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Vorwort Im Nachlass meiner Grossmutter Elise Studer-Herzog fand sich ein Tagebuch ihrer Schwester Anna. Diese war im Alter von 23 Jahren an einem schweren Nierenleiden erkrankt. Während der langen Zeit, in der sie häufig bettlägerig war und an starken Schmerzen litt, führte sie während etwas mehr als einem Jahr ein Tagebuch, in das sie ihre Gedanken, Ängste und Sorgen nie- derschrieb. Viele ihrer Sätze könnten auch aus unserer Zeit stammen. Sie handeln von der Freude an der Natur, von unglücklicher Liebe, Erinnerungen an die Kindheit und Sehnsüchten nach der guten alten Zeit. Andererseits ist das Tagebuch ein Dokument einer Zeit, die-ob- wohl erst 70 Jahre zurück-manchem von uns sehr fremd er- scheinen wird. Es ist eine Zeit, in der das tägliche Leben auf dem Land noch stark von der Kirche geprägt ist. Es ist aber auch eine Zeit ohne Schmerzmittel, Ultraschallgerät und Computertomo- graphie. Eine Zeit, in der manchmal im Glauben an Gott die ein- zige Hoffnung auf Besserung bestand. ________________________ Der Wortlaut des Tagebuches wurde möglichst unverändert übernommen. Anpassungen an die heutige Orthographie wurden nur gemacht, wenn der Bedeutung des Wortes aus der Originalschreibweise nicht ersichtlich wird. Einige heute kaum noch geläufige Ausdrücke werden in Fussnoten erläutert. Die Satzzeichen wurden nach heutigen Regeln gesetzt. Um etwas von der Originalität des Tagebuches weiterzugeben, wurde beim Druck eine handschriftähnliche Zierschrift gewählt. Das Werk ist auch in gedruckter Form erhältlich unter www.badi-info.ch/wpd/anna.html

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VorwortIm Nachlass meiner Grossmutter Elise Studer-Herzog fand sichein Tagebuch ihrer Schwester Anna. Diese war im Alter von 23Jahren an einem schweren Nierenleiden erkrankt. Während derlangen Zeit, in der sie häufig bettlägerig war und an starkenSchmerzen litt, führte sie während etwas mehr als einem Jahrein Tagebuch, in das sie ihre Gedanken, Ängste und Sorgen nie-derschrieb.Viele ihrer Sätze könnten auch aus unserer Zeit stammen. Siehandeln von der Freude an der Natur, von unglücklicher Liebe,Erinnerungen an die Kindheit und Sehnsüchten nach der gutenalten Zeit.Andererseits ist das Tagebuch ein Dokument einer Zeit, die-ob-wohl erst 70 Jahre zurück-manchem von uns sehr fremd er-scheinen wird. Es ist eine Zeit, in der das tägliche Leben auf demLand noch stark von der Kirche geprägt ist. Es ist aber auch eineZeit ohne Schmerzmittel, Ultraschallgerät und Computertomo-graphie. Eine Zeit, in der manchmal im Glauben an Gott die ein-zige Hoffnung auf Besserung bestand.

________________________Der Wortlaut des Tagebuches wurde möglichst unverändert übernommen. Anpassungenan die heutige Orthographie wurden nur gemacht, wenn der Bedeutung des Wortes ausder Originalschreibweise nicht ersichtlich wird. Einige heute kaum noch geläufigeAusdrücke werden in Fussnoten erläutert. Die Satzzeichen wurden nach heutigen Regelngesetzt.Um etwas von der Originalität des Tagebuches weiterzugeben, wurde beim Druck einehandschriftähnliche Zierschrift gewählt.

Das Werk ist auch in gedruckter Form erhältlich unter www.badi-info.ch/wpd/anna.html

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ich wieder gesund werde, finde ich vielleicht später einmal Trost undMut bei diesen Zeilen. Sollten mir aber weitere Leidenstage beschie-den sein, können die kaum schwerer sein als die letzten sechzehnWochen im Spital. Was ich körperlich und seelisch gelitten in dieserZeit, kann ich wohl kaum beschreiben! O, ich habe Schrecklichesdurchgelitten! Hätte ich nicht vom lieben Gott so grosse Gnade er-halten, so hätte ich mich wohl kaum durchgebracht.Es sind nun sieben Monate, seit ich krank bin. Es ist eine sehr langeZeit. Besonders wenn man jung ist und gerne arbeiten und schaffenwürde. Doch dies ungewollte Herumsitzen wird auch für mich seinGutes haben. Manche schwere, dunkle Öhlbergstunde 1habe ichdurchgekostet, hoffe und glaube aber sicher, dass all das zu meinemHeile gewesen ist.

März 28.Wenn ich so über die letzte Zeit nachdenke,

kommt’s mir oft vor, als ob das alles nie gewesen wäre. Wie weiterdie Zeit rückt, wie kleiner kommen mir all die Leiden vor. Und dochmöchte ich suchen hier in diesen Zeilen etwas für spätere Zeitenfestzuhalten:

________________________________________________ Der erste Satz ist in der Originalschrift des Tagebuches.1 Der Ölberg, eine Bergkette östlich von Jerusalem, ist Schauplatz des Leidensbeginns undder Himmelfahrt Christi.

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Es war am 29. August 1923, als ich das erste Mal zum Arzt ging.Mit Schmerzen kaum zum Aushalten! Und mit einem Herzen fastzum Brechen! Ob ich’s wohl ahnte damals, als ich das erste Mal aufdem Untersuchungstische lag, dass diese Krankheit mein ganzes Le-ben in andere Bahnen lenken würde? Wohl glaubte ich damals nochfest und sicher, dass neben meinen Eltern und Geschwistern, die mir jain treuer Liebe zugetan, ein anderes Herz in Freud und Leid mir treuzur Seite stehen würde. Doch wie arg wurde ich enttäuscht! Wiebald lernte ich einsehn, dass alles nur Schein und Trug war!Ich musste dann liegenbleiben und litt furchtbare Schmerzen. DerArzt konstatierte einen leichten Blasenkatarrh. 14 Tage war dieSache immer gleich. Dann ging der mich behandelnde Arzt in dieFerien und ein Stellvertreter kam. Er nahm die Sache viel ernster.“Diese Sache muss radikal behandelt werden, sonst könnte es bösherauskommen!” Ich musste heiss aufwärmen, Sonnenbäder nehmenetc. Nach vier Wochen, als der andere Doktor wieder heimkam, warich wieder ziemlich hergestellt. Er nahm die Sache wieder ganz leicht,verordnete mir wieder andere Medikamente, und bis wieder in 14Tagen war ich wieder böser dran als im Anfang. Vom Arzt bekamich immer nur den Trost, es sei nicht so gefährlich. Es gäbe nochärgere Sachen auf der Welt und die müssen auch getragen werden.

Nun muss ich dieses Thema ein wenig unterbrechen.Soeben war Hochwürden Herr Pfarrer bei mir. Es hat mich sehrgefreut! Er hat so etwas Tröstlich-Sonniges an sich und ist sofreundlich. Man muss sofort Zutrauen zu ihm haben.

April 1.Hatte heute keinen guten Tag. Hatte Schmer-

zen kaum zum Aushalten. Heute morgen kam der liebe Heiland zumir. O wie glücklich können wir Menschen doch in allem Unglück

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sein, dass wir diesen Trost haben! Das gibt wieder Kraft und Mutzum Leiden. Der Heiland hat ja noch viel Furchtbareres gelitten.Ich will ja in Zukunft wieder stark und mutig sein und geduldigannehmen, was Gott mir schickt!

April 9.Hochwürden Herr Vikar Müller von der

Marienkirche in Basel, der mich in meiner Krankenzeit in der KlinikSonnenrain öfters besuchte, hat mir heute ein paar liebe Zeilen ge-schrieben:

Geschah dir ein Leidenwie weh es auch tut

Getrost es heilt wiederder Herr ist so gut

schrieb er als Motto dazu. Wie schön diese Worte sind! Ja, allesheilt der Herr, nicht nur Leibes-, auch Herzenswunden. O, was habeich gelitten und gekämpft in stillen Stunden! Und heute noch kann iches nicht fassen und nicht glauben! Kann wirklich ein Mensch sofalsch, so herzensarm und treulos sein? Wie oft in sel’gen Stunden hater mir versichert: “ich liebe Dich und ich werde dir treu bleiben.” Dakam Krankheit und Unglück über mich und alles war vergessen undLiebe und Treue ein Wahn. O Menschheit, wie bist du schlecht! Wiebald hast du ein Herz gebrochen! Doch “Nein!”, Herrgott imHimmel droben, ich nicht! Ich lass mich nicht gehen! Doch einemMenschen hab ich die Treue versprochen, aber keinem mehr. Aberaufrecht will ich bleiben. Einer ist ob den Sternen, auf den man bauenund dem man trauen kann. Menschenliebe hält in glücklicher Zeit,doch nicht im Unglück. Ich habe es mir oft vorgenommen: wenn mirder liebe Gott die Gesundheit wieder schenkt, will ich für die Armenund Unglücklichen arbeiten! Sei es auf welche Art es will. O, lieber

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Gott im Himmel droben, höre meine Bitte! Lass mich gesund wer-den! Sein Wille geschehe. Du weisst, was mir zum Heile ist.

