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VORSORGESTRATEGIEN FÜR NANOMATERIALIEN Kurzfassung für Entscheidungsträger September 2011

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VORSORGESTRATEGIEN

FÜR NANOMATERIALIENKurzfassung für Entscheidungsträger

September 2011

Fragestellung:

Vorsorge prinzip und

Nanomaterialien

Neue Technologien bereichern in vielfacher Weiseunser Leben und bieten wertvolle Ansatzpunkte fürdie Lösung drängender gesellschaftlicher Proble-me. Auch um im globalen Wettbewerb bestehen zukönnen, ist Deutschland auf Innovationen angewie-sen. Neue Technologien bringen allerdings auch Ri-siken mit sich, deren Natur und Umfang sich in derRegel erst allmählich herausstellen. Entscheidun-gen darüber, wie neue Technologien weiterentwi-ckelt und wo sie möglicherweise beschränkt wer-den sollten, müssen daher oft unter Unsicherheitgetroffen werden.

In der Vergangenheit wurden wirtschaftliche Aktivi-täten häufig erst dann im Interesse des Umwelt-oder Gesundheitsschutzes eingeschränkt, wennSchadwirkungen mit hinreichender Wahrschein-lichkeit wissenschaftlich belegt werden konnten.Fehlen jedoch wissenschaftliche Erkenntnisse, dieden kausalen Zusammenhang zwischen einemStoff, einem Produktionsverfahren oder einem Pro-dukt einerseits und einem Schaden andererseitsbeweisen, dann kann man nicht von jener hinrei-chenden Wahrscheinlichkeit eines Schadens ausge-hen wie sie für die klassische Gefahrenabwehr imRechtssinne typisch ist. Inzwischen hat sich jedochaufgrund negativer Erfahrungen in der Vergangen-heit der Gedanke durchgesetzt, dass – unter sorg-fältiger Abwägung von Kosten und Nutzen – Risi-ken für Mensch und Umwelt auch dann präventivvermieden werden sollten, wenn noch wissen-schaftliche Unsicherheiten bestehen. Dies ist derKerngedanke des Vorsorgeprinzips, das im Rechtvielfach Anerkennung gefunden hat. Das Vorsorge-prinzip ist insbesondere dann anwendbar, wennwissenschaftliche Beweise nicht ausreichen oderim Expertenstreit stehen, jedoch aufgrund einervorläufigen wissenschaftlichen Risikobewertungbegründeter Anlass zur Besorgnis besteht. Im Be-reich der Risikovorsorge reicht diese abstrakte Be-sorgnis eines Schadenseintritts aus, um staatlicheMaßnahmen zu legitimieren. Um aber eine rechts-staatlich bedenkliche “Vorsorge ins Blaue hinein”zu vermeiden, muss der Vorsorgeanlass bestimmt

werden, wobei zwei aufeinanderfolgende Schrittezu unterscheiden sind: die Risikoermittlung und dienormative Risikobewertung. Kann in diesem Rah-men der Vorsorgeanlass nicht eindeutig bestimmtwerden, so impliziert das Vorsorgeprinzip eine Be-weislastumkehr, die es dem Gesetzgeber erlaubt,Maßnahmen zu ergreifen. In der Folge ist es Sachedes Risikoverursachers, die angestellte Gefährlich-keitsvermutung zu widerlegen und damit den Be-sorgnisanlass zu erschüttern. Sollen Maßnahmenzur Risikovorsorge getroffen werden, so bestehteine breite Palette von Handlungsoptionen.

Die Einführung und Verwendung von Nanomateria-lien ist ein aktuelles Beispiel, bei dem das Vorsor-geprinzip eine wichtige Rolle spielen sollte, insbe-sondere wenn das Wissen um Gefahren (im Rechts -sinne) weitgehend fehlt. Das Vorsorgeprinzip ver-langt, dass Chancen und Risiken von Nanomateria-lien strukturiert erfasst und abgewogen werden.Entscheidungen zur Regulierung können hierdurchso vorbereitet werden, dass sie die Entwicklung derTechnologien fördern und gleichzeitig die mögli-chen Risiken begrenzen. Auf diesem Wege kanndas Vorsorgeprinzip einen Beitrag dazu leisten, Ver-trauen und gesellschaftliche Akzeptanz für die Ver-wendung von Nanomaterialien zu fördern.

