Vorstellungsbildung im Unterricht · bung mittels strukturierter Aufgabenreihen (2001–2004) –...

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Zur Entwicklung und Bedeutung der Vorstellungskraft Angeknüpft wird in der Untersuchungsreihe an das frühkindliche ästhetische Lernen der Kin- der, wo Vorstellungen gebildet werden und da- mit eine sinnenhafte Grundlage für produktive Phantasie und bildhaftes, anschauliches Denken gelegt wird. Der Kunstdidaktiker Erich Müller beschreibt diesen Prozess wie folgt: «Im schein- bar zwecklosen Spiel […] kombiniert [das Kind] mit Hilfe greifbarer Dinge und handelt mit die- sen. Bei solchem Tun sind der Tastsinn, der Be- wegungsapparat (Sensomotorik) und der Ge- sichtssinn (das Sehen) beteiligt und aufs engste verknüpft. […] Eine äussere Handlung [wird] so verinnerlicht, dass diese im Gedächtnis als Vor- stellung haften bleibt.» (Müller, S. 65–66) Sol- che Vorstellungen erlauben dem Kinde zuneh- mend, bekannte und variierte, oder aber auch neue Spielsituationen in innerer Schau zu pla- nen und vorauszusehen. Es entsteht «eine Vor- ratskammer voller Hinweise» (Broudy, zit. nach Eisner, S. 15), die Kinder auch benötigen, um beispielsweise verstehend lesen und das heisst – dank des Zusammenwirkens von Konzeptionen, Bildern und Erinnerungen –, die Bedeutung des Gelesenen oder Gehörten erfassen zu können. «Sich ein Bild von der Welt zu machen und sich etwas bildhaft sowohl in stofflicher als auch in mentaler Form vorzustellen oder vorwegzuneh- men, ist […] ein Grundzug menschlicher Exi- stenz» (Zülch, S. 3), und es ist dies – noch grundsätzlicher – die Voraussetzung für kultu- relle, wissenschaftliche, technische und politi- sche kreative Leistungen. Eine Erprobung in der Praxis Im Rahmen eines Entwicklungsprojektes mit be- gleitender Forschung – Förderung von Kindern mit unterschiedlicher visuell-räumlicher Bega- bung mittels strukturierter Aufgabenreihen (2001–2004) – haben Studierende und Praxis- lehrpersonen an der Pädagogischen Hochschule Aargau (ehemals Höhere Pädagogische Lehran- stalt HPL) Lernumgebungen, insbesondere die Im Zusammenspiel von Wahrnehmen, Handeln und Denken bilden sich Kinder in lustvoller Art und Weise Vorstellungen von Dingen und Phä- nomenen und entwickeln so eine Beziehung zu ihrer erlebten Umwelt. Mittels verschiedener Aufgabenreihen – für das Schulfach Bildneri- sches Gestalten entwickelt und erprobt im Rahmen eines Entwicklungsprojekts mit be- gleitender Forschung – wurde untersucht, wie ästhetische Erfahrungsprozesse initiiert und wie die Bildung von Vorstellungen angeregt und begleitet werden können. Nachfolgend ein kommentierter Ausschnitt aus einer jener Aufgabenreihen. Didaktische Grundfigur «Trias» Zur Umsetzung des eingangs formulierten fach- didaktischen Anliegens in der Praxis wurde 1999–2001 in der Fachdidaktik Bildnerische Gestaltung die didaktische Grundfigur «Trias» entwickelt (Abb.1). Mit ihr wird das Zusammen- spiel zwischen Wahrnehmen, Denken und Han- deln bzw. Sehen, sich Vorstellen und Darstellen ins Zentrum der Unterrichtsarbeit gestellt. Sie basiert auf ästhetischen Erfahrungs- und Bil- dungsprozessen, wie sie in der aktuellen Kunst- pädagogik resp. im Unterricht Bildnerische Gestaltung verstanden werden (vgl. Beitrag Pädagogik und Kunst in diesem Heft). Vorstellungsbildung im Unterricht Edith Glaser-Henzer didaktische Grundfigur «Trias», kennen gelernt, Aufgabenreihen weiterentwickelt und mit Kin- dern in der Praxis erprobt. Nachfolgend wird ein Ausschnitt aus der Auf- gabenreihe Kisten, Kasten, Käfige für eine 4. Primarklasse vorgestellt. 1) In dieser Aufga- benreihe initiieren angehende Lehrpersonen ästhetische Erfahrungen, indem sie unterschied- liche Wahrnehmungssituationen inszenieren, die neben dem Augensinn vor allem auch den Tast- und Bewegungssinn ansprechen. Mittels gezielter Anregungen wird die Aufmerksamkeit des Kindes auf bestimmte Merkmale des zu un- tersuchenden Gegenstands gelenkt, in unserem Beispiel auf die Eigenschaften eines quaderför- migen Objekts. Von Anfang an werden Wahr- nehmen und Handeln miteinander verknüpft, mit dem Ziel, das Bilden von Vorstellungen an- zuregen. Die Reichhaltigkeit und Komplexität der Aufgabenreihe lässt innerhalb des gesetzten Rahmens Raum für individuelle Interessen. Der Ausschnitt bezieht sich auf die 2. bis 4. Doppel- lektion, dies anhand einer Auswahl von Doku- menten von vier Mädchen. Inszenierung, Variation und Ergeb- nisse der unterrichtspraktischen Umsetzung 1. Arbeitsbedingungen lenken die Aufmerksamkeit (Abb. 2) Die Schülerinnen bemalen in Gruppen eine grosse Kartonschachtel (Verpackung eines Kühlschranks o. ä.) und halten sich an zwei Be- dingungen: a) Die zwei einander gegenüberlie- genden, gleich grossen Seiten haben jeweils die gleiche Farbe; b) innen verwenden wir nicht die gleichen Farben wie aussen. Die Kinder vertiefen sich in diese Tätigkeit, sie sind fasziniert vom grosszügigen gemeinsa- men Malen und sprechen die Farbwahl für die verschieden grossen Seitenflächen des Quaders untereinander ab. 1