April 12.Heute ist Sonntag. Wie gerne wollte ich doch

wieder einmal zur Kirche gehn! Doch Krankheit und Schmerzenbannen mich ans Haus. Doch lieber Heiland, Du siehst ja den gutenWillen. Ich opfere Dir alle meine Leiden und Widerwärtigkeiten aufzum Ersatz dafür. O, ich sollte nur viel geduldiger sein! Wie oft lasseich Mutlosigkeit und Verzagtheit die Oberhand. O, lieber göttlicherHeiland, gib mir doch Mut und Kraft, alles mit Geduld und Gottes-ergebenheit zu tragen! Dann wird, so hoffe ich, auch der Sonntag zuHause zu meinem Heile sein. Und dann das andere auch, lieber Hei-land, lass es mich vergessen! Nein, nie will ich ihnen grollen, denMenschen, die durch Habgier und Treulosigkeit soviel Leid übermich gebracht. Nur Gutes wünschen will ich ihnen. Soviel Glück alssie auf dieser Welt verlangen. Auch im Jenseits, Herr, gib ihnen allesGute. Lass mich mit Dir sprechen: Herr vergib ihnen, denn sie wissennicht, was sie tun!

Wenn dir ein Herz die Treue brachVerfolg es nicht mit deinem Hasse

Du weisst nicht wie so oft im TraumDein Antlitz ihm erschien das blasse

______

Du weisst nicht wie es kämpfend littEh es gewagt den langen SchrittEh es den Mut zur Sprache fand

Zur letzten demutsvollen Bitt________

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Und weisst du denn ob nicht dereinstAn seinem Leben nagt die Reue

und wieder durch den Traum ihm gehtein Sehnen nach verschmähter Treue

__________

Vielleicht dass es dann liebesarmZu seinem Gotte wagt zu klagen

Wie um ein verlor’nes GlückSo übergrosses Leid zu tragen

____________

Nein, keinen Hass, Vergebung nurKann kühlen deine heisse WundeUnd wird als Trostesengel einst

Dich führen durch die Sterbesstunde______________

Karfreitag, 18. AprilO wie nichtig und klein kommen mir heute all

meine Leiden und Widerwärtigkeiten vor! Wie Grosses hat unserHerr und Heiland gelitten, ohne zu klagen! O, wie waren an ihm dieMenschen falsch und treulos! Herr, gib mir nur ein wenig vonDeiner Starkmut und Geduld! Lass mich leiden, soviel du willst.Nur gib mir Kraft zum Tragen.

April 19.Heute hat mir die liebe Schwester Pauline ge-

schrieben. Ich habe mich sehr gefreut. O wie schön ist es zu wissen,

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dass es auch noch liebe und treue Herzen gibt auf der Welt! Ich habeSchwester Pauline wirklich recht lieb gewonnen in den zehn Wochenin der Klinik Sonnenrain in Basel. Mit einem nimmermüden Eiferwar sie immer besorgt um mich. Manche lichte Stunde verdanke ichihr.Überhaupt habe ich im Spital überall gute Menschen angetroffen. Woich hinkam, war man lieb und nett zu mir. Ich müsste lügen, wollteich mich irgendwie beklagen in dieser Beziehung. Ich habe Weih-nachten, Neujahr und meinen vierundzwanzigsten Geburtstag imSpital zugebracht. Man hat mir aber mit so sinnig feinem Takt dar-über hinweggeholfen, dass ich mich jedesmal freue, wenn ich nur drandenke!Wirklich, der Beruf einer Krankenschwester ist etwas Schönes. Es istein schwerer Beruf, und charakterschwache Menschen taugen nichtdazu. Ich habe eine tiefe Hochachtung vor diesem Beruf. Es warvon Kindheit an mein Wunsch, es selbst zu werden. Doch ein Hin-dernis auf’s andere kam. Nun bin ich krank. Ich habe den Beruf vonseiner schweren Seite kennengelernt, habe ihn aber noch liebergewonnen. Die Krankheit aber trennt mich davor. Was noch kommtist unbekannt. Dunkel liegt die Zukunft vor mir. Doch wie Gott will,nicht wie ich will! Sein Wille geschehe.

Ostern April 20.Christus ist entstanden! Licht und strahlend ist

er aus dem Grab emporgestiegen. Gesprengt sind die Fesseln des To-des. Das Grosse ist vollbracht, die Menschheit ist erlöst! Und wirMenschen, sind wir dankbar? Nein! Zu sehr hangen wir am Irdi-schen, am Weltlichen. O, dass doch mit Ostern ein neuer Geist in dieWelt einziehen wollte!

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Es ist draussen heute so herrliches Wetter. Alles knospt und grüntund spriesst. Noch ein paar Tage, und die Erde prangt im Blüten-schmucke. O, dass dann auch bei mir der Frühling einkehrt! Dass ermir die Gesundheit bringt. Oder doch mein ungestümes Herz ruhigermacht. Dass ich mich immer mehr und besser ins Unabänderlichefügen lerne.

O, lerne stark das grosse Loos ertragenWomit der Kampf des Schicksals dich geehrt.

Bald wird dein Herz mit kühnem Stolz dir sagen:Du warst des Kampfes, Du bist der Palme werth! 2

Weisser Sonntag, April 27.Heute ist der Tag der Erst-Kommunion der

Kinder. Welch sel’ger Tag für’s Kinderherz! Heute sind es schonzehn Jahre, seit der Heiland zum erstenmal zu uns kam. O selg’e,unentweihte Zeit! Wie vieles ist seither vergangen. Wie herb hat michdas Leben geschüttelt! Doch den Heiland im Herzen hilft über alleSchmerzen. Mögen dunkle Stunden kommen, mit Gott gehn sie vor-über. Je trüber der Sturm, je heller scheint nachher die Sonne!Heute habe ich mich über eine lieblose Bemerkung furchtbar aufge-regt. Es ist ja wahr, ich bin krank. Aber doch habe ich ein Herz inmeiner Brust, das gesund ist, das mit andern leiden, fühlen und sichfreuen kann. O, diese Geldmenschen! Am jüngsten Tag fragt derHerrgott sicher nicht zuerst, welches die Reichsten wären. Dort giltder Reichtum des Herzens. Dort hilft kein voller Beutel.

_____________________________________________________________________________2 Eine Nike mit einer Siegespalme in der Hand gilt in der griechischen Mythologie als Sinnbilddes Sieges; vielleicht meint Anna aber auch die Palmblätter, die man Jesus beim Einzug inJerusalem auf den Weg gestreut hat.

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Mai 1.Nun beginnt der Marienmonat 3 Draussen in

der Natur schmückt sich alles. Jeder Baum und jeder Strauch stecktdie schönsten Blüten auf zum Gruss von Maria. Und ich bin Mari-enkind3. Ich sollte auch mein Herz schmücken zum Gruss für diehimmlische Mutter. O, wie ist uns Maria eine so gute, liebreicheMutter! Doch wie wenig verstehen wir Menschen ihre Liebe! Auchich fühle mich so unwürdig, ihr Kind zu sein. Wie wenig ahme ich ihrTugendbeispiel nach. Heute, am ersten Mai, will ich einen Vorsatzfassen: ich will Maria zulieb alles, was ich körperlich oder seelischleiden muss, geduldig leiden. Ich will keinem Menschen etwas Bösesnachreden. Ich will für diejendigen, die mir so grosses Leid zugefügthaben, jeden Tag ein Vaterunser beten.

Mai 8.

“Es war einmal”, so gehn sie andie Märchen all; und dann

ach Gott, kommt oft ein Schluss und Endso traurig, dass man weinen könnt.

Vor ein paar Tagen habe ich diese Zeilen gelesen. Nun gehn sie mirimmer im Kopf herum. Oft wenn ich lustig bin, wenn ich ein paarAugenblicke mein Kreuz vergesse, fällt mir plötzlich ein:

— und dannach Gott, kommt oft ein Schluss und End

so traurig —————

3 So wurden die jungen Frauen genannt, die nach ihrer Schulzeit bis zu ihrer Heirat derMarien-Kongregation angehörten. Diese widmete sich vermehrt der Verehrung der Jung-frau Maria.

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Ja, aber gewöhnlich weinen nicht alle. Den wo der eine weint, freutsich der andere.

Es ist so schön jetzt draussen, wo alles grünt und blüht. Man solltenicht auf trübe Gedanken kommen. Aber die Gedanken kommen ebenund lassen sich nicht aufhalten. Jung und krank und Frühling undLebeslust - wie verschieden und doch so nah beisammen. Und oftkann ich’s nicht fassen und nicht begreifen, dass ich krank sein soll. O,ich möchte so gerne etwas wirken und schaffen. Unruhig pocht undstürmt’s oft in meiner Brust. Und doch denke ich zuwenig. Könnteich nicht auch so Pflichten erfüllen? Wären es nicht auch Pflichten,wenn ich mich geduldig in’s Unabänderliche fügen würde? Wenn ichmeine Umgebung mit meinen Klagen und meiner Ungeduld nichtplagen würde? Es gäbe so vieles aufzuzählen. Ich habe mir’s schonso oft vorgenommen, und immer fall ich wieder. Immer verlangt meintörichtes Herz wieder etwas, was es nicht haben und besitzen kann!Doch “Unser Herz ist unruhig, bis es ruht in Dir o Gott”. DieseWorte sind ewig neu und ewig wahr. Sei’s im Freud oder sei’s imLeid, immer verlangt das Herz nach etwas anderem, etwasSchönerem, etwas Beständigerem. Ein ewiges Heimweh quält unsalle. Gib, o Gott im Himmel droben, dass es einmal gestillt wird,droben über den Sternen. Dann darf doch unser Herz sich freuen;dann heisst es umgekehrt:

— und dannkommt oft ein Schluss und End

so herrlich, dass man jubeln könnt!

