VORWORT. Gesprache mit mir zu Tisch! Wie schon lä ßt sich an der Tafel reden, wenn die Runde...

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Transcript of VORWORT. Gesprache mit mir zu Tisch! Wie schon lä ßt sich an der Tafel reden, wenn die Runde...

Nach einem Originalgemalde von Vehling.

PAUL VEH L IN_

G

MORAL DES HOTELS

T iSCHOESPM CHE

m

L . DIDION co ., VERLAG

BLAKE BU I LD ING

723 LE! I NGTON AVENUE

NEW YORK

PAUL VEH L ING

D IE

MORAL DES HOTELS

TISCHGES'

PRACHE

L . D IDION co . , VERLAG

BLAKE BU I LD ING

723 LE! I NGTON AVENUE

NEW YORK

Copyright, 19 10, by Pau l Vehling

Alle R echte vorbehalten

All rights reserved

T he privilege of translation may be ob tained from the au thor only

Ubersetzu ngsrecht kann nu r vom Verfasser erworben werden

©0‘ . Af0111 403

D IE MORAL DES HOTEL S

GE SPRÄCH E M I T M I R ZU T I SCH .

Meine Gaste sind in wechselnder Fo lge

ein Kunstkritiker,

ein Soziologe,Professo r der Nationa lokonomie,

ein fo rtschriülicher Großindustrieller, Komm erzienrat, Ritter

usw . ,

deren l ieb enswu rdige Damen, sowie

verschi ed ene internationa le Gelegenhéitsbekanntschaften u . a .,

ein Schneider au s London und

ein amerikanischer Bischo f .

Der Ort der Handlung ist ein charakteristisch'

er Nomadenpalast, ein ganz großes, modernes, internationalesHotel .

VORWORT .

Gesprache mit mir zu Tisch ! Wie schon lä ßt sich an

der Tafel reden,wenn die Runde liebenswürdig

,wenn das

Essen gut und der Appetit nicht verd—orhen ist ! Wie fröhlichläßt sich nach einer edlen Flasche philosophieren

,wenn man

au s feiner Schale heißen Mokka nippt und den blauen Raucheiner guten Zigarre in die Luft bläst, während der sinnendeBlick den duftigen Wolken nachzieht . Der wachsamsteMensch wird dann unvorsichtig, dem Trug u nd der Tauschung zugänglich . Ja, was das Schlimmste ist : er wirdvergeßlich . Und dennoch ! Jeder will einmal so vergeßlichsein

,j eder sich einmal als Mensch fühlen . Mehr als alles

andere hat ein gutes Diner eine Wirkung daraufhin . Esverleiht dem Esser eine schone

,ja olympische Ruhe und

Sicherheit,teilt ihm”das stille

,wohltuende Gefühl eines ge

steigerten Selbstbewußtseins mit,welche s kein anderer Genuß

,

keine andere Lebenslage in solch ruhiger Fülle zu bietenvermag . Darin liegt die große Gefahr, die Falle fur denmodernen Menschen . Ein derartiger Zustand

,dünkt mich

,

sollte ruhiges,klares

,vernünftiges Denken fördern

,erwecken .

Weit entfernt ! Unsere Zeit hat kaum jemals ernstlich überdiese Frage nachgedacht

,hat nu r instinktiv gehandelt . Darum

versteht man auch so wenig zu essen . Die meisten verstehenes überhaupt gar nicht . M an will es nicht verstehen . DieGefahr ist zu groß ; die Zeit fehlt . M an könnte sich zu sehrals Mensch fühlen .

Da ich jedoch m der gl u cklichen Lagebin, uber genu gendZeit zu verfügen

, da. ich die Gefahren eines guten Diners füruns moderne Menschen erkannt habe

,so bemeistere ich die

8

selben mit anderen Worten : ich bin ein aufrichtiger,meiner vollig bewußter E sser . Das will etwas sagen . Daherkann ich mir auch kaum etwas Menschlich- Schöneres denkenal s eine gesellige T afd ru nde . D as gute Gelingen eines Mahlshä ngt freilich von tausend verborgenen

,mißgünstigen K leinigkeiten ab , die nicht j edermann bekannt sind . Der Gourmetselbst hat seine Last dami t . Ärger über mißlu ngenes Essenwird besonders stark empfunden . Als gesundheitsschädlicheGemütserregung tut er an Heftigkeit nur der —wahnsinnigenEifersucht eines Verliebten gleich . Diese beiden Tornadosder menschlichen Seele haben ganz wie die atmosphä rischenein Zentrum

,das absolut still u nd ruhig und unerreichbar .

ist : die Dum mheit im psycho logischen Falle .

So habe ich denn al s Gastrosoph die verschiedenenStoru ngen, Hindernisse und Gefahren, die unseren Tafelfreuden drohen

,eifrig studiert . Die Mahler, die ich gebe,

sind daher berühmt,meine Gastlichkeit ist gepriesen ; mein

Bild ist in jedem Winkel der Erd e bekannt den Gebildetenwenigstens . M an prahlt mit meiner Bekanntschaft . Und hatkeinen Grund dazu . Wo ich auftauche und erkannt werdeu nd ich werde erkannt da entsteht R eportergedränge .

Natu rlich mischt sich allerhand unliebsames Volk unter .Gewöhnlich ist dies sogar am stärksten vertreten . Wie imme rund überall und in aller Ewigkeit . Aber ich habe Verpflich

tu ngen . Das Klappern gehört auch zu meinem Handwerk .

Das Schweigen,das feine, lachelnde Schweigen gleichfalls .

W as eine negative, aber nicht minder wirksame Reklame ist .Vor allem da rf ich daher nicht

,grob werden . Und vor. allem

einem interna tionalen Banausentum gegenüber nicht . Denndies ist ungefähr das bösartigste, gefährlichste Gesindel au fGottes weitem Erdboden . Als . Mann der. Welt werde ich

sch ließlich überhaupt nicht grob . Das heißt allerdings Zeitverl-uste . Al s tüchtiger Geschaftsmann aber denn das binich auch oder eigentlich habe ich nur ausgerechnet

, daß

derartig angelegtes Kapital sich reichlich verzinst .

So entstanden meine Tischgespräche, oder richtiger einT eil derselben

,die besonderen, die vorliegenden . Für mich

waren sie eine höchst interessante,wenn auch teilweise ‚ver

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hä ngnisvol le, kritisch e Untersuchung der erwähnten Gefahren ;dagegen eine gute Lehre und Strafe zugleich für meine Qu ä lgeister. Denn ha rtnäckig ließ ich den teu flisch gesuchten

,

ei nmal gesponnenen Faden nicht mehr fallen . Selbst nichtau f die Gefahr hin, heimlich verfemt oder gar fur langwengehalten zu werden . Weil meine Worte ehrlich u nd

“wohl

gemeint sein sollten, drum mußten sie no twendigerweise sohinterlistig sein . Auch mußten sie interessant sein . Sonsthä tten sie meinem Rufe geschadet und ich hätte nichts,absolut gar nichts damit erreicht . Weil meine Zu horer an

der Tafel Banausen waren,mußte ich fachsimpeln

,mußte

ich Griffe in die diversen H anfbündel des Lebens tu n,um

sie die Zuhörer,die Spezialisten zu ködern

,mit ihrem

Fache ihre Aufmerksamkeit fesseln . Darin lag das Interessante . Für sie

,di e Zuhörerschaft . Ich erwartete im voraus

alle Schrecken einer Inquisition, al le Qualen einer Selbsterniedrigung

,ich sah die gähnenden Kiefer einer entsetz

lichen Langeweile,ihre dunkle Rachenhöhle

,ich empfand das

Nagen eines bösen Gewissens,

aber statt alledem ergriffmich plötzlich ein fremdes Verlangen Neugier Schaffensdrang Mitleid E ntdeckermu t sei es, was es will .Und vorsichtig und geduld ig zog ich den verhä ngnisvollenFaden ein . Weiter und weiter ! Denn

,ach

,nun wollte ich

wissen, wie er entstand;”woher er kam

,was an se1nem Ende

hing .

Es ist etwas Eigenartiges um die menschliche Seele . I chwu ßte genau : der Faden wird in meinen Fingern gebildet .A u s dem wirren

,losen Bündel Hanf entsteht das feste Knäuel .

Das Bündel wird kleiner, das Knäuel wächst . Und dazwischen liegt die W onrie der Arbeit

, die unwide rsteh licheab er u nbefriedigte Neugier

,das Wissen und das Nicht

wi ssen, die Fu rcht vor meiner Spule für den brausendenWebstuhl der Zeit, meiner Hände W erk zwar, aber nich tmein Eigentum .

W er den Lauf der Ereignisse in der le tzten Hälfte des19 . Jahrhunderts betrachtet

,wird es ganz erklärlich finden

,

0

daß unsere Generationen (u nd vielleicht auch noch diekommenden) trotz aller technischen Fortschritte, trotz . allerredlichen Bemühungen manches u nbeä -

chtet lassen, manchesvom Strom der Z eit ins Leben Gerissene u nd im AufblühenBegriffene ersticken lassen, das vielleicht zu scheu, zu unans ehnlich

, zu bescheiden oder zu schwach ist oder das garwissentlich als zu verächtl ich beiseite geschoben, als daß esder T eilnahme der Weisen u nd gar erst des gewöhnlichenSterblichen wert ware .

Unsere Zeit hat indessen vor allen anderen das Verdienst, daß sie u ns die schöne Erde ganz erschlossen hat .

D as Bedürfnis hierfür ist das ursprünglichste Empfinden 1in

Forschensdrange (oder Neugier) , das jede menschliche Brustbewegt . Wichtige Erfindungen haben es

)

den Völkern ermöglicht, schnell, bequem und billig reisen zu können . M an

macht ausgiebigen Gebrauch davon,denn man reist gern .

Und jeder,der hierzu ln seinem Leben Geld

,Zeit u nd

Gelegenheit hatte„kann

,wenn er glücklich u nd klug

genug war„nicht a llzuviel Bücherweisheit 111 sein Reise

rä nzlein einzu sch_nu ren, sich stolz in die Brust werfen u nd

sagen,falls ihn irgendein Naseweis nach seiner Bildung

befragt

„Ich habe die H oheschüle des Lebens besucht ; bin

Dokto r der, Rechte des Daseins . Und ährfliches mehrW i1 Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts haben uns

den Gesetzen der Anpassung getreu den heranstürmendenEreignissen gefügt . Schranke um Schranke fiel, der Natu rahsmu s kam u nd ging W ie die Romantik vor ihm . Es wankenschon (so denken wir) die letzten Barrieren vor dem. Ge

suchten . Schließlich folgt die letzte Emanzipation, und wirstehen da mit leeren Hä nden vor einem Nichts . Wir stehendavor u nd sehnen uns nach neuen (oder gar zurück nach einpaar alten abgelegten Idealen

,denn ohne Ideale

,mit

einem puren Nichts geben sich Menschen nicht zufrieden .

Wir sorgen u nd sorgen u nd vergessen,daß die Zeit für uns

sorgt . Das ist die Nervositä t _

des zwanzig sten Jahrhunderts,der Menschen nüch tern, kalt, berechnend, bu sinesslike, aberd ennoch mit einer qualvollen Sehnsucht im Herzen

,mit der

I I

Genu ßsu cht nach dem gewissen Etwas , das die dunkle Zukunft uns immer wieder hartnäckig vorenthält . Das ist Neugier . W ir haben die äußersten Winkelchen der Erde betreten

,

wir'

wol len die Tiefen der Lüfte und der Meere,’

ja die dere1genen Seele: ergru nden,

den g'

eheim3ten Funktionen desCerebellums nachspüren . Man muß sich sehr weit von denMenschen entfernen, um

' ein gutes Bild von ihnen zu er

halten . Ein Zusammenhang, eine Einheit ist schwer mehr zuerkennen

,obgleich sie besteht . Aber die hinterlistigen Ver

hältnisse unserer Zeit haben die früher.

nach einer Einhe itstrebenden Gewebe der Zivilisation getrennt,

sie haben neueKontras te und Abgründe geschaffen, einzelne Reiche gebilde t .Wir können kein Ende sehen

,Weil wir am Anfang stehen .

Und

imm er stehen”werden ;

Daher toben gewaltige Kämpfe zwischen Kapital —1I nd

Arbeit,blutige

,verderbliche Aufrühre

,morderische Kriege,

politische Umwälzungen . D aher fängt man sogar schon an,

human zu werden . Einsichtsvolle Geister a rbeiten b eständigan dem Wohl des Volkes . Die Regierungen und Kapitalisten

,

Vielleicht nur von,

gewissen Ängsten dazu angetrieben,geben

Mittel mit vollen Händen her . Kurz,der Dankbare sieht

hinter jedem Ereignis ein Streben zur Läuterung. . Mögenn

'

un edle M eri schenl iebe oder bloß graue Furcht vor unabsehbaren

,unheimlichen

,fabelhaften Folgen dies Streben

fördern,wir wissen es n1cht .

Viellei cht helfen beide . Wirwissen nu r Tatsachen

,wie zu m Beispiel

,daß Menschenliebe

und folglich auch M enschenfü-

reli t M ytheri'

sind, welche inuns l ebendig geworden

, nu n in W irklichkeit'

existieren . Furchtnatürlich im erhöhten Maße . Wir

'

wissen nu r Tatsachen,Wie z u m Beispiel

,daß die mehr oder weniger deutlichen

Drohungen des Sozial lsrnu s manche'

s au f-gerüttelt u nd manchesins Bockshorn gejagt

,manches in Bewegung gesetzt haben,

das sonst in arkadischem Frieden weiter gewuchert hätte .

Und wir w15 5 en,daß die weise'n Gesetzgeber sich immer

“erst durch verzweifelte Notwendigkeiten veranlaßt sahen,

Gesetze zu ihrer und zu anderer Schutz und Recht herauszu tu fteln und herau szugeben . Das Gesetz

,eine Erfindung

wie alle anderen; ist das legitime Kind der Notwendigkeit

und des Geistes der Zeit . Nur das erste nicht : D u sollstnicht vom Baume der Erkenntnis essen ! “ Das ist einerätselhafte Kaprice

,das Kind einer u blen Laune .

Die Bilder,welche unser Leben bedeuten

,sind zwar stets

andere,aber immer u nd immer wieder nur Illustrationen der

alten Geschichte von dem der Menschheit eigentümlichenWanken zwischen dem

,Guten“ und dem

„Schlechten“ oder

dem Vollkommenen und dem Unvollkommenen . Ihr Werdegang ist eine Springprozession zum Heiligtum des Ganzen,ein wogendes Meer

,ein Suchen

,ein Sehnen nach Voll

kommenheit u nd ein Rückfall ins Dunkle . Und wie im

Brausen des Meeres,so ertönt dazwischen ein gellendes

Hohngelächter von abertausend kapriziösen Geistern der

Finsternis . Und Männer mit ganz feinen Ohren, begabt mitreicher Phantasie

,horen dies . Sie haben darauf nichts

Eiligeres zu tun,als es den Schwerhörigen mitzuteilen . Erst

dann hält es die Menschheit für nötig,langsam sich wieder

aufzuraffen . Wenn sie den Weisen glauben, heißt das .Wie ungeschickt sind wir doch ! Wie kurz denken wir

nicht u nd fügen uns und andern dadurch'unermeßlichenSchaden zu

,den wir bei einiger Einsicht von Anfang an

hätten vermeiden können . Gewöhnlich nennt man dies „Irr

tum Der Irrtum,bildlich dargestll t, aber ist, wie wenn ein

armes,leidendes Menschenkind sich in Schmerzen am Boden

windet,während ein grinsender

,abscheulicher Teufel hinter

ihm steht,ihm eine Narrenmütze aufsetzt und sich vor Lachen

über das komische Bild den Bauch hält . Zu solcher D emüti

gung muß es kommen, damit die meisten von uns angetriebenwerden

,einen schwachen Versuch von Selbsterkenntnis zu

ma chen . Wie sind sie alsdann plö tzlich so geschickt,den

Schaden zu reparieren ! Man denke sich nur einen T olpel ,der eine Schüssel fal len läßt . W as treibt ihn dazu an, dieScherben möglichs t flink wegzu räumen oder gar wieder zusafmtnenkitten zu wollen ? Jemand

,der nicht gewöhnt ist,

Scherben zu machen,wird lachen und sie liegen lassen .

Aber den Tölpel überzeugt selbst die Erfahrung nicht . W ar11mhat uns ere Zivilisation

,unser nationales und soziales Leben

Situa tionen,Verhältnisse

,Orte geschaffen

,wo sie L aster,

I 3

Verbrechen,Schwindsucht

,Wahnsinn

,Nervosität und alle

sonstigen erdenklichen Leiden wie au f einem Mistbeetezu chtet ? War um hat sie Industrien und Fabriken

,die alle

Beteiligten in die Ketten von Krankheit,Elend und Sklaverei

legen ? Nur damit sie,dieselbe Zivilisation

,Hospitäler

,Sana

torien,Kirchen

,W ohl tä tigkeits und Besseru ngsanStalten

hau en und mit Wundern der menschlichen E rfindu ngsgabe

protzen kann . Denn al l der Jammer,den sie verursacht hat

,

soll wieder gu t gemacht werden . D ie Scherbenmacher desLebens ' bedenken nicht

,daß die Gefäße des Lebens aus dem

feinsten Material verfertigt sind und daß der Saft des Lebensunau fhörlich

'

darau s hervorsickert, wenn sie einmal einenrichtigen Knacks bekommen haben . Leider aber steckt dieWurzel und der Same der giftigen Pflanze u nd des Unkrautsim Boden . M an sieht sie nicht eher, als bis sie mit demW eizen aufgewachsen sind .

Man hat aber trotzdem schon viel eingesehen in unserenTagen . Man fängt auch schon an, vorzubeugen statt zu

reparieren . Ein erfreuliches Zeichen ! Es gi bt fast keineI ndu strie mehr ohne ihre Literatur . Ar-beitérheere tu n sichzu sammen

,ihre geschäftlichen und menschlichen Rechte zu

beschützen und zu verteidigen . Selbst in den jüngsten, täglichneu entstehenden l ndu strien ist dies wahrzunehmen . Es istj edoch kein Zufall

,daß die Gastwirtschai ts - Industrie

,obgleich

sie streng genommen jung,sehr jung ist und jetzt gerade

gewaltig heranwächst,als Solche unbeachtet geblieben ist .

Ich will nicht den Anspruch erheben,die Vernachlässigung

entdeckt zu haben,denn das wäre nicht richtig . Jedermann

,

der an dieser Industrie beteiligt ist, empfinde t sie mehr oderweniger . Wenn auch schon viel in den Zeitschriften überdas Gastwirtschaftswesen gesagt worden ist

,so k ann ich

dies aber nur meistens für fragrnentarisch u nd für leereVerwu nderung über die plötzlich aufgeschossenen Riesen

prachtho tel s oder für Reklame halten . Müßige Plaudererohne jede tiefere Kenntnis haben sich damit befaßt

,jedenfalls

weil alles darin so schön aussieht,weil sie dort sehr gutes

Essen und Trinken bekommen und im großen ganzen sehr

gu t aufgehoben sind . Derlei Tändeleien sch°

rumpfen aber

14

elend zusammen,wenn das Leben mit seinem ernsten Gesichtc

und seiner wuchtigen Sprache an sie herantritt .Wir besitzen meines Wissens na ch noch k eine nennens

werte einheitliche, sachliche Kritik über das moderne Gastwirtswesen

,das nunmehr streng genommen ein viertel

Jahrhundert alt ist . Selbst wenn ein derartiges klassischesWerk schon existierte

,so wurdenmeine ‚Tischgespräche doch

nur als ein kleines Kapitel in dem großen Bande über“

dieweitverzweigte Industrie kondensiert sein müssen

, ja eigent

lich gar keinen gebührende„n Platz finden können . Im Zeitalter der Spezialisierung beschrä nke ich mich bei meinerBeschreib u ng .des Hotels daher hauptsächlich au f ein Themadas menschliche . Es wird jedoch auch der Fachmann“

an den vorliegenden Gesprachen verstandnisvol les Gefallenoder Mißfallen haben . Aber ich will nur schildern nichtsanderes . Darum kann jedermann zu horen . Ich will demFachmann ‘ namentlich dem jüngeren

,und dann auch den

Leuten,die täglich mit ihm zu tun haben

,das Werden

,Sein

u nd Vérgehen eines Menschen vor Augen stellen, choatischeZu stände kritisieren und erörtern und Kulturgewächse u nd

—au swu chse betrachten, die von großem,allgemeinem Inter

esse sind . Wenn ich durch diese Darstellungen auch nu r

einen einzigen jungen „Fachmann von der aktuellen Lage

seiner Sache zu überzeugen vermag,wenn ich ihm den

rechten Weg andeuten kann,der ihn an leiblich-em und

seelischem Niedergang vorbei zu m allgemeinen und persönlichen Nutzen führt

,so wird diese Arbeit überreichlich be

lohnt . Gerade im Leben des Arbeiters in der modernen Gastwirtsindu strie gibt es Zustande und Fragen, die schon langenach E rlosu ng schreien . I ch bin vor keiner dieser schreienden und wimmernden Fragen zurückgewichen, noch habe ichsie schonend behandelt, Fragen, die an Menschlich-Allzumensch

'

lichem so unendlich reich sind .

Die ganz außerordentliche,sonderbare Stellung

,die der

mod erne Kellner in der Geschäftswelt einnimmt,ha t ihn

ungleich anderen Arbeitern weniger zum Kampfer als zumVermittler geschaffen . Das

,dünkt mich

,ist etwas Besseres .

Jedenfalls erfordert seine Rolle in unserem Zivilisations

und starke Taten . Ein fremder Stein, der vielleicht vomH immel fiel oder den ein Vulkan oder die See ausspie, wird

ja immer zuerst die Runde durch die betastenden Kinderund Narrenhä nde machen müssen

,die sich daran belustigen,

bevor'

der Mann komm t,der ihn liebevoll untersucht u nd ihm

einen passenden Platz in seiner Sammlung einräumt,froh

,

eine'

neue,vielleicht interessante Spezies gefunden zu haben .

Man Wird hinter das Interessante und Kuriose eines vermeintlichen oder wirklichen Fundes kein Fragezeichen stellen : DieSituation wird jedoch spannender, wenn die Frage a uftritt

,

ob man d em Funde oder ob er uns nützen kann . Darumfand ich es nach einigem Schwanken der Mühe wert, dieTischgespräche aufzuzeichnen .

Die Dinge und ihre Zusammenhänge bestehen sagtPaul Garin

, „lange bevor sie gesehen und bevor sie erkannt

werden . Nach vieltau sendjährigem Bestand von Familie,Gemeinde

,Staat und Volk gab uns doch erst die jüngste

Vergangenheit einige feste Vorstellungen über das Wesenund Wandel dieser Gebilde .

“ Eine verblüffende'

Wah‘

rh'

eit wird uns da ins Gesicht gesagt ! Wir könnten esnicht glauben

,wenn wir es nicht täglich neu erlebten . Sie

sehen,meine Herrschaften

,wir wohnen nun doch schon so

lange in diesem fashionablen Hotel . Haben wir uns jedochjemal s für das Haus nä her interessiert

,über seine Entstehung

,

seine Entwicklung nachgedacht ? Ja, dies Leben, dieserBetrieb ! Wie interessant ! Gewiß

,das sehen wir alle . Aber

ist es nichts mehr als interessant ? Das wäre wenig . Dochdies genügt uns . W ir‚scha u en an, was uns gefällt, kritisierenvielleicht, was uns mißfäll t ; nehmen indes alles hin mit einerwu nderbaren Sorglosigkeit und Selbstverstandlichkeit

,be

zahlen und gehen wieder . Aber unwissend gehen wir,wie

wir kamen . Außerdem haben wir damit unsere Schuldigkeitnicht getan . Es ist für uns al s denkende Menschen absolutnotwendig

,daß wir uns ernstlich umsch

'

auen,uns orientieren

,

unsere Umgebung studieren und daraus profitieren . W ie

meinen Sie ? M an hat gewöhnlich keine Zeit dazu ? Oh, mehrals Sie glauben ! Man nimm t sich gewöhnlich nicht die Zeit .Es kommt darauf an

,die fliehende Minute nicht fortzulassen,

bevor sie uns ihre Botschaft mitgeteilt hat . Und jede hat einewichtige Botschaft für uns

,die auf ewig verloren geht

,wenn

wir nicht Gewalt brauch en . Verlangende Bilder drängen sichuns jed en Moment auf, fremde Gestalten, fremde Weltensehnen sich nach uns

,stumm mahnend

,unwillkürlich unsere

P a u l Veh l i n g , Die Moral des Hotels . 2

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Teilnahme erflehend,nach E rlosu ng schreiend, u ns Gluck

und Erlösung anbietend . Wir dürfen nicht achtlos daranvorübergehen

,wenn wir schließlich selber nicht vereinsamt

Brachland Wuste Sein wollen . Darin liegt das großeGeheimnis der Liebe . Sehen Sie nu r den stummen Blickeines wildfremden Menschen . Wieviel Fragen

,Verlangen

,

Wünschen,Begehrenoder Kälte

,Verachtung

,Abs'cheu

,Haß

,

Wut,Zorn

,Gefahr birgt er nicht in sich ? Und das alles

für uns ? Fur uns,auf d enen er ruht ? Beobachten

,empfäng

lich sein,Wachen « ist daher unsere größte Pflicht im' Inter

esse unserer Selbsterhaltung .

Ergreifen Sie.doch nu r einmal das erste Beste

,das

I hnen in den Weg kommt, u nd lassen Sie alles“ andere einen

Moment‚außer acht . Sie werden eine ganze Weile lang Ihreungeteilte Aufmerksamkeit darauf richten müssen

,bis Sie

es erkennen .

“ Der Augenblick hat Ihnen viel Neues zu sagen,

Sie werden viel lernen . Hier kommt schon jemand . EinKellner . Für Sie als Soziologe

,Herr Professo r

,sollte dieser

junge Mann doch besonders interessant sein . Natürlich,Sie

u nd wir alle wissen,daß dieser Mensch zur Bedienung der

Gäste hier gegenwartig ist, doch darf ich fragen : haben Sieschon jemals über seinen Ursprung und folglich über seineExistenz nachgedacht Wer mag wohl der erste Kellnergewesen sein ? Das dachte ich mir ! Sie lächeln ! I st dieFrage so amusant

,weil sie scheinbar so einfach ist ? Läßt

sie sich“

darum mit einem teilnahmslosen Lächeln entlas sen ?Ganymedes . Ganz richtig . Aber der zählt eigentlich zu

den antiken himmlischen Heerscharen,wahrend der Kellner

eine verzweifelt irdische, menschliche Gestalt ist . Wer dererste Kellner war

,wo er leb te

, wie er hieß und wie er aussah,läßt sich nicht sag en . Es fehlen jegliche Urkunden oderTraditionen . Obgleich des Gas twirts Gewerbe eigentlich souralt ist wie unsere Zivilisation, obgl eich

"

die Geschichtschreiberaller Zeiten

,ganz wie alle anderen Bürger

,jederzeit u nd

überall dem Gasthau se sehr gewogen waren, die Gestalt desKellners blieb obskur: Nu r hie und da wird er erwähnt u nddann in das u ngünstigste L icht gestellt . So in der schonenGeschichte von dem: historischen Gasthau se zu Askal-on, dem

9

Schwarzen Walfisch Es wird dort erzahl t,wie die Kellner

die Rechnung präsentierten,ein gewichtiges

,in Keilschrift

auf Ziegelsteinen geschriebenes Dokument . .Nu n da Sie,Herr

Professor,den Namen des Ganymedes scherzhaft erwähnt

haben,komme ich darauf zu rück . Es erzahl t al lerdings e ine

einzige,aber wunderbare Geschichte au s dem grauen Alte

'

rtumuns von dem ganz außerordentlichen Kellner, der Ganymedeshieß . Er war schön an Körper und Geist, dieser Jüngling,der schönste seiner Zeit : Und man kennt sogar seine Familienverhältnisse . Er war der eheliche Sohn des Tros und derK al lirrhoe und tummelte sich mit seinen Bru dern A ssarakos

und 1103 auf den sonnigen Höhen des I dagebirges herum,das

eine gute Reise im Luxuszug weit gegen Sonnenaufgang sichzu m tiefblauen Himmel emp0rstreckt . Ja, ja, gnädigesFräulein

,ich versichere Ihnen

,Ganymedes war so schon

,daß

die bösen Nachbarn die Vaterschaft des braven Tros inFrage stellten und allerhand davon munkelten, daß der

Jüngling einen der ewigen Götter zum Papa haben müsse .

Sehr richtig,gnädige Frau

,stimme Ihnen vollkommen bei !

Obgleich Zeus als oberster der Gotter in die ser Hinsichttatsächlich manches geleistet hat, wasman heutzutage ganzrecht mit gestrengen Blicken betrachtet und ihm sehr übela nrechnet u nd er_ _ infol gedessen wirklich der heimlicheS chrecken manch . eines jungen Ehemanns war

,so wollen wir

aber derartige Geru chte bezu glich der Abstammung desGanymedes als unbegründet aufs entschiedenste ablehnen .

Denn es fehlt jeder authentische Beleg dafür . Tatsache jedochist

,daß Zeus unendliches Wohlgefallen an dem Jüngling

hatte, u nd die Sage geht

,daß er seinen großer! Adler au s

sandte,der den Ganymedes erfaßte und hinauf in den Himmel

trug oder in das Elysium wie Sie wollen .

In diesen Gefilden der Götter u nd der Seligen brauchteZ eus zu den vielen festlichen Gelegenheiten einen anständigenKellner, und er ließ sich, da er viel au f gutes Service hielt,a lso den schönsten u nd besten der er

_dgeborenen Jünglinge

kommen, um sich von diesem den Nektar und Ambrosia, diedamalige Table d’hote der Götter servieren zu lassen . UndGanymed mu ß mit seiner Stellung sehr zufrieden gewesen

2*

sein.

denn er ist niemals mehr zu r Erde zu ru ckgekehrt . Sehrbedauerlich für die I rdischen . Von dem -schlanken Götterkellner

,der spater selbst zu dem Rang eines Halbgottes

avancierte,hätte sogar unser moderner Kellner hier ohne

Zweifel manches lernen können . W as Wunder daher, daßdie alten Künstler ein solches Exemplar von Schönheit undGewandtheit verschiedentlich verherrlicht und s ein Bild inBronze und Marmor darzustellen versucht haben .