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU)spricht sich dafür aus, das Vorsorgeprinzip in Ge-sellschaft, Politik, Recht und Verwaltungshandelnals Leitprinzip im Umgang mit Unsicherheit stärkerzu verankern. Das vorliegende Gutachten analysiertexemplarisch für den Bereich der Nanomaterialienin welchem Umfang das Vorsorgeprinzip bereitsheute zur Anwendung kommt, wo Defizite beste-hen und wie diese geschlossen werden können.Die Nanotechnologien eignen sich für eine solcheUntersuchung in besonderer Weise, denn hier bün-deln sich die gesellschaftlichen Debatten um dieChancen und Risiken einer neuen Technologie. DieNanotechnologien werden einerseits wegen ihresPotenzials zur grundlegenden Veränderung ganzerTechnologiefelder als Schlüsseltechnologie des21. Jahrhunderts angesehen. Andererseits ist ihrRisikopotenzial sehr heterogen und schwer prog-nostizierbar. Dies hängt sowohl mit den neuen Ei-genschaften der Materialien als auch mit der Viel-falt von Strukturen, Produkten und Anwendungs -feldern zusammen.

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Chancen durch Nanomaterialien

Bei vielen Produkten, die heute mit der Bezeich-nung “Nano” beworben werden (z. B. antibakteriellbeschichtete Haushaltsgegenstände), ist der Nut-zen der nanotechnologischen Komponente be-grenzt oder umstritten. Solche Verbraucherproduk-te stellen allerdings nur einen sehr kleinen Bereichdes Anwendungsspektrums von Nanotechnologiendar. Technologisch und ökonomisch bedeutsamersind Bereiche, in denen der Einsatz nanotechnolo-gischer Verfahren und Materialien weniger offen-sichtlich ist, beispielsweise in der Elektronik und alsZwischenprodukt in Produktionsverfahren in derchemischen Industrie. Es ist unstrittig, dass Nano-technologien langfristig vielfältige neue technolo -gische Möglichkeiten eröffnen werden. Dabei be-

steht Grund zur Hoffnung, dass sie in manchen Be-reichen nicht nur ökonomischen Gewinn schaffen,sondern auch einen hohen gesellschaftlichen Nut-zen mit sich bringen, beispielsweise in der Medizin.Auch die ökologischen Chancen der Nanotechnolo-gien werden vielfach betont. Bisher schlagen sichdiese Hoffnungen aber noch wenig in der Realitätnieder. Die wenigen bisher vorliegenden ökobilan-ziellen Vergleiche haben ergeben, dass nanotechni-sche Anwendungen nicht prinzipiell mit hohen öko-logischen Entlastungspotenzialen verbunden sind.Längerfristig bestehen allerdings Erwartungen,dass es zu entscheidenden technologischen Ver-besserungen kommt, beispielsweise in der Solar-technologie und der Energiespeicherung.

Risiken durch Nanomaterialien

Eine wichtige Erkenntnis der Risikoforschung ist zunächst, dass Nanomaterialien nicht nur anderephysikalische und chemische Eigenschaften auf-weisen als das vergleichbare Material herkömmli-cher Größe, sondern sich auch im Verhalten und inder Wirkung im lebenden Organismus und in derUmwelt unterscheiden können. Problematisch istdabei insbesondere, dass Nanomaterialien im Ver-gleich zu herkömmlichen Materialien abweichendeEigenschaften haben, die für biologische Folgenwichtig werden können, sowie eine höhere Mobili-tät in den Umweltmedien und im Organismus be-sitzen als größer strukturiertes Festmaterial. Daherkönnen Nanomaterialien auch im Blick auf ihre bio-logische Wirkung nicht mit dem herkömmlichenMaterial gleichgesetzt, sondern sollten als “neueStoffe” bewertet werden.