Mai 18.Schon geht der Mai wieder dem Ende entgegen.

Ich habe jetzt eine böse Zeit. Nichts als Schmerzen und Schmerzen!Wenn ich schon leiden muss, wenn ich nur meinen Lieben den

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Kummer deswegen ersparen könnte. schon so oft habe ich mir vorge-nommen, nicht mehr laut zu jammern. Dann kommen aber diesefurchtbaren Schmerzanfälle, denen ich mit äusserster Willenskraftnicht viel entgegenhalten kann. Da kommen unwillkürlich die Trä-nen. Kommt dann noch die Mutter dazu, hat sie Tränen in denAugen. Der Vater sieht so getrückt und mutlos aus. Die Schwesternsäufzen auch. Ach, dann tut’s doppelt weh! O, wenn ich ihnen nurdiesen Kummer ersparen könnte! Ich will recht zur Muttergottesbeten, dass sie mir beim lieben Gott Kraft und Stärke erfleht zumLeiden, dass doch wenigstens meine Umgebung nicht noch mit mirleiden muss!Aber auch mein Gebet ist nur Stückwerk. Nie bin ich recht gesam-melt. Hw. Herr Pfarrer hat recht, wenn er sagt: “Zum Betenbraucht es einen gesunden Körper, grad wie zur Arbeit.” Eine kleineAufopferung all des Leidens und Kümmernisse oft des Tages hatvielleicht so viel Wert als ein langes Lippengebet ohne Inhalt.

Juni 2.Schon wieder ein Monat vorüber. Wie schnell

doch die Zeit flieht! Ja, ja, ich habe anfangs Mai so viele gute Vor-sätze gefasst. Wie aber habe ich sie gehalten? Es hätte viel viel bessersein dürfen. Ich hoffe zu Gott, dass ich sie diesen Monat besser haltenkann. Doch ich denke immer zu wenig an’s Ewige. Mein Herz hängtimmer noch so sehr am Irdischen. Wohin verirren sich doch oft dieGedanken. Ich kann meinem Herzen lange gebieten: “Schweig still!”Es fängt immer wieder an zu pochen. Auch es verlangt oft zu heftigsein Lebensrecht. Doch du gesundes, lebensfrohes Herz, du musst dichdaran gewöhnen, dass du in einem kranken Körper wohnst! O, es istoft so schwer, so schwer! Ich habe aber einmal in einer Gesellschaftdas stolze Wort gehört: “Ich kann mich beherrschen.” Ja, auch ichkann mich beherrschen. Poch nur, unruhig Herz, poch, du musst

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doch mir gehorchen!Ich muss immer an zwei Augen denken. An zwei ernste, schöneAugen. Ob sie wohl treu sein könnten? Ich habe die Augen gern, indie man ruhig blicken darf. Ja, ja, da kommt halt das alte Lied:

“Es war einmal,” so gehn sie andie Märchen all. Und dann

ach Gott, kommt oft ein Schluss und Endso traurig, dass man weinen könnt.

O wie kann doch so ein Menschenschicksal bunt gewürfelt sein! DreiJahre hatte ich ihn gekannt und doch nicht gekannt. Letztes Jahrsprach er von Treue. Da war ich ihm scheinbar alles. Heute bin ichihm kaum mehr einen Gruss wert. Zehn Wochen bin ich nun daheim.Gestern erst hat er mich zum erstenmal gegrüssst. Nur mit paar lee-ren Worten. Seine Augen, die irrten unstet umher. Hätte ich nureinmal in diese Augen geschaut, recht tief hineingschaut, dann hätteich seinen Unwert erkennen müssen! Doch es heisst halt nicht verge-bens, Liebe macht blind. Sie hat mich aber auch sehend gemacht.Wenn ich nun diese zwei Augenpaare vergleiche, muss ich immerdenken: äusserlich ganz das Gegenteil, ob innerlich wohl auch?Den Glauben an die Menschen habe ich durch die einen verloren. Obich je wieder an Menschen glauben darf, liegt in Gotteshand.

Juni 9.Gottlob, bald ist wieder ein Tag vorüber. Ich

hatte heute den ganzen Tag Schmerzen, kam kaum ein paar Minutenvor’s Haus. Immer dieser stechende Schmerz.Draussen ist’s so schön! Überall hat das Heuet begonnen. Allesarbeitet und freut sich. O, dass man sich doch auch wieder einmal vonHerzen freuen könnte an dieser herrlichen Gotteswelt draussen! Doch

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wie klein sind wir Menschen. Wie wenig verstehen wir Gottes weiseAllmacht und Liebe. O, dass wir doch einmal verstehen könnten,dass Gott alles zu unserem Besten tut!Ach, oft eckelt’s mich vor mir selber. Immer nehme ich wieder vor,jetzt klagst du nie mehr! Und doch alle Tage wieder diese alteJammerei. Vielleicht kommt’s doch bald mal besser. Ich hoffe haltimmer von einem Tag auf den anderen. Einmal muss es sicher wiedertagen.

Juni 10.Ich bin so mutlos und so niedergeschlagen in

diesen Tagen. Es gährt und tobt mal wieder alles in mir. Heissbäumt sich der ganze Lebensmut auf gegen dies tatenlose Dasein.Alles arbeitet und schafft und singt jetzt draussen, und ich muss zu-sehen, müssig zusehen. Habe keinen Willen und keine Kraft zurArbeit. Nichts als diese heimtückischen Schmerzen vom Morgen biszum Abend. Nirgends ein Lichtblick, dass in absehbarer Zeit eineÄnderung eintreten will. O, es ist so schwer, krank und doch so le-bensstark zu sein. Wäre ich schwach und elend, ich könnt’s begreifen.Aber so nicht. Und doch darf ich nicht mutlos werden. Nein, ich darfund darf mich nicht gehen lassen. Es wird und muss ja wieder besserkommen. Ich will wieder stark sein, will wieder weiter kämpfen. Nurwer tapfer kämpft, wird die Siegespalme erringen.

Juni 13.Morgen muss ich wieder nach Basel zur Un-

tersuchung. Was kommt wohl wieder? Ob’s etwas besser ist, oderimmer noch im alten, fast glaube ich das letzte. So Gott will geht’smir morgen gut, und habe ich doch nur ein bisschen Glück.Juni 19.

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Heiliges Fronleichnamsfest. Heute ist dergrösste Ehrentag unseres Herrn und Heilands. Festlich und feierlichwird heute überall das Allerheiligste in grossen Prozessionen herum-getragen. Ich habe mich jedes Jahr gefreut auf die Sakramentspro-zession. Heute muss ich fern bleiben, kann nur von fern den Heilandgrüssen. Doch so Gott will darf auch ich nächstes Jahr wieder dabeisein.Letzten Freitag war ich in Basel. Gott sei Dank ging’s mir besserals ich glaubte! Die Schmerzen waren doch immer zum Aushalten.Herr Professor Suter machte mir auch nicht gar so schlechten Be-richt. Es ist ja noch immer sehr schlimm. Fast gar nichts besser.Aber er glaubt doch, es komme wieder besser.In Basel waren alle so gut zu mir, besonders Schwester Pauline. Estut so wohl zu denken, dass man nicht so bald vergessen ist. Es warmir wieder so wohl und auch so weh zu Mut bei Schwester Pauline!Sie hat einen sehr sehr strengen Beruf. Sie erfüllt ihre Pflichten aberauch voll und ganz. Es wäre schön, wenn man so in einem Berufleben könnte. Doch es können halt nicht alle Wünsche auf Erden er-füllt werde. Es muss auch Ungestilltes geben. Wenn der liebe Gott zuallem ja und amen sagen würde, kämen wohl nur wenige in denHimmel. Man wäre zu übermütig, wenn immer alles nach Wunschund Wille ginge. In weiser Vorsicht stellt der Herrgott seineSchranken, fügen wir uns also willig seinen Anordnungen. SeinWille geschehe überall!

Juni 20.Es ist mir gestern am Fronleichnamstag ein

Gedanke gekommen: es ist in unserem Dorf eine Frau, die jetzt krankist. Ihre Seele ist in grösster Gefahr, für den Himmel verloren zugehen. Ich möchte für die Rettung dieser Seele etwas tun. Ich willvon heute an alle meine Leiden für sie aufopfern. Ich will jeden Tag

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für sie etwas beten. Allmächtiger Gott im Himmel, nimm dies Opfergnädig an! Rette diese Seele und auch die meine!

Juni 29.“Wie Gott will!” Welch schöne Worte! Welch

ein grosser, tiefer Sinn liegt doch darin! Immer und alles wie Gottwill, im Leben wie im Sterben, in Freud und in Leid. O, dass wirMenschen diese Worte doch recht erfassen und begreifen könnten!“Wie Gott will,” so spreche ich immer, wenn’s mir einigermassenwohl ist. Doch wenn die furchtbaren Schmerzen kommen, dann ziehtsich das Herz mutlos zusammmen. Dann findet mein Mund dasWörtchen nicht mehr: “wie Gott will.” Nur mutloses Gejammer. Ichmache immer gute Vorsätze. O, wie schön wäre es, wenn man stillund klaglos, aber ergeben in Gottes heiligem Willen leiden könnte.Doch da heisst’s halt auch wieder: “der Geist ist willig, aber dasFleisch ist schwach”. O, dass ich doch endlich stark würde! O, dassich doch nicht immer zurückbebte vor den Schmerzen. Ich schämemich oft vor mir selber. O Gott, gib mir Kraft zum Leiden! Alleswie Gott will, zum Heile meiner und jeder andern Seele!