‘ Einigesdavön hat sich Sogar bis auf unsere Tage erhalten

,damit

j eder Kellner,der nach Rom kommt

,sich sein Prototyp

ansehen kann . Sie erinnern‘

sich,Herr Doktor ? A ch ja

,

natürlich ! Sie a ls Kunstkritike‘r .’

D as ist ja Ihr Fach .

Nicht Wahr ? Es ist der Mühe wert, sich den Ganymed anzusehen ; und es kostet nichts Wie me1nen Sie ? Ei, richtig ! Welches Gedächtnis Sie haben ! Montags

,Dienstags

,

Donnerstags und Freitags wird ein “ Lire Eintritt erhoben,der nebst anderem in die Kasse des Heiligen Vaters fließt .Na

,j edenfalls aber bekommt man an den anderen Tagen

beim Eingang einen Zettel, der sagt

„P ermesso personale per visitare Mu sei del P alazzo

Apostolico Vaticano.

Und unten drunter steht —groß und großmütig

„Gratis .“

Das w eiß ich noch ganz genau, denn hm,verzeihen

Sie, gnadiges wollten etwa s Sagen . Ganz

recht ! In Wien hängt auch ein Bild . Ein wunderbarerCo rregio . In Dresden

,gnädige Frau ? Gleichfalls rich

tig . Ja, in Dresden auch . Rembrandt,wenn ich nicht irre.

So ’n pausbäckiger, kräftige'

r Berigel , der mächtig schreit,als ihn der Adler erfaßt . Au ch etwas jung nach unserenBegriffen .

"

Indes,dies e Bilder sind archäologi sch u

'

nzu

reic‘hend . Der K ellner profi tiert nicht viel davon . Er kann

höchstens das eine von Sein‘em klas sischen Kollegen lernen :

nämlich,daß er ihm an Schönheit des Geistes u nd auch des

sich se1t 2demklassischen A ltertum”d ie Verhältnisse so sehr

verä nd ert,‚alles hat ein s o ganz anderes Gesicht angenommen,s

'

o"da

ß wir‘

deri modernw Kellner nicht allzu sehr schmä’hen

du rfen,Wenn er dem Ganymedes wenig oder gar nicht

ähnlich sieht . Außerdem haben wir auch gesellschaftlicheSkandale und M esal liaricen sowieso gerade genug .

Dennoch oder gerade da rum, so wie er heute ist, bleibtder Kellner aber ein ganz interessantesThema . Und wahrend

wir . hier auf den unsrigen warten,wollen wir nicht gleich

schimpfen,wenn unsere Geduld etwas au f die Probe gestellt

wird,sondern wir wollen einma l betrachten

,was seine Arbeit

ist und warum er uns oft so lange warten läßt . Das isttatsächlich ein großes Gebiet . . Zuviel für einen Tag . Vorallem müßten wir u ns mit . der Gas twirtsindu strie bekanntmachen . Zu diesem Zwecke müßten wir

,wie gesagt

,sehr

weit in die . Geschichte zurückgreifen . Denn die Geschichteunserer Väter und Vorväter steht an den W änden der Gaststuben geschrieben . Oft viel besser als in dicken Büchern .

W enn Sie mir folgen wollen, so werden Sie sehen, wie wenigsich die Menschheit eigentlich seit ihren frühesten Dokumenten bis auf unsere Tage i nnerlich verändert hat . Dieäußeren Umstände sind freilich andere geworden . Sie werdensehen

, _wie sich au s der schönen,vielgepriesenen alten Gast

freundschaft eine Industrie großartigsten Stils entwickelte,

die notwendige Folge des wachsenden Verkehrs der Völkeruntereinander .Gastfreundschaft . W as ist, oder besser, was war Gast

freundschaft eigentlich ? Einem W anderer in alter Zeit,der

ermattet, bestä ubt von fernher kam und beim Sonnenu nter

gang an eine fremde Haustür anklopfte,wurde aufgetan .

Man empfing ihn freundlich, nahm ihn ins Haus au f, wu schihm die Füße

,salbte s le‚brachte ihm Salz und Brot, lu d ihn

zu Tisch,bereitete das beste Bett für den Müden . Das war

Gastfreundschaft . Diese Sitte ist heutzutage fast nu r nochdem Namen nach bekannt, ausgenommen - bei einigen patriarchal isch lebenden Völkern des Orients . Daher wird sieauch allentha lben als eine große Tugend gepriesen . Wirs ind aber immer zu leicht verführt

,etwas schön u nd freu nd

lich Aussehendes zu hoch zu schatzen . W enn die Menschensich gegenseitig etwas Gutes antun

,so treibt sie gewöhnl ich

kleines persönliches Profitchen dazu an. Ganz leer will der

Wohltäter nie ausgehen . W elchen Zweck verfolgen die Menschen

,wenn sie sich in den Haaren liegen

,sich gegenseitig

bekämpfen ? Nu r derjenige,der sich gar nicht mit den

Menschen abgibt,ist der ganz Selbstlose . Sind wir moderne

Menschen,die wir einem armen einlaßbegehrenden W anders

mann höflich aber kühl die Türe vor die Nase schlagen,etwa

weniger tugendhaft als die Braven vor Jahrtausenden, diesich gegenseitig mit dem größten Vergnügen bewirteten ?I ch hoffe nicht . Die Zeiten haben sich nur geändert . Wirbesitzen statt der Gas tfreundschaft eben eine andereTugend ein Äquivalent . Die Geschichte beweist dies . Zufrüheren Zeiten wanderte man nicht so viel wie heutzutage,Es war beschwerlich

'

u nd gefahrvoll . Die Menschen warenselten . Drum kam auch nur selten ein Wandersmann an dieH au stu r und begehrte Unterkunft . Man freute sich jedesmalvon ganzem H erzen

,einen Fremdling zu sehen und auf

nehmen zu konnen . Dies Gefühl hat sich bis au f unsere Tageerhalten . Denn wenn man mit jemand gu t Freund bleibenwill

,so darf man sich nicht zu häufig bei ihm blicken lassen .

Dies scheint auch das Gehe1mnis der meisten E hemiseren zu

sein . M an darf daher die alten Völker ihrer edlen Gastfreundschaft wegen nicht allzu hoch preisen . Der fremdeGast war wirklich einmal eine angenehme Abwechslung inder stillen Eintönigkeit ihres Lebens . Besonders wenn erwohlhabend aussah . Er wurde stau nend von oben bis untenbetrachtet . Sein Felleisen war der Gegenstand stiller, aberallgemeiner Bewunderung . Man war au f die Geschenkegespannt . Selbst dem . weniger selbstsüchtigen Gas tgeberha tte der W andersmann allerhand zu bieten . Er konnte diespannendsten Geschichten

,die schönsten Abenteuer, die

letzten Neuigkeiten au s fernen L anden erzählen . . Zu einerZeit

,da es noch keine Zeitungen gab, war ein solcher Mensch

daher j edem willkommen . So baut s ich a lso die sogenannteTugend der Gastfreundschaft au f der sogenannten Untugendder Neugier auf . Die Neugier hieß damals den Wandersmann willkommen . Man profitierte von ihm, wie man heutevon ihm Nutzen zieht . Darum begleitete der freundliche,stolze Hausvater seinen Fremdling am nächsten Morgen

fu ndenen zu erkennen, denn diese hat uns vielleicht etwasNeues au s fremden Regionen zu berichten

,etwas . Neü

'

es,das

nicht in der Zeitung steht . Wir betrachten den Fremdling/

mit ebenso großer Neugier und suchen ihm ebenso au f

richtig alles Gute anzutu n, d as in unseren Kräften steht .Es ist a ber schwierig, die verwandte, freundliche, einsamwandernde S eele anzutreffen, die wir suchen . Nahe sucht man

sie oft nicht, in der Ferne findet man sie gewöhnlich nicht .Es scheint alles Glückssache zu sein . Und bevor man regelrecht Vorges tellt ist, bereitet eine Annäherung große Schwierigkeiten. Die moderne Seeleneinsamkeit scheint daher oftso groß u nd so unerträglich zu sein

,daß s ic

'

:li viele praktischeMenschen sogar in der Zeitung nach einem s eelisch verwandten Wanderer ums ehen

,da sie gewissermaßen absolut

j emand haben müssen, an dem sie ihre Gastlichkeit ausüben

können .

Durch die uralte Sitte u nd Tradi tion wurde die Gastfreundschaft natürlich im Laufe der Zeit eine Art Gesetz undwurde als solches heilig gehalten . Damit waren dann ebensonatürlich allerhand Rechte

,Gebrauche u nd Zeremonien ver

bunden,die teils den Gast

,teils den Gas tgeber verpflichteten .

Als der V erkehr zunahm,sah man sich . jedoch genötigt, viel

fach vom alten Rechte u nd den alten Gebräu chen abweichen”

zu müssen . An den Hauptstraßen wuchsen kleine Häuserempo r, die sich die Beherbergung der Fremden Zum Geschäftmachten. Die ersten Gasthäuser ! Der K ommerzialismu s er

schien . Das W andern und Reisen wurde bald so unsicher,die Gastfreundschaft unzuverlässig, daß sich entfernte Fa‘

milieu u nd Völker veranlaßt sahen, Verträge miteinanderabzu schließen . E inzelne Staaten sandten Männer in fremdeLänder

,welche unter dem Schutze des betreffenden Volkes

standen und sich um das Wohl ihrer reisenden l . andsleu te

bekümmerten .. Die alten Griechen nannten diese Männer“

P roxenoi„ u nd wi r haben Sie heute noch und nennen sie

KonsulnDie Reisenden schienen es _

al lmahlich fu r am bequems tenund besten zu ha lten, in - den Gast‘hä u sem an der Land straßeabzusteigen . Dieser Brauch wu rde nach und nach allgemein .

2 5

Die Romer,zu r ersten christlichen Zeit au f dem H ohepu nkte

ihrer Macht und ihres Glanzes,waren natürlich die Haute

volee.des dama ligen R eisepu b liku ms, die antiken Globe

trotters . Als solche machten sie sich das Reisen so angenehmund sicher als

'

möglich . An allen Landstraßen errichteten sieStationen zum Pferdewechseln, mit welchen gleichzeitig. einNachtquartier verbunden war . An Weinschenken und Gas t

höfen in den Städten und Dorfern des Altertums war wirklichkein M angel . Auf Reinlichkeit ihrer Lokale schienen dieantiken Wirte jedoch im al lgemeinen wenig Wert gel egt zuhaben . Oder Horaz war ein großer Kostverächter . Dennder alte Dichter drückt sich s ehr verächtlich über die Tavernenund Wirtshäuser seiner Zeit au s . Es ist auch möglich, daßer als Poet nicht imm er bei Kas sa war und die damal s schonexistierenden erstklassigen Lokal e daher nicht frequentierenkonnte . Vornehme Reisende, welche keine Freunde in derfremden Stadt ha tten, stiegen gerne in den besseren Deverso rien ab

,weil sie dort gu t aufgehoben waren. Z u r Unter

ku nft der Dienerschaft und der Gespanne der Reisendendienten die gewöhnlich etwas abseits liegenden Dependancendes vornehmen Gastho fes .Wie Von der ganzen antiken Zivilisation, so gewinnt

man auch von den Ho tel und R estau rantverhal tnissen derrömischen Blütezeit

“ '

éif iühderbar lebendige s Bild bei einemaufmerksamen Spaziergang durch die to ten Straßen Pompejis .

Als der Vesuv an dem verhängnisvollen Augusttage desJahres 79 die schrecklichen Verheertrngen in

sei11em Umkreisanrichtete und das blühend e Leben rings um sich her zer

störte,da dachte niemand der Unglücklich

'

en daran, welchenDienst d ieser po lternde, feuerspeiende Bergriese den kommenden Geschlechtern erweisen würde . Er gab den leichtherzigenBewohnern der Städte gerade noch Zeit genug, ihre kostbarenSiebensachen und Barschaft zu sammenzuraffen

u nd‘ sichdann wörtlich au s dem Staube '

zu machen . Die fröhlichenStäd te aber wu rden samt allem

,das nicht fliehen konnte, mit

dicken Schichten von'Asche‚—Bimsstein und Lava bedeckt .

Sie wurden den späteren Zeiten au fbewahrt . W ar es dieVorsehu ng, welche mit prophetischen Augen d ie wüte

nden,

2 6

verheerendenScharen bartiger, struppiger Barbaren aus demNorden heranziehen sah

,um R om zu vernichten ? W er

kann sagen, was die schrecklichen Werkzeuge der Vernichtung des Schönen in der Faust des dunklen Schicksals: derVölker bedeu ten ? W ir

,die Nachkommen

,freuen uns

,daß

Pompeji gerade zu seiner Glanzzeit bedeckt und uns au f

bewahrt wurde . Als man vor etwa hu ndertu ndfünfzig Jahrenanfing, die Decke von der. toten, vergessenen Stadt zu lüften,war man sehr erstaunt . M an fand Dinge

,worauf man sich als

neueste Errungenschaft etwa s einbildete,man fand

,daß die

toten Bürger der toten Stadt sie besser verstanden hatten .

Und je weiter man vordrang,vorsichtig

,Schritt für

Schritt,Zoll für Zoll

,um so herrlicher und wunderbarer und

lebendiger rollte sich das Bild ab . Nun sehen wir sie allevor uns ! Unbewu ßt, ahnungslos, daß sie beobachtet werden,schalten und walten sie weiter . Und besser als irgendwoanders erkennen wir das lustige Völklein von Pompeji inseinen Gasthöfen

,Weinschenken u nd Spei-sewirtschaften . W ir

sehen sie essen und trinken, lachen und zürnen, al l die würdigen Senatoren

,die edlen Frauen

,d ie Bankiers

,die strammen

Zenturionen,die flotten Maler und Bildhauer

,die düsteren

u nd fröhlichen u rid lausigen Dichter,d ie leichtherzigen Ko

mödianten, die sanften Flötenspieler, die großsprecherischenGladiatoren

,die Handwerker

,die Krämer

,die W irte, die

Soldaten,die Bauern

,die Sklaven

,!die Priester

,die P rieste

rinnen,die Kellnerinnen

,die Köche

,die Sklavinnen

,die

leichtsinnigen Dämchen .

Natu rhch hat das antike Gastwirtsgewerbe mit der Ent

wicklung des anderen Lebens Schritt gehalten. Bis heutehat man ein schönes

,mäßig großes antikes Gasthaus in

Pompeji bloßgelegt . Dieses befindet sich . an der Gräbenstraße . Eigentlich ist ‘ es nichts mehr als ein dürftigerTrümmerhaufen

,aber die Fundamente und Sä u lenstumpfe

deuten darauf hin,daß die H au ptzierde des Gebäudes eine

schöne Säu lenhalle war . Im Erdgeschoß unter den Säulenbefanden sich allerhand K au flä den ; im ersten Stock wohntendie Gäste

,welche von dort eine prachtvo lle Aussicht au f das

blaue mittelländische Meergenossen . Dienerschaft u nd Pferde

2 7

wurden in neben dem Hause liegenden Stallen u ntergebracht .M an weiß nicht, ob die Gäste ihre Mahlzeiten in diesemHotel einnahmen oder die vielen Speise u ndWeinwirtschaftender Stadt aufsuchten . Auch ist es moglich, daß sie sich dieSpeisen von einer solchen ln ihr Quartier bringen ließen, denndas Gasthaus selbst weist keine Einrichtungen für d1e. Zu ‘

bereitung von Speisen auf . An Speise und Weinwirtschaftenjeden Ranges war zur damaligen Zeit in Pompeji kein Mangel .Eines der renommiertesten Häuser war das nahe beim herku laner Tor gelegene Gasthaus d es Albinus, der in würdigenstolzer Einfachheit seinem Etablissement gleichfalls die FirmaAlbinus gab . Das Gasthaus Fortunata hatte eine sehrgünstige Lage im Mittelpunkt der Stadt an einer belebtenStraßenecke und war gleichfalls sehr beliebt . Vor se iner Türsteht ein garstiger Brunnen

,worauf ein Raubvogel abgebildet

ist,der einen Hasen davontragt . Wir müssen den hoch

entwickelten Geschäftssinn der damaligen Wirte bewundern .

Den großen Wert einer guten Lage kannten sie ganz genau .

Fast jedes Eckhaus war daher als Schenke oder Gastwirtsc

'

:haft eingerichtet . Andererseits ist mir jedoch die stummeaber bedeutungsvolle Gegenwart eines Trinkbrunnens an

vielen Straßenkreu zungen,al so vor der Tür der meisten

Gasthauser geradezu rätselhaft . Über das Verhaltnis derhohen städtischen B éhorde oder der P olizei von Pompej izu m zeitgenössischen Gastwirtsgewerbe ist leider nichts bekannt . Ob die antiken Stadtväter mit den A u sbeu tereien derantiken Wirte weniger . E rfolg hatten wie ihre modernen Amtsbrüder bei ihren Zeitgenossen

,und ob sie aus so lch niedrigen

Motiven daher ’

als Maßregelung der streitbaren Wirte dierätselhaften Trinkwasserbru nnen vor die Türen der Tavernenpflanzten, ist ein noch unerforschtes Geheimnis . D a ich inden meisten Fällen sehr realistisch denke

,so habe ich die

Überzeugung, daß die W irte an der Existenz der besagtenBrunnen unschuldig sind

,u nd ich werde in dieser Annahme

bestärkt, je mehr ich mir das Leben und Treiben der pom

pejanischen Wirte u nd ihrer Habitués betrachte . Eine große,höhni sche, heimtückische Macht verschanzt sich hinter d iesenBrunnen . Ich glaube wirklich allen Ernstes , daß eine da

2 8

malige, uns unbekannte große T emperanzbewegu ng unterden nüchternen Bürgern und Bürgerinnen der sonnigen Stadtam Meerbusen von Neapel es zustande gebracht hat, mit Hilfeö ffentlicher Subskription jedes neu entstehende Gast hausmiteinem nassen

, nüchterneri Brunnen zu beantworten. Obgleichdas Wasser darin

,heute nicht mehr fließt

,so sprechen die.

B runnen selber auch für diese Behauptung . Sie können ihreHerkunft wirklich nicht verleugnen . Sie sehen g anz nache inem temperä nzlerischen Ursprung au s . Durchweg prosaischund geschmacklos wie sie sind, stehen sie in scharfem Kontraste zu dem ästhetischen Bedürfnis der Alten . Vergleichtman sie mit Brunnen 1n e1nem pompejanischen Atrium oderP eristil , so sehen sie wirklich nu r steinernen Trögen ähnlichdarinnen das liebe Vieh seinen Durst stillt . D a ich aber keinHistoriker bin und auch weder Zeit noch Lust habe, dasWirken dieser antiken T emperä nzler schärfer zu beleuchten,so werden mod erne M ä ßigkeitsgesel lschaften, die die Früchteihres Eifers als ein erst in ihnen

'

gezeitigtes Verdienst beansprüchen

,meine Mutmaßung mi t ungläubigen und zweifle

rischen Augen betrachten u nd die Existenz von antikenseelenverwandten Bruder und Schwesterschaften leu gnen,s tatt mir für die wichtige E ntdecku ng zu danken .

Schenken und Wirtscha ften, welche Sklaven, Kramer,kleine Makler

,Gladiatorenund Schauspieler zu ihrer Kund

schaft zählten,waren sehr zahlreich . Diese Lokale hatten

verschiedene Namen,wie Oen0p oliu m,Taberna vinaria oder

Cau pona . Viele verabreichten nu r Getränke, wovon eines derbeliebtesten die

„ posca“ war

,eine Art Cocktail von Wein

,

Eiern und Wasser, welches kräftig zu sammen geschlagenwurde . Die P op inae, die Speisewirtschaften für die niederenKlassen

,bezogen ihren Bedarf an Fleisch aus den Tempeln

,

wo siedie geopferten Rinder, Schafe und Schweine zu b ilh'

gen

Preisen ankaufen konnten . Sehr häufig stellten diese speku

lativen W irte die verlockend zubereiteten Leckerbissen imFenster oder in der Haustüre au s . Die hungrigen Passantenkonnten natürlich solchen appetitlichen Anblicken nur schwerwiderstehen . Doch auch schon damals, ganz wie heute, bed iente man sich gewisser künstlicher Mittel, um die

'

zäheren'

Gasfe uber Quantität u nd Qualität der W are hinwegzu

täuschen . D ie Thermopolia, Tavernen, welche als Spezialitätwarme Getränke, unsere heutigen Grogs und hei ßen Punsche,verabreichten

,wu rden schon von den besseren Klassen be

su cht . Wenn ich bessere“ Klassen sage, so meine ich natürlich

'

auch feinfühlende Mensch en . Wie schwach müssen“

diePompejaner und wie stark ihr Grog gewesen sein ! W ie verrufen die T hermopo lia l Denn viele der braven Zecher vermieden au s al len möglichen Gründen beim Besuch der Tavernej edes unnötige Aufsehen . Unter dem Schutze des cu cu l lu s,einer Art Haube oder Kapuze am Mantel, die über das edleHaupt gestreift wurde

,schlüpfte manch ein P ompejaner

durch die Gas se und verschwand im H interpförtchen der

Schenke . Wie meinen Sie ? Keinerlei hi storische Berechtig

-u ng ? Gewiß nicht . Aber es b edarf doch wirklich keinerkühnen Kombina tionsgabe

,um diese zartfühlenden

,heim

lichen Trinker als Mitgl ied er der erwähnten antikenT emperanzgesel lschaften zu erkennen

,welehe dem warmen

Thermopol iu m den ka lten,klaren Brunnen vor die Türe

setzten . Ich gebe daher dem Dichter Plautus vollständigrecht

,wenn er sich über die bedauernswerten Manner lustig

ma cht,welche verhüllten Hauptes in die Schenke schleichen

mußten,um sich am _warmen

,würzigen Glühwein gütlich zu

tun . Und dann,hm

,verzeihen Sie

, daß ich’s erwähne

,doch.

zu r Psycho logie der Zecher ist es notwendig diese Schenkenha tten außer dem Glühwein noch eine andere Attraktion inder Gestalt der Cop a, was die antike Kellnerin oder Barmaidwar . Bitte di es ist vielleicht nicht so verdarrim enswert

,

wie wir annehmen mögen . Nach pompejanischen Gemäldenzu urteilen waren diese Copde genau so resolute und stramme

Jungfrauen u nd Geschäftsgenies wie ihre Kolleginnen vonheute . Ein Bild stellt uns eine so lche holde Hebe dar, wies ie von einem za u dernden Gaste energisch B ezahlung fürden wa rmen Trunk verlangt . Ohne Zweifel ein antiker Mäßigkeitsbru der .

Schon früh empfanden die Wirte da s Bedürfnis, demGedächtnis ihrer Ku nden zu H ilfe zu kommen . Daher tauchenschon im

ägrau en Altertum all die schönen Firmen Zum

30

Adler Hahn,Apfel

,R ad, Merkur, Traube , Krug u sw . au f.

Daher die prangenden Schilder,die

"

dem d u rstigen Passantensagen, wo etwas Gu tes z u haben ist . Daher die verlockendenInschriften

,die rührige Reklame der Gasthäuser . Die Pom

pejaner wa ren groß darin . Weder T emperanzbewegu ng nochTrottoir oder Reklame sind Errungenschaften unserer Zeitwi e vieles andere

,worauf wir stolz sind . Die Alten hatten

und u b ten es schon . Genau wie heute blühte damals die Sitte,d ie Wände der Hauser und die Mauern der ganz-en Stadt mitReklamen zu verschönern . D a es noch keine Ze itungen gab ,so war in ganz P ompeji kein freies P latzcheri mehr, woraufnicht etwas Nützliches

,Geschäftliches

,Offizielles oder

W issenswertes angezeigt,gemalt oder g-ekritzel t gewesen wäre .

W ie alle erdenklichen offentlich-en,politischen

,städtischen

,

Neuigkeiten,Theater u nd R ingkampfanzeigen, persönliche

Mitteilungen wie Liebesseufzer und Beleidigungen,Lob u nd

.S chmähreden an al len E cken u nd Enden zu r Einsicht offens tanden

,so übten auch die Menüs der Restaurants und

S peisehäuser an den Mauern ihre stumme Pflicht . Bei derstarken Konkurrenz kann ein Geschäft nur mit wirksamerReklame aufrecht erhalten werden . Diese

,eine unserer

neuesten Ideen,verwirklicht von pompejanischen Wirten vor

b einahe zwe'

i Jahrtausenden ! Sarinu s, der wackere Sohndes Publius

,begrüßte au f der W and an einer Straßenecke

den müden oskischen Wanderer und teilt ihm höflichst mit,

daß man um die zweite Ecke biegen müsse,um das vorzüg

l iche Hotel Sarinu s zu finden . Ein anderer Wirt, welchernoch über ein u nvermietetes schones Zimmer mit drei Bettenu nd allen „

Bequemlichkeiten“ zu verfügen hat,läßt es der

M itwelt unverzüglich wissenHOSP I TI UM B I C L OCATUR TR I CL I NI UM CUM

Ein sehr interessanter Speisewirt, einR eklamegenie erstenRanges

,ein köstlicher Humorist, überzeugt von der Güte

s einer Küche,preist dieselbe folgendermaßen :

APP ONI TUR NON GUSTAT PE RNAM L I NGI T

OL L AM OUT CACCABUM “

32

t1anken und fröhlich Waren . Vom schonen,erstklassigen

Hotel Bellevu e an der Grä berstraße herab bis zu den ein

fachen Herbergen, Vom eleganten künstlerischen W einwirtStraße nach N01a, in des$en Lokal sich die Hono

zierlichen .Tischchen und au f ku ristlerischen Dreifüßen zu

sitzen und au s schön verzierten silbernen Pokalen W e in zu

b15 hinab‘

in die Spelunken‘ mit ihren

Chmnbres"

u nd deren passendem‘

W ands'

chmuck,Lokal e

,

die genau wie heute si ch ihres zweifelhaften Charak terswegen unter der Bürgerschaft eines großen R enomrnees

u nd Zuspruchs erfreuten und jedenfal ls glänzende Ge

schä fte machten.

Ja, leider, gnadige Frau ! Zu allen Zeiten scheint dieMenschheit ein gewiss es Bedürfnis u nd eine Hinneigu ng zu

A u ss‘

éhweifu ngen, verschwenderische'

n Gelagen und Völlereigehabt zu haben . Aber deshalb dürfen

Sie doch wirklichnicht”glauben

,daß

'

d ie alten R ömer zu m'

Beispiel entsetz

lieb ere S chlemmer gewesen seien‘

al s wi e wi r . Freilich,

freilich, es herrscht diese allgemeine 11nge

'

Ansicht . D ie

Namen Lukullus, Nero, Elagab'

al us und wie sie alle heißen,

die antiken Lebemänner,sind heu te noch für jeden Gourmand

der Inbegriff höchster Geriu ßfähigkeit und nachahmenswerteIdole

,Während d er Fronime si e nur mit einem Schauer von

E ntsétzer'

i betrachtet u nd der h‘

ungri ge Proletarier nur mite1ner gr1mrru gen, u nterdrückteri Verwünschung dieser Namengedenken kann. M ah

'

hat jedoch schon verschiedentlich“

Ver

sucht,diese Irrtümer der Geschichte aufzuklären

,und ich

schließe mich gerne den einsichtsvo llen Männern an, Welcheein derartiges lobenswertes Werk unternehm en . Nur durchdieGeschichte der Menschheit kannman wirklich erkennen,was Mäßigkeit oder Un

‘mäßigkeit ist Wer dadurch derM enschheit Mäßigkeit in körperl ichenGenüssen predigt, istihrWohltäter . Das Bestiale in ihr nirnmt doch immer W iedersein Teil eit 111 Gedanken ahbelarigt

Sehr zu sorgen,die kommt

meist ens von Selber . Unser Heil liegt also in der Mäßigungin al len Dingen . W ie für alles, so ist es auch für die

33

antike Lebensweise und zu ihrem Verstandnis wichtig, genauzu bea chten, in welchem Lichte sie uns gezeigt werden .

In der grellen elektrischen Beleuchtung unserer Zeitnehmen sich die traditionellen Schl emmereien

“ des Altertums doch recht dürftig au s . I ch W ill mich bemu hen

„Ihnen

dies .möglichst genau zu erklären . Mögen wir auch nochso starke Scheinwerfer modernerW issenschaft au fdas Dunkelin der Geschichte der alten Kulturvölker richten, wir werdenniema ls in die rätselhafte Tiefe der vergangenen Jahrtausended ringen konnen; wenn wir nicht unsere Blicke in die eigenenHerzen tau chen und da s Land der Alten mit der Seele umfassen . Dumpf schweigend betrachten wi r alsdann das grauenhafte Ringen zwischen herrlicher, lebensdu rstiger Schönheitund deren unerforschlichen, wilden, gegnerischen Mächten .

Es ist der zögernd e Kampf des Werdens,des Seins u nd des

Vergehens, das wundervolle Trauerspiel des Lebens, das sichschon im Au ge des S ä u glings ahnen läßt, das Spiel, dessenklagende Akkorde das

_ Ju bilieren des Frühlings schon durchziehen . Wir sehen die Jugend dieser Nationen, ihren Trotz,ihren M u t

,ihre Einfalt

,ihre frische Stärke

,ihre Einfachheit

,

Arbeitslust, Sittenstrenge . W ir sehen ihre Pläne, die sie alsErbauer von Weltreichen entwerfen ; sie träumen von derE rnte künftiger K u ltnj _

en„ _deren Same in ihren Herzen wu hl t .