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Zur Entwicklung und Bedeutung derVorstellungskraftAngeknüpft wird in der Untersuchungsreihe andas frühkindliche ästhetische Lernen der Kin-der, wo Vorstellungen gebildet werden und da-mit eine sinnenhafte Grundlage für produktivePhantasie und bildhaftes, anschauliches Denkengelegt wird. Der Kunstdidaktiker Erich Müllerbeschreibt diesen Prozess wie folgt: «Im schein-bar zwecklosen Spiel […] kombiniert [das Kind]mit Hilfe greifbarer Dinge und handelt mit die-sen. Bei solchem Tun sind der Tastsinn, der Be-wegungsapparat (Sensomotorik) und der Ge-sichtssinn (das Sehen) beteiligt und aufs engsteverknüpft. […] Eine äussere Handlung [wird] soverinnerlicht, dass diese im Gedächtnis als Vor-stellung haften bleibt.» (Müller, S. 65–66) Sol-che Vorstellungen erlauben dem Kinde zuneh-mend, bekannte und variierte, oder aber auchneue Spielsituationen in innerer Schau zu pla-nen und vorauszusehen. Es entsteht «eine Vor-ratskammer voller Hinweise» (Broudy, zit. nachEisner, S. 15), die Kinder auch benötigen, umbeispielsweise verstehend lesen und das heisst –dank des Zusammenwirkens von Konzeptionen,Bildern und Erinnerungen –, die Bedeutung desGelesenen oder Gehörten erfassen zu können.«Sich ein Bild von der Welt zu machen und sichetwas bildhaft sowohl in stofflicher als auch inmentaler Form vorzustellen oder vorwegzuneh-men, ist […] ein Grundzug menschlicher Exi-stenz» (Zülch, S. 3), und es ist dies – nochgrundsätzlicher – die Voraussetzung für kultu-relle, wissenschaftliche, technische und politi-sche kreative Leistungen.