Pauschale Urteile über die Risiken von Nanomate-rialien sind nicht möglich: Manche Materialien sindnach heutigem Kenntnisstand weitestgehend unbe-denklich, bei anderen zeigen Forschungsergebnisseein relevantes Risikopotenzial auf. Bisher gibt eskeine wissenschaftlichen Beweise dahin gehend,dass Nanomaterialien – wie sie heute hergestelltund verwendet werden – zu Schädigungen vonUmwelt und Gesundheit führen. Diese Feststellungkann allerdings nicht als pauschale Entwarnung

verstanden werden, da bei vielen Nanomaterialienstandardisierte Testmethoden für eine umfassendeRisikobewertung fehlen und das Wissen um ihremöglichen negativen Wirkungen begrenzt ist. Esgibt derzeit vielmehr einige Produkte und Verwen-dungen, bei denen Anlass zur Besorgnis (im Sinnedes Vorsorgeprinzips) besteht. Dazu gehören dieVerwendung von Nanomaterialien in verbraucher-nahen Sprays, die zunehmende Vermarktung vonVerbraucherprodukten, die Silber-Nanopartikel ent-halten sowie die Herstellung und der Umgang mitsolchen faser- oder röhrenförmigen Kohlenstoffna-nomaterialien, die ein kanzerogenes Potenzial auf-weisen. Zu erwarten ist außerdem, dass in dennächsten Jahren zahlreiche weitere Nanoprodukteauf den Markt kommen werden. Damit wächst auchdas Risiko, dass sich die Zahl der problematischenProdukte erhöht. Sehr wahrscheinlich ist außer-dem, dass die Menge von Nanomaterialien in Her-stellungsprozessen, Produkten, Abwasser und Ab-fall weiter zunimmt.

Obwohl also manche Nanomaterialien problemati-sche Eigenschaften besitzen, besteht nach heuti-gem Kenntnisstand die Herausforderung nicht sosehr in der konkreten Gefährlichkeit von Nanoma-terialien, sondern darin, dass Risikoforschung und -regulierung mit der dynamischen Technikentwick-

lung kaum mithalten können. Ein wesentlicherGrund dafür besteht darin, dass besondere metho-dische Schwierigkeiten bei der Durchführung vonToxizitätstests bestehen, beispielsweise bei derCharakterisierung, Vorbereitung oder bei der Stan-dardisierung des zu testenden Materials. Ein eben-

so großes Problem besteht aber im Variantenreich-tum der neuen Materialien, denn es können durchkleine Veränderungen Dutzende oder sogar Hun-derte Varianten eines Materials hergestellt werden,die sich alle in ihrer Wirkung und in ihrem Umwelt-verhalten unterscheiden können.

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Empfehlungen zum vorsorgeorientierten Umgang

mit Nanomaterialien

Anliegen des Gutachtens ist es, die konsequenteAnwendung des Vorsorgeprinzips auf Nanomate-rialien sicherzustellen. Dies bedeutet aber nicht,dass alle möglicherweise riskanten Produkte undStoffe beschränkt oder verboten werden sollen.Denn das Vorsorgeprinzip zielt nicht darauf ab, In-novationen zu bremsen, sondern ihre Chancen undRisiken auszubalancieren. Um solche Abwägungs-prozesse für Nanomaterialien und produkte dort zuermöglichen, wo ein Anlass zur Besorgnis besteht,schlägt der SRU zahlreiche Maßnahmen vor. Diewichtigsten Empfehlungen werden im Folgendenzusammengefasst.

Zentrale Handlungsempfehlungen

— Die Hersteller von Nanomaterialien sind ver-

stärkt in die Pflicht zu nehmen, Daten zu Risi-

ken von Nanomaterialien vorzulegen.

— Der Anteil der Risikoforschung an der öffentli-

chen geförderten Nanotechnologieforschung

sollte deutlich erhöht werden.

— Bestehende Dialogaktivitäten sollten in die

gesellschaftliche Breite weiterentwickelt wer-

den.