Sie essen einfach,trinken Wasser

,opfern ihre Söhne für das

ö ffentliche W ohl und die Gerechtigkeit . Wir sehen die gereiften Nationen

,ihre Herrscher

,Politiker

,ihre Künstler

u nd Denker . W ir beobachten die W echsel in der Brust derNationen . Fremde Einflüsse

,welche durch den Verkehr mit

der Au ßenwelt unvermeidlich sind, arbeiten im Charakterdes Volkes . W ir sehen Wohlstand, Reichtum,

Luxus,ver

ä nderte Lebensweise,veränderte Sitten

,veränderte Ansichten

und Gedanken, nagende Zweifel, lockende Versuchungen,heiße Kämpfe

,u berwu ndene Standpunkte

,Triumph des

Neuen . So entschieden und bestimm t und scharf abge

grenzt sich die Konturen der Zeiten von ferne ansehen, 50

u nmerkl ich ist ihr Übergang von einer zu r andern . Sprossen,Wachsen, Verwelken . Und jedes hat seine Zeit, jedes ‚seineR echte .

Pa u l Veh l i n g‚Die Moral des Hotels .

34

Wie im Denken,im ku nstlerischen Empfinden, W elt

anschauung und Lebenswe ise d ie Alten zu r Blütezeit derAntike einfacher, stärker als wir und uns daher überlegenwaren

,so betrachteten sie auch das Gastmahl nicht lediglich

als eine Fu nktion zu r K orperernahru ng,sondern als eine

geweihte _H andlu ng,

au s welcher sie Freude und Stärkungschöpften . Doch es gibt ein Halt : Und das ist das Rätselhafteste

,das Unerforschlichste des Lebens : mit der größeren

Ausdehnung,der steigenden Entwicklu ng der Nationen, mit

ihrer wachsenden Freude am Dasein, mit ihrer Blüte undManneskraft schlichen sich auch schon die grinsenden, verkleideten Dämonen des Verderbens in die Mitte der daseinsfrohen Menschen . Diese bösen Widersacher verteilten Reichtum u nd Macht mit vollen Händen

,schmeichelten der Bestie

des Menschen,fachten die wildesten Leidenschaften an . Sie

weckten Myriaden von bisher ungeka nnten,verborgen sehlum

mernden,unersättlichen Begierden . Überall

,wo der Reichtum

sich vermehrt, wo ‚die berauschende, verführerische Stimmeder Großstadt flüstert, da recken sich diese Gespenster emporu nd. fahnden nach ihren Opfern .

_Und ihren Spuren folgenalle Greuel des menschlichen L ebens : Laster, Verbrechen,Krankheit

,Sklaverei

,Wucherei

,Raub

, Totschlag, Krieg ,wie

die Geier, H yänen, Schakale, R aben, „

Würmer . und andereA astiere dem Geru che der Fäulnis folgen . Ein verheerendesFeuer schleicht durch das Mark eines Volkes, das im Bannedieser Mächte liegt

, w1e e1ne Seuche verbreitet es sich, -vererbtes sich auf die Kinder der Eltern

,bis das ganze Geschlecht

wurmstichig,faul zusammenbricht u nd sich in den S türmen

der Zeit als Staub au flöst .

So fuhren die herrlichen Geschlechter des Altertums demrätselhaften Finale entgegen

, . das ihrer harrte . W as war es ?Lauerte es in dem blutdürstigen Gebru l l aufgebrachter Barbaren und in ihren Fu ßtritten ? War es halb herau fheschworendurch die Wunsche in der eigenen Brust, die aufreibende Giernach Freu de

,nach Reife, nach Vollendung, nach Erlösung ?

War es eine s chlaffe, süße Ermattung, eine Sehnsucht nachTod oder der eigentliche Zweck

,der Triumph ihres E rden

wallens ? Das Trauerspiel ist aus der Winter ist da

3 5

wahlen Sie,meine Freunde, sich den Schluß ganz nach

Ihrem Belieben und ihrer Auffassung .

Unter solchen Eindrücken einer großen Vergangenheit,die ihre Hand selbst noch bis in unsere heutige Zeit hineinerstreckt und wunderbar mit der zauberischen Gewalt, welchevon den Gräbern gestorbener Freuden ausgeht

,unsere Herzen

erfaßt,verbleicht natürlich Unser eigenes L eben . Das ist

das Recht,welches der

'

T od au f das Leben oder die Ver

gangenheit auf die Gegenwart hat u nd au su bt . W ir fühlenuns klein . Es ist, als wollte sich

das Vergangene an uns, denLebenden

,rächen

,weil

'

wir es verdrängt haben . So entstehenauch die Geschi chten ven

“ dem märchenhaft‘

en Luxus, Schönheit und der schwelgerischen Lebensweise des Altertums .

Aber ein einziger nüchterner Bl ick au f die technischen Möglichkeiten wird uns von dem

'

magischen Banne des Ver

gangenen befreien .

: Ich will daher,meine Freunde

,nicht

Ihre Z eit verschwend'

en und Ihnen antike Gastmähler inallen meiner Phantasie zu Gebote stehenden Farben und mitallen Einzelheiten darstellen. Wir wollen uns auch nichtdu rch den Eindruck eines vergangenen Glanzes oder durchschwärmerische Geschichtschreiber beim Entwu rf unseresBildes vom antiken Gastmahl beirren lassen . Muß man nichtgewöhnlich über Histo rienbilder und

„historische“ Literatur

lächeln,

-wenn man sich nicht gerade'

angeekel t fühlt ? Uns

gilt nur,den Geist der damaligen Zeit mit den Augen unserer

Seel e zu betrachten u nd in u ns aufzunehmen . Dies und nichtsande res ist der bleibende W ert

,den die große Zeit hat,

dessen E rben wir sind, den wir besitzen sollen . Alles andereist Schutt und Trümmer und a ltes Gerumpel .Es würde daher ungerecht und unrichtig sein,

”zu be

hau pten, daß die Alten in Raffinesse der Küche u nd. Feinschmeckerei unsere Zeit übertroffe

'

n hätten . W as die K u n s tdes E ssens und Trinkens j edoch anbelangt , so scheinen sie

uns weit überlegen gewesen zu sein, obgleich wie gesagtdie antike Küche bei Weitem nicht so vollendet und reichhaltig war, wie es die der f1

'

anzosischen Renais'

sance, also dieunsrige ist . Denn d i e s ist gewiß : die Alten nahmen sichmehr Zeit zu ihrem Gastmahl : sie brachten ein einfaches,

3*

36

stolzes Selbstgefühl mit an ihre Tafel,ein Gemu t, das u n

getrübt von einer vielverzweigteh'

,ra stlo sen Zivilisa tion,

berührt Von bedruckender, einengender Konvention steiferFaltenhemden u nd frei von jeder geschäftlichen Sorge einzigund allein einem inneren, angeborenen Bedürfnis für Schönheit fo lgend, die ‚Freude suchte u nd sich rückhaltslos der

Freude ergab . Denn «die Gemütsbeschaffenhcit des Gastesist ein ebenso wichtiger F aktor . im W ohlgel ingen des Gastmahls wie die Qualität der Speisen . Daher maßen die Altenau ch dem Gastmahl viel mehr Bedeutung bei

, wie man esheutzutage tu t . Man muß staunen über die herrliche Füllevon s chönen

,künstlerischen T ä elgerä ten, H au shaltsgegen

ständen, Trinkbechern, W ä rmebecken für Speisen,L eu chtem ,

Tripoden u sw .,die man noch m den letzten Jahren 1n Pompeji

gefunden ha t,wenn man bedenkt

,daß die Pompejaner vieles

für s ie Wertvolle auf der Flucht vor dem großen Verhängnisihrer schönen Stadt eiligst zusamm enrafften und mitnahmen .

Viele kehrten zu rück, nachdem sich die Wut der Elemente

gelegt hatte, drangen durch die eingestu fzten Dächer ihrerverschütteten H eime ein und gruben au s, was . in der Angstu nd dem _Tumult der ‚K atas trophe liegen geblieben war .

Ferner wä ren in den. darauf folgenden Jahrhunderten dieseherrlichen Gräber des Altertums der Gier und Beutelusteinzelner Menschen ausgesetzt

,die eine leise Ahnung von

den vergrabenen Schätzen hatten u nd diesen stets beizukomm en suchten . Im siebzehnten und zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts wurde die unglückliche Stadt von gierigen Horden von Piraten u nd K u nsthyänen überfallen, dieau f der Su che nach Schätzen und kostbaren Gegenständenalles wust u mwühlten u nd nichts verschonten . Erst vorwenigen Jahrzehnten regte sich das menschliche u nd archä ologische Gewissen der Schatzgräber, u nd unserer Zeit ver

danken Wir alles, was wir über die Alten wissen. Sie er stmachte „ u ns au f j eden, selbst den kleinsten unscheinbarstenFu nd au fmerksam. und erklärte uns, wie die Alten aßen,tranken, handelten und wandel tem

Wie wenig ,

.war uns das Glück gu nstig,und wieviel

wir noch gefu nden ! Und a u s allen

37

unersättliches Begehren nach Schonheit, ein auserlesenerstrenger

Geschmack, ‚ein gesundes, verlangendes Formen

und Stilgefühl . Warum sollte man nicht daraus schließenkönnen

,daß sich dieser künstlerische Geschmack auch au f

die Auswahl,Zubereitung

,auf das Servieren und Genießen

der Speisen erstreckte ? W as tu t eine barb arisch zubereiteteund barbarisch gegessene Speise in einer künstlerischen,edlen Schüssel ? W as ein Schl echtes Getränk in einer pocu la,einem mit Rosen bekränzten T rif1kbecher ? Sehen Sie,

Warum die Alten die Kunst des Essens besser verstandenals wir ? I n den Gas tmählern eines Plato oder eines Plutarcherblicken wir einen schönen Gottesdienst, vor welchem einmodernes Diner mit allen seinen Raffinessen wie eine sachgemä ße Abfütterung erscheint . Soundsoviel pro Kuvert .I

'

m Essen und Trinken aber liegt ein tieferer Sinn verborgen .

Und Wenn wir den überirdischen Inhalt in etwas Irdischemerkennen

,so nennen wir den irdischen Gegenstand o der

Handlung ein Symbol,ein Sinnbild, ein Gefäß , ein greifbares

Äquivalent für einen körperlosen,unsichtbaren Wert . M an

bedarf dieser kleinen Symbole,um große Gedanken

,seelische

W elten,körperlose Vorgänge plastisch u nd verständlich dar

stellen und ausdrücken zu können DieW elt,die Natur

,das

Leben ist voll davon.g _D ie Menschen

,die Religionen lieben

sie . Im Bilde des Gastmahls namentlich ist der Sinn schönund u nverkennbar klar. Ein Freund ladet den anderen gewöhnlich nicht zu sich

,um ihn abzu fu ttern

,sondern um mit

dem Mahl eineW ohl tat auszudrücken,die er ihm antun will .

D aß eine so lche T at W iederum ihren reziproken Wert hat,daß sie dem

'

Geber gleichfalls von Nutzen ist,ändert nichts

an der Schönheit der Hand lung.

So dürfen wir mit gu tem Gewis sen behaupten, daß die

Alten zu ihren Blütezeiten den Sinn des Gastmahls ganz erfaßtund beherzigt hatten und das selbe als das Symbol einerschöneren Handlung — denn die Tätigkeit des Ka

uens'

imd ‘

Verdauens betrachteten . Die alten Historiker und Dichter,obgleich 'sie viel über ihre zeitgenöss ischen Gastmahler berichtet haben, tragen freilich wenig zu r Unterstützung diesesGedankens bei . V or allem aber hat sich die W eihe der Jahr

hunderte über d ie vergangenen, versunkenen Zeiten gebreitet,hat geläutert und den Schmutz des Alltags ausg eschieden,so ‘daß die erl

'

eb ten'

u n-d genossenen Freuden der Alten inverklärtem Glanze vor unseren bewundernden Augen au f

erstehen u nd jung sind jung u nd schön, schöner als zu ihrerZeit

,da sie irdisch waren

,wie

die unsrigen zu unserer Zeitirdisch sind .

Wenn ich a ber das realistische Bild eines antiken Gastmahls gegen das moderne L eben halte, so verblassen alleunsere «Träume von der großen Zeit . Wer als Historiker

,

Wirt,Kellner

,Fleisch Gemüse oder Viktu alienhandler oder

gar al s Gou rmet den I rrtum begeh t, die Größe der Antike inihren Kochtöpfen zu s uchen

,der verdient gerecht bestraft

zu werden,und er wird es . Seine Enttäuschung wird gräßlich

sein .

Er wird die alten Dichter’

und Historiker,die ihr e

M ähler besangen und feierten, für harnilose, schwärmerischeEnthusiasten halten ; er wird nicht begreifen‘ können

,wie

die

großen führenden Geisterder damaligen Zeit von Schlemmereiu nd V öllerei ihrer Zeitgenosseri faseln und solche Ausschweifungen bejammern konnten . Er wird si e für kurzsichtige

'

Moralisten und s chüchterne, schamhafte Schwachköpfe halten . 0 ja, die Alten hätten wirklich gern geschlemmt in unserem Sinne geschlemmt wenn siegekonnt hatten . Aber sie konnten beim besten Willen wirklich nicht . Die ant iken Dichter haben tatsächlich viel gesündigt . Durch ihre Lobreden und glühenden Schilderungender Tafelfreud en einerseits und deren absolute Verdammungandererseits haben sie die Nachwelt zu dem Glauben verführt

,daß die antike Genu ßsu cht und Prasserei etwas ganz

Beispielloses in dem Schuldkonto der Menschheit gewesensei . Aber lächelnd müssen wir den Dichtern etwas mehrSpielraum geben als den Pho tographen . Ein kurzer kritischerBlick über die M öglichkeiten

'

zu‘

r Schl emmerei,die den Viel

geschmähten zu Gebote standen,wird alle Befu rchtu ngen

beschwichtigen u nd“

die Röte d er Scham vor unserer eigenenVerwerflichkeit in Unsere Wangen treiben . Es ist kein Zweifel

,

die Alten Waren ,Feinschm% ker . Wir auch . Möglichst gu tessen wil l jeder . Sogar d ie, die darüber am me isten schimpfen .

40

oriental ische M ethode d es Gefl u gelmastens . in ihren H u hner

hof einführten, wurden entweder“ zu Genies

"

oder zu Hochverrätern g estempelt . Zu gewissen Zeiten waren derartigeVerfeinerungen ungefähr gleichbedeutend mit Gotteslä sterungen; und römische Patrizier u nd S enatoren e rgrirnmten

darüber . mehr als heutzutage ein hungriger Proletarier, derzufäll ig etwas von indischer Vogelnestersu ppe oder P ou lard€

W ie meinen Sie, gnadige Frau ? Lukullus ? Nein

,

ich glaube nicht an s eine märchenhaften Schüsseln,an die

Nachtigallenzu ngen en ragout, an die lebenden Wachteln ingigantischen Pasteten

u sw . L u ku l l hat viel zu viel Geschmackbesessen

,um an solchen Dingen Gefallen zu finden . Die

Einzelheiten,die heute noch über die Tafelfreuden des eigen

artigen Mannes im Umlauf sind,halte ich für Ausgeburten

einer heißhungrigen Phantasie s päterer Jahre oder lüsterner,zeitgenössischer Poeten

,die ganz wie ihre modernen

Kollegen die Freuden der Tafel au s der H u ngerperspek

tive preisen u nd sich durch die Verherrlichung der antikenLeckermäuler Eingang zu deren reichen Häusern verschaffenwo llten . L u ku l l , ‚der gefeierte Vielfraß, war ein eigenartiger,vielseitiger M ensth, der vielleicht durch die zweifelhafte Verherrlichu ng a ls Feinschmecker von der Nachwelt nicht genügend anerkannt wird . Er pflanzte zum Beispiel bekanntlichdie ersten

* K irschenb ä ume in Ital ien, eine sehr nützliche, fürden Obstbau u nd die H ortiku ltu r des Landes wichtige, vera

dienstvolle Handlung . Dieser feine Diplomat,Feldherr

,

Sportsmann und L itefatu rfreu rid züchtete auch Fische . Und

hier spricht der Na turforscher u nd Natu rfreu nd, nicht derFeinschmecker und Schlemmer, selbst wenn Kirschen undfrische F ische zu seiner Zeit eine Delikatesse waren .

Sie sehen,die Alten mußten wirklich . vieles Gute ent

behren, das heutzu tage ganz gewöhnliche V olksnahrung ist .

Unsere" schnellen Verb indu ngen mit a llen W eltteilen habenuns viel neues Material, neue Gewürze, neue Pflanzen und

andere Genu ß u nd N ahrungsmittel gebracht. Wir könntenuns kein Essen . ohne diese vollständig denken : Die

Altenha tten zu m Beispiel keinenKakao, K affee,Tee, keinen T abak,

keine L ikore, wie wir sie zu . T au senden h aberi . . Sie . hatten

nicht einma l Karto ffeln die Armen ! Ihre Z ähne, Gaumenund Mägen empfanden nicht d ie wunderbare '

1Wirkung dessüßen Gefrorenen, der Schokoladenbonbons u nd

*

dergleichen

L ieb lichkeitenu Unsere modernen verbesserten Kücheneinrichtungen, die fortgeschrittene Technik, ‚die Bratherde ,

R e ste, Eisschränke, Ventilation, Feu erregu lieru ng, Gas undElektrizität bedingen eine bessere und au sgiebigere Behand

lung und Verwertung der .

-Rohma terialien . . N ein,Gnäd ige

,

die Alten hatten auch keinen'

Champagner, diesenprickelndenUrgeist der Tollheit . Der wurde erst wie das Schießpu lver von einem christlichen Mönche züm Heil derMenschheit eingeführt. Können Sie sich überhaupt eineSchlemmerei ohne Champagner denken l ?Erkennen Sie mun die übertriebene Vorstellung, die „

wirvon den Tafelfreuden der Alten haben, meine H errschaften ?Selbst mit unserem modernen Reichtum

,mit der ganzen

Reichha ltigkeit und Raffinesse unserer Kochkunst wäre es

den Römern zu gewissen Zeiten einfach unmöglich gewesen,uns an verschwenderischem und lasterhafteni Lebenswandelgleichzu tun . Die moderne Geschichtforschu ng hat uns diesausführlich u nd klar bewiesen . Die alten Römer haben zu

verschiedenen P erioden _ein System zu r Üb erwachung derbürgerlichen M oral gehabt

,das

_

die H erzem al ler derjenigenfreudig schwellen lassen wurde, die sich in unseren Tagensolch lobenswerten Amtes befle ißigen

,dürften sie es nur

na ch antiken Mus tern ausfuhren . Kai ser Äu gu stu s—

s etzte diein einem Gastmahl zu

„versChwendenden

“ Geldsummen gesetzl ich fest . Die Höhe der Taxe belief s ich je

. nach derGelegenheit, in allen Fällen bescheidene, für u nsere Zeiten

'

lächerlich geringe Summen, selbst wenn wir den praktischenWert der damaligenW ährung den Verhältnissenentsprechendin Betracht ziehen .

" Unglückliche mitoder erworbenen motorischen H angxnach Fraß und VöllereiOder Verschwendungssucht wurd en streng bewacht

und be.

schnu ffel t . D ie Gesetze, die lieben eM itinenschen, zdir

—z öffent

liche Meinung zwange_

n solche W üstlinge, sich einzuschränken :Der al lgemeine Notstand, die geringe :W ährung, die . knappe

4 2

Ba rschaft,der M ängel an edlen Metal len gestattete selbst

den A l lerr eichsten keine wilde,verschwenderische Lebens

weise . Selbst zu den üppigsten Zeiten des Altertums herrschtediese Einschränkung . Die Orgien eines N ero oder Elagabaluswürden das mitleidige Lächeln eines modernen Bonvivanthervorgelockt haben . Die eheliche Treue und Moral derGeschlechter wurde ebenso eifersü

'

chtig gehu tet . Gesetze undMoralisten von der strengsten Sorte ließen nicht die großengeschlechtlichen Ausschweifungen und Laster zu

,in welchen

die heutige Welt die vollste Freihe it genießt .Ich

_will beileibe nicht behaupten

,daß im Altertum das

Bedürfnis für unsere moderne Freiheit gefehlt hätte,aber

ach,Sie sehen

,meine Freunde

,mit u ns verglichen erscheinen

die berüchtigten Wüstlinge des Altertums wie Waisenknaben,

ihre großten Kurtisanen, M aitressen und Intrigantinnen sindunschuldige

,schüchterne Geschöpfchen neben ihren Schwe

stern unserer Zeit . Phantastische Schreiber u nd gedankenlose,

abschreibende Historiker haben das klassische Altertum inein zu unnatürliches Licht gestellt . Bringen Sie

,Herr Doktor

,

einen Bürger des Forums in ein modernes R iesenvergnügu ngslokal in ein Nachtcafé

,in unsere Va rietétheater . Seine

einfache,unschuldige Seele würde sich derartiges nich t trä u

men lassen: Die lebendige, glühende Gier unserer Zeit, diej edes Dienstmädchen

,j eden H au sknecht

*

ergreift, wo jedesmenschliche W esen vibriert vor Sehnsucht nach Genuß undVergnügen

,dieser tolle

,tobende Lobgesang der Menschheit

des zwanzigsten Jahrhunderts auf das Erdend‘asein konntesich im Altertum in unserer Weise, in unserem Grade nichtkundgeben . Warum ? Die Gelegenheit fehlte, die Mittelwaren nicht vorhanden . Unsere Dienstmädchen erlauben sichmehr Freiheit

,mehr Luxus

,mehr Seide

,mehr Schmuck

,

mehr Vergnügen,als manche vornehme D ame d er viel

geschmähten Zeit des römischen Luxus . Der Sonntagsrockeines modernen L adenjünglings ist au s besserem Stoff denndie T —oga eines Senators der alten W el tbeherrsch-erin . Wirmüssen also wirklich erst in das Altertu m zurückgreifen, umdie große, b eispiellose, nie dagewesene Genu ßsu cht, Verschwendu ng unserer Zeit, die Güte und Raffinesse unserer

Tafel richtig zu erkennen . Denn eine materielle Parallelein der Geschichte zu suchen, is t fruchtlos . Unsere Urgroß

väter selbst,die doch auch jung gewesen sind

u nd zu ihrerZeit gewiß auch keine Kostverächter waren, würden staune

'

n,

wenn sie ihre Nachkomm enschaft bei der Tafel, im Theater,bei den Vergnügungen sehen könnten . Sogar im geistigenLeben tritt das gleiche Phänomen vereinzel t zutage . I ch willnu r ein augenscheinliches Beispiel anführen . Der arme Heinrich Heine

,das vielgehaßte und - geschmähte traditionelle

Ferkel im M u sengarten der ungezogene Liebling derMusen“ neben seinen modernen Kollegen nimmt er sichau s wie ein bleicher Konfirmand mit einer Lilie und einemGesangb u che unter einer Horde verbummelter, schlotternderNachtcafé-Habitués beim Strahl der aufgehenden Sonne am

Ostermorgen .

Bitte,Sie du rfen mich nicht mißverstehen . Mit diesen

Vergleichen will ich kein Urteil sprechen . Weder über uns,

die Lebenden,noch über die Toten . Denn dann waren wir ja

veritable Ungeheuer ! Dafür danke ich . Nein,jedes

hat seine Zeit . Auch wir werden überlebt werden . Was abernicht notwendigerweise überboten heißt .Geht daher ein gesunder D u rchschnittsb u rger unserer

Zeit sagen_

wir einH ä ndler j n Lebensmitteln oder Luxuswaren en gros

,ein fortschrittlicher Gastwirt oder selbst ein

vernünftiger Lehrer der Geschichte zum erstenmal über dasForum in Rom, so wird er den Kopf schütteln und s ich fragen :

„I st das allesEr mu ß sich gestehen

,daß er mehr erwartet hat . Nach

einigem aufmerksamem Forschen (oder auch belehrendenErklärungen des Cicerone) wird der Enttäuschte entdecken,daß ein berüchtigter altrömischer Schlemmer in einem Hausegewohnt hat, das vielleicht nicht einmal so g roß und sostattlich war wie die Heimstätt e des Betrachtenden . Nichtj eder Besucher der alten gew-eihten Stätten ist ein Dichteroder ein Philosoph

,ein Mann

,d er aus dem elenden Trümmer

haufen ein gewaltiges Weltreich neu auferstehen sieht mitall seinen Kämpfen

,Stürmen

,glorreichen und traurigen

Tagen, mit all seinen herrlichen“

Geistern,großen M ännem

und schonen, lieb rei'

zenden Frauen . Nicht jeder. . vermagsein eigenes L eben

'

au s den gewaltigen Ruinen hervo'

rlau ch'

tm

zu sehen, nicht jeden bestricken darin’

das ju belnde L achendes Lebens und seine herzzerreißénden Klagelieder . Nichj eder ist : ein niedriger

,kä u flicher H u rrasch

'

reier, der au f

Kommando das Maul . aufreißt, weil er muß,obgleich er

nichts sieht,fühlt oder denkt . Nicht jeder ist ein wohl

erzogener Backfisch,der von einer Bewunderung in die

andere fällt an einem Orte,wo es die Sitte erfordert und zum

guten T on gehört,weil dort etwas zu sehen sein soll . Nicht

j eder hat das Gedächtnis eines deutschen Gymnasialober

lehrers,der an heiliger Stätte al le die interessanten, denk

würdigen geschichtlichen Daten von Anfang bis zu Endegeläufig hersagen kann, was den Besuch an

‘ Ort u nd Stelleso überaus genußreich macht . Nicht jeder übersieht alle dieMängel und Schönheiten des Ortes in der Aufregung, weiler ihn andichten muß . Sondern der weitaus größte Teil derMenschheit besteht au s j enen zögernden

,doch genügend

ehrlichen Naturem, die bei einer nicht augenscheinlic‘hen

Verwirklichung von Erwartungen ihrer wenig produktivenaber dennoch phantasiereichen Kopfe d ie erlittene E nttä uschung nicht hinunterwürgen, sondern sich derselben offenu nd ehrlich entledigen wollen .

So bliebe uns denn nichts zur Betrachtung u brig als der

Geist der alt-eu W elt, der so glorreich auch an'

der antikenTafel präsidierte . I ch kann wirklich nicht ausrechnen

, wie

hoch sich die Kosten eines anständigen Gastmahls der Altenbeliefen . I Ch will nicht zu ergründen suchen, ob die delikatenimpo rtierten Würstchen vom Pontus roh oder gebraten ver

speist wurden,und so Vergleiche mit unseren modernen

W ürstchen zi ehen . I ch will nicht wissen,ob der gesalzene

Fisch,der die biederen Senatorengemüter in Aufregung

versetzte, eine Stu nde lang oder überhaupt nicht gewässertwurde . Es interessiert uns wenig, ob er mit heißer Butteroder mit zaher M ehlsau ce und braunen Zwiebeln begossenwurde . Wir können nicht mehr untersuchen

,ob die Whistable

Natives von Britannias weiß - grüner Küste noch genügendfrisch zu m heilsamen Genuß in R om anlangten, oder ob

durch und den anderen M eerbewohnem charakte

ristische Tucke infolge vorgesehrittenen‘

A lters den römischenBonvivants bedenkliches M agen2wicken verursachten .

— N u r,

wie schon gesagt, im Spiegel des glänzenden Al tertumsvermögen wir unser -e Zeit, also auch u nsere . M ä hler undihren Geist

,richtig zu e rkennen, zu werachten oder zu

Und was der wirkliche Geist der antiken Gastmä hler

ist,au f den ich so oft hmwe15 e ? E i

,das ist die Freude !

W elche ? Nu n,die Lebensfreude

,dieser jubilierende

Aufruhr,den nu r Vo l lb lu tgeschöpfe voll und ganz empfinden

und verstehen können . Ach,Herr Doktor

,wie Sie mich

peinigen . Gewiß besitzen wir auch Lebensfreude,aber

,

aber Hm,wo rin der Unterschied besteht ? Ja, wer das

sagen konnte ! Wer das in d ie Welt hinaus schreien könnte !Es läßt sich nicht sagen . Ein ganz großer Dichter vermochtees nicht einmal auszudrücken . Er sagte nu r sehnsüchtig

,

daß es so ganz anders war zu r Zeit,wo man die Tempel

der Venus Amathu sia no ch bekränzte Ach,und wenn Sie

mich noch so hartnäckig pressen,ich konnte nichts anderes

tun,als Ihnen alle Vorgänge bei einem Symposium haarscharf

und historisch getreu hersagen . Aber würde Sie das befriedigen ? D as a lles ist doch so wohlbekannt . JedemSchuljungen wird es eingepaukt . Im Varieté und bei Wohltä tigkeitsgelegenheiten ist

’s zu sehen . Symposien und Bacchanahen werden wunderbar getreu nachgeahmt . Da sieht man

ja alles : die Leopardenfelle, die fliegenden Kleider, das Weinlaub im Haar

,die Fackelträger

,die Blumenmädchen

,die

Flötenspieler,das sanfte Hirtenvolk

,das Trankopfer die

Tänze — 1 alles, alles ist no ch ganz genau zu sehen . Aber ?Aber doch so ganz anders“ .

Gerne,meine Damen

,ich will mein Bestes tu n . I ch sehe,

man läßt mir keine Ruhe ! Hätte ich do ch gar nichts vondieser entsetzlichen Lebensfreude erwähnt ! Wenn alsoso ein lebensdu rstiger antiker Hausherr seinen Freunden einGastmahl zu geben beabsichtigte, so wurde am Morgen beiSonnenaufgang die beste Halle des Hauses zu diesem Zwecke

48

der Weihrauch oder andere wohlriechende Dinge, deren feinerGeruch sich mit dem Duft der Blumen vermengte . Alsdann

gingen die Diener des Hausherrn u nd . ho lten die Geladenenfeierlichst ab . Dann erschienen sie

, die würdigen, fröhlichenGäste, festlich geschmückt, Haupthaar u nd Bart mit wohlriechendem Öl gesalbt

,leicht gekleidet in einfachen weißen

oder zartbu nten Gewändern, und die Häupter zierten BlumenW einlaub oder Lorbeerkränze . Herzlich wurden sie von demlächelnden Symposiarch an der Schwelle des Hauses empfangen . Darauf sprangen Sklaven heran

,die den Gästen die

Sandalen lösten,die Füße wu schen und dieselben mit ! einen

Spezereien salbten . Nun begann die Tätigkeit des Haushofmeisters . Lachend und scherzend begab man sich zur Tafel ;au f ein Zeichen des Haushofmeisters brachten die bekränztenKellner da s feine

,Appetit erregende H orsd

mu vre und setztenes

,über den Tisch hinüberreichen-d

,vor die Gä ste nied er . In

zwischen war auch der T rinkmeister geschäftig . Mit seinems ilbernen Schöpfkru glein tauchte er in die Tiefe des Kratersund füllte die bereitstehenden P ocu lae mit kühl em W ein,den seine hochgeschürzten Weinkellner darauf lächelndkredenzten . Und feierlich erhoben sich nun alle Gäste u nd

s tießen au f das W ohl d es obersten Go ttes Zeus Soter oderd er Göttin -d er Gesundheit Hygieia an .