Eine Erprobung in der PraxisIm Rahmen eines Entwicklungsprojektes mit be-gleitender Forschung – Förderung von Kindernmit unterschiedlicher visuell-räumlicher Bega-bung mittels strukturierter Aufgabenreihen(2001–2004) – haben Studierende und Praxis-lehrpersonen an der Pädagogischen HochschuleAargau (ehemals Höhere Pädagogische Lehran-stalt HPL) Lernumgebungen, insbesondere die

Im Zusammenspiel von Wahrnehmen, Handelnund Denken bilden sich Kinder in lustvoller Artund Weise Vorstellungen von Dingen und Phä-nomenen und entwickeln so eine Beziehung zuihrer erlebten Umwelt. Mittels verschiedenerAufgabenreihen – für das Schulfach Bildneri-sches Gestalten entwickelt und erprobt imRahmen eines Entwicklungsprojekts mit be-gleitender Forschung – wurde untersucht, wieästhetische Erfahrungsprozesse initiiert undwie die Bildung von Vorstellungen angeregtund begleitet werden können. Nachfolgendein kommentierter Ausschnitt aus einer jenerAufgabenreihen.

Didaktische Grundfigur «Trias»Zur Umsetzung des eingangs formulierten fach-didaktischen Anliegens in der Praxis wurde1999–2001 in der Fachdidaktik BildnerischeGestaltung die didaktische Grundfigur «Trias»entwickelt (Abb.1). Mit ihr wird das Zusammen-spiel zwischen Wahrnehmen, Denken und Han-deln bzw. Sehen, sich Vorstellen und Darstellenins Zentrum der Unterrichtsarbeit gestellt. Siebasiert auf ästhetischen Erfahrungs- und Bil-dungsprozessen, wie sie in der aktuellen Kunst-pädagogik resp. im Unterricht BildnerischeGestaltung verstanden werden (vgl. BeitragPädagogik und Kunst in diesem Heft).

Vorstellungsbildung im Unterricht

Edith Glaser-Henzer

didaktische Grundfigur «Trias», kennen gelernt,Aufgabenreihen weiterentwickelt und mit Kin-dern in der Praxis erprobt.

Nachfolgend wird ein Ausschnitt aus der Auf-gabenreihe Kisten, Kasten, Käfige für eine4. Primarklasse vorgestellt.1) In dieser Aufga-benreihe initiieren angehende Lehrpersonenästhetische Erfahrungen, indem sie unterschied-liche Wahrnehmungssituationen inszenieren,die neben dem Augensinn vor allem auch denTast- und Bewegungssinn ansprechen. Mittelsgezielter Anregungen wird die Aufmerksamkeitdes Kindes auf bestimmte Merkmale des zu un-tersuchenden Gegenstands gelenkt, in unseremBeispiel auf die Eigenschaften eines quaderför-migen Objekts. Von Anfang an werden Wahr-nehmen und Handeln miteinander verknüpft,mit dem Ziel, das Bilden von Vorstellungen an-zuregen. Die Reichhaltigkeit und Komplexitätder Aufgabenreihe lässt innerhalb des gesetztenRahmens Raum für individuelle Interessen. DerAusschnitt bezieht sich auf die 2. bis 4. Doppel-lektion, dies anhand einer Auswahl von Doku-menten von vier Mädchen.

Inszenierung, Variation und Ergeb-nisse der unterrichtspraktischenUmsetzung

1. Arbeitsbedingungen lenken dieAufmerksamkeit (Abb. 2)

Die Schülerinnen bemalen in Gruppen einegrosse Kartonschachtel (Verpackung einesKühlschranks o. ä.) und halten sich an zwei Be-dingungen: a) Die zwei einander gegenüberlie-genden, gleich grossen Seiten haben jeweils diegleiche Farbe; b) innen verwenden wir nicht diegleichen Farben wie aussen.