— Für eine übergreifende Definition von Nano-

materialien ist eine obere Größenbegrenzung

von 300 nm zu empfehlen. Für spezielle Regu-

lierungszwecke kann eine engere Größenbe-

grenzung sinnvoll sein.

— In vielen Rechtsbereichen bestehen nano -

spezifische Regulierungslücken, die schnellst-

möglich im Lichte des Vorsorgeprinzips ge-

schlossen werden sollten. Die Analysen des

Gutachtens zeigen in manchen Bereichen aber

Vorsorgedefizite auf, die auch hinsichtlich an-

derer Stoffe und Produkte bestehen. Einige

Empfehlungen verweisen daher auf Hand-

lungsbedarf über die Regulierung von Nano-

materialien hinaus.

— Zur Verbesserung der Markttransparenz soll-

ten bestehende Kennzeichnungspflichten um

einen “Nanozusatz” ergänzt werden. Gekenn-

zeichnet werden sollten außerdem Produkte,

die Nanomaterialien freisetzen oder durch sie

bestimmte relevante Wirkungen (beispiels-

weise antibakterielle Wirkungen) erzielen. Für

andere Nanoprodukte sollte eine Meldepflicht

eingeführt werden, die in ein teil-öffentliches

Produktregister mündet.

— Im Chemikalienrecht (REACH) sind umfangrei-

che Änderungen nötig: Nanomaterialien soll-

ten grundsätzlich wie eigenständige Stoffe

behandelt und mit eigenem Dossier registriert

werden. Für Nanomaterialien sollte ein Basis-

datensatz eingereicht werden müssen, der je

nach Partikelgröße die Beobachtung oder eine

vorläufige Risikoabschätzung gewährleistet.

Mengenschwellen müssen für Nanomateria-

lien abgesenkt und die Standarddatenanfor-

derungen ergänzt werden. Die Zulassung

sollte stärker vorsorgeorientiert ausgestaltet

werden. Auch Beschränkungen und Verbote

sollten schon bei abstrakter Besorgnis mög-

lich sein.

— Im Produktrecht ist dafür zu sorgen, dass bei

bestehenden Zulassungsverfahren Nanomate-

rialien immer eigenständig zugelassen wer-

den. Für schwach regulierte Produkte sollte

eine Ermächtigungsgrundlage geschaffen

werden, die Eingriffe auf Grundlage des Vor-

sorgeprinzips ermöglicht.

— Im Umweltrecht besteht ein enormer For-

schungs- und Prüfungsbedarf. Anlagenbetrei-

ber sollten verpflichtet werden, die Emissio-

nen von Nanomaterialien, bei denen eine

abstrakte Besorgnis besteht, zu minimieren.

1. Stärkung der Risikoforschung

Voraussetzung für die verantwortungsvolle Fortent-wicklung der Nanotechnologien ist es, die derzeitzunehmende Kluft zwischen Technikentwicklungund Risikowissen zu verringern. Um dieses Ziel zuerreichen, sollten folgende Maßnahmen ergriffenwerden:

Die Hersteller sind verstärkt in die Pflicht zu neh-men, umfassende und aussagekräftige Daten zuden Risiken von Nanomaterialien vorzulegen. Dasbestehende europäische Chemikalienrecht bietetdafür einen guten Rahmen, muss allerdings für Na-nomaterialien angepasst werden (s. u.).

Der Anteil der Risikoforschung an der öffentlichengeförderten Nanotechnologieforschung sollte deut-lich erhöht werden.

Wo wegen fehlender Daten keine umfassende na-turwissenschaftliche Risikobewertung möglich ist,sollte auf Grundlage von spezifischen Be- und Ent-lastungskriterien eine vorläufige Risikoabschätzungdurchgeführt werden. Sie ermöglicht eine Abwä-gung von Chancen und Risiken bei Unsicherheit.Der SRU schlägt Kriterien und einen Entscheidungs-baum als Grundlage zur Bestimmung des nano - spezifischen Besorgnispotenzials vor.