So verlief das Mahl . Man gedachte der abwesendenFreunde und Frauen und trank au f ihr

_

W ohl . Nein,

gnädiges Fräulein . Die strengen Griechen gestatteten ihrenDamen nicht

, an Festmählern teilzunehmen, waren aber rücks ichtsvoll genug, sich ihrer Gattinnen und Töchter zu erinnern . Die Römer jedoch schienen Damengesellschaft mehrzu schatzen . M an saß nach unserer heutigen Sitte paarw eise zusammen ; die Frauen nahmen an al lem

,was die

Männer taten ,teil . Das e igentliche Essen war gewöhnlich

b ald vorüber . Unsere unzähligen Gänge kannte mannicht . M an begnügte sich mit Fisch, Braten, Gemüsender Nachtisch, su ße Speisen u nd Fruchte

,bildete den

Schluß . Nach jedem Gang wurde der Marmo rtisch gründl ich gereinigt u nd den Gästen frisches W aschwasser in denB ecken gereicht .

49

Bestand die Tischgesellschaft nur au s Männern, so wu r

den oft ernste und philosophische Gesprache geführt . M an

besprach Ereignisse,öffentliche Angelegenheiten, die Reden

der großen Männer .‘

Waren solche Koryphäen selbst anwesend ,

so suchte man ihre Gesellschaft,lauschte

ihrenWorten

,vertiefte sich oft in

'

ernste, wissenschäftliche Gespräche. I n

i

Männer'

gesellsch aft geht’

s natürlich oft auchübermu tig zu .

* D a sprühte Geist u nd Witz, man u zte sichund zog sich au f

,u nd. die Hallen erschollen vom fröhlichen

,

gesunden Lachen der lustigen Menschen . Ein beliebter Scherzwar

,einem Freunde au f das Wohl einer abwe senden heim

lichen Freundinzuzutrinken . Der Betreffende mußte alsdannso oft seinen Becher leeren

,als ihr oder sein Name Buch

'

staben enthielt . Oft auch erhob sich ein fröhlicher Zecherund sang mit demb lu menu mwu ndenen Pokale in der Handein Tischlied

,

das Skolion, welches, j e nach seiner Art he iteroder ernst

,den Beifal l der Zuhörer erntete . Z u m Schluß des

Mahles wu rde meistens die letzte gemeinsame Runde denfreu ndlichen Schutzgeistern des gastlichen Hauses dar

gebracht , Alsdann nahmman au f den Ruhebetten Platz, undes strömte eine Schar von Sängerinnen u nd Flötenspielernherein

,die Gäste mit ihrer Kunst zu erheitern . An Tanze

rinnen,L u stigrnacherrr

- und '

Poss enreißem fehlte es auchnicht . Diese Leute wurden alle re ichlich bewirtet, u nd ganzwie heute

,j e mehr sie dem Weine

i

zusprachen,um so lei den

schaftlicher und heißer übten sie ihre Kunst aus . Verlockendklangen dann die Floten

,begeistert die Gesänge

,und die

Mänade ras te verzu ckt um'

das schweigende M arinorbild des

D ionysos, während'

siCh von ihren heißen Lippen der ekstasisehe Schrei E voe! E 7206 ! “ rang . Oft erhoben sich auchdie G äste und spielten mit . Sie forderten ihre bekränztenK ellnerjünglinge gleichfal ls auf, ihnenin dein bacchantischenZuge zu folgen

,und alle vereinigten sich zum wilden' Tanze

,

wo sie im begeisterten'

A u sbri1ch von irdis‘cher Freude denSaal die Gärten

,vo rbei an plätschernden Brunnen

,di e stille

Nacht u nd die Säulengänge des Peristils du rchtob ten undsich dem berauschenden

,flanimenden Feuer ihres Freude

durstes ergaben . Alle stimmten sie ein in den Lobgesang

Pau l Veh l i ng D ie Moral des Hotels . 4

50

auf die: Schonheit,und hö chstens die alten und besonnenen

Philosophen schauten innig lachelnd dem wilden Treiben zu .

So endete das Fest, u nd'

beladen mit Andenken undwertvollen Geschenken nahmen die glücklichen Gäste vomSymposiarch Abschied .

Sie sehen,meine Herrschaften

,ich vermochte I hnen

nichts N eues zu sagen . Was ich erzä hlt habe,sind altbekannte

Tatsachen . Die antike Lebensfreude bleibt unerklärt undu nerklärlich . Und was die geräuschvolle Prozession

_durch

die Säulenhallen anbelangt,so hält uns unser angeborenes

Anstandsgefühl und die Herrin des Hauses oder die Polizeivon derlei Geschmacklosigkeiten ab .

Mit dem leidigen Verfall d er Antike,der wachsenden

M acht und Ausdehnung des Christentums und den Bewegu ngen der barbarischen Volker artete die besagte be idnische Freude der Gastmähler langsam au s

,nahm immer

mehr und mehr ab und starb Schließlich gänzlich . Obgleichdie Kirche niemals eine Feindin des W eines war u nd

ihren

Gläubigen nie ausdrücklich den Genuß des Weines verbot,

so ist es doch ihrem d irekten E influ sse zuzuschreiben, daß dieFreude des Altertums wich . Daraus geht ganz deutlich hervor

,

daß di ese rätselhafte Freude nicht eigentlich im W eine'

enthalten ist . ‘No ch lange hielten die ersten Christen an vielenhéidnischen Sitten und Gebrauchen fest, aber allmählichversanken sie in die Dunkelheit der ersten Jahrhunderteunserer Zeitrechnung

,von denen kein schönes Streifchen

Licht au f unsere Tage gefallen ist . Wie s ieh die Alten mit derLebensfreude befaßten

,so befaß ten s ich die Christen m it der

T odesfreu de . Man hatte gel ernt zu sterben,aber zu leben

verlernt . Und wenn man verlem t zu leben,so verlem t man

auch zu essen . So Wissen wi r gar nichts Nennenswertes vonden Sitten und T afelgebrä u chen der Völker des , vierten

'

bis

achten Jahrhunderts . Wir hab en auch nicht viel verlorenMan kann sich leicht denken

,daß die Gelage, wenn es solche

gab , nichts als große Fressereien waren . Eine Miniatur, da seinzig existierende Doku ment, stellt anschaulich dar,

" daß

;1'

11a11 im neunten u nd zehr'

1ten Jah rhundert in Paris die Notwendigkeit eines Tisches bei einem Mal erkannt hatte . Wir

S I

sehen auf dem Bildchen e1ne Tafelgesellschaft auf klobigenSchemeln an einem

»

runden Tische sitzen. Die Runde ernährtsich _redlich aus einer gemeinsamen Schü

ssel in der Mitte .Tücher und Teller gi bt es nicht . Man halt den Braten mitden Fingern auf einem großen Stück Brot und bearbeitetdie Masse mit einem dolchartige_n Instrument . Stattder Blumen l iegen abgenagte Knochen allenthalbenumher . Hinter den Schmau sern s tehen W einkrüg

-e au f

dem Boden,deren Umfang au f einen respektablen Durst

schließen läßt .Erst au f den Bildern au s dem dreizehnten Jahrhundert

kann man eine Wendung zum Bessem entdecken . Das Tischtuch erscheint . Und erst gegen Ende des v1erzehnten Jahrhu nderts scheint man sich Etikette und .menschenwürdigeT afelsitten angewöhnt zu haben . Aber selbst au f Bildernausviel späteren Perioden

,nam entlich‚auf den Werken der

frühen deutschen und niederländischen Meister kann man

Gastmahlsszenen betrachten, die, wenn sie nicht übertriebensind

,wahre Orgien von Fraß u nd Vollerei gewesen sein

müssen . Die Chronisten und Geschichtschreiber des Mittelalters hatten anscheinend großen Respekt vor derartigenFunktionen und berichteten viel in ihrer langweiligen Weisevon den Festessen

_

u_nd _ _

M ä hlern ihrer Tage . ÖffentlicheSchmä use wurden viel und bei j eder kleinen Gelegenheitabgehal ten . Die Hallen der Burgen oder der Rathäuserwaren meistens die Stätte eines Banketts . An E rmangelunggenügend großer und passender Lokalitäten nahm man aberauch gerne mit der Wiese und dem freien Himmel vorlieb .

M an pfl egte auf Bänken an den Tischen zu sitzen . Daher derName Bankett Bei einem ritterlichen Bankett saßen dieHerren u nd Ehrengäste an einer erhöhten Tafel unter demBaldachin . . Die Tische waren hölzern, lang u nd schmal,u nd wie im Al tertum war eine - Seite für die Bedienu ng frei .Die Germanen gestatteten ihren Frauen

_ zwar, an denBanketts teil zunehmen ; die Frauen mußten sich aber an

separaten Tischen abfüttern lassen In den romani schenLändern dagegen saß man paarweise in E intracht zu

sammen.

5 2

Mit der Entwicklung der K u nste und des Handwerksim M ittelalter nahm auch das T afelgerä t an Schönheit undVollkommenheit zu . Die Speisesäl e wurden nu n mit kunstvollen Gestellen

,prächtig gearbeiteten Schranken und nied

lich geschnitzten A nrichtetis-chen ausgestattet . KostbaresSilberzeu g, blanke Silber oder Zinnteller, feine Gl äser u ndirdene Geschirre zierten die Tafe ln der Reichen . Die Festhallen wurden reich mit Fahnen u nd Girlanden dekoriert

,

die Tische sinnvoll mit Blumen geschmückt . Die feinenl innenen Tischtücher wurden meistens so gefaltet

, daß mansie

, wenn sie beschmutzt waren, umschlagen konnte . Beibesonders großen Festessen traten zwischen den einzelnenGängen fahrende Sänger und Schauspieler

,Possenre

_

ißer,

H answumte, Akrobaten, Bänkelsänger und andere Klageweiber der Fröhlichkeit a u f

,damit die Esserei moglichst

lange währe . Oft wurden ganze Theaterstück-e zwischen deneinzelnen Gangen gespielt . Da es meistens viele solcherGänge gab

,dehnten sich diese P ru nkschmä u se entsetzlich

aus und kosteten viel Geld .

Bei den großen Staatsbanketts,wo alle Fu rstlichkeiten

zusammenkamen,mußten gewöhnlich die Edelleute des Landes

eigenhändig„des Kaisers heilige Macht“ bedienen . Oft wu r

den die schweren Schüsseln von einem Edlen zu Pferde,be

gleitet von dem Geräusch der Hörner und Pauken, in denSaal ge tragen, und der tapfere Ritter präsentierte sie knienddem Landesherrn . Die Ämter eines M u ndschenks, T ru ch

sesses usw . waren eine besondere Ehre,welche die Majestät

nur seinen Günstlingen verlieh,und der Titel war gewöhnlich

erblich . Nachd em die gu ten Gaben so präsentiert warenund das Wohlgefallen des Gewaltigen erregt hatten, walteteder Vorschneider seines Amtes, zerlegte die Stücke ku nstgerecht u nd ließ sie au f den Tisch stellen, dami t sichj edermann nach Herzenslus t bedienen konnte . Die Getränkewaren wohlweisli ch unter der Oberaufsicht des fürstlichenM u ndschenks . Der Haushofmeister

,welcher die Be

dienu ng von den Seitentischen au s leitete,war die Seele des

Ganzen.

Die Schau essen und Banketts des Mittelal ters haben

53

mehr oder weniger alle das Gepräge einer großen Fresserei .Man gab weniger um die Qualität der Speisen als um di e

Hauptsache : daß man genug davon hatte . D aß bei solchenGelegenheiten Trunkenheit und Roheit oft überhand nahm

,

ist selbstverständlich . Namentlich die Deutschen, die Englander und die Niederländer haben Großes in der Vertilgungvon kolo ssalen Mengen von Speisen u nd Getränken geleistet .Aber selbst die großen A sthetiker der ital ienischen Renaissance scheinen keine hervorragenden Künstler der Tafelgewesen zu sein . Erst im siebzehnten Jahrhundert begannman in Paris mit der wachsenden Kultur auch an die Verfeineru ng der Kuche, des Essens und der T afelsitten zu

denken . Es war die Renai ssance der Kochkunst . Und au s

dieser großen Bewegung entstand die große klassische französische Küche

,deren wir u ns heute noch erfreuen,

eine K unst,

vom praktischen Standpunkt au s vielleicht die wichtigs te derMenschen

,vom ästhetischen aus

,würdig

,den neun Musen

beigefügt zu werden .

Zur gleichen Zeit entstanden in Paris als das Zentrumder damal igen Welt schöne

,große Gasthofe

,die Hotels“

genannt wurden . Es ist der zögernde Anfang der modem en

Ho telindustrie,denn die öffentlichen Gasthäuser im Mittel

alter waren durchweg und überall sehr schlecht . Seit demgrauen Altertum hatte man gar keine Fo rtschritte daringemacht

,ja

,man war zurückgegangen . Die bedauernswerten

Reisenden waren auf die Gastlichkeit ihrer' Freunde in denStädten angewiesen oder hielten ln

'

den Klöstern Einkehr .Die Klosterbrüder waren jahrhundertelang die beliebtestenGastwirte . Das Klo ster von St . Gallen hatte bereits im neuntenJahrhundert ein berühmtes öffentliches Gasthaus . Das französische Hotel wurde bald nach seinem Erscheinen inLondon erfolgreich nachgeahmt

,und einige Gasthöfe dort

gelangten zu großer'Berühmtheit . In Deutschland fanden

Unterku nftsstä tten für Reisende nach französis chem Mustererst viel spater Eingang . In der Ära der Po stkuts

'

che ist dasHotel aber noch immer ein sehr mäßiger

,bestsheidener Be

trieb . Das Dampfroß jedoch brachte einen gewaltigen Umschwung . Trotzdem . hat sich der Kleinbetrieb des Hotels

54

aber bis in unsere Tage hinein erhalten, u nd das ganz moderneR iesenhotel ist ein charakteristisches Kind der jüngsten Jahre

,

einer entschieden neuen Zeit,u nd hat das Licht der W elt

'

1n

einem neuen Lande,in Amerika

,erblickt .

Also auch etwas über die technische Entwicklung derKochkunst soll ich sagen ! M it größtemVergnu gen,

gnädigeFrau . Warum ich s o teuflisch lächle ? Nu n

,ich finde

es so tragikomisch, daß die Frau en‚sich immer für dasjenige,wozu sie am wenigsten

Geschick haben,am

'

meisten interessieren, oder besser, interessieren müssen . Nein

,me ine

verehrten Damen,zum Kochen haben die Frauen nun einmal

absolut kein Tal ent . Wie ? Das Allerneueste? Bitte,

das haben schon großere Autoritäten lange vor mir gesagt,und ich schließe mich ihnen nu r ganz bescheiden an . Ja, ja,die bitterböse Wahrheit läßt sich nun einmal nicht andern .

Di e meisten Frauen haben dies in ihrem geheimsten Herzenganz Schrecklich em;1fu nden u nd wollen es nicht eingestehen .

Und wie haben die armen Ehemänner erst gelitten ! In ihrenMägen natürlich . Aber eigene M agensch

'

merz-en sind grimmiger als fremde Herzensqu alen . Daher die kal te Brutalitätdes männlichen Geschl echts . I ch will

gar nicht versu chen,

der schrecklichen Wahrheit auf den Grund zu gehen oder sieumzustürzen

,es ist aussichtslos . Sie ist ohne Ho ffnung wahr .

Und so müssen W i r S ie hinnehmen . An Ungeheuerlichkeitkommt diese T atsache nur der alten Sphin

'

x gleich . Und einRätsel stellt sie uns auf

,eines

,

der härtesten unserer Zeit .Gesundheit

,Eheglück

,Kindererziehung

,Heim, al les hängt

davon ab . I ch zittere,eine Lösung für das Rätsel au szu

sprechen . I ch wage es nicht . I ch kann Ihnen, meine Freunde,nur seine ganze Schrecklichkeit vor Augen fuhren .

Die Urmenschen waren anfangs harmlose Vegetarierund ernährten sich von rohenWurzeln

,Gewächsen

,Früchten

,

Heuschrecken u nd wildem Honig . Mit der wachsenden Intel ligenz erkannten sie aber al lmahlich ihre Überlegenh eitüber die anderen Tiere der Erde . Und wem die Menschenüberlegen sind

,das schlagen sie tot und essen es au f. So

auch schon die Urmenschen, unsere ruppigen Vorvater . Sielernten Waffen gebrauchen, Tiere erlegen u nd das Flei sch

56

des Genusses . Sie dienen vo r allem der Ernährung desgei stigen oder leiblichen Menschen . Und je mehr dieseNahrungsmittel der Seele und des K orpers verfeinert undvervollkotmmnet werden

,um so mehr steigert sich auch die

Empfänglichkeit u nd Genu ßfahigkeit des Genießenden undsein Verlangen nach Genuß . In schierer Unersä ttlichkcitsucht er die gegebenen Mittel und Rohmaterialien seinenBedürfnissen gemäß herzurichten, er gräbt u nd grübelt, neueMittel

,neue Wege zu entdecken . So entstehen Dionysos

Dithyramben und Supréme devolail le tru fie'

e. Ob leere Worte,plumpe M armorklötze

,giftige Farben

,schreiende

,brum

mende,zischende

,flötend e Töne oder die jungen

,köstlichen

Körper der Geschöpfe aus dem Pflanzen u nd Tierreich zu

Genußmitteln verarbeitet werden, bleibt sich im Grundedoch gleich .

Sob ald d er eigentliche Zweck dieser Natu rgaben, namlichder der Ernährung

,von Menschen

,die nicht M aß noch Ziel

halten können,mißbraucht wird

,so tritt ganz automatisch

die Strafe der Natur in der Form einer Rückwirkung ein . Derunersättliche K u nstschl emmer

,wenn er nicht gerade wahn

sinnig wird,wird u bersä ttigt, sein feines Gemüt wird ab

géstu mpft gegen das su ße Walten der schönen Dinge,die

ihm früher Genuß und Glück bereiteten . Sie ekeln ihn aner schmä ht sie in hochst undankbarer Weise . Er bedenktnicht . daß sie gar nichts von ihren schönen Q u alitaten verloren haben und daß er der Schuldige ist . Er mu ß sich eineWeile lang von ihnen entfernen

,er muß hungern

,u m ihre

Güte wiederzuerkennen und seine frühere Genu ßfähigkeit

zu rückzugewinnen . Den kulinarischen Schlemmer ereilt dasgleiche Schicksal in der Gestalt von Appetitlosigkeit, Dys

pepsie oder Indigestion, wenn nicht gar schlimmere Kom

pl ikationen eintreten . Fu r alle Exzesse gibt es eine Vergeltung . Die Natur beschützt sich mit bewundernswerterPräzision . Nichts ist schädlicher als eine Reihe von schönenTagen . Man befrage Goethe . Nichts ist schädlicher als einb estandiges Genießen von Kunstwerken . M an sehe sich einenM u seu mwä rter an . Ich könnte mir wirklich nichts Schrecklicheres vorstellen als eine ewige Seligkeit“ . D as müßten

57

wahre H ollenqu al en sein, es sei denn,daß wir uns nach

unserem leiblichen Tode sehr verändern . Nichts ist schä dlicher für den Körper als eine beständige Ernährung desselbenmit den allerfeinsten Mitteln . M an besehe sich die Tafelunserer Kochkünstler

,und man wird staunen

,W i e einfach

diese weisen Männer leben,die doch eigentlich immer wie

im Schlaraffenlande schwelgen könnten .

Die schönen Künste machen nicht den Frieden u nd denWohlstand

,sondern diese lassen jene aufblühen . Genau so

ist’s mit der Kochkunst . Und um nu r vön der Kochkunst zusprechen

,muß man als N ichtfranzo se neidlos gestehen

,daß

Frankreich seit einigen Jahrhundertendas Licht der Nationenist . Das moderne Paris hat die Stellung des antiken Romsgeerbt . Natürlich sind die anderen Nationen al s fortschrittliche Menschen dem leuchtenden französischen Vorbilde allemehr oder weniger gefolgt . Jedoch sind sie in bezug au f

Essen und Trinken und Zubereitung von Speisen eben dochnu r zivilisierte Barbaren oder

,u ni den Kunstausdruck zu

gebrauchen,da von Kunst fortwährend di e Rede ist

,sie

sind -Kopisten .

Gewiß,Herr Doktor

,ich verstehe Sie sehr wohl . Die

Kopie eines Kunstwerks kann unter Umstä nden in kunstlerischer Hinsicht ebenso gu t, ja selbst noch besser sein alswie das Original . Ein französisches Menü von einem deutschen Chef ist oft eine s ehr achtenswerte Leistung . Aberdennoch ! Sie

,Herr Dokto r

,als Kunstkritiker wissen ganz

genau : es sind doch nu r d i e Menschen gute Kopisten,di e

nichts aus sich selber leisten konnen . Seit vielen Jahrzehntenhat Deutschland versucht

,gewisse franzosische Lebensweisen

nachzuahmen,und sie sind in mancher Hinsicht ausgezeichnet

gelungen,ja

,die Originale übertroffen worden . Ein Kopist

aber, der selber etwas zu sagen hat u nd etwas in sich fühlt,

ist ein sch lechter Kopist . L enbach kopierte di e Lateiner derRenaissance . W as war die Frucht dieser Arbeit ? Esentstanden Giorgione plus Leu bach

,Titian plus L enbach

,

Velasquez plus L enbach usw . An Dürers italienischen Studienist dasselbe Resultat zu bemerken . Werke

,die Goethe aus

fremden Sprachen übersetzte,wu rden se in geistiges Eigen

58

tum . Da Deutschland und die anderen Nationen jammerl ich

wenig Kraft in sich fühlen, eine eigene Kochku'

nst zu schaffen,

so ahmen s ie die französische Schule sehr erfolgreich nach .

Sie sind aber nicht imstande,ihren Produ kten auch nur

einen Hauch von beachtenswerter Individualität mitzuteilen .

Kochen können ist ein Talent, meine Damen, wie jede schöneKunst ein Talent ist . Es is t etwas in der Kochkunst, das sichnicht erlernen läßt . E s muß im

_

M enschen stecken . Frankreich , die Nation als ein Ind ividuum,

ein Mitglied der kaukasischen Fam ilie gesehen, besitzt das eigenartige, appetitliche Tal ent zu m Kochen wie das dunkle Schicksal den

Spröß

ling einer biederen Bauernfamilie zum gottvollen Musikermacht

,während seine ganze Sippe hoffnungslos und bewu n

dernd zu schauen muß . Die Französinnen ? Nein, das istdas Eigenartigste an dem e1genartigeri Talent der Kochkunstes meidet das gesamte weiblich-e Geschlecht . M asku linische

Kraft und Phantasieflu g sind erforderlich, um schöpferischzwischen Kassero llen und Pfannen tätig zu sein . Nicht etwa

,

weil es dem weiblichen Geschlecht an physischer Kraft gebricht

,sondern weil einfach das Talent nicht vorhand en ist .

Dieser Umstand drängt di e Kochkunst in die vorderste Reiheder Künste .

Ja, ja, ich lache wieder, meine Damen . Aber nicht,weil

ich Sie so entsetzlich erzürnt habe und Gefahr laufe, Ihrereizende Ges ellscha ft um meiner Kühnheit willen einzu bu ßen

,

sondern ich lache über den sonderbaren Empfang, der derWahrheit immer und überall bevorsteht . Friedrich Nietzsche hätte sich seine ungalante

,geschmacklose Demütigung

der germanischen Hausfrau a ls eine Überflüssigk-cit undUngerechtigkeit ersparen können . Aber wer kann’s demarmen Magenkranken verdenken

,daß er gegen die Küche

wettert,an welche die rüstigen Germanemnägen gewöhnt

sind . Die deutsche Frau wird nach einigem Zögern u nd.“

Ertöten eingestehen,daß sie sich niemal s Kopfschmerzen

über die richtige physiologische Zusamm enstellung einerMahlzeit macht, daß der Eiweiß oder Fettgehalt einer Waresie nicht stört

,daß Kohlehydrate ihr völlig fremd sind . D as

Wort schon ! I st . es nicht geradezu haarsträubend in Ver

59

bindung mit E ssenswaren ? Darum sollten Sie, meineDamen

,nicht zürnen . Es ist nicht besonders schmerzhaft für

einen Menschen,zu horen

,daß er kein Talent für einen Beruf

hat,den er sich nicht einmal selbst gewählt

,sondernwohinein

ihn die Macht der Umstände gezwungen hat . Nicht wahr ?Na also ! Aber ? Was aber ? W er denn in

Zukunft kochen soll ? Wir werden sehen .

Die Kochku nst,weil sie ein eigenes Talent ist

,Wi rd

daher wie immer von dem; der es nicht besitzt, überschätzt . Frankreich wußte kaum

,daß seine Söhne Künstler

am Herde seien,wenn es nicht die anderen Nationen fort

wä hrend zugestehen u nd bei ihm in die Lehre gehen mußten .

Es ist ein Irrtum,anzunehmen

,daß das Wertvolle in der

fralnzösischen Kultur durch das französische Talent zumKochen bedingt oder auch nur besonders beeinflußt wordensei . Ein feiner Mensch sorgt sel bstverständlich auch fürdie Verfeinerung und Pflege des Sinn-es, der im Gaumensteckt . Doch komm t dieses Streb en erst an zweiter Stelle .

Der verführerische,sich leicht au fdrangende Geda nke, daß

eine primitive Küche notwendigerweise ein Volk verdummenoder auf einer geistig primitiven Stufe erhalten müsse, istgrundfalsch . Ebenso der Glaube

,daß eine hochentwickelte

Ko chkunst das geistige Leben der Nat ion besonders fördere .Ich glaube überhaupt nicht

,daß die Ernäh rung des Körpers

resp . die Wahl der Speisen viel oder auch nur etwas mit d erEntwicklung der Seele zu tun hat . Das alte Sprichwort vonder gesunden Seele im ge sunden Körper ist nicht zutreffend .

Denn wäre das ‘ der Fall,so mußten ja alle Reichen, alle

Feinschmecker ausnahmslos große feine Geist-er sein odergeistig hochbegabte Kinder haben . Die größten Feinschm ecker aber waren nie die feinsten Geis ter . H at Brillat

Savarin außer seiner Physiologi e des G eschm acks nicht auchDichtwerke geschrieben ? Als Dichter ist er tot

,al s Fe in

schmecker wird er noch fur klass isch gehalten . Die größtenDenker

,Dichter und Künstler sind bisher fast ohne Aus

nahme aus bürgerlichen,kleinen

,oft sogar sehr armen Ver

hä ltnissen hervorgegangen,wo das tägliche Menü keine

prunkende Reihe vonauserlesenen Leckerbissen aufwies . Die

60

bitterste Armut ist ja bekanntlich sogar das Privilegium des

Genies . Reichtum und Genie ha ssen sich . Auch kann ichmich keines großen Mannes erinnern

,der ein traditioneller

Feinschmecker“ war . Der ehemals viel verschriene Epikuro s

,der Mann mit der Lehre

,aus dem Leben nu r das

Allerbeste zu schöpfen, war einer der bescheidensten und

anscheinend anspmchslosesten Menschen,die je gelebt haben .

Er gab sichmit seinem Gärtchen, ein paar Freunden, ein paarFeigen und einem Stück Ziegenkäse gern zufrieden .

Der eigentliche Feinschmecker,der Gourmet

„ par eac

cellence“,ist daher der andächt ige Mensch

,dem eine ein

fache gute Mahlzeit mit gutem Hunger eine Art D ankgottes

d ienst für ein schönes Leben,gute Ge sundheit und herrliche

Natu rgaben ist . Darum kann jeder Arbeitsmann ein Gourmetwerden . Eine bemerkenswerte I ronie des Schicksals ist auch

,

daß Feldherrn wie Lukullus,Soubise u nd andere

,die au f

dem Felde der Ehre nicht viel Glück hatten,und Männer

wie C-olbert,erfolglose Staatsmänner

,gefeierte T agesgrößen

u nd Genera le namentlich aus der Periode Louis ! I V . und ! V .,

sich zu Lebzeiten viel mit der Küche beschäftigten undKüchenklas siker wurden . Wahrend dies-e Menschen u nd ihreTa ten schon lange tot sind

,hat ihr Hang nach gutem Ess en

sie vo r Obskurität gerettet,und ihr -Name lebt mit den von

ihnen erfundenen und nach ihnen benannten Gerichten wörtlich 1111 Munde von jedermann weiter .Die Ko chkunst ist

,wie gesagt

,ein Talent . Und fur jedes

Talent,das wir besitzen

,müssen wir bekanntlich ein anderes

entbehren . Eine gewiss-e außerordentliche Fähigkeit fördertselten eine andere . Gutes E ssen ist zunächst Nahrung, feinesEssen meistens Luxus . Luxus Wirkt vornehmlich auf dasS innenleben und dann erst als solches au f das Seelenleben .

Hohe geistige Kultur verlangt natürlicherweise auch guteKüche . D as gewisse Etwas in der Kunst, in der Literatur,in der geistigen _Tätigkeit, ja im ganzen national—en L eben desga llischen Volkes, welches man gerne als typisch französisch

bezeichnet und u m das diese Nation mit Recht oder Unrechtbeneidet wir-d

,ist nicht im Einfluß der Verfeinerten fran

zösischen Kuche zu finden . Das wäre ein geringes Verdienst .

