. 94

    Art. IX Lomé Peace Accord. 95

    Vgl. Human Rights Commission of Sierra Leone: The State of Human Rights in Sierra Leone 2009. Ohne Ort, ohne Jahr (Freetown 2010) und US Department of State: 2010 Human Rights Report Sierra Leone. Ohne Ort (Washington), ohne Jahr. S. 8. 96

    Vgl. Human Rights Watch: Bringing Justice: the Special Court for Sierra Leone. New York 2004. S. 38

  • der Taten der Roten Khmer zwischen 1975 und 1979 eine solche Dringlichkeit erreicht hatte,

    dass sich der Staat zum Handeln entschloss. Die Herrschaft der Roten Khmer unter Pol Pot

    hatte 1,7 Millionen Kambodschaner durch Tötung, Folter, Zwangsarbeit und Hunger das

    Leben gekostet. Doch erst 1997 wandte sich das Land an die Vereinten Nationen mit der

    Bitte um Unterstützung bei der juristischen Aufarbeitung der verübten Verbrechen. Im

    Frühjahr 1998 entsandte der Generalsekretär eine Expertenkommission nach Kambodscha,

    welche die Möglichkeiten zur Umsetzung des Vorhabens überprüfen sollte. Nach fast

    einjähriger Tätigkeit gelangte die Kommission zu dem Schluss, dass eine nationale Lösung

    auszuschließen sei, da die unzureichenden Bedingungen des kambodschanischen

    Justizsystems keine fairen Verfahren garantieren könnten. Ebenfalls untauglich sei die

    Verfolgung einer hybriden Lösung, da die daraus resultierende Abhängigkeit von der

    Kooperationsbereitschaft Kambodschas das gesamte Unternehmen gefährden würde.

    Stattdessen empfahl die Kommission die Errichtung eines neuen Ad hoc-Tribunals unter der

    Ägide der Vereinten Nationen.97 Die kambodschanische Regierung bestand jedoch auf einer

    nationalen Lösung, so dass die Verhandlungen mit den Vereinten Nationen 2002 vorerst

    abbrachen. Dennoch forderte die Generalversammlung der Vereinten Nationen noch im

    selben Jahr den Generalsekretär auf, unter der Prämisse einer nationalen Lösung die

    Verhandlungen wieder aufzunehmen. Diese Verhandlungen endeten schließlich am 13. Mai

    2003 mit der Annahme eines Vertrags zwischen den Vereinten Nationen und Kambodscha

    durch die UN-Generalversammlung und der Ratifizierung des Vertrags durch das

    kambodschanische Parlament im Oktober 2004. Die in diesem Vertrag begründeten

    Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia (ECCC) sind Teil des nationalen

    Justizsystems, was sich nicht nur in der Anwendbarkeit nationalen Rechts, sondern auch in

    der Dominanz kambodschanischer Richter und Anklagevertreter zeigt. Aufgenommen haben

    die ECCC ihre Tätigkeit im Juli 2007 mit der Einleitung der ersten Verfahren gegen frühere

    Führungspersonen der Roten Khmer. Bislang wurden fünf Personen angeklagt und eine

    Person in erster Instanz verurteilt.98

    Obwohl für die Defizite der ECCC auch praktische und juristische Faktoren verantwortlich

    sind, steht hier doch die politische Dimension als negativer Impulsgeber eindeutig im

    Vordergrund. Bereits grundlegende Entscheidungen wie der Aufbau und die Organisation

    der Kammern oder die personelle Reichweite der Strafverfolgung (nur die

    hauptverantwortlichen Khmer Rouge–Führer) zeugen von dem Ausmaß des (partei-

    )politischen Einflusses auf die Tätigkeit der ECCC. Sowohl die Verfahrens-, als auch die

    Berufungskammern, besetzt mit je drei kambodschanischen und zwei internationalen bzw.