2. Förderung des gesellschaftlichen

Dialogs

Der SRU bewertet die bisherigen Dialogansätze inDeutschland und der EU tendenziell positiv. Den-noch ist festzustellen, dass die bisherigen Institutio-nen und Dialogforen nur eine relativ kleine Gruppevon Fachleuten erreicht haben. Somit schreitet dieEntwicklung, Verwendung und Regulierung vonNanomaterialien voran, ohne dass eine breitere Öf-fentlichkeit dies ausreichend zur Kenntnis nimmt.Daher sieht der SRU Bedarf für eine Weiterentwick-lung bestehender Aktivitäten in der gesellschaftli-chen Breite. Dabei ist darauf zu achten, dass alleKommunikationsprozesse transparent ablaufen,ausgewogen Risiken und Chancen thematisieren,wichtige Einzelthemen in den Fokus rücken sowieNicht-Fachleute – Verbraucher und interessierteBürger – integrieren. Insbesondere plädiert derSRU dafür, bestehende Institutionen mit der Fort-führung des gesellschaftlichen Dialogs zur Nano-technologie zu beauftragen und die sozialwissen-schaftliche Begleitforschung stärker zu insti tu -tionalisieren.

3. Rechtlicher Rahmen für die Regulie-

rung von Nanomaterialien

Trotz ihrer Besonderheiten sind die heute herge-stellten Nanomaterialien zunächst chemische Stof-fe, für die bereits ein umfassendes Regelwerk be-steht. Sie werden in Produkten verwendet, dieebenfalls Regulierungen unterliegen. SpezifischeRegelungen für Nanomaterialien sollten daher andas bestehende Recht anknüpfen. Weil allerdingssehr viele Rechtsbereiche betroffen sind (Chemika-lien, Abfall, Immissionsschutz, Lebensmittel, Kos-metik etc.), könnte bei der Anpassung von zahlrei-chen Einzelnormen die Transparenz für die Öffent-lichkeit verloren gehen. Außerdem ist unter syste-matischen Aspekten eine Regelung sinnvoll, diesektorübergreifend bestimmte Grundregeln für denUmgang mit Nanomaterialien festlegt. Aus diesenGründen schlägt der SRU vor, dass die verschiede-nen bereichsspezifischen Anpassungen in einemRechtsakt gebündelt werden, sodass bestimmteübergreifende Vorgaben “vor die Klammer” gezo-gen werden können. Dieser allgemeine Teil einessolchen, möglichst auf europäischer Ebene zu er-

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lassenden Rechtsaktes sollte vor allem eine über-greifende Definition beinhalten, die Anwendungdes Vorsorgeprinzips vorschreiben und eine Er-mächtigungsgrundlage für vorsorgeorientierte Ein-zelmaßnahmen bieten. Als übergreifende Definiti-on für Nanomaterialien, die einen Rahmen für Poli-tik und Regulierung bilden sollte, empfiehlt derSRU eine obere Größenbegrenzung von 300 nm.Die Größenbegrenzung sollte sich eindeutig nurauf die Primärpartikel beziehen. Die Agglomerateund Aggregate der Primärpartikel sollten ohne Größenbegrenzung von der Definition mit umfasstwerden. Für spezielle Regulierungszwecke kanndiese Definition enger gefasst werden, wenn diessinnvoll erscheint, um zum Beispiel bestimmtenicht risikorelevante Materialien auszuschließen.

4. Schließung nanospezifischer Rege-

lungslücken

Derzeit werden Nanomaterialien im Recht in derRegel nicht eigenständig betrachtet. Zum Beispielwird nanoskaliges Titandioxid normalerweiserechtlich genauso behandelt wie herkömmliches Titandioxid, das sich aus größeren Partikeln zusam-mensetzt. Dies ist jedoch problematisch, weil vonder nanoskaligen Variante möglicherweise andereRisiken ausgehen als vom herkömmlichen Material.So können beispielsweise bestimmte Grenzwertefür ein Nanomaterial zu hoch angesetzt sein, weiles bei gleicher Massenkonzentration eine größereReaktivität besitzt als das herkömmliche Material,für das die Grenzwerte festgelegt wurden. Auchsind zur Abschätzung des Risikos bei Nanomateria-lien normalerweise zusätzliche Tests und Daten er-forderlich, die gesondert festgelegt werden müs-sen. Solche nanospezifischen Regelungslückensollten schnellstmöglich behoben werden. Dies er-fordert aber nicht nur eine Überarbeitung von tech-nischen Durchführungsdokumenten, sondern auchGesetzesänderungen in verschiedenen Rechtsbe-reichen.