6 1

Nein,die außero rdentlichen kulturellen Verdienste Frank

reichs sind nu r im Geiste des Volkes zu suchen, u nd die

fra'nzösische Art,zu kochen und zu essen

,ist nu r ein Teil

,

eine Folge dieser Verdienste und erhöht sie nur,bedingt sie

aber nicht .Anima sana in corpore sano ist ein vages Wort . Wie

sonderbar es doch ist, daß körperliche Leiden die Seele i neistverfeinern

,sie empfindsamer u nd duldsamer machen . Ein

körperlich und seelisch völlig gesunder Mensch den estatsächlich nicht gi bt ist nichts mehr als eine großartigeBestie in seinen Empfindungen

,d . h . nach unsern heutigen

,

durch das Christentum be-

‘stimmten A nsichten .

Der Triumph der Pflan ze ist die Blute . Die Blütezeit istihr Sinnenrausch . Dann duftet sie sich au s in Glück undDaseinsfreude . Es gi bt Insekten, deren höchster und schönsterL ebensau genb lick der Sinnenrausch ihrer Liebesszenen ist .Nach diesem Taumel müssen sie zugrunde gehen und Platzmachen für a ndere Generationen . Wenn Nationen nun ihreBlütezeit

,ihre inspirierte Epoche erreicht haben, müssen sie

langsam absterben . Dies kann im Leben einer Nation naturlich jahrhundertelang währen . Die ganz feine Kochkunstfördert gewiß den Sinnenrausch der Menschen . Sie tut fastnichts als dies . E s ist ihr Beruf . Zaghafte

'

M enschen undMo ralisten werden daher in dem auserlesenen Essen und imLuxus überhaupt

,

"

ja sogar 111 der Lebensfreude“ den zeitigen

oder,unzeitigen Ruin ihrer Nation erblicken . Sehr richtig.

Nu r ‚nicht richtig in ihrer Auffas sung . Es fragt sich,was

ein Ruin ist . Das Erdgeborene“

mu ß wachsen . Je schoner,u m so besser . Wenn es eine gewisse Höhe erreicht hat u ndnicht m ehr weiter kann, mu ß es niedergehen . Es kann nichts tille stehen .

So, sehen Sie, meine Freunde, haben sich die Zeiten

verändert . Dem muden Wanderer offnet sich keine Haustüre mehr, kein freundlicher Hausvater begrüßt ihn mehr.Die Pferde der Postkutsche scharren nicht mehr ung

'

eduldigvor ‚dem Tor des kleinen Gasthofes an der einsamen Lands traße . Kein Postillion stößt mehr lustig in sein Horn, keinePeitsche knallt mehr . Kein rundes W irtlein mi t Schürze und

62

Käppchen tritt mehr hastig an den verstau btcn W agensch-lag

heran, die hohen Fremden ehrerbieti-gs'

t zu empfangen . End16 5 e Reihen von Equipagem u nd Lakaien mit roten Ge

sichtern,gepudertem Haar u nd sehr traurigen Augen,

Hunderte von rauchenden u nd fauchenden Automobilen mitzottigen

,pro tzigen

,brutalen Chauffeuren halten nun an den

Por talen der Pal äste, welche den müden Wanderer beberbergen . Groß sind die Pal äste, riesengroß . Fu nf

,zehn

,fünf

zehn,zwanzig

,fu nfu ndzwanzig u nd dreißig Stockwerke hoch.

Raum haben sie reichlich für Tausende von müden W an

derern . Ihr Inneres glänzt von Lichtem,die sich in Marmor

und Golde widerspiegeln . Palmen zieren_die hohen Hallen

,

Teppiche‚au s dem M o rgenlande dämpfen die Schritte . Blumenund feine Parfüms versüßen die Luft, schmeichelnde Musikmischt sich dazwischen . Und ein buntes Gemisch vonfeinen Menschen schlängelt sich umher

,lachend

,scherzend

,

schwatzend u nd tänzelnd . Alle Nischen und Bögen hallenwider vom Geschwirr der feinen Stimmen

,vom Schall des

fröhlichen Gelächters . Wie sie schauen,wie sie grüßen !

Jeder Herr ist - ein Konig,jede Frau die schonste Prinzessin

im ganzen Land e . Perlen und Rosen winden sich durch dieduftigen Haare ; kostbare, edle Steine funkeln in wollüstigerFreude , daß sie an den herrlichen, we iß-en, warmen B usenruh en dürfen. Sei-dene Gewänder rasche ln und knistern

,

während die gottlieb en Körper, die sie umschlingen, sich imTakte der sanften Töne wiegen . Die wundervo llsten Au genlachen . Sie glänzen und flimmer

_n «und kennen nichts vom

Leide der Erde.

‚Wenigstens zeigen s ie’s nicht . P erlene Zähneschimmern in opa lenem

'Glanze unter den P u rpu rl ippen hervor

,wenn sich d er weiche, su ße Mund lächelnd öffnet, ein

schelmisches Wo rt zu flüstern . Scharfäugige Detektive bewachen die M enge verfo lgen die Bewegu ngen jedes einzelnen,der nichts ahnend sich in den großen, bunten Strudel stürztu nd fröhlich oder nervos darin herumschwimmt .Diener u nd Lakai en stehen umher, regu ngslos mit starren

Gesichtern, _ in glä nzenden Unifo rmen, au f den Herrn oderdie H errin wartend . Boten u nd Läufer rennen h in und her,Beamte —geben Befehle

,Geschäftige Scharen von ju ngen

64

Sie alle Naturwunder Indiens,al le Spezereien Arabiens sehen .

Orangen und Grapefruit au s Florida,Pfirsiche au s Sud

afrika,Melonen au s Mexiko

,alle delikaten Produkte der

westindischen Inseln,alle zarten

,jungen Gemüse von nah

und fern,welche die Jah reszeit oder das Treibhaus bietet .

Alles liegt bereit und wartet au f unser Machtwort . Wie herrlich ! Wir sind die Herren der Welt ! Welch gottvolle Rechtehaben wir nicht !Denken Sie sich nu r

,wie interessant

, gnädiges Fraulein,da Sie soeben noch Humm er l

americaine gegessen haben !Vor einer halben Stunde kroch Ihr Hummer noch behäbigzwischen seinen hundert Brüdern in der kühlen Packungumher

,hie‚und da einen anderen, gutmütig mit den schweren

Zangen zwickend . Da kam Ihr Machtwort,gnädiges Frä u

lein,welches unser Kellner dem Chef überbracht hatte . M it

kritischen Blicken wählte der Koch zwischen den hartschaligen, trägen Bewohnern der Tiefsee u nd suchte ihnenden lebe

'

ndigsten aus ! Denn uns-er freundlicher Kellner sagte,daß er für Sie bestimmt sei . Das Opfer wurde erfaß t es

sträubte sich energi sch u nd klapperte wu tend mit dem starkenSchwanze . Aber da hilft kein Klappern : das unbarmherzigeSchlachtmesser saust ein paarmal nieder, u nd die noch

leben

den,zuckenden Stücke des gevierteilten Hummers färben

S l Ch langsam in der heißen,kreischenden

,gewürzten Butter

zu appetitlichem Rot . Eine ha lbe Flasche aromatischen Weindazu

,zugedeckt und gar dämpfen l assen

,dann schnell ser

viert . Ihre blaue Forelle,Herr Doktor

,schn-el lte noch

vo r kurzer Zeit behende im Fischbassin umher und suchtehastig und nervös den Maschen des Netzes zu entschlüpfen .

Denn sie ahnte die Absichten des Fischers und das grausigeSchicksal

,das schon so viele ihrer flinken Schwesterri weg

geholt ha tte . Aber da half kein Zappeln : sie wurde erhascht,vorsichtig ausgenomm en und behutsam,

daß der natürlicheSchleim nicht abgevvischt werde, in das dampfende, wu rmgeWasser gelegt . Holländische Sauce oder einfach frischeButter dazu : Ah tip - top !Morde werd en do rt begangen in den eisigen Regionen '

von den eisigen Herren der Schöpfung,Morde

,wobei u ns das

65

Was ser im Munde zusammenläuft, wenn wir daran denken !Die liebliche Riesenschildkröte, deren L iebenswu rdigkeit

ich meine herrliche Suppe verdanke,fristete noch vor einigen

Tagen ihr stupides, ganz u berflüssiges, inhaltsloses Das ein .

Als sie sich einmal plötzlich an den Hinterbeinen erfaßt u ndau fgehangt fühlte, entschied sie s ich zögernd

,den dummen

Kopf au s d en schützenden Schalen herauszustrecken,um ‘ sich

zu erkundigen,was denn eigentlich los sei . Auf die sen Augen

blick ha tte der hinterlistige Chef gewartet . Sein scharferSäbel sauste

,drang in den grau en

,runzeligen Nacken des

Ungeheuers und trennte dort die festen Verbindungen,so

daß zwischen Kopf und Rumpf eine u nnatu rliche Entfernungentstand . Die langsame Schildkröte hatte nicht einmal mehrZeit

,ihre Verwunderung oder ihr Entsetzen darüber au s

zudrucken,denn durch die entstandenen Öffnungen ent

schlüpfte ihre Seele schnell ins Unendliche .

Fest halten di e lieblichen,weichherzigen Austern die

Ture ihrer Gehäuse zu,wenn sie merken

,daß ein Einbrecher

mit bösen Absichten und einem starken Brecheisen draußensich zu schaffen macht . Aber was hilft das ? Wir sind dieStärkeren . Und die winzig kleinen Krabben

,die oft mit den

Austern in friedlicher Gütergemeinschaft zusammenwohnen,

müssen dann einen stu mmen Abschied von ihren schlüpfrigenFreundinnen nehmen

,denn auch sie sollen verspeist werden .

Wehrlos strarnpeln sie noch einmal mit den dünnen, schwachenSpinnenb einchen,

dann ist’s aus . Den Menschen freut nu rihr Widerstand und ihre Lebendigkeit . Sie erhöht seine Gier .Sehen Sie dort die riesigen

, protzigroten Langusten au f

dem Büfett ? Sie mußten im siedenden Wasser ihr Lebenlassen

,entrüstet gegen den plötzl ichen T emperatu rwech-

sel

mit dem gewaltigen Schwanze protestierend,da sie nu r an

das kühle,grüne

,träumende Wasser des tiefen Meeres ge

wöhnt sind . Und alle sterben sie uns zuliebe . I st es nichteine Wonne

,dies anzusehen ? !

So liegen tausend Leichen von lieben Feld Wald undWasserbewohnern in den festen E iskammem sorgfältig ‚und’

säuberlich aufgespeichert und Warten,bis sie in die Kre

matc rien der Bratöfen geworfen werden,wo sie unter W im

Pa u l Ve h l i n g , D ie Moral des Hotels .

66

mern, Schmurgeln und Zischen braten müssen . W enn sie

schön knusprig u nd gar genug s ind, bekleidet sie der sinnigeKo ch mit einer lieblichen, raffinierten Sauce und legt zä rtliche Gemüse an ihre Seite . Schwarze Menschen stehenungeduldig bereit, sie au f silbernen Schüsseln stolz schnüffelndin den glänzenden Saa l zu tragen . Kritisch betrachtet dergroße Oberbefehlshaber noch einmal die armen Tierchen

,

bevo r sie für imm er verschwinden, und wenn sie seine Zufriedenheit erregen, gibt er seinen Segen zu ihrem pomposen

Leichenzug in den Speisesaal . Se . Exzellenz der Herr Finanzminister s elbst würde den Mund aufsperren, nicht nur um dieguten Dinge in Empfang zu nehmen

,nein

,auch schon

,wenn

ihm zu Ohren käme,wieviel man dem großen

,ruhigen Chef

des Küchendrä gonergeneral stabes für seinen Segen bezahlt .Dieser Segen wie alle feierlichen Zeremonien ist

meistens von sehr charakteristischen, su dlichen Ge sten be

gleitet . Eine der beliebtesten ist,die Spitzen der fünf Finger

zu sammem u drücken,an die Lippen zu führen und wieder zu

entfernen,wobei die Finger lebhaft ausgespreizt und wieder

zu sammengeführt werden . Bei ganz wichtigen Gelegenheitentreten beide Hände in Aktion .

Immer tiefer steigen wir,vorbei an den kuhlen

,impo

santen Gewölben,die viele Tausende von feurigen Flaschen

und alte,ehrwürdige

,bestäubte Fässer vor Frevlerhä nden

beschützen . Und hinab führt unser Weg in die Herzkammerndes R iesenkörpers, in die M aschinenrä u me . Tobte in derKüche ein höllischer Lärm

,hier herrscht der Friede e iner

Kathedrale . Lautlos drehen sich die großen Schwungräderund R iemscheiben um ihre

’ Achsen,angenehme Luft

fächelnd . U nheimliche R iesenb ä u che liegen dort, die Öff

nungen fest verschlossen,nu r e in unterdrücktes Zischen, ein

dumpfes Zitt ‘ern tief unten verrät die gewaltige Glut, die ihrInneres birgt . Schneckenhä u

'ser von gewaltigem Umfangstehen dort

,wovon armdicke Kabel

ausgehen u nd sich al s dieNerven des R iesenkörpers bis in die kleinste Spitze desHauses "

verzweigen . Gl -eichmä ßig, stum-m arbeiten die Un

geheu er, . den Befehlen der Menschen gehorchend . Ab und zusprüht ein bleichb lä u l icher Funke

’knisternd aus dem Innern

67

hervo r . Er will sich vom Zwänge der Menschen befreienund Zeugnis geben von der rätselhaften Macht, au s welcherer stammt . Gedämpftes Keuchen und tiefes, unterirdischesStampfen wie schweres Atmen einer R iesenbru st verrät denUnwillen der gefesselten Mächte

,die der Mensch sich hier

dienstbar macht . Hie u nd da seufzt wohl eine große Mas chineauf; wenn ihre Bürde zu schwer wird

,aber dann geht‘ ein

kleiner,magerer Mann im blauen Kittel mit eingefallenen

Wangen u nd rußigem Gesicht hinzu, lauscht aufmerksam,

dreht an einem kleinen Rädchen,u nd alles ist wieder in Ruhe

u nd Ordnung wie zuvor. Wir vernehmen gu trnütiges Brummender R iesenventilato ren, der Lungen des Hauses, d ie von derHöhe des Daches frische Luft einsaugen u nd. sie gereinigt inallen Räumen verteilen . Mit einiger Angst blicken wir von

ferne in die weiße Glut des großen Krema toriums, da s allenUnrat u nd Abfall des Hauses aufnimmt und bald zu du rrerAsche verwandelt . Hie u nd da begegnen wir einem ruhigen,schmächtigen Maschinisten

,der seine Ungetüme bewacht

wie ein Kinderfräulein seine Pflegebefohl enen . Ingenieureund Elektriker machen sich an großen, marmornen Schaltbrettern zu schaffen

,wo tausend kleine und große Hebel

in kupfernen Klamm ern stecken . H in und wieder ertont einleises Glockenzeichen

,ein rote s oder grünes Signal licht er

scheint wie eine gespensherhafte Warnung oder Botschaft .Der kleine Mann wird aufmerksam

,er berührt seinen Hebel

,

ein bleicher Blitz zischt au f, und die Ruhe ist wieder hergestellt . Wir hören das schwere Keuchen der Pumpen, dieganze Reihen hydraulischer Fahrstühle durch die hohenSchäfte bis in die obersten Stockwerke drücken müssen .

Einzelne Wassertropfen fallen von den langen Kolben wieSchweißtropfen an den Armen eines Riesen herab . Wirsehen die großen Eismaschinen und Kühlanlagen

,ne 5 1ge

Behälter, von denen gewal tige Rohre ausgehen, sich durchden Bod en und die Wände bohren und sich wie Aderndurch das ganze Haus verteilen . Tausend andere kleineMotoren u nd Maschinen arbeiten rastlos Tag und Nacht

,sich

automatisch ernährend,sich au tomatisch regulierend . Jede

d ient einem besonderen Zwecke,und alle haben nur einen

Zweck : " des Dienstes der Menschheit . Ein Blick au f

einen Zeiger des Manometers, au f ein Schaltbrett, au f

eine Uhr genu gt dem erfinderischen Menschen,sich von der

Kraft und dem W illen seiner stähl ernen Sklaven zu ver

gewis$ern .

!“Weiter gehen wir und treten in die Wäschereien . D a

zischt es,dampft es und kocht es in den Zylindern . Von

gewal tigen Armen wird das Weiße, feine Linnen erfaßt unddurch den kochenden Seifenschaum gezogen . Große

,heiße

Walzen drehen sich unaufhörlich,trocknen u nd glätten die

nasse,fal tige Wäsche . Hunderte von weißen

,mageren

,ein

geschrumpften Mädchenhänden schichten die gereinigtenLinnen zu hohen

,warmen Bergen au f

,die erst vor einer

Stunde noch zerknüllt,schmutzig

,fettig und befleckt in die

Wäsche kamen .

Ihr Boudo ir, gnadige Fr au, liegt fern von dem L ärm,

dem Gewühl,dem Schweiß und dem uhlen Geru che der

Arbeit . Die Luft, die ihr Appartement füllt, wird in großen,hohen Kammern filtriert und nach Gesundheitsvorschriftensorgfältig temperiert , bevor es ihr gestattet ist, von denLungen der Gäste eingeatmet zu werden . DasW asser

,welches

Sie zu m Trunk an die Lippen führen,gnädiges Fraulein

,wird

destilliert und ist reiner und gesunder als das in den silbernenGebirgsbächen . Die Geschirre, von denen wir essen

,alle

Provisionen,die für unseren Genuß bestimm t sind

,werden

in stau b sicheren Arbeitsräumen aufbewahrt . Das kühle, feineLinnen der Betten

,die Tücher

,deren Sie zur Toilette und

an der Tafel bedürfen,die Decken

,au f denen S ie ruhen, alle

werden vor dem Gebrauche chemisch sterelisiert . Jedes Staubatom wird täglich au s dem seidenen Teppich gesogen, denIhr Fu ß betritt . Die komprimierte Luft holt jedes KörnchenSchmutz au s dem Plüsch des Diwans, der Ihren Körper tragenda rf . Es ist bis ins Kleinste hinein fu r Ihre kostbare Gesundheit gesorgt : alles

, was sie gefährdet, wird verfolgt und vernichtet . Ihr Zimmer ist stets behaglich . Sie heizen kein Feuer,dennoch ist der Raum beständig gleichmaßig temperiert .Es geschieht automatisch . .

Sie sind geschützt vor tückischerFeuersgefahr . Wenn Sie sich zur Ruhe begeben haben und

69

es entsteht auf irgendeine Weise Feuer in Ihrem Zimmer,

so wird die Feuerwehr schon an Ihre Türe klopfen, bevorSie vielleicht aufwachen und die Gefahr sehen . Denn wenndie Temperatur in Ihrem Zimmer eine unnatürliche

,u nregel

mäßige,verdächtige Höhe erreicht

,so warnt der wachsame

automatische Feuermelder den Wächter auf Ihrer Etage undd ie Feuerwehr im Maschinenraum,

und die wohl trainiertenLeute stürzen zu Ihrer Hilfe herbei .Sie denken dah er nicht an das Heer der hastenden,

bru llenden Köche, nicht an die flinken,geduldigen Kellner,

nicht an die mageren, rußigen Heizer und Maschinisten,nicht an die kleinen

,bleichen

,schweißtriefenden Wäsche

rinnen mit den geröteten Augen . Sie sitzen in Ihren gesu nden,sicheren

,luxuriösen Gemächern und genießen die schöne

Aussicht . Ein Druck au f den Knopf genügt,um Ihnen alles

herbeizu schaffen,was Menschen produzieren können, was

Geld kaufen kann . Sie heben am Schreibtisch oder im Betteden Hörer an Ihr Ohr u nd sprechen mit Ihren Freunden, dietausend Meilen von Ihnen entfernt sind . Ein Wink demDiener

,und das warme Wasser im marmornen Bade nebenan

duftet Ihnen entgegen . Ein gewandter, angenehmer jungerMann

,der in allen Zungen redet

,steht jeden Augenblick

bereit,sich nach allen Ihren Wünschen zu erkundigen . Sorg

fältig schreibt er sie au f,steckt den Befehl in eine Kapsel

und sendet ihn du rchd ie p neumatische Rohrpost blitzschnellin den betreffenden T eil des Hauses

,wo Ihr Befehl aus

geführt werden so ll . Ein elektrischer Zeitstempel, der unerbittlich die fliehende Zeit regi striert

,zeigt genau den

Augenblick an,wann der Befehl gegeben u nd ausgeführt

wurde . Und das Gewünschte wird mit elektrischen Aufzügenin kürzester Zeit an den Bestimmungsort befördert . SeineBriefe k ann der Gast vom ober-stenS tockwerke au s bequemund raSch hinunter in den Postkasten gleiten lassen . Erbraucht sich nicht personlich hinunter zu bemühen oder dieDienste eines anderen in Anspruch zu nehmen . ‚MühsameTreppen braucht der Gast nicht zu steigen . Glänzende Fahrstühle an allen Enden des Hauses gleiten lautlos hinauf undhinab .

'

Hoch oben über dem Dache des großen Hauses

70

zittern schwere Drahte im Winde, die unsichtbare, magischeFunken au ffangen

,von denen die Luft schwirrt . Und vom

T elegrä phenbu 1eau im Hotel au s erfährt der König, derDiplomat

,der I ndu striefüfst

,der Geschäftsmann

,der Privat

mann,d ie Dame im Boud

'

oir wich tige - Nachrichten,frohe

oder tra'urige Bo tschaften, Welche ihnen Menschen, die weitentfernt sind

,mitzuteilen haben . Im Souterrain des großen

Hotels ist der Bahnhof der Untergrundbahn,und a u f dem

höchsten Gieb el ist die "

L u ftschiffstä tionf

W irklich,

"

die Zeiten haben sich verandert l Sie sindanders geworden

, Seit der einsame W anderer an —die fremdeTüre pochte

,als er sah

,daß das Gestirn des Tags s ich neigte

und die “ Nacht anbrach'

. Die Tage sind - nicht mehr,wo der

behäbige,lä chelnde Albinus sto lz an die W and seines H ä u s

chens schrieb :„ H osp itiu m hie locatu r wo er amb erku

laner T or mit einem„ Balve amice !

“ das -bestäubte Pferd desFremdlings anh ielt

,dem ’ Sklaven die Zu gel zuwerfend . Die

Zeiten sind nicht mehr,wo die weisen Männer mit Lorb

'

eerkränzen in den grauen Locken ihre frohen M ähler gabenund mit ‘

den'

M anaden und den bekränzten Knaben um das

träumerische Marmorbild des Dionysos wirbelten .

Thisis the empire ofbu siness. W ir haben keinen Dionysosmehr . - E r ist kal t gestellt im Museum . Wir haben keineFlötenspieler mehr . Wir haben D ebussys u nd Sträuße . Wirhaben keine . hochgeschürzten, lache

'

nden Knaben mehr,d ie

uns den W ein reichen . Unser Ganymed, der Kellner, ist

gewohnlich keine bestrickende, inspi'rierende Erscheinung.

Die Ho telbesitz'

er sind nicht mehr die runden,schmunzelnden

Leu tchen von ehedem . Es sind große Herren,diese Herren

Aktionäre . Sie gehören zu den ersten Fam ilien des L andes .M an sieht sie fast gar nicht . Und dann höchstens im Gehrocku nd weißer Weste . Wir haben keine M ä n

aden m ehr“. WirhabenVarietégrößen. Wir haben keine Sängerinnen mehr ;wir haben Chansonetten.

Aber wir wo llen den Wandel der Zeiten nicht beklagen .

Unsere Zeit hat auch ihre Rechte und au ch ihreVerdienste .

Das moderne Gasthaus bietet seinem Gaste‘

mehr als das.von gestern . Sicherheit

,Reinlichkeit

,Hygiene,

“alle Be

Gewä chse, tausend zarte Lichter verwandeln die Sale dann inein Märchenland . In warmen, stemenklaren Sommernächten ertönt liebliche Musik au f dem Dache des Riesenhauses . Was mögen die hängenden Gärten der alten bösenZauber in im M orgenlande gegen einen solchen Dachgartengewesen sein ! Bunte Lampions schimmem zu Tausenden

,

blühende Bäume und Büsche flüstern,Gläser klingen

,

glückliche Menschen lachen . Rings umher au s der Ferneschauen Millionen Lichter der Großstadt wie flimmerndeAugen eines dunklen Ungeheuers auf die Pracht

,und

von tief unten herauf schlägt das geschwachte Brausen desStraßenlä rmes an die Zinnen des R iesengebä u des wie einohnmächtiges Zürnen gegen uns

,die wir ihn fliehen und alles

genießen,was Menschen bereiten können .

Das alles bietet uns das große Hotel . Und noch mehr .Es zeigt uns auch jene

,gesunden Mensch-en so heilsamen

,

amüsanten Falle von modernen Delirien, die einer unersä tt

lichen Sucht nach sensationellen Neuheiten und nach gesellschaftlichem Despotismus entsprungen, nu r noch durch dieextremsten Mittel gekitzelt und aufgestachelt sein wollen u nd

so Mißgeburten der menschlichen Phantasie erzeugen . E xzen

trische Damen, die sehr viel Geld und sehr wenig Geschinackbesitzen

,Leute

,die nicht wissen

,was sie mit ihren Geldm itteln

anfangen sollen,überbieten sich e inander in stupidester

Protzenhaftigkeit und Geschmacklosigkeiten .

So können wir alles haben gegen einen Preis . Alles .Selbst eine Imitation der dionysischen Freude . Mit einigemgu ten Willen kann der Fremde in Berlin schon für zweihu -ndert

Mark,in Paris für fünfhundert Franken

,in London für zehn

Pfund Sterling u nd in New York für fu nfzig Dollars und au fwä rts schon ganz leidlich dionysieren

“ vorausgesetzt , erhat die Mittel . This is the Emp ire ofBu siness . Ja, dieZeiten sind anders geworden . Wir beklagen sie nicht . VieleMenschen haben es vor uns getan . Mit Unrecht . Doch ichfrage mich ganz leise

,ob an dem grauenvollen Tage

,der

über die lebensfrohe Stad t hereinbrach,die schone

,reiche

Mutter den Untergang der antiken Freude ahnte,da sie

plötzlich mit Staunen und Schrecken die graue,blitzende

73

Wo lke uber dem H au pte des Vesuvs schweben sah und angstlich dem Sohne zu flüsterte :

„Weh

,Plinius

,mein Sohn , sieh ! Die Sonne verfinstert

sich !“

Doch nun steht vo r unseren B licken das große, moderneR iesenhotel , eine kleine konzentrierte Stadt

,ein herr

liches Dokument unserer Zeit,wie es Pompeji das der antiken

ist . Entstanden au s dem geräuschvollen Chaos der Zeiten,gewachsen und fortgeschritten mit den menschlichen Erfindungen

,ist es uns modernen Menschen eine Selbstverstand

lichkeit geworden, so daß wir,wie wir bereits sahen, ihm

bisher wenig oder gar keine eingehende Beachtung geschenkthaben . Allen

,die damit in Berührung kommen

,teilt sich

dieselbe Farbe modernen Menschentums mit, welche al lenanderen Geschäften u nd menschlichen Tätigkeiten mehr oderweniger fehlt

,ja oft direkt versagt wird .

In diesem menschlichen Gehalt,Herr Doktor

,in diesem

Reichtum von menschlichen Interessen,den die Industrie

des Wirtes birgt,schlumm ert tief auf dem Grunde ein‘ Ge

heimnis , das u ns den Schlüssel vorenthält zu m Rätsel unsererSphinx

,zu den Pforten jener Märchenreiche

,wo statt unserer

heutigen sozial en M ißwirtschaften und Elend eitel Glückund Sonnenschein walten soll

,wo ein ju nges

,frohes Volk

,

u nbeku mm ert um die Sorgen des Alltags,frei von der

gemeinsten aller Qual en„ die sich die modernen Menschennoch immer auferlegen

,der starken

,frohen Arbeit seines

Tages nachgeht . Wo ist das Märchenland ? wo die Millionenvon intelligenten Termiten

,die eifrig in den riesigen Bauten

umherwimmeln,frei

,ohne Despotismus, jedes Geschopf sich

seiner Mission bewußt,für sich selber verantwortlich

,an

sich arbeitend,um so für das Gemeinwohl zu wirken ? Sollte

der Bau menschlicher Ameisen,genannt Hotel“

,dessen

Entw icklung wir nun gesehen haben,vielleicht der Vorläufer

zu neuen so zialen Grundlagen und Ordnungen sein, die ebenerst in der Kno spe

„Hotel das Licht der Welt erblickt haben ?

Jahrtausende mögen darüber vergehen,wie Jahr tausende

verflossen,wo der Wanderer an fremder Türe Einlaß und

Schutz begehrte, bis zur Zeit,'

wo er dem schnaufenden Auto

entsteigt u nd .über Marmorstufen in das R iesenhotel eintritt

,

wo er H err ist, wo er gebietet fu r einen Preis :Eingeengt von . den Stübchen unserer kleinen Vater

hauser,bela stet von den niedrigen Dächern, verwöhnt und

verhätschelt von der lieben-den Sorgfalt der keuchendenMutter.

,die wir u ns nu r zwischen fettigen Geschirren u nd

schwa rzen Pfannen am glühenden Herde als unsere Mutterdenken konnen

,S chrecken wir Menschen des Fortschritts

vor dem Gedanken noch entsetzt zurück, in den riesigen

Häusern der Zukunft geboren zu werden,dort leben und

sterben zu mussen . Fremd und neu ist u ns noch das Surrender Maschinen, halb zögernd, halb mißtrauisch und verwundert betrachten wir noch das elektrisch gebratene Beefsteak

,mit halbverschlossenen,

vorsichtigen Nasen b e

schnüffeln wir noch die Konserven, von deren Ursprung wirnichts wissen . Wir „

glauben noch nicht an die Wirkung desDiners in der

'

Nu ßschale, an die Ration im Fingerhut . Aberunsere Tage schreiten schon schneller . D arum haben sieauch doppelten Wert . Wir können es uns nicht erlauben, siedurch Engherzigkeit zu vergeuden . Wir bedürfen der Konzentration,

der Extrakte,der Essenzen in Zeit

,W ohnung,

Lebensweise,in geistiger und korperlicher Nahrung . M an

ist schon auf dem Wege .