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Ich leide gernIst Leiden nicht des höchsten Dulders Wille?

Hat einer wohl sich hierin mehr geübt?Es kommt vom Herrn;

D’rum ist mein Herz so ruhig und stilleund trägt, was ihm sein Herz zu tragen gibt.

Ich leide gernMein Jesu steht ja liebend mir zur SeiteMich tröstet seiner Lippe süsses Wort

Ein heller Stern,Gibt er durch Leidensnächte als Geleitedem müden Pilger nach dem Ruheort

Ich leide gernEntschlüpft auch meiner Brust ein leises Klagen

Ach Herr, so düster wird’s mir allzumalDoch leid ich gern!

Pflegt Herrliches dann wieder mir zu sagenDer milden Sonne Licht und Wärmestrahl

Ich leide gern!Verwünsche nicht die kaltgereichte Galle

Und nicht des Fiebers Toben glühendheissEin süsser Kern

Entfällt der bitterherben LeidensschaleWenn unverzagt man ihn zu lösen weiss

Ich leide gern!Und zöge dieser Kelch auch nie vorüber

Währt ewig lang oft manche SchmerzensnachtIch bet zum Herrn;

Und lieb wird mir das Kreuz und immer lieberIn Liebe nur von Gott mir zugedacht.

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Juli 7.Heute Nachmittag kam ein Herr, um wieder

Propaganda zu machen für die freien Bibelforscher.4 Es ist traurig,wie frei und offen der Unglaube zutage tritt. Was unser Heiland Je-sus Christus vor 1900 Jahren gelehrt hat, wollen sie leugnen, oderdoch wenigstens mit Füssen treten. Rom und den Heiligen Vaterverspotten sie. Ich glaube bald selber, dass das Ende der Welt naheist. Hat doch der Heiland gesagt: “es werden falsche Propheten auf-stehen.” Und wirklich, sie sind an der Arbeit.Dem Herrn von heute gegenüber habe ich aber den Glaube verteidigt.Dem habe ich heimgeleuchtet. Nein, den Glauben lass ich nicht be-schmutzen. Er ist ja mein einziger Trost in meiner Krankheit. GottesWillen sollen wir zu erfüllen suchen und nicht an seinen Worten undTaten kritteln 5 und forschen!

Juli 17.Jetzt geht es mir ein wenig besser. Gebe Gott,

dass nur die Besserung etwas anhält. Es hat mich ja schon so oftgetäuscht. Einmal muss es doch besser werden. Gottlob doch wiedereinmal ein Lichtstrahl.Doch noch etwas anderes freut mich noch mehr: die Frau, derenSeele in so grosser Gefahr war, ist gerettet! Sie hat gestern ihre An-dacht gemacht. Sie hat sich wieder mit dem Heiland versöhnt. ZweiJahre war sie nicht mehr bei den Sakramenten. Jetzt ist sie tod-krank. Jeder Tag kann der letzte sein. Ich bin so froh, dass siegebeichtet hat! Vielleicht sind meine Leiden doch nicht ganz umsonstgewesen.

4 Sie meint die «Ernsten Bibelforscher» (seit 1931 «Zeugen Jehovas»), eine internatio-nale religiöse Vereinigung, die die Endkatastrophe für nahe hält. Sie missionierte gerne zuGottesdienstzeiten bei Daheimgebliebenen.5 «kritisieren»

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Juli 26.Heute ist mein Namenstag. Das Fest der hei-

ligen Mutter Anna. O wie gern währe ich heute zur heiligen Kom-munion gegangen! Aber ach, ich konnte ja nicht. Ich glaube, es istda erste Mal seit vielen Jahren, dass ich an diesem Tag nicht we-nigstens eine heilige Messe hörte. Doch so Gott will, kann ich dasnächste Jahr wieder gehen.

Ein Jahr aber ist lang. Es liegt viel, unendlich viel zwischen demletzten Namenstag und heute. Ich glaubte mich letztes Jahr glück-lich. Und doch war ich’s nicht. Ich erinnere mich noch gut, dass ichdamals eine grosse Enttäuschung erlitt. Doch grössere folgten noch. Owie schnöde und klein und nichtig ist doch die weltliche, menschlicheLiebe! Aber Josef, du hast mir viel getan! Ich sehe es erst jetzt sorecht, wie tief du mich getroffen. War wirklich alles Lug und Trug?Hast du mir wirklich drei Jahre lang Liebe und Treue heuchelnkönnen, wo du tief im Innersten das Gegenteil dachtest? Ich wolltedir später nach dem Beispiel der heiligen Mutter Anna Gattin undMutter sein. Ich habe immer in reiner treuer Liebe Deiner gedacht.Es war wohl nicht Gotteswille. Sonst hätte mir Gott nicht dieseKrankheit geschickt. Ich habe Gottes Wille erkannnt. Es hätte dazudeiner Fusstritte nicht gebraucht. Ich dürfte dann anders an dichdenken als so. Ich verzeihe alles und will auch suchen zu vergessen.Doch kann ich dich im Herzen nicht anders nennen als ein schwacher,treuloser Feigling.Das Leben bringt halt vieles mit. Dem einen mehr, dem anderen we-niger. Wo bin ich wohl nächstes Jahr? Gebe Gott, dass ich bis dortwieder gesund bin und arbeiten kann. Der Herrgott hat bis jetzt ge-holfen, er wird auch weiter helfen. Heilige Mutter Anna, meineNamenspatronin, bitt für mich beim lieben Gott, das er mir Gnadegebt, dass ich seinen heiligen Willen in allem erfüllen kann!

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August 1.Die Glocken läuten, Schüsse knallen, Raketen

fliegen auf. Es ist der erste August. Jedes Schweizerherz schlägt heutwärmer für’s Vaterland. Im Dorf ist Musik und Gesang. Wehmutdurchzieht mein Herz. Letztes Jahr war auch ich bei der Bundes-feier. Nicht lange nachher ging für mich die Leidenszeit an. LetztesJahr war ich am ersten August noch der Lustigsten eines. Ich er-innere mich noch ganz gut, dass wir in der Öhlegasse drinnen, ehewir heimgingen, alle Lieder durchsangen, die uns in den Sinn kamen.Ich weiss aber auch noch, dass ich den ganzen Abend in Angst undSorge um Josef bangte. Vor zwei Jahren bekam er am ersten Au-gust Krach im Ochsen. Ich konnte damals den Streit schlichten. Ja,ja, es geht und vergeht halt so viel im Leben. O, hätte ich nur damalsgeahnt, wie weh er mir noch tun würde! Alles habe ich für ihneingesetzt. Dafür hat er mir alles zertreten.Ach, immer verirre ich mich wieder zum gleichen. Ich wollte einpaar patriotische Worte schreiben und komme wieder in’s alte hinein.Heute will ich Gott danken, dass ich eine Heimat habe und dass dieseHeimat im schönen Schweizerlande liegt. Wie viele sind, die heutesehnsuchtsvoll heimwärts schauen. Es ist ja was, der alte biedereSchweizersinn wird immer weniger. Unsere Männer sind nicht mehr,was die alten Eidgenossen waren. Den Männern von heute fehlt dasalte Heldenblut. Menschenfurcht, Geldgier und noch viel mehr beein-flussen die Menschen von heute. Jeder schaut für sich, und wennauch andere verderben. O, wenn doch der alte Geist vom Rütliwieder einkehren wollte! Dass man wieder auf ein Männerwortbauen dürfte. Dann erst könnte man wieder aus vollem Herzen mitdem Dichter singen:

Lasse erstrahlen deinen schönsten SternNieder auf mein Heimatland, auf’s Vaterland!

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August 3.Heute war ich zum ersten Mal bei den heiligen

Sakramenten. Das erste Mal seit fast einem Jahr. Es war mir ganzeigen zu Mut. O, wenn ich doch regelmässig zur Beicht könnte! Wieglücklich wäre ich doch. O, ich hoffe nun ganz bestimmt darauf. Dochimmer, wie Gott will. Er schickt nur, was mir zum Heile ist.

Sept. 9.Lange habe ich nichts mehr aufgeschrieben. Und

doch ist mir so viel Neues vorbeigegangen. Hauptsächlich das eine:“es geht mir besser.” Gott sei Lob und Dank! Ich wage wiedervorwärts, wieder in die Zukunft zu schauen. Ich weiss nicht, wie ichdem lieben Gott genug danken kann. Wohl bin ich ja noch rechtschwach, und es ist noch ein weiter Weg bis zur vollständigen Ge-nesung. Doch ich lege alles vertrauensvoll in Gottes Vaterhand. Erhat das Dunkel von meinem Lebensweg genommen. Er wird auchdas, was düster ist zum Lichte machen. Voll Vertrauen hoffe ich aufden Herrn!Letze Woche war ich wieder zur Untersuchung in Basel. Ich habeauch dort guten Bericht bekommen. Und dann habe ich auch wiederauf’s neue gesehen, dass mir dort treue Herzen schlagen. FrauThoma ist mir fast zur zweiten Mutter geworden. Und SchwesterPauline, die Liebe, die Gute. Mit Hochachtung und Liebe schaue ichzu ihr auf. Sie leistet viel, sehr viel im Dienste der Nächstenliebe. O,wenn ich alles aufschreiben könnte, was ich gerne wollte! Dochwarum das alte Klagelied? Vertrauensvoll o Gott, lege ich alles indeine Vaterhand! Wenn’s zu meinem Heile ist, wirst du mir auchhelfen.