    97

    Vgl. Ratner et al.: Accountability for Human Rights Atrocities. S. 350 f. 98

    Vgl. www.eccc.goc.kh. Stand Juni 2011.

    http://www.eccc.goc.kh/

  • vier kambodschanischen und drei internationalen Richtern,99 sind national dominiert. Kommt

    die notwendige qualifizierte Mehrheit von vier bzw. fünf Stimmen für eine Entscheidung nicht

    zustande, besteht die Gefahr des Verfahrensstillstands. Aufgrund der stark nationalen

    Prägung des kambodschanischen Strafrechts werden die Ermittlungen von zwei

    Ermittlungsrichtern, einem kambodschanischen und einem internationalen Richter,

    gemeinsam geführt. Im Falle der Uneinigkeit der Ermittlungsrichter ist die Frage der

    Vorverfahrenskammer vorzulegen, welche ebenfalls mehrheitlich mit kambodschanischen

    Richtern besetzt ist.100 Der identische Mechanismus greift für das Amt des Anklagevertreters,

    für das ebenfalls je ein Kambodschaner und ein Ausländer als Co-Prosecutor ernannt

    werden.101

    Anlass zur Hinterfragung bietet auch die Ernennungskompetenz für die Richter und

    Anklagevertreter. Sämtliche Richter und Anklagevertreter werden vom Cambodian Supreme

    Council of Magistracy ernannt, wobei ausländische Richter und Anklagevertreter einer Liste

    des UN-Generalsekretariats zu entnehmen sind.102 Sowohl der organisatorische Aufbau als

    auch der Ernennungsmechanismus sind anfällig für politische Einflussnahme, sei es im

    Hinblick auf die Eröffnung von Ermittlungsmaßnahmen oder auf die Besetzung der Posten

    der kambodschanischen Richter und Anklagevertreter. Beide Faktoren stellen nicht nur die

    Effektivität der Kammern, sondern auch die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit

    in Frage.

    Auch die Begrenzung der Verfolgung auf die höchsten Führungskader der Roten Khmer ist

    politisch einzuordnen. Die offizielle Parteilinie der Regierungspartei in Kambodscha basiert

    nicht unwesentlich auf der Behauptung, dass aktuelle Funktionsträger nicht in die

    Verbrechen der Roten Khmer verwickelt gewesen seien.103 Vor dem Hintergrund dieser

    Prämisse ist das Interesse der kambodschanischen Regierung an einer umfassenden und

    objektiven Aufarbeitung der Verbrechen der Roten Khmer zumindest fraglich.

    Weiterhin verzeichnen auch die ECCC Schwierigkeiten beim Aufbau einer effektiven

    Kooperation mit anderen Staaten. Zum einen hat Kambodscha mit vielen Staaten keine

    Auslieferungsabkommen getroffen, zum anderen kann es auch nicht auf eine freiwillige

    Kooperation bauen, da seine Nachbarländer entweder in den 1970er Jahren die Roten

    Khmer unterstützten oder bis heute von den in einigen Grenzgebieten noch immer starken

    Roten Khmer abhängig sind.104 Unter den aufgezeigten Voraussetzungen stellt sich die

    99

    Vgl. Art. 4 UN-Cambodia Agreement. 100

    Vgl. Art. 5 UN-Cambodia Agreement. 101

    Vgl. Art. 6 UN-Cambodia Agreement. 102

    Vgl. Art. 3 Abs. 5, Art. 5 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 5 UN-Cambodia Agreement. 103

    Vgl. Ratner et al.: Accountability for Human Rights Atrocities. S. 342 f. und 360. 104

    Vgl. Ratner et al.: Accountability for Human Rights Atrocities. S. 359 f.

  • Frage, ob die Sonderkammern in Kambodscha dem Anspruch einer effektiven und fairen

    Verfolgung von Makroverbrechen gerecht werden können.

    Beiden Gerichten, dem Sondergerichtshof für Sierra Leone und den Außerordentlichen

    Kammern in den Gerichten Kambodschas, ist überdies ein gewichtiges strukturelles Problem

    gemein. Beide sind aufgrund einer chronischen Unterfinanzierung und ihrer Abhängigkeit

    von freiwilligen Spenden durch Geberländer im Laufe ihrer Tätigkeit an den Rand der

    Funktionsunfähigkeit gelangt. Auch wenn dieses Szenario in beiden Fällen abgewendet

    werden konnte, bleibt dies ein grundsätzliches Problem, welches alle internationalen und

    internationalisierten Gerichte betrifft. Dabei ist zu beobachten, dass sich das finanzielle

    Problem mit Zunahme der Integration in nationale Justizsysteme und mit der „Entfernung“

    von den Vereinten Nationen deutlich verschärft.