Unter uns,Herr Professor

,Sie als Soziologe werden mich

verstehen . Daß aber um Gottes willen Ihre Frau Gemahlinnichts davon erfä hrt : Apropos der Tatsache, daß die Frauenso entsetzlich hilflos u nd deplaziert in der Küche sind, möchteich vorschlagen

,daß man dem weiblichen Geschlecht den

ungeliebten und unverstandenen Beruf der Köchin u nd Haushä lterin so bald wie möglich abnehm en sollte . Wie meinenSie ? H a

,ha

,ganz richtig ! Die Frauen sollten dann zum

Zeitvertreib die Regierungsgeschäfte besorgen . DerartigeKleinigkeiten sagen dem weiblichen Gemüte viel besser zu .

Und au f die Diplomatie “verstehen sich"

die Weiber ohnehinbedeutend besser als wir ehrlichen, masku linischen Natu ren.

Herrschsucht und Firlefanz ist ihr Element . Warum habendenn die Bienen und Ameisen K oniginnen

? Aber rationelle

,wissenschaftliche Ernährung des K orpers, Kochen und

75

Kindererziehung sind wichtige menschliche Funktionen,die

den Händ en von vernünftig denkenden, ku nstlerisch fühlenden M annern anvertraut sein müssen, von Männern, die sichnicht als gu bernato riale Po ssenreißer und Hanswurste prodizieren sollten . Dann würde vieles anders werden in derWelt . Wie ? Ja, leider, leider

! I ch weiß es wohl . Eswird noch lange dauern . Wir erleben den T ag nicht —mehr .Und um uns nicht lächerlich zu machen ! es bleibteinstweilen noch unser strengstes Geheimnis !

I I I :

Es mag kommen,was will,Herr Professor ! Die großten

Ereignisse,die u ngeahntesten Erfindungen, die wichtigsten

Entdeckungen,sie führen uns nicht weiter . Die edels'ge

Beschäftigu ng des Menschen ist der M enschfD as hat L essingbehauptet . Und dies große Wo rt sollte im täglichen Lebeneines jeden M enschen Anwendung finden . Dann würden al l

die lächerlichen'

Fragen“ und„Probleme mit denen wir

uns heutzutage abschinden,in nichts zerfallen . Und wir

brauchen gar nicht weit zu greifen, um Bestätigung dafür zufinden . Überall

,in jeder kleinen Handlung zwischen Men

schen,in jedem Verkehr

,j edem Worte

,jedem Blick harrt

das ganze Geheimnis mit al l seiner bittern Süßigkeit undwartet au f den Mann, der

'

es sucht u nd erkennt .Drum wollen wir die erste beste Gelegenheit beim Schopfe

fassen und die Probe ziehen . I ch habe Ihnen ganz überflüssigem eise gesagt denn Sie wissen es so gu t wie ichdaß u nser g u tes Ess en oft durch schlechte Bedienung ven

dorben wird . Aber warum ? Natürlich geben wir demKellner schuld . Aber in vielen

,ja in den meisten Fällen ist

es unsere eigene Schuld,wenn wir schlecht bedient werden

,

wenn unser Appetit verdorben wird, wenn unser Diner einenjammervollen

,bedauerlichen Ausgang nimm t . W ieso ?

I ch finde Ihre Frage verstandlich, doch mu ß ich sie miteiner Gegenfrage beantworten . Können Sie mir genau definieren

,was der junge Mann ist

,der uns bedient ? Ich

meine,welche Stellung er uns gegenüber einnimmt ?

Selbstverständlich,er bed ient uns . Aber das ist nicht alles .

Ja, ja, sehen Sie, welche vage Ideen wir von dem haben, was

wir_von a nderen verlangen konnen und wozu wir berechtigt

sind ! Und W ie weit denkt das liebe Publikum erst ! Natürlich

weiß oft auch der Kellner seine Pflicht nicht . In beidenFallen ist das Resultat ein ganz schreckliches . Es ist u n

glaublich, wie empfindsam,

wie ungeduldig wir an der Tafelsind . Und erst wie gespannt und gereizt die Nerven derLeute sind

,die u ns bedienen ! D ie geringste Kleinigkeit kann

die so vorbereiteten Gemüter in einen Sturm von Aufregungversetzen . N ach einem so lchen Renkontre ist’s mit unsermAppetit selbstverständlich aus . Desgleichen mit dem gutenWillen dessen, der mit uns zu tun hat . Wenn wir gu t undu ngestort essen wollen, ist es daher fur u ns absolut notwendig, zu wissen

,Was ein Kellner ist . D a wir nun einmal

au f die Bed ienung angewiesen sind, Wollen wir nun doch nicht

unser gutes Geld an schlechten Diners verschwenden . I chsehe

,Sie lachen wieder ! W ie

,ich nehme die Sache zu

gründlich, zu ernst ? O nein,ich bin ein großer Egoist .

Ich vermeide nu r j ede Gelegenheit zum A rger : ich versuchenu r j eder Dummheit

,al so jeder Ungerechtigkeit und Un

höflichkeit aus dem Wege zu gehen . Außerdem sollteunser Schamgefühl es nicht zulassen

,daß wir einen Men

schen,der mit uns in so nahe Beru hru ng tritt, gan z außer

acht lassen,ihn W irklich ganz und gar ignorieren . E s ist

weder ratsam noch weise . Für eine derartige Unterlassu ngssunde müssen wir oft schwer büßen . Daher habe ich denOberkellner gebeten

,mir während meines Aufenthaltes in

diesem Hotel immer dengleichen Kellner zu ‚u ber1assen,da ich

an ihn gewöhnt bin und ihn ziemlich gut kennen gelernt habe .

Goethe sagt e einmal : In der Beschränkung zeigt sicherst der Meister . Bei meinem Kellner ist dies sehr zu

treffend . Ich halte unsern jungen_Mann zum Beispiel für

ein eigenartiges Talent . D ie Art und Weise, wie er unsbehandelt

,ist bewundernswert . Das ist sein Geschä ft ?

Natu rl ich ! Aber Sie haben jedenfalls noch nicht die Schwierigkeiten betrachtet, mit denen er zu kämpfen hat . WennSie sein eigenartiges Geschick

,welches uns so vorteilhaft

zustatten kommt,

’ ein Geschäft“ nennen, so verstehen eigent

lich wirklich herzlich wenig Kellner ihr Geschä ft“ . Undwir werden sehen

,woran dies liegt . Jede unserer m odernen

Industrien hat nämlich ihre Sklaven,ihre Opfer u nd ihre

Unterdru ckten. Mit einer gerechten,wilden W u t wehrt sich

die Arbeiterschaft dagegen,tut sich zusammen

,agitiert und

streikt . Denn das menschliche Gefu hl sträubt . sich gegenSklaverei

,Opfer und Unterdrückung . So war es zu allen

Zeiten . Jedes Tier wehrt sich dagegen . Aber die Arbeiterfinden es schwer

,gegen die Hochburgen der _Finanz anzu

kommen . Es erfordert Zeit, Schulung, Taktik, Organisation,Geldmittel und Ausdauer

,sie . zu nehmen . Dies alles fehlt .

Das haben die Plebejer im alten R om blutig erfahren müssen .

An diesen Widerstanden rannten sich die Leibeigenen undBauern des Mittelalters die ehrlichen

,dummen

,von Blut

,

Freiheitswahn und P lünderl u st berauschten Schädel ein . Aberes fielendennoch die Festen der romischen Patrizier, u nd dieTrümmer der mittelal terlichen R au britterbu rgen reden heutestumm

,aber deutlich . So werden auch die Kämpfe des

modernen Arbeiters nicht fruchtlos sem . Doch je weiser,

taktischer,ruhiger er sie fuhrt

,um so besser ist es für ihn

selber . Die festen Mauern der Finanz werden am sicherstendurch d ie I nsassen s elber

.zerstört . Die gerechte Zeit duldet

keine Festungen . Sie rüttelt und schüttelt,korrumpiert und

untergräbt sie . Das lehrt die Geschichte aller Zeiten . DieBelagerer s ollten nicht blindlings ihre Krä fte an Steinenverschwenden

,die noch nicht morsch genug sind

,zu fallen .

Sie sollten nur wachsam sein und beobachten, die schwächstenSeiten der Feinde angreifen

,vor allem aber das eigne Lager

frisch und stark erhalten .

Ich kann mit Recht behaupten,daß der Kellner in

gewissem Sinne der. Sklave oder der Unterdrückte der modernen Hotelindustrie ist . Bei einiger Beobachtung wird diesselbst dem Uneingeweihten auffallen . Doch ich will michbemühen

,Ihnen die Lage ruhig und klar zu definieren

,damit

Sie,Herr Professor als Soziologe

,einen neuen Menschen in

einer neuen Industrie kennen lernen . Ich habe Ihnen bereitsdie Entwicklung dieser neuen Industrie flüchtig vor Augengestellt .

_

Wir haben gesehen,daß dieselbe wirklich erst ein

Vierteljahrhundert al t ist .Einersei ts is t es daher verstandlich

, daß die Verhaltnisse : noch u ngeordnet und schlecht organisiert sind . D ie

käufer . Seine P flichten, seine Kenntnisse, sein Arbeitskreissind großer

,die Anforderungen

,die an ihn gestellt werden

,

sind weit mehr als die,die ein gewöhnlicher V erkäufer zu

erfüllen geneigt ware . Der Kellner wird noch immer vielfach von einfä ltigen Menschen zur dienenden Klasse gerechnet .Nichts ist fal scher als dies . Ohne ein Diener, ohne einFaktotum zu sein

,tut er dennoch alles Mögliche

,wird alles

Mögliche von ihm verlangt, das , streng genommen, nicht imBereiche seiner Pflicht liegen so llte . Seine Stellung ist einzig.

Ein ähnliches Beispiel in einer anderen Industrie könnte ichnicht angeben .

Vo r dem Gesetze ist der Wirt ein Kaufmann . Der Kellnerist aber juristisch kein Handlungsgehilfe

,sondern ein Ge

werbegehilfe . Gewiß . Aber ein gewiegter Jurist wurdedennoch Schwierigkeiten haben

,die Stellung des Kellners

genau zu definieren . Natürlich,es ist sehr einfach

,ihn in

eine g ewisse Kategorie von Angestellten hineinzustecken, aberdie für diese gelten-den Gesetze kann man nicht auf denKellner anwenden

,ohne ihn zu schädigen oder zu bevorzugen .

Seit die L u ftschiffahrt aufgekomm en ist, streiten die Leute

sich über ihre Rechte in den Lüften . Aber keiner hat recht,

denn es gibt noch keine Gesetze der Lüfte, noch keinen ÄroKodex . Die L u ftschiffahrt ist noch neu . Und da der Kellnerein

„ganz neuer Mensch“ ist

,so stehen wir auch ratlos vor

seinen juristischen Rechten . I ch Will mir darüber nichtden Kopf zerbrechen . Das u berlasse ich anderen . Aber ichwill von den menschlichen Rechten des Kellners sprechen, dieIhnen

,Herr Professor

,ebenso wie mir und der ganzen W elt:

(einschließlich der W irte) bekannt sind, d ie aber jämmerlich.

vernachlä ssig t werden . Die Menschen sind entse tzliche,

gedankenlose ‚Pedanten . Warum werden die menschlichenRechte des Kellners nicht geachtet . Weil er keine juristischen.

hat ? W eil sie nicht schwarz auf weiß stehen ? Und darum istder arme Ganymed auch der Stiefsohn des mildtätigen Bonifaz .Gerade dieser Mensch

,an den so viele gerechte und

ungerechte Anforderu ngen gestellt werden, der allwissend ,allriechend, allfühlend sein soll, der vierundzwanzig Stundenim Tage jung

,gesund

,frisch

,munter

,höflich

,gewandt ,

8 1

freundlich,lächel nd

,spru ngbereit

,stets bei der Hand sein

so ll,

gerade di eser Mensch,der die wichtigste Person im

Geschäfte ist, er wird vernachlässigt , verachtet, umhergestoßen

,beschimpft, verhöhnt, gekränkt, in Unwissenheit ,

im Stich,ohne Recht gelassen

,wo und wie man nu r‚eben

kann . Jeder und alle trampeln auf ihm herum . Die Gäste, dieVorgesetzten

,das kaufmä nnische Personal

,die Köche, die

Detekt ive,die Kontrolleure

,die Stewards

, ja selbst die Silberund Schüsselwascher . Vom ersten Direkto r bis zur zä nkischeriL innenmam sel l unter dem Dache und der kalten“ Mamsellin den untersten Regionen

,alle wollen sie uber den geplagten

Kellner etwas zu sagen haben . Alle wollen sie ihn komman

dieren . Und er,der aalglatte

,gewandte Jüngling

,schlüpft

und hu pft, schlängelt ‚und drängelt sich überal l hindurch“

,

nimm t alles Unrecht schweigend in sich au f.

Die Arbeit des Kellners ist hart . Se ine Arbeitsstundensind lang . Der Kellner kenn t keinen Sonntag, ke inen Feiertag . E r arbeitet tief bis in die Nacht hinein . Und an allenTagen des Jahres' . Wir kennen

,Herr Professor

,die nä cht

lichen Sitzungen,die sich so furchtbar in die Länge ziehen .

Der Kellner wacht . Das Geschäft zwingt ihn, je nach Bedarfseine Arbeitsstunden bis in den grauen Morgen hinein zu

verlängern . Er wi rd nicht vom Posten abgelöst . Er bekommtkeine E xtravergütu ng‚fü_n die Überstunden, kein Äquivalentfür den verlo renen Schlaf

,für die untergrabene Gesu ndhe it .

Die Ironie des Schicksals will,daß er gerade dann, wenn

andere Menschen sich freuen u nd lustig sind, an Sohn u nd

Feiertagen und festlichen Ge legenheiten, am härtesten u nd

am längsten arbeiten muß .

Das Geschä ft zwingt den Kellner,im Hause zu essen .

W ie meinen Sie ? Bequem ? Gewiß, für das Geschäft .Es braucht seinem' Angest ellten deshalb keine freie Stundezu r Mah lzeit zu gewähren . Drei Mahlzeiten im Tage, dassind drei Stunden Verlust für das Haus . Außerdem! hatdas Haus den Anges tell ten jederzeit in erreichbarer Nähe,er ist nötigenfalls sofort bei der Hand„ er kann immer beider Mahlzeit gestort werden . Das ist wirkl ich sehr bequemfür das Haus .

Pa u l Ve h l i n g,D ie Moral des Hotels .

82

W as ? Diese Mahlzeiten sind . frei ? Sie kosten denAngestellt en nichts ? Ja, so sieht

’s beinahe aus . Nein,

Herr Professor,Sie du rfen nicht glauben, daß die Mahl

zeiten,Welche der Kellner im

'

Hause genießt,e ine A rt von

Geschenk o der Gnadenbrot'

seien . E r mu ß schwer dafürb ezahlen . D as

werde ich Ihnen sehr bald ausrechnen . Esist sehr einfach . Der Kellner wird also gezwungen, eineunverlangte Kost zu genießen‘ und dafür zu bezahlen

,eine

Ko st, die selten, sehr selten gu t genannt werden kann; die _

in

den meisten Fällen schlecht,sehr

schlecht,manchmal gar

di rekt ungenießbar ist u nd tief unter dem Niveau des? be ,

'

rüchtigten K asernerimenu s steht . Es ist ganz natürlich . DieHäupter der Hauser bekümmern sich nicht u m ‘

das Essendes Personal s

, die Summe wenn eine dafur veranschlagtwird verschwindet oft

'

ganz oder teilweise in u nergründ

lichen, mysteriösen T iefen, und gewissenlose Köche bereitenden Speiseresten der Gaste da s Mahl für die Angestellten .

Den Rest k önnen Sie sich denken Für di-e Angestellten undnamentlich fu r den gedu ldigen Kellner ist bekanntlich allesgut genug .

I n den meisten Fallen zwingt das Geschaft au ch denKellner

,imHause zu wohnen . Hier sind natürlich die gleichen

Gründe gel tend wie die zur obligatorischen Verpflegung .

Und die gleichen Vorteile für das Haus . M an hat denAngestellten immer unter Kontrolle

,er ist “stet s da . Jeden

Augenblick ist er zur Verfügung . Und für diesen - liebenswürdigen Die

'

nst,den d er Kellner d em H ause damit tu t

,

indem er stets und immerwährend,vieru nd2Wanzig

3 tu nden

lang im Tag, vorhanden ist, darf er das Haus gleichfalls gu tbezahlen . Daß er bei dieser obligatorischen E inquartieru ngnicht au f der Beletage des Hauses untergebracht wird

,ist

auch selbstverständlich . Wieviel der Kellner für diese -Quartiere bezahlt und Welcheri ‘ Einfluß sie au f die körperlicheund geistige Gesundheit und Moral der Insassen haben

,

“Werden wir auch noch sehen.

Dies ist ku rz zusamm engefaßt die S tellung d esKellners

in der Hotelindustrie . W as ist aber die Bezahlungfür die L-Wunderwerke -s

'

d er Geduld u nd technischen Könnens,

83

die man von ihm verlangt ? Wir wissen’s alle, u nd die ganzeWelt weiß es . Der moderne Kellne r ist, wie ge sagt, für dieL egislatu ren der verschiedenen Länder eine neue Erscheinung .

Er ist auch noch nicht offiziell mit ganz entschiedenen Forderungen an die gesetzgebenden Körper herangetreten . Der mo

derne Kellner vegeüert in al len zivilisierten Ländern der Erde .

Mit den Herren L egislatoren dies-er Länder ist er u ndffiziel lsehr gu t bekannt und sogar bei ihnen beliebt . Seine . Rechteals Mensch jedoch

,das Dasein

,welches er fristet

,haben die

Herren Abgeordneten,M . P s

,Deputierten

,Senatoren und

W ie S i e alle heißen,bei der guten Flasche vor und nach der

Sitzung des Hauses und über den guten Braten hinweg niemalsbem erkt oder immer und immer wieder vergessen . Nu r hieund da erinnerte man sich des Kellners

,nam entlich in dem

gem ssenhaften Deutschland,wo bekanntlich nichts unbeac‘htet

bleibt und wo nichts u nd niemand ist,von dem oder worüber

noch ‚kein Buch geschrieben werden Aber auch inDeutschland wurde nicht viel erreicht

,und die Zustände

im Beru fe des . K el lners sind au f d-er ganzen ‚Welt ungefährdie gleichen .

Können Sie mir,Herr Professor

,einen Beruf

,ein Ge

werbe, einen Stand au f der ganzen weiten Erde nennen,der

so sehr an Sklaverei erinnert wie das Das-ein des Kellners ?Nein, Sie können es nicht, sehen Sie ! Das ist die

Stellung des Kellner s i ri“

der H otelindustrie . D as ist diemenschenu nwu rdige‚Sklaverei : das ist die Unterdrückung .

D as ist der Augiasstall,der gereinigt werden muß und der

nu r vom Kellner selbst gereinigt werden kann . Das ist dasBretterhaus des Kellners . Und dieser jammervolle Notbehelfw irft natürlich

„ seine dunklen Schatten au f das Leben undau f das junge Gemüt des Kellners selbst u nd gestaltet seineLebensanschauungen, seinen Charakter und folglich seinganzes Leben in den

_allermeisten Fällen zu etwas Fragmen

tarischem,etwas Provisorischem . Es ist - eben nur ein Latten

haus . Der Kellner kennt keine Heimat,kein H eim,

keinenSonntag, keinen Feiertag, keinen Feierabend . In seinem

M it Au snahme des vorliegenden Bu ches . (Nachtragl . Anm. d . Verf. )6°

84

L attenhau se lebt er von heute auf morgen . Er hofft von heuteau f morgen. Er arbeitet von heute au f morgen . Er verdientvon heuteauf morgen . Er ist -ganz auf sich selbst angew iesen .

Und hat kein Vorbild, keinen Halt . Für seine Arbeit gibt'

es

keine Regeln . Seine Arbeit ist eine große Kunst . Sie istdie große Kunst des Lebens und der Anpassung . A ls Kindwird er in dies Chaos gesteckt, versagt er in se iner K unst,so ist es sein jämmerlicher Untergang . Bittet er u m Unterricht ln dieser Kunst

,so zuckt man mit den Achseln u nd

bedauert . Er mu ß sie von selber“ verstehen . D as großeL eben paukt sie ihm ein. Eine solche Spannung hat ihreRückwirkung . Wird der junge Mann für einige Stundenau s seiner Sklaverei befreit oder läßt die Spannung währendeiner freiwilligen oder unfreiwilligen S

'

tellenlosigkeit nach,so bricht in ihm ju ng,

'

wie er ist und immer sein so lldas verborgene gefahrliche Element hervor, das ihn einemzu frühen geschä ftlichen, körperlichen, gesellschaftlichen u ndgeistigen Tode entgegenreißt .

I st es nicht der Mühe wert, Herr Professor, den genauenUrsachen solchen Elendes gründlich au f die Spur zu gehen ?Bitte ich betone ausdrücklich : I ch würde keinen Augen

blick meiner kostbaren Zeit dazu verschwenden, wenn ich indieser dunklen Masse nur alte Trümmer

,nur einen elenden

Schu tthau fep sähe, aber ich glaube fest, ja, ich weiß es

bestimmt,daß wir au f der Suche nach den Ursachen nichts

To tes,nichts Abgestorbenes

,nichts Verfau ltes, sondern den

großen W irrwarr eines hastig, gedankenlos aufeinander gel

stapelten,unendlich reichen M aterial s finden werden

,also

etwas nach Leben und nach Dasein Ringendes,etwas Werden

des . Wo solches ist,da ist keine Arbeit vergebens

,denn

da ist Hoffnu ng !Ah

,do -

rt komm en auch schon unsere Damen . EinGluck

, daß Sie kommen, gnädige Frau . I ch habe Sie zwarzum Diner ‘ eingeladen

,habe aber noch gar nichts bestellt.

I ch leide naml ich ganz schrecklich ! Ja, ja, meine Damen,Nahrungssorgen . Sie müssen mir beistehen ; ich fleh

'

e Sie

an. Ach, das ist es gerade ! M an hat alles in Hülle und

Füll e ! Man hat zu viel . Es gibt‘

nämlich zweierlei Nahru ngs

sorgen . Eine, wenn man zu wenig oder gar keine Nahrungzu r Verfügu ng hat, die zweite, wenn man vor lauter Gerichtennicht weiß

,was man nehmen soll . Die zweite Sorge ist die

weitaus schrecklichere . Sehen Sie sich nur das volle Menüan ! Tatsächlich ratlos stehe ich .

davor . Und wir müssendoch essen ! Mein armer Kellner hat sich schon vergeblichum mich bemu ht . Der M aitre d

’H ötel ist in hellste

n Verzweiflu ng . Er hat mir sou ndso viel vorgeschlagen, allesnichts seine kulina rische Enzyklopädie ist erschöpft .Darum bitte

,meine Damen

,helfen S ie mir aus der Not .

Freilich mussen wir dann etwas Warten . Wir müssen denLeuten Zeit geben

,sich unserer Bestellung anzu nehinen .

Aber das ist gerade schön . Denn wenn w ir warten müssen,

sind wir sicher,daß unser Mahl frisch hergestellt wird .

I ch danke für Speisen,welche stundenl ang vor dem Genu ß

zu bereitet sind . Ich will sie frisch vom F euer haben .

Sonderbar ! Die meisten Hotelgäste denken anders darüber.Sie wollen gewöhnlich die feinsten

,schwierigsten Sachen in

kürzester Zeit au f dem Tische sehen . D as ist hochst unvernünftig und ungerecht . Aber dies kommt nur daher, weil dieLeu te nicht mit der Herstellung der Sachen

,welche Sie

bestellen,vertraut sind . Sie haben absolut keine Idee vom

Essen . I st es nicht merkwürdig, daß die Menschen über diewichtigste Funktion in ihrem Leben so wenig unterrichtets ind ! Und so wenig darüber nachdenken ! Und so vertrauend'

in ‚dieser Hinsicht sind ! I ch glaube, nicht ein Prozent allerMenschen in diesem Saal haben jemals ernstlich betrachtet,w a s sie essen

,woher ihre Mahlzeit komm t . Sie wissen nur

,

daß der Kellner sie au s der Küche holt . Das ist alles . Vonden dami t verbundenen Schwierigkeiten und Arbeit aber hatdas große Publikum nicht die gering3te Ahnung . Es solltesich daher mehr für die Hotelküchen interessieren, aus denenes seine Speisen bezieht . Allen Ernstes

, gnädige Frau ! JedeKüche sollte dem Publikum zugänglich sein . Die Wirte solltenes eine Spezia lität machen

,sollten stolz darauf sein

,ihre Gäste

durch die Räume führen zu können,woher die gu ten Dinge

stammen . Das Publikum würde dabei profitieren und desgleichen die Speisen

,der Wirt und seine Angestellten . Die

Gaste wurden einen Einblick bekommen in die Schwierig«keiten

,die sie dem Wirt durch ihre Mahlzeit auferlegen .

Sie würden dann auch in ihren Anforderungen an die Angestellten gerechter und vernu nftiger werden . In Loka len

,

wo man nicht allzuviel auf P ropretat halt und dadurch dieGesundheit des Publikums gefährdet

,würden häufige Küchen

inspektionen der Gäste geradezu wunderbar wirken .

Die H ä u ptschwierigkeit der Gastwirtsarbeit besteht darin,daß er höchst empfindliche

,kostbare und leicht verderbliche

W aren handhabt,daß j ede einzelne unserer Bestellungen

besonders zubereitet u nd “ serviert werden muß,und daß oft

wegen der kleinsten Kle inigkeit ein ungeheurer Apparat vonmenschlichem und mechanischem Material in Bewegungges etzt werden muß

,um die Sache kunstgerecht auszuführen .

Die zusammengesetzte Gastronomie,die Arbeit des W irtes

u nd des Kellners, ist daher eine Kunst,“

die unendlich vielAnstrengung

,Aufmerksamkeit und Geschicklichkeit verlangt .

Und sie besitzt auch alle Erkennungszeichen einer wirklichen Kunst . Eins der ersten und am schmerzlichsten insAuge der Seele stechenderi Zeichen ist die Undankbarkeitdes Genießenden . Je mehr die Menschen genießen, um somehr nehmen Si e Besitz vom Gegenstand ihres Genusses undvergessen dabei auf die undankbarste Weise denjenigen

,der

ihnenden Genuß bereitet . Eine wahre Kunst hat die Fahig«

keit,den Genießenden au f Wolken zu heben und mit sich

fortzureißen,So daß er alles um sich her vergißt 'und nur

sich allein sieht,fühlt u nd genießt . So reicht man oft an jene

unerkennbare,gefährliche

,schwindelnde Spitze hochster Ge

nu ßfähigkeit heran, wo der nicht ganz starke u nd selbstbewußte Mensch gewöhnlich taumelt und in den AbgrundverachtensWertester Niedrigkeit zurücksinkt . Physischer undästhetischer Fraß u nd Völlerei sind daher ihrem Wesen nachvollständig gleich . Und ich kann mir damm ä u ch kaumetwas R oher ‘

es, Gemeineres und Verächtlicheres vorstellen,als eine hastige

,gedankenlose Fresserei

,wo die guten Gaben

der Erde zwischen zwei plumpen, breiten Kiefern zermalmtu nd einen du nklen Schlund hinu ntergewu rgt werden . Selbstdie einfachste Mah lzeit kann mit Ruhe und feinem Ver

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kennt keine Grenzen . Roh und ohne Verstand »verschlingmdiese bedauernswerten Leute alles , was au f dem Markteerscheint . Das Resultat ist ein entsetzliches . Sie treibendurch ihre Unkenntnis und Verschwendung die Preise in dieHöhe

,ihre Sucht nach Außergewöhnlichem

,nach Neu heiten,

nach"

Ausschließlichem beeinflußt die Produktion in ganzsündhafter Weise : das wirklich Gute, das Bescheidene wirderstickt. Schließlich werden sie überfüllt und der bestenDinge u berdrüssig . Sie sch'mäh

'

en die armen W irte, beschimpfen die Kochkünstler

, mal trätieren die Kel lner au f dieschrecklichste W eise . Sie tyrannisieren die armen Künstlerund Literaten

,nennen sie himverbrannte Idioten, nachdem

sie diese armen Teufel selber gezwungen haben, ihnen aller

hand süßliches und unverdauliches Zeu g vorzusetzen . W arumsoll man einen Theaterdirektor schm ähen, wenn er seinemPublikum ein unsittliches

,albernes

,idiotisches Stück dar

bietet ? Es ist doch immer das liebe Volk, das so lche Dingeverlangt . D as sind die Blasierten, die Überfüllten, dieMagenkranken . Sie sind die Unglücklichsten au f der Oberflä che der Erde . Der. geistig rührige und körperlichgesunde Mensch (d . h . der normale

,der leider so seltene)

wird bald durch Übung und Erfahrung und namentlich durchenergisches Training seines Geru chsinnes fähig sein,

schlechteKoch und Sonstige Künste schon von weitem zu schnüffeln .

Er wird sich fern halten : sein Geru chsinn wi rd ihm riesig vielZeit

,Geld und Enttäuschung ersparen . Daher empfehle ich

jedem, den Markt der Genüsse genau zu studieren u nd sichwenig

,aber nur das Beste herauszusuch

'

en,damit er für a ll e

Zeiten rasch und sicher unterscheiden kann u nd keine Zeitund Geldverluste an unwürdigen Produkten erleidet . Imschauerlichen Kuddelmuddel unserer Tage ist dies wirkl ichnotwendig .