Die Kinder vertiefen sich in diese Tätigkeit,sie sind fasziniert vom grosszügigen gemeinsa-men Malen und sprechen die Farbwahl für dieverschieden grossen Seitenflächen des Quadersuntereinander ab.

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2. Überprüfen des Vorstellungsbildes undTraining des visuellen Gedächtnisses

Mit geschlossenen Augen wiederholt das Kind inder Vorstellung, was es eben erfahren hat, undüberprüft, was es über dieses Objekt weiss. DieLehrperson gibt Anweisungen: Lasst eure bei-den Hände – ‹in der Luft› und in der Phantasie– über die verschiedenen Seiten der von euchbemalten Schatzkiste gleiten! Wie viele Seitenhat die Kiste aussen, wie viele innen? Steigt inder Vorstellung in die Kiste hinein! Wo ist eseng, wo ist es weit – wie dreht ihr euch, damit ihrbesser Platz habt? Welche Seiten sind länger,welche kürzer? Öffnet die Augen und vergleichtdas Bild in eurem Kopf mit der Kiste, die voreuch steht!

3. Verbindung und Körpererfahrung,Sensomotorik und Augensinn

Mit dem Körper wird der Quader spielerischwahrgenommen, indem die Kinder Länge undBreite mit der eigenen Körperlänge vergleichen,in die Schatzkiste hineinsteigen und versuchen,sich hinzulegen. Oder sie schauen zu, wie dasandere Kind in der Kiste teilweise verschwin-det, welche Körperteile durch die Kistenwandnicht verdeckt werden etc. Die 10-Jährigenführen diese Übung mit grosser Aufmerksamkeitund Lust durch.

4. Schriftlich beschreiben, Vorstellungenüberprüfen und festigen

Die Schülerinnen beschreiben aus der Erinne-rung. Sprache hilft, Wahrgenommenes bewusstzu machen, und sie ist ein wichtiges Element imUnterricht Bildnerisches Gestalten. Immer zweiKinder vergleichen gemeinsam ihre Texte, stel-len Übereinstimmungen und Abweichungen festund überprüfen ihre Aussagen am realen Objekt.Im Folgenden zwei Texte.

Text von Anita«8 Kanten sind verschieden gross. 8 Ecken, vieroben und vier unten. 1 Boden, er ist violett. Essind immer zwei Seiten gleich gross. Die zweigrossen Seiten haben die gleiche Farbe, sie istblau. Und die kleinen Seiten haben die FarbeGelb. Die Schatzkiste hat einen rundenDeckel.»

Die Auflistung von Andrea«12-kantig (vier lange, vier kurze Kanten); 8Ecken; 1 Boden; 4 Wände; immer 2 gleicheSeiten z. B. Boden (oben, unten); rechteckig,nicht quadratisch; sie haben verschiedeneFarben. Die einen haben eckige Deckel, anderehaben rundliche Deckel. Die eckigen Deckelhaben vier ganz kurze Kanten.»

Unterschiede in der Differenziertheit der Beo-bachtung, in den Interessen und in der Beherr-schung der Wortsprache werden sichtbar, zumBeispiel bezüglich Farben, Farbnamen, Form-eigenschaften oder Zusammenhängen zwischenFarb- und Formeigenschaften. Es wird aber auchersichtlich, welche Eigenschaften des realenQuaders von allen Kinder bemerkt wurden undzu Feststellungen führten, die für andere Beo-bachter nachvollziehbar waren.2)

5. Die Kiste aus der Erinnerung aufA3-Format zeichnen oder malen (Abb. 3–6)

Anita macht die Front, zwei Seiten und denDeckel der Kiste sichtbar, bleibt aber in ihrerDarstellung zweidimensional. Die andern dreiMädchen weisen individuelle Ansätze zum drei-dimensionalen, tiefenräumlichen Darstellen aufund unterscheiden in den farbigen Darstellun-gen zwischen den verschieden langen Seiten-wänden sowie zwischen Innen und Aussen.