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Sept. 11.Ein immerwährendes Sehnen, ein ewiges Heim-

weh quält wohl jedes Menschenherz. Dem einen bewusst, dem ande-ren unbewusst. Wie glücklich ist der Mensch, der den Drang und dasSehnen in sich fühlt, grösser, besser und reiner zu werden. Wohl gibtes auch andere, die irgend eine Leidenschaft hinab statt hinauf zieht.Aber ich glaube doch, dass in jedem Menschenleben Momente sind,die zu Besserem drängen und ziehn. Unser Leben ist ein immerwäh-render Kampf zwischen Gut und Bös. Wie fad und inhaltslos wäre esaber ohne dieses Kämpfen und Ringen. Wie oft stehen wir vorRätseln, vor einem fragenden “Warum?” Und wie manches dieserRätsel wird wohl erst am jüngsten Tag gelöst. O wie schön wird eseinmal sein, wenn alles klar und frei vor uns liegt. Wenn der Himmelsich uns öffnet und ein grosser Friede einzieht in unser Herz. Pflegenwir die Sehnsucht nach dem Himmel immer mehr in uns. Wir werdendadurch immer besser werden.

Sept. 14.

Es steht in der Bibel geschriebenEin ernstes geheiligtes Wort.

Den bittersten Feind sollst du lieben!So steht’s im Gesetze alldort.

Ich bin bis zum Tode betrübetUnd hing dem Gebot treu doch an .

Und nun ist alles begrabenIch habe die Untreu erkannt

Sie ließen mir nur meine HarfeUnd den Glauben an ein besser Land

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Unwillkürlich kamen mir vorhin diese Worte in den Sinn. Ich gebemir Mühe zu vergessen, zu verzeihen. Dafür reisst dieser Mensch mitroher Hand alles wieder auf! O, hätte ich das einmal geahnt! Öf-fentlich spottet er. Ist es denn nicht genug, wenn er allen Mädchennachspringt wie so ein echter verliebter junger Bengel, wo er an Al-ter doch bald ein Mann sein sollte? Haben ihn denn alle gutenGeister verlassen?O lieber Gott, wann lässt Du’s einmal genug sein? O, ich will ver-gessen und vergeben suchen. Mein Heiland, verzeih, dass ich so kleinbin! Du hast ja so unendlich viel mehr gelitten! Herr verzeihe ihnen,denn sie wissen nicht, was sie tun! Ist’s aber vermessen von mir, sozu reden, dann, Herr, vergib auch mir!

Sept. 22.Heute war das Fest des heiligen Mauritzius 6,

unseres Kirchenpatrons. Ich bin so glücklich, ich war heute zumersten mal im Hochamt 7 und in der Predigt. Wohl musste ich ja nurhinten in der Kirche bleiben. Doch es kommt, so Gott will, auchwieder anders.

Oktober 26.Lange habe ich nichts aufgeschrieben. Die Ar-

beit füllt mir die Zeit wieder mehr aus. Doch heute drängt mein Herzmich zum Schreiben. Mich quält die Sorge um meine Schwestern.Elises Gesundheit ist etwas angegriffen. Es soll nun fort, soll Luftver-änderung haben. O wie gerne will ich ihm dazu helfen! Wenn es nurauch die Sorgen und Mühen der Eltern achten würden! Klara hat esganz gleich. Gibt man ihnen einen guten und vernünftigen Rat, su-chen sie immer etwas anderes dahinter. Ein ruhiges, klares Wortwürde so viel nützen. Doch mit Trotz und Maulen sollte alles erz-

6 Mauritius ist in der christlichen Legende der Anführer der Thebäischen Legion, die dieChristenverfolgung verweigerte und deshalb niedergemetzelt wurde.7 Hochamt: Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1963) Normgestalt und Hochform derMessfeier, in der Priester, Chor und Volk die ihnen zukommenden Texte in gregoriani-schem Choral singen. Heute sind die Messen gleichwertig.

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Anna und ihre beiden Schwestern

Anna (in der Bildmitte) wird am 23. Februar 1900 als älteste Tochter des Anton und der Ursula Herzog, geb. Waldmeier in derÖligasse in Wölflinswil geboren.

Elisabeth (rechts im Bild) erblickt 1902 das Licht der Welt. Nach der Schulzeit erlernt sie den damals üblichen Posamenterberuf(Bandweberin). Drei Jahre ist sie in Luzern in einem Haushalt tätig, um sich für einen eigenen Hausstand vorzubereiten. 1930verheiratet sie sich mit Arnold Studer von Oberhof (dem Nachbardorf von Wölflinswil). Die kargen Verdienstmöglichkeiten imFricktal veranlassen die jungen Eheleute, in Wettingen Wohnsitz zu nehmen, wo Arnold in der BBC Arbeit findet. 1937übernimmt er den Bauernhof und die Sägerei seiner Eltern in Oberhof. Das Ehepaar hat sechs Kinder, wovon ein Mädchen imSäuglingsalter stirbt. Auf dem Bauernhof leben noch Arnolds Eltern, zwei Schwestern, ein Neffe und ein Knecht, so dass zeitweise12 Personen am Mittagstisch Platz nehmen. Elisabeth stirbt 1972.

Klara (links) wird 1905 geboren. Nach dem frühen Tod von Anna übernimmt sie deren Heimarbeit als Hemdennäherin. Späterarbeitet sie in der Seidenbandweberei in Frick. Da kein Verkehrsmittel zur Verfügung steht, muss sie - wie viele andere - einenanderthalbstündigen Fussmarsch zur Arbeit auf sich nehmen. 1934 heiratet sie August Reimann aus Wölflinswil. Die jungenEheleute nehmen ihren Wohnsitz in Frick, wo beide in der Firma Thurneysen tätig sind. Sie haben drei Kinder, wovon das ersteschon als Kleinkind an einer schweren Krankheit stirbt. Klara stirbt 1986.

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Die Öligasse in Wölflinswil im oberen Fricktal (AG).Nach einer Zeichnung von Franz Böller, Wölflinswil.

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Wölflinswil in den 20er Jahren darf man sich nicht als ruhiges, idyllisches Bauerndorf vorstellen.Schon in aller Frühe herrscht nämlich alles andere als eine herrgöttliche Stille. Im Fricktal wie imBaselbiet ist die Posamenterei weit verbreitet. Durch die weit geöffneten Türen und Fenster istdas rhythmische Schlagen der Webladen zu hören. Allein in Wölflinswil stehen 70 bis 80Webstühle, zum Teil mehrere pro Haus. Die ganze Familie arbeitet in einer Art Schichtbetrieb inder Heimindustrie mit. Ein Familienmitglied beginnt bereits morgens um fünf Uhr mit demWeben und wird später abgelöst, so dass der Webstuhl bis spät abends in Betrieb ist. Ursprünglichwird nur Naturseide verarbeitet, später wird auch Kunstseide verwoben.Die Bandweberei bringt den Bauernfamilien mit ihren drei bis fünf Hektaren und den paar Kühendas Bargeld für Kleider und die Steuerabgaben. Darum müssen praktisch alle Kinder nach derSchulzeit die Kunst des Webens erlernen.

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Der kiesbedeckte Dorfplatz mit der Schmiede in den 40er Jahren

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wungen werden. O, dass sie doch den klaren ruhigen Blick, der ihnenfehlt, erzwingen könnten! Ich wollte so gerne alles opfern, alles lei-den für die beiden! Ich will gerne alles tun. Es tut mir so weh, we-gen nichts und wieder nichts oft so missmutige und vergrämte Ge-sichter zu sehen! Keines von beiden begreift, wie schön, sorglos undbehütet ihr Leben bis heute verfloss. Wenn sie einmal durch des Le-bens Leidensschule müssen, dann, grosser Gott, gib ihnen die nötigeKraft zum Tragen! Ich kann es oft fast nicht begreifen. Dummheitenund Kleidersorgen würden ihnen einen ganzen Tag ausfüllen. Es istdoch um Gotteswillen nicht die Hauptsache, sorglos zu leben undschöne Kleider zu haben, das sind doch Nichigkeiten fürs Leben! EinLeben voll zielbewusster, treuer Pflichterfüllung, Gott und den Men-schen gegenüber, wäre viel edler. Ich weiss schon, ich bin auchschwach und fehle oft, nur zu oft. Ich will und muss an mir arbeiten,viel und schwer, dann wird’s vielleicht auch bei den anderen besser.Alle Leiden und Schmerzen will ich aufopfern für meine Schwestern.Herr, wenn es dein Wille ist, dann lass lieber mich krank, aber hilfmeinen Schwestern!

Nov. 9.Elise ist nun nach Luzern zu Verwandten.

Wenn es nur auch wieder gesund und wohl heimkommt! Ich hoffe eszu Gott.Meine Eltern mussten das letzte Jahr so viel mitmachen. Gebe Gott,dass an dem nun genug ist.Ich glaube, Elise ist in Luzern gut aufgehoben. Man muss keineAngst haben. O lieber Gott im Himmel droben, schicke doch Elise dievolle Gesundheit wieder! Lass lieber mich leiden! Doch dein Willegeschehe!Mir geht es sonst viel besser. O Gott, wenn ich doch an mein heisser-sehntes Ziel kommen würde! Doch immer wie Gott will.

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Nov. 27.Lange habe ich wieder nichts eingeschrieben.