So ? Sie meinen also allen Ernstes, daß ein Kellnernicht viel gelernt zu haben braucht, um seinen Beruf au s

zu üben ? ! Dies e Ansicht ist leicht zu entschuldigen, denn sieist so naheliegend und ganz allgemein verbreitet . Gewiß ,Herr Profes sor . In den erstklassigen Hotels treffen Siemeistens nur gu tgeschu lte Leute an . Aber hie u nd da treffen

89

Sie doch einen, der sein Ge schä ft nicht versteht . I ch wunscheI hnen wirklich nicht, daß Sie jemals seine Bekannts chaftmachen, wenn Sie einen gu ten Appetit haben . Für den

guten Kellner ist doch vor allen Dingen eine gründlicheFachkenntnis von unbedingter Notwendigkeit . Fachkenntnis in der Hotelindustrie heißt viel . Dort ist a l l e s

„Fach“ . Das ganze

Leben,Lebenskunst

,Menschenkenntnis ,

Sprachkenntnisse, Hausha ltung, Sparsamkeit, Freigiebigkeit,Luxus

,Kunst

,a l l e s ist dort

„Fach“

. Sie können die Fähigkeiten

,die von unserem Kellner verlangt werden

,nur über

sehen,wenn man sie ihrer Mannigfaltigkeit nach einteilt .

Die Kenntnis der Speisen umfaßt die Roh'

materialien undderen Zubereitung in der Küche . Wie kann der Kellnerals Verkäufer etwas anbieten und empfehlen, wenn er nichtweiß

,woraus di e Ware besteht und wie sie zubereitet is t

Haben Sie nicht gesehen,Herr Professor

,wie entsetzlich

ignorant die Mehrzahl der Kundschaft darin ist ? N u r au s

diesem Grunde ist es möglich,daß es noch viele ignorante

Kellner gibt und daß sich viele M enschen in sein Feld hineindrängen können

,die keine Berechtigung dazu haben

,weil

sie den Beruf nicht von Grund au f erlernt haben . DieIgnoranz des Volkes hält das geistige Niveau des einzelnenMenschen unten . W o keine kunstsinnige Menschen sind

,

gibt es keine große Kunst,wo kein Kläger ist

,ist kein

Richter . Die anspruch s lo sen biederen Gemüter der Besuchereines bu rgerlichen Bierrestau rants geben sich mit der bescheidenen Erscheinung eines —Schu hrnadhers zufrieden, derau s Abenteuerlust oder au s sonstigen Gründen sich als Kellnerproduziert . Der feine junge Mann

,der uns hier in diesem

großen interna tionalen Hotel bedient,würde dort sehr de

placiert sein, er würde trotz al l seiner Kenntnisse unmöglicharbeiten können .

In der klassischen,franzosischen Kuche gibt es eine

unendliche Menge von Gerichten,Platten

,Saucen

,Garni turen

usw . , deren Namen jedem anständigen Kellner durchausgeläufig sein müssen . Er mu ß

,genau wie der Koch

,die

besonderen Eigenschaften aller Rohmaterialien kennen, dieuns die Natur zur Nahrung in so überaus reichem Maße zur

90

Verfugung stellt, und er muß fähig sein, ein gutes Urteildarüber abzugeben . Er muß auch ungefähr oder ganz genauwissen, wieviel Zeit die Herstellung aller dieser Gerichte inAnspruch nimmt . Jede Minute ist er einer verfänglichen Fragevon seiten der Gaste ausgese tzt . Der Kellner muß sie beantwo rten können . Die gründliche Kenntnis der klassischenKüche erspart ihm daher viel Zeit

,Mühe und Unannehml ich

keiten . Nehmen Sie nu r einmal an,Herr Professor

,in welch

schreckliches Dilemma der arme Mensch geraten kann,wenn

Sie sich bei der Be stellung ein-es Diners nach der Beschaffenheit der guten Dinge erkund igen

,wenn der unwissend-eKellner

Ihnen Erklärungen gibt,die sich später al s falsch heraus

stellen ! Sie verweigern natu r lich die nicht gewünschtenSpeisen . Zu fallig mögen es gerade Sachen sein, die Sie inIhrer tiefsten Seele verabscheuen . Ihr schöner Appetit istverdorben . Der Herr Direktor wird gerufen . Die Speisensind zubereitet u nd nicht mehr zu gebrauchen . Der Kellnermuß den Schaden tragen

,wenn ihm gar nicht noch Schlim

meres zustößt . Das Haus verliert vielleicht Ihre Kundschaftdurch die scheinbare Kleinigkeit . Es ist schier unmöglich füreinen jungen Mann

,alle die tausend fremdländischen A u s

drucke u nd Namen zu wissen,womit er zu tu n hat

,u nd in

oft ganz bewundernswerter Weise zieht sich der gewandteJüngling au s der Affäre

,wenn ein Gast allzuviel wissen will .

Ein neugieriger Gast übernimmt oft ein große s Risiko .

Es ist nicht ratsam,zu viel wissen zu wollen . Dem gewandten

Kellner ‚gegenüber zieht der ahnungslose Gast gewöhnlich denkürzeren . Es gibt gewissenlose K el lnernatu ren

,die ihre

haufig verzeihliche Unkenntnis eines pomposen Gerichte-

s

hinter einer geschickten Notlüge verbergen . Wenn Sie , HerrProfessor

,zum Beispiel sich fu r ein Filet a la Soundso

interessieren und eine nahere Definition des mysteriösenNamens wünschen

,die Ihnen der Kellner zufällig n1cht geben

kann,so erfindet er oft statt der Wahrheit eine wunderbare

Kombination von appetitlichen Dingen, die er, falls sie IhrenBeifall gefunden hat

,kaltblütig und rücksichtslo s in der

Kuche ausführen laßt . Natu rl ich werden Sie durch den

gewissenlosen Menschen falsch unterrichtet . Sie pragen sich

9 1

vielleicht den schonen Namen au f der Karte für das lu gerischeProdukt des phantasiereichen j ünglings ein,

wollen bei anderenGelegenheiten mit Ihren kulinarischen Kenntniss

en glänzen,

was wir alle gerne tun, und sind dann plötzlich au f dieschmähl ichste Weise b larhiert, wenn S le einen au f dem kulinarischen Pegasus sattelfesteren Gegner vor sich haben .

Der ganz feine Kellner, Herr Pro fessor, aber ist eineme‘

ph_isto

phel ische Natur . Er belügt nötigenfalls den forschenden,wißbeg1erigen Gast zwar auch, aber ersin-nt in höhnischversteckterWeise ihm die gewünschte Losung des Mysteriumsau f Französisch . Andä chtig, aufmerksam wird der Gas tlauschen

,er wird sich bemühen

,zu versteh-en

,aber er wird

nicht verstehen . Beifällig jedoch wird er nicken,wird ein

paarmal Q u i,oui stottern

,und ermattet

,besiegt hat er mit

seiner Zustimmung s ein L o s besiegelt . Er ist rettungslosverlo ren . Er hat sich heimlich L

wil lenlos,bedingungslos seinem

geschmeidigen Gegner ergeben .

'

E r simuliert er gibt denAnschein

"

,als ob er den welschen Red-efl u ß verstanden habe

,

u nd sein feiner Betru ger durchschaut ihn lächelnd . DennKüchenfranzosisch zu verstehen ist für den unein

'

geweihten,

harmlosen Amateu rphilo logen eine Unmöglichkeit . Zittem d,

verwirrt bestellt er,ohne zu ahnen

,was

'

da komm-

en soll .Aber er bekommt

,was er bestellt hat . So ehrlich und gnädig

ist sein sieghafter Gegner . Do ch dies alles sind gefährlicheSpielchen . Unter derr ’

Gä éten können sich leicht Gourmetsbefinden

,die in alle Küchen

'

gehe imnisse eingeweiht sind, und dieEpisode endet mit dem schmachvollen peinlich-eh Zusammenbru ch des verführerischen Lügengebäudes

,mag es noch so

geschickt u nd phantasiereich aufgebaut sein .

Wie die Speisen,so kennt der gute Kellner auch genau

die tausend Getränke,die er feilbietet . Er kennt die Eigen

schaften der verschiedenen Weine,die Qualität der Jahr

gänge,die richtige Temperatur

,er wählt das passende Glas

dazu . Speisenkenner gibt’s entsetzlich wenig . Wein'kenner

sind dahingegen schon zahlreicher vertreten : Und wehe !mit diesen Herren ist nicht zu spä ßen . D as weiß der Kellner .Darum verwendet er äußerste Sorgfalt bei einem edlen Burgu nder, einem alten Bordeaux, feinen alten Südweinen u nd

92

Vintage - Champagner . Er weiß die edlen Tropfen zu behandeln . E r hütet sich, den gerechten Zorn des englischenLords durch falsches Ausschenken des Bieres zu erregen .

Gewiß,ich weiß auch, daß Sie glauben, nu r Ihr wissen

schaftlicher Beruf erfordei e scharfes Denken . Dem ist abernicht so . W enn irgend jemand in seinem Geschäft denkenmuß

,so ist es der Kellner . Wenn sich irgendwo das Sprich

wo rt„was man nicht im Kopf hat, muß man in den Beinen

haben“ bewah rheitet, so ist es hier . Sie glauben kaum,

welches Gedächtnis unser Kellner besitzt . Erst wenn Sieseine Tätigkeit hinter den Kulissen betrachten

,werden Sie

erfahren,welche Kunstfertigkeit

,welche Wissenschaft das

feine Service ist,wie unendlich viel Übu ng

,Gewandtheit

,

Geschicklichkeit und vor allem Gedä chtnis es erfordert . Esist schwer

,e1ne feste Rege l für die Tätigkeit des Kellners

zu geben,da sich das Service je nach dem“ Charakter des

Hauses richtet . I ch kann Ihnen aber wirklich nicht raten,in einem Hause lange zu bleiben

,wo Sie anhaltend schlecht

bedient werden,mag das Essen oder das Haus in anderer

Hinsicht no ch so gu t erscheinen . Im Service zeigt sichall ein die Meisterschaft des Wirtes . Durch die große Dehnbarkeit des Begriffes „

Service“ aber,durch die vielen Ab

stufungen in der Gastwirtsindu strie sowie durch die vielen Individu en

,die in allen Nüancen auftauchen und vorgeben

,

Kellner zu sein oder es s ind,ohne Talent fu r ihren Beruf zu

haben, kann wirklich nu r der erfahrene Gourmet sagen und

schätzen,was gutes Service ist . I ch halte zum Beispiel

unseren Kellner für eine Perle,fu r einen äußerst seltenen

Menschen . Sein Beruf ist eine ewige Steeplechase . N u r eineigenst trainiertes Tier von feiner Rasse kann da gewinnen .

Er s cheint all die tausend Hindernisse spielend zu u berwinden .

Und er macht gar kein Aufsehens davon . Hinter unsernRücken spielt sich ein hero isches Ringen ab

,und wir, wir

amüsieren u ns u nd merken nichts . Unser Mann ist u h

bezahlbar . Trauen Sie daher u m Go ttes willen keinemMenschen und nam entlich keinem K elh1er, der seine Geschicklichkeit allzusehr Und zu auffallend ins gute Licht stellt .Unter den Kellnern gibt

’s Jünglinge,die überreinlich sind .

93

Sie wischen sich den perlenden Schwe iß der Stirn mit ihrersauberen Serviette ab

,um dann gleich darauf mit demselben

Linnen vor dem Gaste ganz unnötigerweise über den reinenTeller zu fahren

,nur um ihm zu zeigen

,daß alles schon sauber

ist . Ich glaube aber nicht, daß wir hier in dem erstklass igenHause ein derartiges sauberes Exemplar von einem Kellnerantreffen . Die Leute hier sind alle gut instruiert, ke ineunnötige Schaustellung von ihren Tugenden u nd Vorzügen zu

machen und die feine Reserve zu beobachten, die sich fürjeden gebildeten Menschen schickt . Das Haus gibt solcheRegeln weniger aus ästhetischen als aus praktischen Gründenau s . Allzu feine, auffallende

'

Manieren eines Angestelltenkönnten die der Gäste oft in sehr ungünstiges Licht stellen .

Es ist dringend ratsam , d erartige Komplikationen zu vermeiden . Ich habe auch erfahren

,daß sich viele Neulinge

auf gesellschaftlich em Gebiete,um mit den zahlreichen un

geschriebenen menschlichen Verkehrsvorschriften vertraut zuwerden

,sich di e gesch'rneidige Person des Ke llners insgeheim

als Vo rbild nehmen,und sehr zu seinem Vorteil . Im Interesse

der Menschh eit ist es daher erforderlich, daß der Kellnerals wichtiger erzieherischer Faktor von keinerlei unmanierlichen Angewohnheiten beha ftet sei . In den bu rgerlichen

Gasthäusern und Massenbetrieben zweiten Ranges läßt dieBedienung

,d . h . die Person des Ke llners, viel zu wünschen

übrig . Dort sieht man viel von der vorhin erwähnten Reinlichkeit und wunderbare Vorstellungen von ]ongleur u nd

Balancierku nststückchen mit Schusseln und Platten . DerGast des bürgerlichen Hauses legt nicht viel Bedeutung der

guten Bedienung bei . Er erhebt keinen Anspruch au f

stä ndiges Service . Sehr mit Unrecht . Ge rade dort solltendie Gäste und die Leitung des Hauses darauf dringen : geradedort so llten sich die Kellner der besten Leistungen befleißigen,

um zu zeigen, daß nicht die orchideengeschmückten Säulen

hallen mit der rauschenden Musik al leiniges Anrecht au f

menschenwürdige Manieren haben .

Wir müssen die Schwierigkeiten des K ellnerberufes beru cksichtigen,

wie wir persönl iche ekelhafte Manieren verdarnmen müssen . W ir dürfen den Kellner nicht bei einem

94

u nglu cklichen Zufal l schmähen : wir dürfen keine D ienereivon ihm verlangen . Denn für das Service

,wie auch für

alles gibt es schließlich eine Grenze . Manche Menschenwürden allerd ings sich am allerliebsten wie Sä uglinge fütternlassen

,sich ihr Essen von ihrem K ellner vorkauen lassen ,

wenn dies halbwegs zum guten Ton gehorte . Selbst amköniglich preußischen Hofe scheint in bezug au f Servicemanches mangelhaft zu sein . W as ? S ie

_glau ben das n icht ?Freilich

,ich habe noch nicht die Ehre gehabt

,zu r könig

lichen Tafel geladen gewesen zu sein,aber wenn 1ch etwas

behaupte,so habe ich . meistens glau bwu rdige Belege dafür .

Sie erinnern sich doch, Herr Dokto r, des berühmten Bildesvon Menzel

,das die H ofbal lszene oder so etwas Ähnliches

darstellt . Nun wohl . Nicht nu r vom künstlerischenStandpu nkt au s ist das Bild interessant, sondern auch voma llgemein menschlichem. Wer sich dieses Ballsouper sagenwir mit den Augen e1nes Kellners betrachtet, wird allerhand fur das Service höchst bemerkenswerte Dinge entdecken .

In den l ichtstrahlenden Sälen des Schlosses wimmelt es vonhohen u nd hochsten Herrschaften . Es ist Tanzpause

,und

jeder holt sich seine Ra tion von dem Bu fett im Hintergrunde . Dasselbe ist nicht sichtbar

,so sehr ist es von

Menschen umlagert . Die hohen Herrschaften müssen sichalle selber bedienen . M an sieht es an ihren H altungen undGesichtern . Jawohl

,. gnädige Frau, auch eine ganze Menge

hoher Damen in prachtvollen “ Kleidern,deren Mannigfaltigß

keit u nd Farbenfeinheit das Herz eines jedenDamenschneidersentzu cken Denken Sie sich ! Und jede hat e inen Tellermit Speisen au f ihrem Schoß ! Und nicht einmal eine Serviett

’ebei der Hand ! I st ‚das nicht shoeking l ? Die herrlichenToiletten laufen große » Gefahr

,befleckt zu werden . W as

me1nen Sie ? Vergessen ? N ein, ich glau be nicht, :daß Ado lfMenzel so leicht ,

etwas fvergißt .f Die Kaval iere selbst”müssen

Kellner spielen u nd sich um ihre Damen bemühen, ihnenWein und S peisen -

_reichen u nd die gebrauchten T eller

/

‚ab

nehmen . Im Vordergrunde l1nks, wenn ich mich gu t erinnere,steht eine Gruppe -

von drei Herren, ein „Hofprediger, ein

General und ein Diplomat . Der Diplomat nimmt eine höchst

M angel an gu tem Service in der Ballszene ein wenig ubertrieben hat .Um seiner internationalen Ku ndschaft entgegenkommen

zu können,werden von unserem Kellner gute Sprachkennt

nisse als eine S elbstverständlichkeit vorau sgesetzt . Überallverlangt man

, daß er wenigstens der drei Hauptsprach'

enmächtig ist . Beherrscht er diese

,so gehört die ganze W elt

ihm . Wohin er au ch kommen mag, überall‘

wird er Stellungfinden . Ein gu ter Kellner begnu gt sich nicht damit, wenner in fremden Sprachen etwas radebrech

'

em oder sich miteinigen Phrasen verständlich machen kann . D ie meistenkönnen sich daher mit ihren Gästen au s fremden Ländernsehr geläufig unterhalten

,einzelne beherrschen verschiedene

Sprachen durch viele Übung in ganz ausg 'ezeichneter‘ W eise .

Der junge K ellner,nachdem er au sgelem t hat, versäumt

keine Zeit,ins Ausland zu gehen und sich die nötigen Sprach

kenntnisse zu erwerben . Das ist natürlich meistens die einzige,

aber auch die beste Methode,die ihm zu Gebote steht . Einige

grammatika lische Vorkenntnisse wirken allerdings gewöhnlichWund er . Aber man erlernt die Sprache auch ohne Lehrer,wenn man muß . Karl Schurz, der große Deutsch-Amerikaner

,erzählt in seinen Memoiren sehr lehrreich

,wie er

,der

Flüchtling mit Familie,am

,ohne Freunde

,ohne ein W ort

Englisch zu können,in Amerika landete

,seinen Lebens

unterhalt erwerben mußte und sich ohne Lehrer seine erstau nl iche Meisterschaft der englischen Sprache aneignete .Er brachte es damit bis zu m General und Staatsmann undwar einer der besten u nd beliebtesten Redner in der engl ischen Sprache . Das ganze Geheimnis der Schu rzsc

'

hen

Methode war,daß er eifrig Zeitungen las und kein einziges

Wo rt entwischen ließ,dessen Sinn ihm unbekannt war . E r

schlug b eharrlich in seinem “Wörterbuch nach,bis er es

gefunden u nd verstanden hatte .

W enn wir von dem sprechen,das unser Kellner kennen

und w issen muß, so darf ich Sitten und Gebräuche nicht ver

gessen: Fu r einen Menschen, der mit den Herren allerLänder und deren Untertanen zusammenkommt, gleichviel,in .welcher Stellung oder Lebenslage

,ist es wertvoll

, ja

97

oft unbedingt notwendig,daß er die betreffenden Sitten

und Gebräuche dieser Menschen kennt, wenn er mit ihnenerfolgreich geschäftlich oder gesellschaftlich verkehren wi ll .Was ist Heimweh ? Nur die Wirkung einer Veränderung

der Sitten . Was ist das Geheimnis des Erfolges oder desUnterganges so vieler Menschen in der Fremde, im A u sl ande ?Doch nu r die Fäh igkeit oder Unfähigkeit, die betreffendeSprache möglichst geläufig zu handhaben und vor allem sichin das Wesen der neuen Umgebung hineinzu arbeitm und es

zu studieren . Sprache, Ausdrücke, Phrasen,Manieren, Sitten,die in Berlin vielleicht als Etikette und Eleganz bewundertwerd en

,sind zum Beispiel in Paris unverstanden

,wirkungslos

,

ja oft geradezu verhaßt und beleidigend . W as man inLondon tut

,denkt

,spricht

,ißt

,für smart hält , gil t viel leicht

in Rom nicht . Wenn ich als Deutscher zum Beispiel einehöfliche Phrase, ein Kompliment in englisch oder französischausdrüc‘kte, wie ich es mir in Deutsch denke, so würde ichGefahr laufen

,mich unsterblich zu blamieren . Dah er wundert

sich mancher,daß er im A u slande kein Gluck hat und verhaßt

ist oder belächelt wird . In Europa erkundige ich mi ch höflich beim Herrn Gemah l nach dem Befinden der gnädigenFrau . Ein vornehmer Orientale, der noch E u ropens übertünchte H ofl ichkeit nicht kannte

,wo llte mich einmal für

eine derartige Frechheit -

_

schinden lassen . In Deutschlandesse ich zum Fru héti ick gekochte Eier au s der Schale

,in

Amerika lasse ich mir die Eier vom Kellner aufbrechen undin einem W asserglase zubereiten . Sowohl in Europa wieauch in Amerika halte ich sehr viel darauf, daß die Eier, diemir vorgesetzt werden, moglichst jung sind . A ls ich Chinabereiste und Gast eines hohen Würdenträgers war

,mußte

ich Eier, die schon zwei Jahre alt waren, zu den größtenDelikatessen rechnen

,um nicht meinen Gastgeber zu . be

leidigen ! Wenn ich die Ehre habe,gnädiges Fräu lein

,Sie

au f einer deutschen Großstadtstraße zu begleiten, so”lasse

ich S1e nicht gerne zu meiner Linken gehen . W ürden wirdagegen zusammen au f der Fünften Avenue in New Yorkprome

'

nieren, so wurde ich stets an der Außenseite des

Trottoirs auf dem Rinnstein hin und her balancieren müssen,

P a u l Ve h l i n g, D ie Moral des Hotels . 7

u m Sie mit meinem Korper gegen den Schmutz u nd * die

Gefah ren des Verkehrs zu decken . So gibt es in allen Ländernzahllose ungeschrieben

'

e Gesetze der Lebensweise u nd des

Umgangs mit Menschen . Die Unkenntnis derselben schütztwie bei den geschriebenen nicht vor S trafe . Ein kleiner

Verstoß dagegen kann oft viele direkte oder indirekte böseFolgen nach sich ziehen . Denn es ist unglaublich, wie fein .

fühlig selbst oder gerade die dickhäutigsten Menschen inbezu g a ihre Sitten und Gebräuche sind und wie leicht sie

sich darin kränken lassen . Unser Kellner weiß Bescheid . Erb ringt dem Amerikaner einen Tee löffel mit der Orange,ohne aufgefordert zu werden . E r schenkt ihm das frostigeEiswasser ein, das er mir nicht anzu bieten wagt . Er weiß;daß ich Trauben

,Äpfel

,Ananas

,Nüsse und andere köst

liche F ruchte gerne genieße,wie sie gewachsen sind . Seinem

Gaste aus dem Yankeelande mischt er stillschweigend dieseDinge mit Essig und Öl und Pfeffer und Salz an . Er findet .

nichts komisch,nichts fremd

,nichts lächerlich . Er ist ge

schmeidig,u nd nach der einfachen Regel der Höflichkeit

paßt er sich den Dingen an, wie sie sind . UnserKellner redet seine Gäste mit dem ihnen gebührenden Titelan . Er weiß meistens sehr genau, die richtige Anrede zu

gebrauchen . Von exotischen und zivilisierten Majestäten u nd

Hoheiten herab bis zu den ganz gewöhnlichen Baronen u nd

Exzellenz'

en u nd Räten . Der Go thaer Almanach und die

Rangliste sind ihm ein Vademekum und H andpostil le .

Natürlich,das ist sein Geschä ft ! Er tituliert seine Leute

,

wie ein Stiefelwichser Schuhe schmiert . Je mehr, je besser .Unser Kellner

ist auch mit allen Tagesereignissen au f

dem laufenden . Er ist ein eifriger Zeitungsleser,er kennt

die Schönheiten und Sehenswürdigkeiten seiner Stadt,die

Vergnügungen u nd Thea ter usw . , und kann in dieser Hinsichtseinen Gästen j ede gewünschte Auskunft erteilen . Ja, me ineFreunde

,könnte ich Sie nur davon überzeugen

,daß ein gu ter

Kellner ungefähr alles wissen muß . Seine Gäste verlangen'

es .

Je mehr Fragen er beantworten kann, um so besser ist’s für

ihn . Er wird niemals au f eine Frage sagen „ich weiß“

esnicht“

er wird niemals eine Bitte abschlagen, sondern sich vorher

100

irgendeinem anderen Grunde irgend etwas intoniert,das

auf d em zierlichen Kä rtchen nicht verzeichnet ist,so werden

vielleicht viele Gäst e, die gerade die nächste Nummer alsihr Leib und Mägenstück sehnsüchtig erwartet hatten, plötzlich bei ihrem Hummer oder

'

was sie sonst gerade vor sichhaben

,anhalten

,die Ohren spitzen

,enttäuscht aufsc‘hauen

,

sich denMund mit der Serviette wi schen u nd sich fragendoder indigniert umschauen . Und wenn sich ein Gast au f dieseWeise umschaut

,so wird sein Kellner sofort und mit ver

bindlichemLächeln herantreten und sich nach der Ursacheder plötzlichen Störung erkundigen . Denken wir uns nurin eine solche Lage hinein . Die Situation ist kritisch . I chhatte Ihnen vielleicht erst kurz zuvor alle Feinheiten deserwarteten Stückes erlau tert, es war vielleicht zu fällig dasBravourstück unseres vorzüglichen Kapellm eisters

,wir waren

alle gespannt u nd auf den Genuß vorbereitet da sieht mansich plötzlich durch die Hinterlist der Umstände im

' Stichgelassen . Noch schlimmer wird es

,wenn zu fällig niemand

von uns das u nenVartete Stück kennt, wenn jeder in hellsterVerzweiflung

au f der Suche nach dem Titel beim bestenW illen

'

„ gerade nicht da rauf komm en“

kann . W as ja hin u nd

wieder vorkommt, obgleich jeder Wohlerzogene Mensch so vielKonzerte und Opern besucht haben muß

,d aß er nötigenfalls

die H ä u ptar1en wenigstens mit den Lippen zu flöten imstandeist . In einem solchen Dilemma,wo mich mein Gedächtnishintergeht

,würde ich im Interesse der Kunst keinen Augen

blick zögern,d ie Kenntnisse u nd Dienste des hilfsbereiten

Kellners in Anspruch zu nehmen . Und der allwissende u nd

al lriechende junge Mann wird mir sofort bescheiden, u nau f

fällig u nd diskret mitteilen können, was ich wissen will .Sie glauben

,er müßte sich wohl zuerst beim Kapellmeister

erkundigen ? O nein ! I ch wollte wirklich,ich könnte

unseren Kellner nur einma l auf die Probe stellen . Denn,

sehen Sie,er hat nicht immer Zeit

,sich seinen W eg durch

das himm lische Gedränge entschuldigend,schlängelnd zu

bahnen und den Kapellmeister oben auf dem Balkon zukonsultieren . Und wehe

,wenn er die gewu nschte Auskunft

au s Unwissenheit ablehnen müßte ! Der Oberkellner würde

sehr bald zu horen bekommen, daß seine Leute ungebildete,rohe M enschen seien . Ich wette, daß unser Kellner sogardie allerneuesten Schlager kenn t . Das tu t jeder

,meinen

Sie ? Ich glaube dagegen, daß nur die allerwenigsten

Menschen diese Produkte kennen . Denn wenn ich sage

„kennt“

,dann meine ich

,daß er sie durch und durch kennt

,

daß er au s dem Schlager“ heraus hört,wie die M issa e ines

Palestrinas verstu mmelt und zerhackt wird,daß er au s dem

Gesch'

metter und Gezirpe vernirnmt,wie das‚Tempo eines

Largos bis zu r Unkenntlichkeit beschleunigt und mit Benzinnervosität durchsetzt wurde

,damit daraus all die bewunderns

werten Dinge entstehen;die sich so großer Beliebtheit er

freuen,die jeder überall summ t

,pfeift und brummt, wenn er

nicht gerade an Verdau u nsstöru ngen leidet u nd sich so dankdiesen Störungen ein stillschweigendes Verdienst um die

Menschheit erwirbt .Da große und kleine Oper

,alte u nd moderne Musik,

Schlager“ und Gebete von Jungfrauen“, „Ave Marien“

u nd„Lustige Witwen

“ wie ein buntes Schal l ragou t in tönender Fülle das A rbeitslokal des Kellners durchwogen, so isteine Fähigkeit zur Unterscheidung von guten u nd schlechtenSchallwellen im Interesse seiner Selbsterhaltung und geistigerGesundheit erforderlich . Und dafür sorgt der Kellner

,wenn

er existieren will . Ah,das kommt ja wie gerufen !

Sehen Sie,hier au f dern - P rogramm ist ein Adagio in F-moll

von,Schumann angesagt ! W as spielt aber das Orchester

soeben ? I ch werde den Kellner fragen er weiß es !

Kellner,können Sie mir sagen

,was da eben gespielt

wird ? Aha, ganz richtig . Aus Peleas und Melisande . I ch

danke Ihnen .

Haben Sie gehort ? ‚W as sagte ich ? ! Der Mensch istein wandelndes K onvemationslexikm l

IV

Sie haben also au f Ihrer Ari1erikareise beobachtet, wiedie verschiedensten Nationen der Erde politisch u nd so zialverhältnismäßig einträchtig zusammen leben können . M an

braucht aber doch gar nicht so weit zu laufen, um diesein‘ ter

nationale Harmonie zwischen vernünftigen,friedlichen

Menschen betrachten zu können . Sehen Sie sich hier nu rum . Welch ein sonderbares Gemisch von Menschen . Wiesolidarisch arbeiten diese internationaleri Kellner nebeneinander ! Da gibt

"

es keine Reibereien wegen der Nationalitätoder Politik . Ra ssenfragen komm en hier nicht in Betracht .Haben Sie schon jemals die Schar der internationalen Jünglinge a u f ihre Nationalität hin geprüft ? Nicht ? Demruhigen, aufmerksamen Beobachter müßtenfl abei doch allerhand ernste Gedanken aufkommen . I ch habe oft darüberhä chgeforséht

'

und gefunden,daß Deutschland bei we item

das größte Kontingent an Jünglingen stellt, die als Kellnerin die Welt hinau swandem u nd schließlich ihre Heimat ganzu nd gar in der laüWarfnen, farblose-ri

,kosmopo litischen Püree

verlieren u nd vergessen . Dann folgen vielleicht Österreich,

I talien,Frankreich und Skandinavien mit

entsprechenderAnzahl . Es ist b emerkenswert

,daß man den stolzen Briten

sehr Selten als K el lner ‘

antrifft . Selbst in se1ner Heimat nicht .Sein Nachbar

,der I re

,tritt inder Rolle als Ganymed schön

etwas häufiger au f, aber diesen I nselbewohnem geht“

jedesbesondere Talent fu r die gewandte Kunst der Kellnerei ab .