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6. Verbindung von taktilem Wahrnehmen,Schreiben und Zeichnen (Abb. 7–16)

Ein neues Motiv, die ‹kleine Geschenkbox›, unddas Material Ton fordern nun den Tast- und denAugensinn heraus. Im Kneten und Formen wer-den Material, Volumen, Hülle und Hohlraum,Innen und Aussen, wiederum auch Ecken, Kan-ten und Seitenflächen erfahren. Kleine Ge-schenke dürfen über den Rand der Geschenkboxhinausragen.

Eine Vorstellungsübung mit geschlossenenAugen verstärkt die taktilen Erfahrungen undpräzisiert das Bild in der Vorstellung: WievieleWände werden ertastet? Sind sie glatt oder un-eben, dünn wie Papier oder dick, hoch oder nied-rig? etc. Die Kinder schreiben ihre Eindrückeauf. Sie zeichnen anschliessend (mit Engage-ment!) die eigene Geschenkbox, inklusive ‹Ge-schenke› – mit der Auflage, dass man in die Boxhineinschauen kann (Farbstift, A4).

Diesmal weisen alle Darstellungen (Abb.9–12) tiefenräumliche Ansätze auf, aber jede Lö-sung ist individuell, hervorgegangen aus einemoder (bei Anita und Andrea) mehreren eigen-ständigen Versuchen. Die Lehrperson hat kei-nen direkten Einfluss auf das Zeichnen genom-men, die Entdeckungen sind auf die vorange-gangenen Wahrnehmungsprozesse und die ge-gebenen Möglichkeiten des Weiterverarbeitensdes Wahrgenommenen zurückzuführen.

Eine Woche später gilt es, an diese Arbeitanzuschliessen. Dazu liest jeweils ein Kind sei-nen Text einem andern Kind vor, welches sei-nerseits mit geschlossenen Augen tastend dasGehörte an der Box des Sprechers nachvollzieht(vgl. Abb. 8). Diese Übung motiviert die Kinderoffensichtlich sehr, und sie malen grossformatigmit Pastellkreiden auf schwarzes A3-Papier dieleere Geschenkbox (Abb. 13–16).

In Abb. 13 unterscheidet die Schülerin In-nen und Aussen (schwarz bzw. farbig) und machtin der zweidimensionalen Darstellung auch dieWandstärke sichtbar. In Abb. 14 werden dielängsrechteckigen Seiten des quaderförmigenGegenstandes in die Raumtiefe hineingezogen.Abb. 15 zeigt links die Seitenwand gleichzeitig

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von aussen wie von innen, und die Zeichnerinvon Abb. 16 scheint besonders beeindruckt vonder Stärke der Wände: Sie macht sie sowohl vonoben als auch an der Basis sichtbar. Die Zeich-nungen in Abb. 13 bis 16 machen deutlich, wasdiese Aufgabenreihe auszulösen und aufzu-decken vermag: eine Vielfalt an individuellenund eigenständigen Lernwegen, Einsichten undVorstellungen bei den einzelnen Kindern einerSchulklasse.

7. Bauen und PlanenDie Kinder entwerfen einen Bastelbogen für dieHerstellung einer rechteckigen Schachtel ausPapier. Mit Entwurfspapier probieren sie vorerstaus, sie zeichnen, schneiden, konstruieren imWechsel. Der Anspruch an die Vorstellungskraftist hoch; ein Vorgehen nach dem Prinzip ‹Ver-such und Irrtum› bringt aber Erfahrungsgewinn.So entdecken die Kinder auch, dass es Laschenbraucht, will man die Schachtel am Schluss zu-sammenkleben und derart stabilisieren können.Die Kinder helfen einander gegenseitig und tau-schen Erfahrungen aus.