Ich war wieder krank. Musste wieder 14 Tage im Bett bleiben. Ichhabe wieder furchtbar gelitten. O mein Gott, alles für meine Eltern,meine Schwestern und zum Troste der armen Seelen! Wirklich, ichhabe grosse Gnade vom lieben Gott, sonst könnte ich diese schreckli-chen Schmerzen nicht immer und immer wieder aushalten. WirMenschen sollten ja eigentlich glücklich sein, dass wir leiden könnenauf dieser Welt. Doch unsere schwache menschliche Natur sträubtsich gegen das Leiden. Wir fühlen uns hier unglücklich, wenn wirleiden. Doch erst drüben über den Sternen werden wir erkennen, wasuns zum Heile war. Es ist wahr, man fühlt im Leid sich dem Heilandviel näher als in der Freude. Wie egoistisch sind doch wir Menschen!Freuden, die können wir alleine tragen, da laden wir den Herrgottnicht zum mithelfen ein. Aber im Schmerz, da schreien wir: “Herr-gott im Himmel, hilf!” Und wie langmütig, wie barmherzig ist derliebe Gott. Er hilft immer wieder, sei’s auf diese oder jene Art.Meiner Schwester Elise geht es gottlob gut in Luzern. O, ich bin sofroh. Wir haben ja doch Leid und Kummer genug. Doch es wirdauch wieder tagen, wenn’s genug Nacht gewesen ist. Doch immer wieGott will.

Dez. 16.Wieder naht mit Riesenschritten das Weih-

nachtsfest. Das Fest der Liebe und der Freude. Heiss drängt sichmir die Erinnerung an die letzte Weihnacht auf. Damals lag ich inAarau im Spital. Wie sinnig schön habe ich doch auch dort Weih-nachten gefeiert. Wie tief prägten sich die Worte von HochwürdenHerrn Pfarrer in uns’re Herzen ein. In strahlendem Lichterglanzstand der Weihnachtsbaum im Zimmer. Die Schwestern und dieÄrzte sangen die alten ewigschönen Weihnachtslieder. Nie in meinem

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ganzen Leben werde ich diese Stunden vergessen!Es wären schöne, nur zu schöne Stunden gewesen, wäre nicht derDolch in meinem Herzen gesessen! Der Dolch der Untreue. Damalsfing’s so recht an. Hat wohl Josef damals auch einmal, nur einmalan’s Christchindchen gedacht? O, was habe ich doch gerade in jenenTagen von ihm und seinen Angehörigen erleiden müssen. Ganz gutist mir noch der Brief in Erinnerung von ihm auf letzte Weihnacht.Da schrieb er unter anderem: “Mein Vater hat mir geschrieben, einenschönen Brief. Er hat mir viel, viel geschrieben, Gutes und Böses.Ich werde es Dir aber nie, nie sagen. Nur das eine sage ich: Ach,dass doch die Liebe uns einmal zusammenführen musste!”O, wie sehr trafen mich damals jene Worte! Wie das Schwert desHenkers stunden sie vor meinen Augen, bei Tag und bei Nacht. Injenen Tagen fasste ich den Entschluss, ihn freizugeben. Aber immerglaubte ich, noch stehe er unter Druck der Seinen. Erst später sah ichein, dass er mich auch ohne mein dazutun verlassen hätte. Oschreckliche Stunden, die durchzukämpfen ihr schwer, so schwerwart! O dass man doch machen könnte irgendwie, dass nie mehr einHerz solches durchmachen müsste! Und gebe Gott, dass er nie sowas durchmachen muss.

Dez. 23.Nicht mehr lange, und die Glocken läuten das

Fest des Friedens ein. Nur noch ein Tag trennt uns von der Stunde,da der kleine und der grosse Erdenkönig auf unsere arme Erde her-niedersteigt. O Herz, kannst du ermessen, welch grosses Glück dasist? Nein, du bist zu klein, zu schwach dazu! O kleines Jesulein, gibLiebe meinem Herzen, dass ich die grosse Gnade recht verstehenkann!Ich weiss gar nicht - in den letzten Tagen muss ich immer so viel anden Tod und an’s Sterben denken. Es ist mir immer, als ob beständig

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der Tod mit der Sense hinter mir stünde, der Herrgott mich warnenwill? Sollte er mich überraschen, ich bin gerüstet. Nie mehr einenAugenblick will ich anders sein. O Gott, hilf mir dazu und auch du,heiliger Josef, der Patron der Sterbenden! Ich will auch wieder alleTage zu den armen Seelen meiner besonderen Lieblinge beten.Vielleicht erwirken sie mir dann die Gnade, dass ich nicht plötzlichund unvergessen sterben muss. Kommt aber der Tod wann und wieer will: Herr, sei mir ein gnädiger Richter! Immer wie Gott will.

Heute hat meine Schwester aus Luzern geschrieben. Es geht ihrgottlob gut. Sie wird diesmal Weihnachten in der Fremde feiern. Ob’sihr nicht doch ein wenig bang wird? Doch warum auch. Das liebeJesulein steigt ja dort grad hernieder wie hier. Und Elise ist ja inlieber Hut. Gebe Gott, dass es gesund, glücklich und zufrieden wiederheimkommt!

Dez. 26.Verklungen sind die Weihnachtsglocken. Schon

sind die Freudenklänge verraucht. O, du fröhliche, o, du selige, gna-denbringende Weihnachtszeit! Unwillkürlich gehn in diesen Tagen dieGedanken rückwärts nach den Tagen uns’rer Kindheit. Wie sehntenwir uns Kinder nach dem Heiligen Abend! Wie freudig und stür-misch schlugen die kleinen Herzen, wenn die lieben Eltern uns zumstrahlenden Weihnachtsbaum holten. Und erst am heiligen Weih-nachtsfest, wenn liebes Mütterlein uns in der Kirche zum Krippleinführte. Wenn das kleine Herz sich frei von Kummer und Leid, nur imGlück und Freude dem Heilande nahte. Gibt es etwas Seligres, etwasSchöneres? Nein, ganz sicher nicht! O lieber Heiland, hilf mir, dassich mein Herz auch wieder frei mache von allem Erdenballast! Dassich wieder mit kindlich reinem, frommem Herzen zu Dir kommenkann!

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Die beiden Weihnachtstage waren für mich wieder zwei rechteSchmerzenstage. Gerade am Heiligen Abend, auf den ich mich sorecht gefreut, mussten diese furchtbaren Schmerzen wieder kommen!Und doppelt weh tat alles meinen lieben Eltern wegen. O wie gernehätte ich ihnen das alles erspart! Ich hätte ihnen so gerne glücklichfrohe und ungetrübte Stunden gewünscht. Aber es sollte nicht sein.Schmerzlich bewegte mich der Klang der Weihnachtsglocken. Kranksein ist ein hartes Los. Und doch macht Krankheit Seelen gross. Ichhabe meine Schmerzen und meinen Kummer dem lieben Jesulein indie Krippe gelegt. Doch ach, auch ungeduldig war ich, trotz allenguten Vorsätzen. Liebes, göttliches Kind, rechne es mir nicht alsSünde an! Mein Herz ist eben noch so schwach und klein.Wo ich wohl nächstes Jahr Weihnachten feiern darf? Vielleicht dort,wo nur Glück und Freude ist? Vielleicht noch in gleicher schmerzli-cher Krankheit wie jetzt? Vielleicht gesund? Einer weiss es. ImBuche des Lebens steht’s geschrieben. D’rum wie Gott will. Er machtalles zu unserem Besten.

Dez. 31.Nur noch ein paar Stunden und die Silvester-

glocken erklingen. Das Jahr 1924 ist zu Ende und 1925 beginntseine Herrschaft. Schnell flieht die Zeit, auch wenn man krank ist.Ein ganzes Jahr krank, vom ersten Januar bis wieder zum erstenJanuar krank, das ist viel, und nur der kann’s voll und ganz be-greifen, der sowas durchgemacht hat. Und wenn ich heute Rückblickhalte auf’s vergangene Jahr, erfasst mich tiefe Wehmut. WievielGlück, wie manche Hoffnung hat das Jahr zu Grabe getragen wer-den müssen! Doch es durchzieht aber mein Herz auch eine grosseFreude. Ich habe alles nicht umsonst gelitten. Einer ist über denSternen, der alles, auch das kleinste Leid, das zu seiner Ehre getra-gen wird, aufzeichnet. Auch das Bewusstsein hilft, alles leichter zu

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tragen: Alles geschieht mit Gotteswillen und der Herrgott schicktkeinem mehr, als er ertragen kann. Wohl quälen oft die Schmerzen,dass man fast verzagen könnte. Ich muss es bekennen: oft schon,wenn ich vor Schmerzen nicht ein noch aus wusste, hat mein Herzgeschrien: “Mein Gott, mein Gott, hast Du mich denn verlassen?”Aber immer hab ich mich wieder aufgerafft und nie habe ich dieMutlosigkeit überhand nehmen lassen. Ich weiss, ich bin auch oftunwillig und gereizt gewesen. Es tut mit heute so sehr leid, tun dochmeine Eltern so viel, so unendlich viel für mich. Ich kann es ihnen janicht vergelten. Aber sicher wird ihnen der liebe Gott einst allesreichlich vergelten. Ich will aber für sie beten und meine Leiden fürsie dem himmlischen Vater aufopfern.Voll banger Ahnung stehn wir an der Pforte des Neuen Jahres.Schmerzlich und traurig fängt es für meine Lieben und für mich an.Doch mit guten Vorsätzen gehn wir ins Neue Jahr, und der Herrwird uns nicht zu Schweres auferlegen.Schreiben wir an die Pforte des kommenden Jahres: Alles wie Gottwill, und alles wird recht werden!