Grundsätzlich zeigen die Analysen im Sondergut-achten, dass bei der Regulierung von Nanomateria-lien nicht nur nanospezifische Regelungslücken be-stehen, sondern dass in verschiedenen Bereichendes Stoff-, Umwelt- und Produktrechts auch allge-meine Vorsorgedefizite festzustellen sind, die eben-

so für andere Stoffe und Produkte gelten. Einigeder im Sondergutachten für Nanomaterialien vor-geschlagenen rechtlichen Änderungen könnten da-her auch für die Regulierung anderer Stoffe undProdukte als Vorbild dienen.

5. Kennzeichnung und Produktregister

Der SRU hält es unter Vorsorgeaspekten für erfor-derlich, dass bei der Verwendung von Nanomate-rialien in Produkten mehr Transparenz geschaffenwird. Einerseits müssen Behörden in der Lage sein,sich einen Marktüberblick zu verschaffen, nicht zu-letzt um schnell reagieren zu können, wenn Hinwei-se auf konkrete Gefahren bekannt werden. Anderer-seits sollte den Verbrauchern grundsätzlich eineWahlfreiheit ermöglicht werden. Der SRU sprichtsich daher unter anderem für die folgenden Maß-nahmen aus:

Für Produkte (z. B. Lebensmittel), deren Inhaltsstof-fe bereits nach jetziger Rechtslage auf der Verpa-ckung anzugeben sind, sollte die Kennzeichnungum einen “Nanozusatz” ergänzt werden. Eine neueKennzeichnungspflicht sollte nur für Produkte ein-geführt werden, bei denen durch nanoskalige In-haltsstoffe bestimmte relevante Wirkungen (bei-spielsweise antibakterielle Wirkungen) erzielt wer-den sollen oder die Nanomaterialien freisetzen.Für nicht-kennzeichnungspflichtige Produkte, diegezielt hergestellte Nanomaterialien enthalten, soll-te eine Meldepflicht eingeführt werden. Die Melde-pflicht sollte in ein teil-öffentliches Produktregistermünden.

Sind mit der Verwendung von Nanoprodukten be-stimmte Risiken verbunden, so sollten die Verbrau-cher hierauf unter Angabe von Verwendungshin-weisen aufmerksam gemacht werden.

6. Reformbedarf im Stoffrecht

Zur Schließung nanospezifischer Regelungslückensind unter anderem die folgenden Anpassungendes Stoffrechts nötig:

Nanomaterialien sind grundsätzlich wie eigenstän-dige Stoffe zu behandeln, um sicherzustellen, dass

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sie separat registriert, getestet, bewertet, gekenn-zeichnet und behandelt werden. Nanomaterialiensollten darüber hinaus definiert und zum Anknüp-fungspunkt für spezifische rechtliche Pflichten ge-macht werden.

In REACH sollten Nanomaterialien verpflichtendmit einem eigenen Dossier registriert werden. Diefür Altstoffe geltenden Übergangsfristen und diefür einige Stoffe formulierten Ausnahmen solltenfür Nanomaterialien nicht gelten. Die Mengen-schwellen müssen für Nanomaterialien abgesenktwerden. Parallel sollte geprüft werden, inwiefernsich andere Parameter zur Auslösung der gestaffel-ten Datenanforderungen eignen. Auch die Stan-darddatenanforderungen für die Registrierungmüssen angepasst und ergänzt werden. Der SRUspricht sich zudem für die Einführung eines Basis-datensatzes aus, der in seinem Umfang je nachGröße des Nanomaterials variiert. Dieser Basisda-tensatz sollte auch dann einzureichen sein, wennein Nanomaterial in geringeren Mengen als einerTonne pro Jahr hergestellt wird. Für alle Nanoma-terialien, bei denen auf Basis einer vorläufigen Risi-koabschätzung ein Anfangsverdacht besteht, sollteein umfassender Stoffsicherheitsbericht verpflich-tend sein.