8. Visuelle Wahrnehmung und zeichneri-sche Umsetzung (Abb. 17–20)

Im Fokus ist nun wiederum die grosse, bemalteKiste. Wir erproben verschiedene Blickwinkelund fragen uns: Gibt es einen Standpunkt, vonwelchem aus ich nur eine einzige Seite sehe?Gibt es einen Standpunkt, von welchem aus ichzwei, drei oder mehr Seiten sehe?

Dann sucht sich jede Schülerin, jederSchüler seinen Standpunkt, von welchem aus erbzw. sie die Kiste betrachten und sich ins Ge-dächtnis einprägen will. Nach gründlichem Beo-bachten schliessen die Kinder ihre Augen und‹zeichnen› das Gesehene in ihrer Vorstellung.Wenn dabei Unsicherheiten entstehen, schautdas Kind nochmals genauer hin. Jedes Kindmarkiert am Boden mit einem Klebstreifen sei-nen Standort, bevor es an seinen Arbeitsplatzzurückgeht. So kann es ihn später wieder ein-nehmen und die eigene Zeichnung mit demObjekt vergleichen.

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Schlussfolgerungen

In diesen Unterrichtsdokumenten wird gut sicht-bar, in welchem Mass Einsichten und Leistun-gen der Schülerinnen und Schüler bestimmt wer-den einerseits durch die Art und Weise, wieästhetische Erfahrungen von der Lehrperson ini-tiiert werden, anderseits durch das Vorwissen,die individuellen Interessen und Intentionen derKinder.

Besonders wichtig bei der Ausbildung einesproduktiven und in diesem Sinne leistungsfähi-gen Vorstellungsvermögens ist die Aktivierungdes Zusammenspiels zwischen visuellem undtaktilem Wahrnehmen sowie das aktive Erlebendes euklidischen, dreidimensionalen Raums inder Eigenbewegung, das heisst im sensomotori-schen Wahrnehmen (Müller, S. 70). Die produk-tive Phantasie, von der Erich Müller schreibt,bezieht sich hier nicht auf das Erzählerische imSinne von Handlungsabfolgen, sondern auf dieVielfalt an bildnerischen Gestaltungsmöglich-keiten dreidimensionaler Objekte. Motivation,aufmerksames Wahrnehmen, ein gutes visuellesGedächtnis bezüglich Eigenschaften des Objek-tes sowie eine geübte Vorstellungskraft führen zuanschaulichen Denkleistungen. Auch die Kom-bination von verbalem und bildnerischem Re-flektieren sind in diesem kreativen Prozess vonBedeutung. Auf dieser Basis können Kindervielfältige bildnerische Darstellungsweisen fürsich entdecken und umgekehrt Bilder wie auchreale Situationen lesen und verstehen.

Die Ergebnisse dieser Erprobung bestätigenauch, dass mit der didaktischen Grundfigur«Trias» als Ausgangsbasis und mittels reichhal-tiger, wahrnehmungs- und produktorientierterAufgabenstellungen individualisierender Unter-richt in heterogenen Schulklassen möglich ist.

Literatur

Broudy, H.: The role of imagery in learning. Occasional paperNo.1. Los Angeles: Getty Center for Education in Arts, 1987.Müller, Erich: 200 Jahre Zeichenunterricht in Basel. Dasvisuelle Denken und die Bedeutung des Zeichnens in derPrimarschule. Basel: Helbing & Lichtenhahn, 1982.Eisner, Elliot W.: Die missverstandene Rolle der Künste in dermenschlichen Entwicklung. In: Bildungsforschung undBildungspraxis, Nr.1/1995, S. 10–25.Zülch, Martin: Die Welt der Bilder – ein konstitutiver Teil derAllgemeinbildung. In: Kunst+Unterricht 244. Velber: FriedrichVerlag, 2000.

Anmerkungen

1) Informationen unter:www.begabungsfoerderung.ch<KantonAargau<Projekte.2) Genaueres wiederum unter obiger Internet-Adresseoder unter www.kunstunterricht-projekt.ch.

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