1925

Jan. 9.Das Neue Jahr ist eingezogen. Fast können

wir sagen, still und geräuschlos. Es geht wieder seine alten Strassenund Wege. Auch bei mir ging’s im alten Tempo weiter. Wie schnell,wie riesig schnell doch so ein Jahr vorüberfliegt, hinüber taucht in’sMeer der Ewigkeit! Und wie viel vergeht und verebt in einem Jahr!Wellen und Wogen, die heute stürmisch hochgehn, die glätten sichwieder ganz sachte bis über’s Jahr.Wie gut hab ich’s an mir selbst erfahren. Gerade dies Tage, vomneunten bis zum zwölften Januar im letzten Jahr waren für mich

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traurigschwere Schicksalstage, wie sie vielleicht nicht mancherMensch durchkosten muss. Es ist mir, als sei’s erst gestern gewesen,als Doktor Hüssi mir bei der grossen Visite sagte: “Ihre Sache hatsich nun leider verschlimmert. Sie haben ein schweres Nieren- undBlasenleiden. Sie müssen sofort nach Basel in Spezialbehandlung.Ich kann nichts mehr machen.”O mein Gott, was habe ich damals durchgekämpft! Nach menschli-chem Ermessen gibt’s für mich keine Rettung mehr. Ich wusste, dassich jetzt an einem grossen Scheideweg stand. Ich kann mich heutekaum mehr ganz in jene Lage denken. Ich war körperlich und see-lisch dem Zusammenbruch nahe. Wie habe ich doch in jenen Tagenauf ein liebes Wort aus treuem Herz gewartet! Es sollte anderskommen. Sobald er, an dem mein ganzes Herz noch hing, wusste,wie’s mit mir stand, zog er sich zurück. Die ganzen drei langen,qualvollenTage, die ich noch in Aarau war, liess er sich nie blicken.Kein Wort, keine Zeile schrieb er mir. Niemand kann ermessen, wasdas ist, fast hoffnungslos krank und hoffnungslos verzweifelnd anLiebe, Treu und Glauben. O, das lässt sich nicht in Worte fassen!Wenn man liebt, treu und innig liebt, und drei Jahre lang heucheltman Gegenliebe, es ist fast nicht zu glauben. Verzweifelnd habe ichmich dagegen gewehrt. Aber es kam halt doch, wie ich gefürchtet.Ich habe gewartet und gehofft bis die letzten Stunden, dann habe ich

ihm ein paar Zeilen geschrieben. Fast mit meinemHerzblut. Damit aber kam die Verachtung. Ich konntenicht mehr lieben.Er kam dann noch auf den Bahnhof, als ich fortmusste. Ich konnte nicht mehr viel sagen. Ich warkrank zum Umsinken und schwach, ich konnte michkaum aufrecht halten. Dazu ein Weh im Herzen zumErsticken. Kalt stand er dabei: Wir gingen auseinanderwie zwei Menschen, die sich kaum kennen. Ich hätteihm ins Gesicht schlagen können! Nur der Vater dauerte

Zwischen diesen Seiten befanden sich die Reste eines vierblätttrigenKleeblattes. Das vierte Blatt war abgefallen...

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mich, der auch noch dabei stehen und alles mit ansehen musste. Ichsah ihn eine Träne um die andere im Aug zerdrücken. Der anderestand lachend und plaudernd dabei, und mir wurde immer schwererund schwerer. Mir war’s, als ob der Tod hinter mir stünde undzuschlagen müsste! Ein flüchtiger Händedruck, ein paar kalte Worte,und der Zug fuhr ab. Laut hinausschreien hätte ich können: oFalschheit, o treuloser Schurke!In Olten war ich so schwach, dass ich kaum umsteigen konnte. Ichweiss von der Reise nicht mehr viel. Nur dass mich die Schmerzenmarterten, nicht mehr zum Aushalten, und ein Weh mir in der Seelebrannte, wie ich es heute nicht mehr fassen kann.

Jan. 31.Wie schnell die Tage rinnen ins Meer der

Ewigkeit. Schon wieder ein Monat im neuen Jahr zu Ende. In die-sen Tagen ist’s ein Jahr, dass ich in Basel operiert worden bin. Dreiqualvolle Wochen des Kampfes lagen damals hinter mir. Lange,lange Schmerzensnächte hinter mir, wie sie nur ein Mensch begreifenkann, der sie mitgemacht. Ja, ja, wenn sie mir damals auch meinHerz hätten operieren können, dann glaube ich, wäre ich bald gesundgewesen. Aber das Weh im Herzen zehrte an meinem Lebensmark.Wie oft sprach mein Mund lachend Worte, die mich fast töteten.Wahrlich, es hat einen festen Willen und viel Gnade vom lieben Gottgebraucht, um nicht zu versinken. Aber ich habe mein Schiffleinzwischen allen Klippen durchgezwängt. Bis heute bin ich durchge-kommen, und sicher werde ich einst landen am sicheren Ufer. Es gehtmir jetzt wieder ganz gut. Ich glaube halt ganz bestimmt, dass ichgesund werde. Und will beten, beten ohne Unterlass, und sicher wirdder liebe Gott so beharrliches Gebet nicht unbelohnt lassen. Wenn ichhalt noch weiter leiden muss, so werde ich’s Gott zuliebe tun. GottesAllmacht hat nur das Beste für mich bestimmt. D’rum immer wieGott will!

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Meine Schwester Elise schickt uns immer gute Nachrichten aus Lu-zern. Betreff seiner Gesundheit geht es ihm ganz gut, ich bin so froh.Sie haben auch sonst Elise gern drinnen 8. Aus den Briefen erseheich, dass Elise auch etwas gelernt hat. Hauptsächlich Ergebung undden Willen Gottes und treue Pflichterfüllung, und das ist die Haupt-sache im Leben. 9

Feb. 4.Ich habe in einer alten Zeitschrift folgendes

Gedichtchen gelesen:

Die begrabene Liebe

Er wollte sie nicht habenDie treue Liebe mein

Drum hab ich sie begrabenIn meines Herzen SchreinIch hab ein weiches KissenIhr unters Haupt gelegt

Dass aus dem Schlaf dem süssenSie nie sich wieder regtIch habe ihr zur Seite

Ein Kreuzlein hingestecktDass keiner drüber schreite

Und sie mir auferwecktUm’s Kreuz hab ich gewunden

Den Kranz VergessenheitUnd fest hineingebundenDas Leid für alle Zeit

Dann hab ich meine Hände

8 ... in der Innerschweiz9 Elise war in Luzern als Haushaltshilfe bei einem Geistlichen untergebracht.

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Gefaltet zum GebetDass sie den Frieden fändeFür immer früh und späht

Und dass sie dort nun bliebeZu mein und ihrer Ruh

O Liebe, arme LiebeDa stehst ja wieder du.

Die Worte sind so wahr: man kann sie begraben, aber oft und oftstehen sie wieder auf. Ob sie wohl einmal richtig einschlafen kann?Die Zukunft wird’s lesen. Das sind halt eben Herzenswirren.

Feb. 16.Rasch geht’s wieder dem Frühling entgegen.

Schon blühn an sonnigen Orten die Schneeglöcklein und längst schonstecken die lieblichen Gänseblümchen ihre Köpfchen empor. Schongibt’s Tage mit mildem warmem Sonnenschein. Neue Hoffnung ziehtwieder in unser Herz. Es muss Frühling werden! Auch im Lebengeht es so. Wenn’s genug Winter gewesen ist, kommt auch derFrühling wieder. Der Herrgott in seiner unermesslichen Güte hilftimmer, wenn’s an der Zeit ist. Oft wenn’s am ärgsten stürmt, stehtder Frühling doch hart vor der Tür. Drum unverzagt auf Gott ver-traut, es muss doch Frühling werden!

Feb. 22.

Hat die Welt dir weh gethanDir durchquert den LebensplanWandle du auf neuen Wegen

Alten Zielen dann aufgegeben

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Sei nicht mutlos, gräm dich nichtWie die Knospe spriesst und brichtNach des Winters trüben Tagen

Magst du schon Enttäuschung tragenNun beginne deinen LaufNeues Leben blüh Dir auf

Hast in deinen PrüfungsstundenWohl den besten Weg gefunden.

Den besten Weg. Ja, ich habe ihn gefunden! Gebe Gott, dass ich niedavon abweiche!

Feb. 23.Heute ist mein fünfundzwanzigster Geburtstag.

25 Jahre, ein Vierteljahrhundert. Wie lange scheint uns diese Zeit,wenn wir sie vor uns denken. Wie kurz aber ist sie in Wirklichkeit!Meine lieben Eltern haben in dieser Zeit unsäglich vieles für michgeopfert. Kurze Zeit nur konnte ich arbeiten in dieser Zeit. Kaumhatte ich etwas gelernt und konnte ein wenig verdienen, kam meineKrankheit und brachte ihnen so viel Kummer und Leid. Der liebeHerrgott mag ihnen einmal alles vergelten, ich kann’s nicht! Aberdas gelobe ich an meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag: soviel ichkann, will ich den lieben Eltern helfen! Wenn der Herrgott hilft, dassich wieder gesund werde, kann ich vieles.Wo mag ich wohl in fünfundzwanzig Jahren sein? Einer weiss es,gottlob, wir Menschen nicht! Hoffnungsfroh will ich in die Zukunftschauen. Es kommt alles wie Gott will.