    Die Sonderkammern zur Verfolgung schwerster Verbrechen in Ost-Timor/ Iraqi High

    Tribunal

    Nach der Durchführung eines Referendums, bei dem 80 Prozent der Bevölkerung für die

    Unabhängigkeit gestimmt hatten, eskalierte die angespannte politische Lage in Ost-Timor im

    August 1999. Ab diesem Zeitpunkt errichteten pro-indonesische Milizen mit Unterstützung

    des indonesischen Militärs eine Gewaltherrschaft. Obwohl die Notwendigkeit der juristischen

    Aufarbeitung der begangenen Menschenrechtsverletzungen offensichtlich war und eine

    Expertenkommission den Vereinten Nationen ausdrücklich die Schaffung eines weiteren Ad

    hoc-Tribunals empfahl, fand sich dafür keine Mehrheit im Sicherheitsrat.105 Stattdessen

    installierte die Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen (UNTAET) 2002

    Sonderkammern zur Verfolgung schwerster Verbrechen (Special Panels for Serious Crimes)

    innerhalb des timoresischen Justizsystems.106 Bis zum Ende seiner Tätigkeit am 20. Mai

    2005 wurden 391 Personen angeklagt und davon 84 verurteilt.

    Im Irak war die jahrzehntelange Herrschaft Saddam Husseins von der Unterdrückung der

    Bevölkerung, massenhaften Menschenrechtsverletzungen und den Kriegen gegen Iran und

    Kuwait geprägt. Im Zuge seiner Entmachtung durch die westlichen Koalitionstruppen wurde

    durch die irakische Übergangsregierung (Iraqi Interim Governing Council) am 10. Dezember

    2003 das Irakische Sondertribunal (Iraqi Special Tribunal (IST)) errichtet. Dieses Gericht

    sollte als Sondergericht Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und

    Kriegsverbrechen aburteilen. Ermächtigt wurde die irakische Übergangsregierung dazu

    weder von den Vereinten Nationen noch durch einen völkerrechtlichen Vertrag. Vielmehr

    wurde es durch das Ausführungsorgan der Besatzungsmächte, die Coalition Provisional

    105

    Vgl. Ratner et al.: Accountability for Human Rights Atrocities. S. 248 f. 106

    United Nations Transitional Administration in East Timor, the Special Representative of the Secretary-General: Regulation No. 2000/15 on the Establishment of Panels with Exclusive Jurisdiction over serious Criminal Offences (UNTAET/REG/2000/15) vom 06.06.2000.

  • Authority (CPA), die die Übergangsregierung auch ernannt hatte, dazu ermächtigt. Das

    Statut des IST war mit vielfältiger internationaler Unterstützung zustande gekommen. Erste

    Kritik an der Legitimation des Gerichts wurden nach der Integration des dann folgend als

    Iraqi High Tribunal (IHT) bezeichneten Spruchkörpers in das nationale Justizsystem durch

    das irakische Übergangsparlament 2005 laut.107 Das IHT ist primär vor den nationalen

    Strafgerichten für die genannten Verbrechen zuständig, soweit diese von irakischen

    Staatsangehörigen zwischen dem 16. Juli 1968 und dem 1. Mai 2003 begangen worden

    sind. Seine Arbeit hat es mit dem Verfahren gegen Saddam Hussein im Jahre 2005

    aufgenommen. Bislang wurden circa 90 Verfahren eingeleitet, von denen 59 mit

    Strafaussprüchen und 20 mit Freisprüchen endeten.108

    Die Sonderkammern zur Verfolgung schwerster Verbrechen in Ost-Timor sind ein

    klassisches Beispiel für das Aufeinandertreffen von politischen und juristischen Defiziten. So

    war die Unterstützung, gerade auch finanzieller Art, sowohl von Seiten der Vereinten

    Nationen als auch der timoresischen Regierung, ausgesprochen gering. Hinzu kam, dass die

    Kammern, welche stets mit zwei internationalen und einem timoresischen Richter besetzt

    waren, fachlich nicht ausreichend kompetent waren. Dies führte zu einer Vielzahl juristisch

    zweifelhafter Urteile, welche bis 2003 mangels eines Berufungsgerichts nicht angegriffen

    werden konnten. Doch auch nach der Arbeitsaufnahme durch das Berufungsgericht im Jahre

    2003 konnte keine signifikante Qualitätsverbesserung erreicht werden. Auch in der

    Folgeinstanz offenbarten viele Urteile grobe juristische Fehler,109 welche durch den Konflikt

    zwischen der nationalen Rechtslage und den anerkannten Standards des Völkerstrafrechts,

    die auf die angeklagten Verbrechen anzuwenden waren, zustande kamen.110 Problematisch

    muss ebenfalls die Rolle Indonesiens111 bei der Zusammenarbeit mit den Sonderkammern

    gesehen werden. So befanden und befinden sich von den 391 Angeklagten über 300

    Personen auf indonesischem Hoheitsgebiet, ohne eine Auslieferung fürchten zu müssen.