Überdies ist es erforderlich, in REACH eine demVorsorgeprinzip entsprechende Rechtsgrundlagefür Eingriffe zu schaffen. Konkret bedeutet dies:Der Zulassungsvorbehalt in REACH sollte so ausge-staltet werden, dass schon bei der Möglichkeitschwerwiegender Wirkungen auf die menschlicheGesundheit oder die Umwelt eine Zulassungs-pflicht für Stoffe begründet werden kann. Diesesollte eine dem Vorsorgeprinzip entsprechende widerlegbare Gefährlichkeitsvermutung zulastendes Antragstellers enthalten.

Verbote und Beschränkungen sollen immer schondann möglich sein, wenn bei Nanomaterialien eineabstrakte Besorgnis festgestellt wurde.

7. Reformbedarf im Produktrecht

In manchen Bereichen des Produktrechts bestehenbereits vorsorgeorientierte Regulierungsregime,bei denen lediglich sichergestellt werden muss,

dass die Besonderheiten von Nanomaterialien an-gemessen berücksichtigt werden. Grundsätzlich be-deutet dies, dass die bestehenden Zulassungsver-fahren (z. B. bei Lebensmitteln, Lebensmittelbe-darfsgegenständen und Kosmetika) so auszugestal-ten sind, dass Nanomaterialien eigenständig zuge-lassen werden müssen. Eine Zulassung sollte hier-bei zum einen nur dann erteilt werden, wenn dieSicherheit der Verwendung des Nanomaterialsnachgewiesen ist. Solange Methoden zur Bewer-tung von Risiken und entsprechende Prüfanforde-rungen noch fehlen, kommt nur eine vorläufige Zu-lassung in Betracht, die unter dem Vorbehalt einererneuten Prüfung steht. Eine Zulassung sollte zumanderen nur dann erteilt werden, wenn es Metho-den zum Nachweis von Nanomaterialien im Pro-dukt gibt.

Für Produkte, die bisher weniger streng reguliertwerden, sollte eine Ermächtigungsgrundlage ge-schaffen werden, die es Behörden ermöglicht, Maß -nahmen (z. B. Zulassungsvorbehalte, Beschränkun-gen oder Kennzeichnungspflichten) bereits dann zuergreifen, wenn “nur” eine abstrakte Besorgnis be-steht. Diese Ermächtigungsgrundlage könnte inden vom SRU vorgeschlagenen übergreifendenRechtsakt (s. o.) aufgenommen werden.

8. Reformbedarf im Umweltrecht

Grundsätzliches Problem beim Schutz der Umweltvor dem Eintrag von Nanomaterialien ist, dass überderen Freisetzung, Verhalten und Wirkung in derUmwelt nur punktuelle Erkenntnisse vorliegen. Füreine untergesetzliche Festlegung von Grenzwertenfehlt es entsprechend noch an einer ausreichendenwissenschaftlichen Entscheidungsbasis. Nach Ein-schätzung des SRU wird es daher auf längere Sichtin vielen Bereichen bei Einzelfallentscheidungenbleiben müssen.

Es kann davon ausgegangen werden, dass Einträgevon synthetischen Nanomaterialien in die Umweltbisher nur bei wenigen Stoffen in größerem Umfangvorkommen. Es ist aber zu erwarten, dass sich derUmfang der Einträge in Zukunft erhöhen wird. Da-her ist dringend geboten, die Voraussetzungen dafürzu schaffen, dass Nanomaterialien in möglichst ge-ringem Ausmaß in die Umwelt gelangen. Der SRU

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sieht zunächst folgende Maßnahmen als prioritär trakte Besorgnis festgestellt wurde, das Emissions-an: minimierungsgebot gelten. Den Behörden sollten