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März 13.Heute drängt sich mir ein Gedanke so sehr auf:

warum tun sich auf dieser Erde die Menschen gegenseitig so vielweh? Warum plagen sie einander gerade dort und dann, wenn siesich am besten etwas zuliebe tun könnten? Sind wir Menschen dennwirklich so liebearm? Es tut mir immer so entsetzlich weh, wenn wirin der Familie uneins sind! Und wie lieblos sind wir dann! Warumverstehen wir uns auch nicht besser? O, wie oft habe ich mir immervorgenommen, nie mehr hart und lieblos gegen die anderen zu sein,und doch bin ich schon so oft gefallen! Ich weiss nicht, ob ich alleinschuld bin, ich habe doch alle lieb. Ich weiss ja, wie viel die Elternfür mich opfern müssen! Ich weiss auch, dass ich’s ihnen nie lohnenund vergelten kann wie sie’s verdienten. Aber ich kann ja nichts da-für. Der Herrgott hat uns halt mit meiner Krankheit allen Opfernauferlegt. Und mutig sollten wir sie tragen und nicht immer murren!Ich glaube ja, nein, ich weiss es, dass es oft schwer ist, bitterschwer! Aber warum dann noch mit kleinlichen Nörgeleien das Le-ben verbittern? O Gott im Himmel, sende Liebe, viel, viel Liebe aufdies Erde! Gib besonders mir ein Herz voll Liebe und Gottvertrauen!Liebe zu Dir und Liebe zu meinen Nächsten! Wenn ich auch leiden,ja sterben muss, ich will’s tragen, mit viel Liebe im Herzen gehtsleichter! Wenn ich viel Liebe geben kann, werde ich auch Liebe ern-ten, denn nur Liebe ist der Liebe Lohn!

März 15.

Meine Wege sind nicht eure Wegeund meine Gedanken sind nicht eure Gedanken

Soweit der Himmel höher ist als die Erdeso weit höher sind meine Wege und Gedanken

als eure

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Diese Worte der heiligen Schrift, die ich gerade in einem Buche las,enthalten so unendlich viel Wahrheit. Wie oft bauen wir kleine Men-schen uns so grosse Luftschlösser, wir stecken uns grosse Ziele vor,und fragen den Herrgott nicht: “Was sagst Du dazu?” Und dann,wenn wir uns am nächsten am Ziel wähnen, spricht der Herrgott seinHalt, und all unser Mühen und Schaffen nützt nichts, wenn’s gegenGottes Wille geht. Drum will ich beten, oft und viel beten, dass mirder Herrgott einen weisen Sinn gibt, um den rechten Weg zum Heilezu erkennen und zu finden.

April 20.Lange habe ich nichts mehr aufgeschrieben, und

doch geht mir viel durch den Kopf. Doch wozu immer das alte Liedüber Menschengemeinheit und Menschenkleinlichkeit? Überall ist dasgleiche. Der Mensch quält den Menschen. Einer steht dem anderenvor die Sonne. Und doch ist auch soviel menschliche Liebe auf derWelt. Aber eben nur menschliche Liebe und zuwenig Gottesliebe.

Karfreitag und Ostern sind vorüber. Welch grosse erhabene Entschei-dungsfrage für die Menschheit! Welch martervolle Leiden hat derHeiland für uns sündige Menschen gelitten! Und hat uns doch geliebtbis zum Ende. Noch im letzten Augenblick hat er für uns gesorgt.Dann hat er des Todesfesseln gebrochen und ist nach drei Tagen vomTode auferstanden. Und damit hat er uns den Himmel und die ewigeSeligkeit geöffnet. Und wir Menschen, danken wir dafür? Nein, eherdas Gegenteil, wir beleidigen den Heiland dafür! Wir häufen Sündeauf Sünde und immer verzeiht uns der göttliche Helfer wieder inunendlicher Liebe. Wir müssen nur wollen. O ewige unerforschlicheLiebe Gottes! O dass wir’s doch fassen könnten! O mein Gott, gibmir Liebe, viel viel Liebe, denn nur durch Liebe kann ich besserwerden!

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Am letzten Sonntag war Weisser Sonntag, Erstkommuniontag fürdie Kinder. Ein Erinnerungstag, sicher der schönste für jeden Chri-sten. Ganz wehmütig stimmt es unser Herz, wenn wir die weissge-kleidete Kinderschar sehen. Wir waren auch einmal so. O, liebergöttlicher Heiland, mach uns wieder zu Kindern dem Herzen nach!O, glückliche Kinderzeit, du kannst nicht mehr wiederkehren! Aberdu warst doch einmal da. Wir waren einmal so glücklich und sorglos.Voll Glück und Sonne war die Welt vor uns. Aber es ist anders ge-kommen. Stürme und Wolken sind gekommen. Verheerend oft. Dochscheint wieder und wieder die Sonne. Ein Leben hat so viel Sonneund Glück, oft auch im tiefsten Unglück. Ich habe es an mir selbsterfahren. Soviel Blumen können auch an dem Krankenweg blühen.Und wenn’s auch manchmal nur Herbstzeitlosen und Passionsblumensind. Freude bringen sie uns um so mehr.

Es geht mir jetzt wieder besser. Ich konnte nun zwei Sonntage in dieKirche. Die Welt schien mir wieder ganz anders. Gebe Gott, dass esso weitergeht!

April 26.Sonntagnachmittag. Regenwetter draussen.

Katarrh und den Schnupfen bei mir. Aber die Gedanken wandern.Der Frühling hält seinen Einzug mit Sang und Klang, mit Blätter-schmuck und einer Blütenpracht, die alle Tage schöner wird. Esmüsste doch etwas Schönes sein, wenn man jetzt hinaus könnte in dieWelt, gesund und munter! Ich darf ja jetzt nicht klagen. Es geht mirja besser, und ich glaube sicher, dass ich gesund werde. Die heiligeMuttergottes hilft.

Bald kommt nun der schöne Mai und Marienmonat. Da will ichrecht innig und herzlich beten. Und sicher lässt Maria kein Bittenunerhört. Nein, wenn die Gesundheit mir zum Heile ist, hilft sie mirsicher. Sollte es aber anders kommen als wir hoffen und glauben,dann weiss ich mich zu fügen. Dann hat eben Gottes weiserRatschluss anderes mit mir im Sinn. D’rum immer wie Gott will!

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Dein Platz

Du stehst am Platz den Gott dir gabDem Platz den er dir zugedacht

Dort nur bleibt er dein Schild und StabDort gibt er Frucht, dort gibt er Macht

Will er dich segnen, sucht er dichNicht in der ganzen weiten Welt

Er sucht dich nur an deinem PlatzDem Platz, wo er dich hingestellt

Bleib auf dem Platz den Gott dir gabUnd halte da in Treue aus

Ist es ein Kreuz, steig nicht herabIst’s Schmelzensglut, weich ihr nicht ausBlick auch nicht seufzend rechts und links

Scheint es verborgen, irdisch kleinAuf diesem Platz, den Gott dir gab

Will er durch dich gepriesen sein

Was du versäumt an diesem PlatzAuch wenn es niemand ahnt und siehtDas bringt uns deinen Segensschatz

Vielleicht ein gottgeliebtes GliedBedenk, den Platz den Gott dir gab

Kann niemand füllen als nur duEs ist nicht gleich, ob du dort stehstDenn g’rade dich braucht er dazu

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Nimm täglich ihn aus Gottes HandDen Platz, den seine Liebe gabWas sich an eig’nen Plänen fand

Bei dir noch senk’s in Christi GrabSoll er erhören dein Gebet

Er tut’s nur, wenn sein Streiter treuauf dem gewies’nen Platze steht

Brich dir nicht selbst die Krone abSag niemals deinem König: NeinNur auf dem Platz, den er dir gab

Wird seine ganze Fülle seinJa, auf dem Platz, den er dir gab

Da jauchze du ihm fröhlich zuDass jeder sieht: sein Wille ist

Dir Leben, Herrlichkeit und Ruh

Sieh, wenn er kommt, sucht er auch dichNicht in der ganzen weiten WeltEr sucht Dich dort nur sicherlichWohin er selber dich hingestelltUnd dann, o sel’ger Freudentag

Versetzt er dich, gibt dir den PlatzAuf seinem Thron im Heimatland.

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Mit diesem Gedicht enden die Eintragungen im Tagebuch. AnnaHerzog stirbt zwei Jahre später an ihrem Leiden.

Durch die hohen Arzt- und Spitalrechnungen hat sich AnnasFamilie mittlerweile schwer verschuldet. Dazu kommen die Gläubi-gerforderungen von Bürgschaften, die der Vater übernommen hat.Eines Tages sieht Anton Herzog keinen Ausweg mehr. Er entschliesstsich, das Bauernhaus der Familie anzuzünden und darin umzukom-men. Das Gebäude brennt vollständig ab, Anton wird aber gerettet.Seine Brandstiftung wird durch die Aussage eines Elektrikersgedeckt, der einen elektrischen Kurzschluss als Brandursacheattestiert. Anton wird aber von schweren Gewissensbissen geplagt,die er mit Alkohol zu verdrängen versucht. 1936 stellt er sich denBehörden und tritt seine Strafe an. Später muss er sich als Knechtin der Bächlimatt in Wölflinswil verdingen, seine Frau Ursula ziehtzu ihrer Tochter Elisabeth nach Wettingen.