    Daher konnten bis zur Einstellung der Tätigkeit lediglich 84 Fälle, meist aus den niederen

    Rängen der Milizen, verhandelt werden; die 84 Angeklagten wurden alle verurteilt.112

    Der Fall des Iraqi High Tribunal zeigt einmal mehr die Schwierigkeiten der Strafverfolgung in

    instabilen politischen Situationen und bei nicht beendeten Konflikten. Aufgrund der

    107

    Vgl. Cryer, Robert / Friman, Hakan / Robinson, Darryl / Wilmshurst, Elizabeth: An Introduction to International Criminal Law and Procedure. Cambridge 2007. S. 194. 108

    Vgl. US Department of State: Human Rights Report 2009: Iraq. Ohne Ort (Washington) 2009 und US Department of State: Human Rights Report 2010: Iraq. Ohne Ort (Washington) 2010. S. 17 und 18. 109

    So z. B. wurde Anklage aufgrund von Taten erhoben, welche als Straftatbestände nicht existierten. 110

    Vgl. Cassese, Antonio: Role of Internationalized Courts and Tribunals in the Fights Against Criminality. In: Romano, Cesare P.R. / Nollkaemper, André / Kleffner, Jann K. (Hg.): Internationalized Criminal Courts and Tribunals. Oxford 2004. S. 8. 111

    Vgl, Cassese, Antonio: Role of Internationalized Courts and Tribunals in the Fights Against Criminality. In: Romano, Cesare P.R. / Nollkaemper, André / Kleffner, Jann K. (Hg.): Internationalized Criminal Courts and Tribunals. Oxford 2004. S. 9. 112

    Vgl. Ratner, Abrams, Bischoff, Accountability for Human Rights Atrocities in International Law, S. 249.

  • unsicheren Lage, angesichts einer rein national besetzten Kammer und fehlender

    rechtsstaatlicher Strukturen konnte das Tribunal weder die gerichtliche Unabhängigkeit noch

    ein faires Verfahren garantieren.113 Darüber hinaus führte die Aufnahme der Todesstrafe in

    den Strafenkatalog zur Aufkündigung oder Weigerung der Zusammenarbeit mit

    internationalen Menschenrechtsgruppen und -experten außerhalb der USA.114 Der folglich

    fehlende Zustrom an internationaler Expertise und die mangelnde Erfahrung mit den hoch

    komplexen Fragen des Völkerstrafrechts und humanitären Völkerrechts, trugen zu einer

    weiteren Verschärfung der Lage bei.115

    Paradigmenwechsel zur Jahrtausendwende: der Internationale Strafgerichtshof

    und künftige Herausforderungen für die Staatengemeinschaft

    Der Internationale Strafgerichtshof

    Der Wunsch nach einem internationalen Strafgericht lässt sich bis ins 19. Jahrhundert

    zurückverfolgen.116 Bis zu einem ersten ernsthaften Versuch, eine solche Institution auf der

    Basis eines völkerrechtlichen Vertrages zu errichten, sollte es aber noch bis zum Ende der

    1930er Jahre dauern. Doch auch 1937, nachdem auf Initiative des Völkerbundes die

    Konvention zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshof fertiggestellt war, wurde

    diese lediglich von einem Staat ratifiziert und trat daher nie in Kraft.117 Die Bemühungen

    erlebten erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den Tribunalen von Nürnberg und

    Tokio eine Renaissance. Auf Initiative der Vereinten Nationen sollte mit der 1948

    verabschiedeten Völkermordmordkonvention ein internationales Gericht begründet werden.