Leitfäden an die Hand gegeben werden, anhand de-Anlagenrecht: Der Umgang mit nicht- oder kaum rer sie im Einzelfall Vorgaben formulieren können.löslichen Nanomaterialien sollte dem immissions- Hierzu sollten sie mit umfangreichen Informations-schutzrechtlichen Genehmigungsvorbehalt unterlie- rechten ausgestattet werden.gen. Darüber hinaus sollte erwogen werden, eineAnzeigepflicht für Herstellung und Verwendung aller Abfall: Hier besteht enormer Forschungsbedarf, bei-Nanomaterialien zu etablieren. Die Störfallverord- spielsweise bei der Entwicklung von geeignetennung sollte auch bei Anlagen angewandt werden, in Messverfahren sowie zum Verhalten bzw. zur Frei-denen Nanomaterialien vorhanden sind, bei denen setzung von Nanomaterialien bei Verwertung, Ver-ein Anlass zur Besorgnis besteht. brennung und Deponierung. Bis genauere Kenntnis-

se über das Verhalten von Nanomaterialien im Ab-Schutz von Umweltmedien: Es sollte zügig geprüft fallpfad vorliegen, sollten zumindest nanomaterial-werden, inwiefern für einzelne oder gruppierbare haltige Produktionsabfälle aus Gründen der Vorsor-Nanomaterialien Verbote, Qualitätsnormen oder ge als gefährlicher Abfall eingestuft werden. Für be-Emissionsgrenzwerte festgelegt werden können. Der stimmte nanomaterialhaltige Abfälle sollte die Ein-“Stand der Technik” muss konkretisiert und geeig- führung von Rücknahmesystemen geprüft werden,nete Messtechniken müssen entwickelt werden. Zu- um zu verhindern, dass sie in den Siedlungsabfalldem sollte für Nanomaterialien, bei denen eine abs- gelangen.

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Vorsorge jenseits der Nanotechnologie

Der SRU berät die Bundesregierung seit 1972 in Fragen der Umwelt -politik. Die Zu sammensetzung des Rates aus sieben Universitäts profes -sorinnen und -professoren verschiedener Fachdisziplinen gewährleisteteine wissenschaftlich unabhängige und umfassende Begutachtung, sowohl aus naturwissenschaftlich-technischer als auch aus ökonomi-scher, rechtlicher und politikwissenschaftlicher Perspektive. Der Rat besteht derzeit aus folgenden Mitgliedern:

Prof. Dr. Martin Faulstich (Vorsitzender), Technische Universität MünchenProf. Dr. Heidi Foth (stellv. Vorsitzende), Universität Halle-WittenbergProf. Dr. Christian Calliess, Freie Universität Berlin Prof. Dr. Olav Hohmeyer, Universität FlensburgProf. Dr. Karin Holm-Müller, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität BonnProf. Dr. Manfred Niekisch, Goethe-Universität Frankfurt und Zoologischer Garten FrankfurtProf. Dr. Miranda Schreurs, Freie Universität Berlin

Impressum

Herausgeber:

Sachverständigenrat für Umweltfragen

Geschäftsstelle:

Luisenstraße 4610117 BerlinTelefon: (0 30) 26 36 96 -104Fax: (0 30) 26 36 96 -109E-Mail: [email protected]: www.umweltrat.de

Bildrechte:

Seite 1: Bernd Müller (1 – 6)

Gestaltung & Produktion:

BLOCK DESIGN Kommunikation & Werbung

Eine PDF-Datei des Sondergutachtens

sowie weitere Informationen zum Thema

finden Sie unter www.umweltrat.de

Das vorliegende Gutachten hat Wege aufgezeigt, kobereiche übertragbar. Nur wenn neue Technolo-wie ein vorsorgender Umgang mit Nanotechnolo- gien vorsorgeorientiert weiterentwickelt werdengien in der Praxis gelingen kann und welche Verän- und dem Prinzip der Nachhaltigkeit Rechnung ge-derungen dafür notwendig sind. Nach Auffassung tragen wird, kann das in einer demokratischen Ge-des SRU sind wesentliche Erkenntnisse dabei im sellschaft notwendige Vertrauen in den technischenGrundsatz auch auf andere Technologien und Risi- Fortschritt gesichert werden.