    Das Generalsekretariat legte schon 1947 zwei Entwürfe vor, welche die Errichtung eines

    internationalen Strafgerichts für die Zukunft in Aussicht stellten. Darüber hinaus beauftragte

    die Generalversammlung die International Law Commission (ILC) mit der Prüfung der

    Möglichkeiten zur Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofs, dessen sachliche

    Zuständigkeit Völkermord umfassen sollte. Zwar gelangten die Arbeiten der ILC 1950 bis in

    das Stadium eines Statutenentwurfs für ein solches Gericht, jedoch begannen sich die

    politischen Fronten des Kalten Krieges bereits zu verhärten und ein geschlossenes

    Vorgehen der internationalen Gemeinschaft war nicht länger möglich. Dies führte zu einem

    fast 40 Jahre dauernden Stillstand der Entwicklung und erst 1989 stieß Trinidad und Tobago

    die Diskussion um ein internationales Strafgericht erneut an. Auch wenn die Intention des

    Inselstaates sich primär auf die Bekämpfung des internationalen Drogenhandels richtete, war

    113

    Vgl. Kelly, The Ghosts of Halabja, S. 61ff., 105 ff.;Malekian, Emasculating the Philosophy of International Criminal Justice in The Iraqi Special Tribunal, 38 Cornell International Law Jounal (2005), S. 720f. 114

    Vgl. Parker, Tom: Prosecuting Saddam. In: Cornell International Law Journal. Vol. 38 (2005). S. 908. 115

    Vgl. Cryer, Robert / Friman, Hakan / Robinson, Darryl / Wilmshurst, Elizabeth: An Introduction to International Criminal Law and Procedure. Cambridge 2007. S. 194. 116

    Vgl. Moreno-Ocampo, Luis: The Tenth Anniversary of the ICC and Challenges of the Future: Implementing the Law. Rede vom 08.10.2008 in London. S. 3, abrufbar unter http://www.iccnow.org/documents/20081007LuisMorenoOcampo.pdf (27.06.2011). 117

    Vgl. Ratner et al.: Accountability for Human Rights Atrocities. S. 230.

    http://www.iccnow.org/documents/20081007LuisMorenoOcampo.pdf

  • die Initiative Anstoß, um die Frage eines permanenten internationalen Strafgerichtshof

    erneut in den Fokus der Vereinten Nationen zu rücken. Nahm man sich des Themas

    zunächst eher zögerlich an, brachte die Eskalation des Konfliktes im ehemaligen

    Jugoslawien ab 1991 die notwendige Dynamik und zugleich eine Fokussierung auf die dort

    begangen Verbrechen. Bereits 1994 legte die ILC einen ersten Entwurf für ein Statut eines

    internationalen Strafgerichtshofs vor, welcher weitreichende sachliche Zuständigkeiten118

    erhalten sollte. Obwohl diese Entwicklungen in eine Zeit fielen, die ganz im Zeichen der

    Stärkung des Menschenrechtsschutzes und der Euphorie über das Ende des Kalten Krieges

    stand, stieß der Entwurf der ILC doch auf so viel Skepsis, dass sich die UN-

    Generalversammlung zu einer Überprüfung und Weiterentwicklung des Textes genötigt sah.

    In einem zu diesem Zweck gegründeten Arbeitsausschuss bildete sich schließlich eine

    Staatengruppe heraus, die das gemeinsame Ziel der Errichtung eines internationalen

    Strafgerichtshofs verband und die auch die notwendige politische Durchsetzungsfähigkeit

    besaß, dieses Ansinnen in die Tat umzusetzen. Diese Gruppe vereinbarte daher 1998 eine

    Zusammenkunft in Rom, auf Basis der Vorarbeiten der ILC einen internationalen

    Strafgerichtshof zu schaffen. Die fünfwöchigen Verhandlungen in Rom waren von einer

    Vielzahl ganz unterschiedlicher politischer und juristischer Probleme gekennzeichnet, waren

    zugleich aber geprägt von der Anwesenheit vieler zivilgesellschaftlicher Akteure sowie

    einiger noch lebender ehemaligen „Nürnberger“ Ankläger. Doch schließlich gelang es den

    Verhandlungsparteien, einen Statutentext fertigzustellen. Dieser wurde auf der

    Schlussversammlung angenommen und würde nach der Ratifizierung und dem Beitritt von

    60 Staaten in Kraft treten. Diese Hürde wurde überraschend schnell genommen, so dass d