Ein geborener Amerikaner,

ein waschechter,vollblütiger

,

freier Yankee ist als Kellner im großen ganzen einfach u n

denkbar. Was geht nun daraus hervor ? Können Sie

nicht ganz charakteristische Züge der einzelnen Nationendaraus erkennen ? Sie beliebten einmal zu sagen, daß die

104

was fu r ein Mensch sich au s ihm durch“

seine eigenartigeTätigkeit entwickelt . Zu sehen, wie sein Inneres beschaffen1st, w1e es darin aussieht, was wir daraus lernen können oderwas interessant für u ns ist . Das Dasein bedenkt unsern ju ngenFreund mit sehr wenig guten Gaben

,aber dafür schenkt es

ihm e1ne se1ner besten : W elt und M enschehkenntnis .„Es

'

schenkt“ ist etwas optimistisch . I ch Sollte sagen : das Daseinprügelt

ihm diese “Kenntnis ein . _ Immer und immer wieder wirddas Leben dem Unwissenden m it schweren Streichen die

jenige W eisheit einbleu en, die es von ihm verlangt . AberamEnde ist es doch ein wunderbares Geschenk ! Ob derMensch nu n weise dadurch geworden ist

,oder ob er sich als

ein Vernichteter,‘

als ein töricht Grollender,als ein Ankläger

des Lebens in die Dunkelheit Zurüc’kziehen muß,ist

.einerlei .

Das" schöne Geschenk bleibt .So ist ein guter Kellner schon in jungen Jahren oft ein

vollendeter Menschenkenner . Es ist das Feingefühl und dieDiskretion selber . Denn das große Leben führt ihn unterdie Menschen . Er hat sie zu behandeln wie der Knecht seineViehh erden

,wie der

'

Schmied sein Eisen,er hat sich mit den

Menschen abzu finden wie der Bergrnanri mit gi ftigen Gasenund schlageriden Wettern, wie der Soldat mit pfeifendenKugeln . Die sorgende Natur rüstet ihre Geschöpfe je nachden Verhä ltnissen aus . Raubtiere u nd Raubvögel haben gelernt

,selbst bei Nacht ihre Augen zu gebrauchen . Tiefseetiere

in ewiger M eeresdu nkelheit sind mit natürlichen Laternenausgerüstet . Das W ild

,zu m Schutz gegen den Jäger

,hat

einen wunderbaren Spu r5 1nn erworben . Früher war das

anders . Als die Menschen noch nicht so zah lreich waren unddem Wilde mit

weittragenden W affen nachstellten, waren dieTiere”dumm

,zahm

,vertraulich . Die alten Leute im W esten

vonAmerika können davon noch manches S tücklein erzählen .

Die Tiere der‘

Präri

e fürchteten anfangs die unbekanntenMenschen nicht, die in ihre friedliche Heimat eindrangen,

bis sie merkten, daß die bösen Eindringlinge Schießgewehre .

hatten . D ie Indianer, die den Kolumbus begrüßten, warenfreu ndlich ,

bis sie die Herren Spanier kennen lernten. A ls

die Indianer in der Gegend von Boston vor .drei Jahrh'

u nderten'

den ersten Besuch aus Europa erhielten, traten sie bereitwilligst‘ ihr Land an

die Eindringlinge ab, da sie glaubten,daß die Hutten und Felder, die sich die Puritaner bauten,Eigentum eines jeden Menschen und der ganzen Gemeindeseien . Sie konnten daher gar nicht begreifen, daß die frommenBleichgesichter die fraglichen Häuser und Grundstücke ganzfür sich allein in Anspruch nahmen . So mußten die schlichten,

biederen Rothäute mit ihren unvergleichlich schönen kommu nistischen Ideen die Erkenntnis von der Habgier und denRechtsbegriffen der bleichen Puritaner erst löffelweise hinu nterschl u cken und endlich gar im Namen der Zivilisationlangsam

,Mann für Mann

,vor den frommen Leuten mit

den dicken Bibeln u nd Flinten zurückweichen, wobei esnatürlich M ordbrennen,

Blut u nd zerschundene Köpfe dieMenge gab .

So paßt sich also jedes Ding und Wesen den obwaltendenVerhältnissen an oder es weicht . Es ist sonderbar, zubeobachten

,daß Geschöpfe mit ausgeprägt individu ellen

Charakteren . sich schlecht anpassen und lieber we ichen . Dermoderne Mensch aber scheint dies nicht zu tun . Er beugt sichgern . So entwickelt sich auch das Gemüt des Kellners vomK inderzu stand auf in das, was ihm zu seiner Verteidigung,zu seinem Vorteil und zur Selbsterhaltu ng am geeignetstenerscheint . Dieser Vorgang ist ohne Zweifel ein großer Kampf .Die Kenntnis der — f eindlichen Situation, der Stärke undSchwäche ist be1 einem Kampfe die Hauptsache . Und darumkennt der Kellner seine Menschen . Von dieser Kenntni shän

'

gt seine ganze Existenz ab . D a er aber früh als Knabeund meistens ohne Anleitung in den großen W irrwarr gestoßen wi rd, wo der Andrang der Ereignisse und Anblickeso stark ist, daß es des Mutes eines erfahrenen Mannesbedarf, um die Lage zu erkennen, das Gute daraus zu sondernund zu verwerten

,so n immt der Entwicklungsgang ‚unseres

jungen Freundes selten'

den richtigen Lauf . M an kann.

leidersagen, daß er sich in den meisten

“Fällen total verirrt, weiles an der Anleitung und Belehrung fehlt

, ‚und die Erkenntniskommt meistens erst zu spät .Daher kommt es

,daß bei den Schwächeren der Grund

06

zu g des Charakters hündische Furcht und . d ienerisc‘hesKriechen vo r dem R eichtum ; u nd dem äußerlichen Glanze ist,was ihnen gerechterweise di e Vetachtu ng ihrer Mitmenscheneinbringt und dem ganzen Stande

'

1mberechenbaren Schadenzufügt . Anderen dienen zu r Erreichung ihrer Zwecke, zu rErhaltung ihres Daseins

,listige

,kleinliche Unehrlichkeiten;

al l'

elrhand abgefeimte Schliche u nd Wege,die ein gesunder

M ensch verab scheu en muß . Z ufällig bietet auch noch ihrBeruf zu derartigem Treiben unendlich - viel Gelegenheiten .

Bet wieder anderen,zwar ehrlichen

,selbstbewußten, aber

beschränkten Naturen wird ein aufrührerisches Element u ndheimlicher H aß gegen den Reichtum geweckt und gefördert

,

bis . sie schließlich total ihres Berufes überdrüssig werdenund ihr Leben als ein verfehltes betrachten . Und so geht esweiter . In allen Nuancen und Schattierungen . E in jedernimmt mehr oder weniger Untugend en

,I rrtümer

,Erlebnisse

,

Erinnerungen,Eindrücke au s seiner großen, tobenden Um

gebung in seinem jungen Herzen au f u nd wird sein Lebtaglang daran zu schleppen haben . Nicht jeder besitzt die Kraft,sich wieder zu erheben

,na chdem ihm das Leben die Augen

geöffnet und ihm hohnlachend ins Angesicht geschlagen hat,als

'

es seine Ju gendhoffnu ngen vernichtete . Er kann zsichnicht mehr losreißen, er kann . nicht mehr von vorn beginnen

,

er ist e in Sklave der Zeit geworden .

«Und gebrochen schleichter sich dahin

,siech

,

'

zertreten,er schämt . sich der W unden,

die ihm geschlagen wu rden, er su cht sie zu verbergen,er

gebärdet s ich wie ein feiges Tier . Er ist ein Anblick derVerachtung für alle

,die ihn nicht kennen .

Gewiß, Sie .

haben recht,es lst se1ne e1gene Schuld

,wenn

ein Mensch zu grunde geht . Aber . haben wir, seine Umgebung

,nichts damit zu ‚tu n ? Tr agen wir nicht einen Teil

der .Schuld ? S ie glauben nicht, daß die .Umgebung hiereinen b esonderen Einfluß au f. _das Gemu t eines jungen Men

schen ha t ? Und hier geht ja alles so gesitt-et u nd fein zu !

Doch w1r wollen eine Stichprobe machen . I ch greife ganzwillkürlich i n d as volle Speisesaa l leben hinein . Sie müssenverzeihen

,wenn ich bei dem Impromptu - Inventar nicht die

richtige Reihenfolge einhalten kann . Sehen Sie nur ! Sie

108

der Rokokozeit, welche s ich mit Vorliebe als sanfte Schaferinnen kleideten . Die Menschen

,die sich Gesellschaft

nennen, sind klein im Großen, aber groß u n Kleinen, barbarisch im Feingefühl

,ästhetisch im Vandalismus . Sie sind

Künstler der Bagatelle, Priesterinnen des Firlefanz, Anbeterdes Trivialen

,Koryphäen der Kleinigkeit . Sie schatzen ihre

Mitmenschen,sie verachten sie . Sie sind körperlich gesund

oder krank,seelisch frisch oder matt . Sie sind mit allem

zufrieden,oder es ist ihnen nichts gut genug

Greifen Sie nur hinein,und Sie werden verstehen

,was

ich sagen will ! Greifen Sie nur ! Glänzende Hallen sinnverwirrendes Stimmengemisch himmlisches GedrangeSeide u n-d Gold z

_irpende

, gi rrende Geigen weiche,

flötende Stimmen hoffärtiges Gelächter schluch'zendeKlarinetten ohrenbetäubendes Gesumme süßes

,geheim

nisvo lles Kichern L o rgnetten Programme offenes,

volles Lachen Elektrizität Tellergeklapper durre u ndgemästete Körper W agnerakkorde Menus brummende Männerstimmen hastiges Geflu ster flehende

,

weinende Cellos Lackschuhe Silberrasseln goldeneZwicker Banknoten Gläserklang K ellnerschweiß

Monokels duftende Haare H u mmergeru ch MähnenNeurastheniker Ro sen Kleingeld warme

, parfü

mierte Fiau enléiber Fräcke T abaksdu nst raschelndeSeidenröcke Weinaroma Haa re, gewachsen au f Köpfchen j unger Bau erndim en,

zu hohen Preisen erstanden,mit

D iamantenkammen zu samme11gehalten Küch'

enatmosphä re

italienische Melodien Palmen zierliche Füßchengemästete Seelen Orchideen Hochstapler Menschengerüche jeder Art Glatzköpfe schwammige Busen

,mit

Brillanten bedeckt junge Manner, stolz mit und ohneGrund frech blitzende Broschen Wilde Augen fettesWohlbehagen bekrönte Mon-

ogramme junge, fescheWeiber mit Schlangenleibern leere Augen SchwindlerSchmunzeln Nelken herrliche Waden Künstliche s

u nd Echtes korpulente alte Dam en,schnaufend und

pustend wo l lu stige ,Augen Kauwerkzeuge in Aktion

Piüschses sel Königinnen welke, kalte Finger auf

09

dringliches, raffiniertes Parfum Perlen Opemman tel

kühne,alles dominierende Blicke selbstbewußte Falten

hemden blöd e Augen himgrige Ungeduld Tugend,

fertig und nach Maß gemacht Schecks K u nstler

herrliche,weiße Schultern Fürsten sanft schimmernde

Perlenschnüre Sto iker müde,to te Augen Protzen

echte und unechte L ockenfu lle zappelnde Schlottérgreßemit pergamentenen Gesichtern brennende Augen fette,ro te

, £wo llüstige Tatzen echte und unechte Adelige

Spitzen,vor etlichen Jahrhunderten gekloppel t, früheres Eigen

tum verarmter Prinzessinnen heiße Augen wohlbeleibteBonvivants mit krebsroten gedunsenen Gesichtern, feistenGenicken

,in die der weiße

,enge Kragen tief einschneidet

Rechnungen,Addi tionen nu r Additionen suchende

Au gen L ikörgeru ch Diebe Klarinetten Flücheschlanke; weiße, edle Hande keinen Gott

,nur Nippes

götzen Bonbons kecke,feste Brüstchen Trinkgeld

Pracht Au fwand —'Armut Lüge Geiz Wider

spruch Licht Verschwendung Angst 4 SchattenHohn das eherne

,unbewegliche Gesicht des Lebens

sta rre Augen ganz fernes dämonisches GelächterKinderstimmen Hoffnung Frühling und durch dasGanze hetzt der K ontrabaß : Schrumm ! schrumm ! schrumm !

Was ist die Summe ?Stumm

,schvvit

zend,h astend, beso rgt, gehetzt . drangt sich

unser Mann durch das Gewühl . Manch nagender Ärger,

manche gott lose Verwünschung gegen sich und andere werdenhinuntergewürgt . Und alles bestürmt u nd beladet seinenjungen Geist . Es verwirrt

,entmannt

,vem ich

'

tet alle u rsprüngliche Frische . Die Stimme für die Urne des Lebens wirdverlangt, aber die Kraft des Urteils wird gebrochen . DerStimmzettel flattert blank

,wertlos

,leer in die D unkelheit

hinein .

In einigen Tagen,Herr Professo r

,wird ein Bekannter

von mir, ein Komm erzienrat, hier eintref‘fen . E r hat sich

soeben angemeldet . Ja, ein äußerst intelligenter Mensch,ein fortschrittlicher Großindustrieller . Es wird mir ein‚Ver

gnügen sein, Sie mit dem ,Herrn bekannt zu machen . W ie

,

Sie gedenken so fru h schon' abzureisen ? Das k ommt“1a wirklich ganz unerwartet .

I ch fürchte doch nicht, d eiß etwas Schlimmes vorgefallenist . So

,Sie haben nu r Ihren Plan geändert . Nun

,jeden

falls bedauere ich unendlich, Ihre werte „ Tischgesellschaftverlieren “

zu mussen . Unsere unterhal tenden Gesprächehm

Ja ,nicht wahr, gnadige Frau, Sie hatten gar nicht geglaubt,

daß man so viel von den Kellnern erzäh len kann . Und wieinteressant das alles ist ! So erwerben sich diese Menschenim Laufe der Jahre einen ungeheuren Scharfblick

,eine un

heimliche,geradezu gefährliche Menschenkenntnis von

unserem Standpunkt au s gesprochen . D enn es kann u ns dochnicht ganz einerlei sein, was ein anderer über u ns ‘ denkt

,

selbst wenn er ein Kellner ist . K onnen Sie sich aber in dieGedankenwelt u nseres jungen Mannes wirklich hineinleben ?Oh

,es i st sehr leicht

,ihn zu schmähen

,wenn wir mit

se1nen Diensten Wirklich einmal u nzufrieden sein dürfen . Der

beständige Anblick des Reichtums und der Verschwendungmuß ganz notwendigerweis e einen gerechten Haß und Zornin dem Herzen des Armen gegen Sein Schicksal aufwühlenund hat einen entschiedenen Einfluß au f seine Denku ngsart .Er

,der Pro le tarier im Frack

,hat immerwä -bre

nd das qualvolleBild in Wirklichkeit vor seinen Augen

,das den sChreierischen

,

struppigen Feinden des Reich tums nur als eine Utopie vorschwebt

,da ihnen die parfümgeschwangerte Atmosphäre eines

luxuriösen Hauses vollständig fern liegt und sie dieselbe nichtbeurteil en können ; Weil sie dieselben nicht kennen, schreiensie . Anders aber der Kellner . Denn das Leben ist gerechtergegen ihn.

'

Die unbarmherzigen, grausamen Kontras te seinesDaseins mögen wohl manchmal die Flammen des Nei-desund des Ha sses wecken und schüren, aber gerade

- in solchenhosen Augenblicken kommt ihm das Leben zu Hilfe . Herrliche

,mannigfaltige E rfah

ru‘

ngen i lassen ihn dann tiefe Blickehinter die Szenerie des i Gla'

nzes u nd des Reichtums tun und

bringen eine wu nde rbare Reaktion in seinem Herzen hervor .

Er sieht alsdann, daß Glanz u nd Reichtum nicht das Glückder “Menschen bedingen

,u nd daß die

,die sie nicht besitzen,

aufgenommen wird,so kann er sich zum allerwenigsten sehr

geschmeichelt fühlen,wenn er nicht gar eine Art vonGlücks

gefühl empfindet,Menschen um sich zu haben

,die sich in so

großem Maße fur seine Person interessieren und dieselbenicht vergessen

,nachdem sie für ihr Interesse bezahlt wurden .

Er wird darin ein Zeichen aufrichtiger Dankbarkeit erblicken,das seine eigene Dankbarkeit herausfordert . Sind jedoch dieMotive seines Kommens unlautere, so wird der Gast vor demihnerkennenden u nd durchschauenden schä rfen Auge Grauenempfinden u nd sich andere Gefilde für sein fragwürdigesLeben u nd Treiben suchen .

I st es nicht unheimlich,so durchschaut zu werden ?

Doch w1r,wir guten Menschen haben nichts zu fürchten .

Immerhin aber ist es ein erhebendes Gefühl, zu wissen,daß

unsere Zeitgenossen eine förmliche Jagd au f uns machen . Daß

unsere friedlichen,ahnungslosen Gemüter immerwä hr-end be

lauert sind . Sie können nicht verstehen, wie u nd warumdie ‘ Leute eine solch-e infame Wissenschaft betreiben

, wer

s ie dazu nötigt ? Ei,wir selber

,wir

,die Gaste . In

keinem Geschäfte,an keinem Orte

,zu keiner Gelegenheit

lassen die M enschen ihre Charaktere,ihre Gutmütigkeit,

ihre Verhältnisse,ihre Laster

,ihr-en Hochmu t

,ihre Dummheit

,

ihre Stupidität,ihre niederste Gemeinheit

,ja alle ihre ge

heimsten Gedanken,ihr tiefstes Innere so zu tage treten

,wie

an der Tafel wie beim Wein . Die Alten hingen nicht umsonst bei einem Gastmahl die Rosen über ihre Häupter .I ch sagte Ihnen bereits

,daß der Genießende im Akte des

Genusses eine Art von selbstsüchtiger Bestie ist,für die keine

Umgebung mehr existiert . Er vergißt alles rings u m ‘

sich her,

sieht,fühlt u nd genießt nu r sich allein . W enn die Menschen

noch den » Mut besä ßen,sich ihre Schwächen au s freien

Stücken gegenseitig anzuvertrauen . Dann wäre das Verhä ltnis zueinander noch ein relativ würdiges und zu entschu ldigendes . Aber sie sind nicht vertrauend ! Im Gegenteil ! Und wenn sie sich preisgeb -en

,wenn sie sich bloß

legen,so ist das e ine unverantwortliche

,tierische

,erniedri

gende Faulheit der Seele . Das ist alles . Es ist eine bel eidigende, unverzeihliche Voraussetzung ihrerseits, gleich

1 13

artige Wesen vor sich zu haben,eine unbewußte Nivel lieru ng

anderer Gemüter herab zur eigenen Niedrigkeit . Der A u s

bund aller brutalen Roheit ist natürlich dasj enige Individuum,

welches die sklavenhafte Stellung anderer wissentlich benutzt,um absolute Unterwerfung unter seine eigenen Gewohnheitenzu fordern . Von diesen Mino tauren will ich gar nicht reden .

Jawohl,gnädige Frau ! Mit einer rührenden Unvors

ichtigkeit nein

,ekelhaften Selbstverständlichkeit geben sich die

Menschen preis . Mit einer rücksichtslosen Frechheit erwartenwir von einem wildfremden Menschen daß er uns bedient,daß er u nsere Eigenheiten kennt, daß er sich u nseren Fehlernund Bequem lichkeiten anschließen, ihnen schmeicheln undsich dam it zu frieden geben so ll . Wir sehen in ihm nicht dendurch Reibung mit allerhand Menschen geschliffenen W eltmann

,den feinfühlenden Lebenskünstler ; wir erwarten nu r

gute Bedienung von ihm . Nichts mehr und nichts weniger .Vol

f

lkommen gerecht ! Nach juristischen Begriffen,wohl

verstanden . Indessen, wir werden wie gesagt bestraft .Wir können nicht verhindern

,daß der kluge

,ruhige Mensch

unsere Ahnungslosigkeit durchschaut, u nd wir fallen dadurch

,daß wir u ns ihm so rücksichtslos preisgebe-n

,ganz

unter seine Gewalt . Er ist zwar unser Kellner,wir aber sind

seine Unterworfenen .

Die wirkliche Gefahr lauert immer da am ersten,wo wir

sie am wenigsten vermuten . Denn sonst wäre sie eine schlechteGefahr . Nur in ganz lichten Momenten warnt uns ein vonWiderspruch gedämpfter Aufschrei aus der untersten Tiefeder Seele

,treibt beschä mend das Blut in die Wangen

,und wir

ahnen dumpf,daß etwas nicht ganz richtig ist . Gewöhnlich

aber schwimmen wir Sorglos, frohlich und munter im dunklenMeer unseres Unbewu ßtseins umher . Es ist doch eigentlichgeradezu jämmerlich

,von einem wildfremden Menschen

,

hinter dem wir gar nichts vermuten, schmählich durchschautzu werden . Wenn wir wüßten

,was

die Leute,die uns be

dienen, unwillkürlich von u ns denken und mit Recht vonuns denken so wurde jeder Appetit vergehen,

so hä ttenwir keine freudige Stunde mehr . “L akaien und Diener sindgewöhnlich verkappte

,harmlose Anarchisten

,wenn sie nicht

P au l Veh l ing‚D ie Moral des Hotels. 8

1 14

gerade ihren Beru f verfehlt haben, cl . h . wenn sie nichtwissen

,daß sie solche sind

. Jeder „treue Diener hat als

Mensch seinen Beru f gänzlich verfehlt . Er kann nichts alsein Idiot sein . Es gibt daher keine treuen

“ Diener . DasGebiet ist u -nerforschlich tief . W ir müssen unser Bestesdaraus machen . Unsere Ahnungslosigkeit ist einesteilsunser Glück . W ie könnten wir noch fröhlich unser gu tesDiner genießen

,wenn wir wüßten

, was hinter u nserm Rückenvorgeht !Wenn zwei astronomische Welten zusammenkommen,

so gibt es ein Unglück . Wenn zwei wirkliche Menschenzu sammenkommen

,gleichfalls . Wir sind als Geschöpfe so

entsetzlich isoliert,daß eigentlich jeder Versuch zur inner

lichen Annäherung an einen anderen Menschen aus einergrenzenlosen

,weichtierartigen Naivität zu stammen scheint .

Nur hie u nd da in den gottvollen lichten Momentchen

vernehmen wir etwas von uns selber und somit zu gleich d asherzzerreiß

°

ende Schluchzen einer anderen,fremden

,ebenso

einsamen Welt,und beide stehen wir da

,sehnsüchtig, hilflos,

ohnmächtig,uns selber überlassen . Doch wie gesagt

das sind Gott sei Dank nu r Momente . Und sehr selteneobendrein . Aber aus di esem u nd keinem anderen Gru ndemüssen wir unsere Mitmenschen achten u nd ihre Existenzanerkennen .

Gu glielnio Ferrero sagt an einer Stelle ganz großart ig

„Es ist kein Zufall oder die unerk

_

lärliche Kapriceeiniger al ter Schriftsteller

, daß wir so viele kleine Angaben uber die Entwicklung des Luxus und die Verände

rung der Lebensweise im alten Rom besitzen,daß zum

Beispiel zwischen den Beschreibungen der großen Kriege,

der diploma tischen Errungenschaften,der po litischen u nd

ökonomischen Katastrophen uns das D atum angegebenwird, wann die Kunst des Geflügelmä stens in Italien ein

geführt wu rde . Diese kleinen Tatsachen sind der Majestätder röm ischen Geschi chte nicht so unwürdig

, wie mananfangs annehmen möchte . Alles ist in dem großen Dasein einer . Nation vereinigt, nichts ist ohne Wichtigkeit .Die kleinste, persönlichste Handlung - tief verborgen in der

wu rfigkeit heuchelten ? W enn das der Fall ware, so mußteder mildtätige Bonifaz

'

und seine freundliche Familie dasverächtlichste Geschlecht au f Erden sein . Aber dem ist nichtso .

"

Sie sind auch nu r Menschen wie wir . Die au ßerordent

lichen Schwierigkeiten des Services,die Ansprüche

,die wir

stellen,die Geräuschlosigkeit

,mit der alles hergehen soll,

die Vorsicht,mit der man zu W erke gehen muß, das alles

wirkt sehr au f das Wesen ein, das alles macht ihn schüchtem ,

zurückhaltend,das alles gibt seiner Person den Anschein

eines Zauderers,verwandelt ihn in den Mann der Uneu t

schlossenh eit, ein Bild, das jeder verachten muß, der es

nicht kennt . . Alle diese v ielen kleinen äußeren Umständemachen den Menschen

zu einem feinfühligen Wesen . Nichtnur als solches furchtet der Kel lner einen Fauxpas oder eineB lamage über alles, sondern ein kleines Unglück kann ihmauch oft seine Stelle kosten . Es ist wunderbar, zu beobachten,wie die Wirte oft die Existenz eines Angestellten opfern

,um

eine kleine,gemeine Laune eines Gastes zu . befriedigen .

Sol lten Sie nicht ängstlich werden, wenn Ihr Dasein durchjede kleine Kleinigkeit gefährdet ist ? Wer wird wohl denkürzeren ziehen bei einem jämmerlichen

,lächerlichen Disput

zwischen Gas t u nd Kellner ? Die meisten Kellner und Wirtehaben noch nicht gelernt

,den Forderu ngen ihrer Kundschaft

entgegenzukommen und entgegenzutreten . Daher ist es Tatsache

,daß eine D ien

'

eféee le als Kellner ziemlich erfolgreichsein kann, während ein halbwegs selbstbewu ßter junge-r

Mann die größten Qualen auszustehen hat . Eine D ienerseeleschnüffelt sich au f ganz bewu ndem swerte Weise instinktivseine verv

vandten Kreaturen aus der großen M enge herau s .Sie wittern ein schleimiges Verhältnis und sind zu haben .

Sie'

sagen mit Freuden ja . W ir sollen von unserem KellnerkeineD ienerei verlangen . Wir erniedrigen u ns dadurch selber .Ein wirkliche

'

r Mensch duldet keine Herrschaft,keine Autorität

über sich und keine Dienerei unter sich . Hier wi rd dieLebensku nst unseres jungen Mannes besonders erprobt . Undwenn der selbstbewu ßte Kellner wie es sich für jedenMenschen schickt sein R ößlein ein wenig im Zaum'hä ltund den Stolz nicht mit der Vernunft durchgehen läßt, so

1 17

u bertrifft er an geschä ftlichen Leistungen, an T u chtigkeit

und Erfolg jede D ienerseele bei weitem .

Das meiste Unglück auf der W elt wird bekanntlichdurch die Tatsache angerichtet, daß jeder Mensch seinereigenen Person viel zu viel W ichtigkeit zuschreibt, wie bescheiden er selbst sein mag . Bescheidenheit ist nichts als

eine vornehme Art von Wichtigtuerei . Mit etwas’

S elbstverachtung aber und Hochachtung vor anderen kommt man

erstaunlich weit . D as weiß der gute Kellner besser wiewir alle .

Ja, meine Freunde, Sie glauben nicht, wie mitleidig und

feinfühlig ein guter Kellner ist . Auf den ersten Blick merkter

,wie Sie aufgelegt sind

,und empfiehlt Ihnen je nach Ihrer

Gemütserregung die nötigen Speisen, den erforderlichen Trostin Form eines Getränkes . Er besitzt das Auge eines Arztes .

j a, noch mehr tut er . Er nimmt Anteil an Ihrem Leide, anIhrer Freude

,ohne daß dieses M itgefu hl direkt au f seine

T rinkgeldabsichten zurückzuführen ist . Es ist der gute Geistder alten Gastfreundschaft, der in den Leuten weiterlebt .

“Es ist des Kellners Natur,sich dem Gaste anzupassen

, wie

sich der Dichter dem Volke anpassen muß, wenn er zu ihmsprechen will . Einem Börsenmakler sieht der freundliche,lächelnde Ganymed die Haussen und Baissen an der Naseab . Nach einigem Zögern versucht er dann vorsichtig daraufanzuspielen und "

nö tigenfalls zu gratulieren oder seinenSchmerz auszudrucken . Ein Kellner vermag den größtenM u tzkopf und Bru mmbar zu trösten, wenn dieser nicht geradeein unheilbarer Hypochonder ist, in dem das letzte FünkchenLiebe für die schöne Erde und für Humor erloschen ist .Als Belohnung für eine solche Wohltat gibt der Börsianerhäufig seinem liebenswürdigen Ganymed einen

„Tip

,einen

guten Rat in bezug au f die Börsengeheimnisse, woraufhinder Kellner nicht selten mit einer kleinen Einlage gu t ab

schneidet .Dem Kellner ist es ein wahres Vergnu gen,

einem freu ndlichen, wohlgesinnten Gaste au fmwarten,

u nd wer als solchereine Unterhal tu ng wünscht oder sucht, wird u n Kellner eineninteressanten Causeur finden

,wenn es die Zeit gestattet . E in

1 18

gu ter Kellner wird nie die Unterhaltung au s eigener Initiat ivesu chen . Sein Taktgefühl und die einfachsten Regeln derHöflichkeit sagen ihm auch genau

,wie weit eine Konversation

gehen kann. H öflichkeit ist gerade das Gegenteil vonD ienerei.Wer einem unbekannten Menschen höflich begegnet,. h atdemselberi gegenüber immer etwas voraus . Sch

mierige Vertraulichkeit mit unbekannten oder wenig b ekannten Menschenist ungefähr das W iderl ichs te, was sich ein feinfühliger Menschdenken kann

,u nd sie entstamrrit nur einer tierischen Bor

niertheit . Wer solchen Pass ionen nachhängt, mu ß oft sehrerniedrigende E rfahrungen machen . Das alles sieht undweiß der Kellner besser wie wir alle

,denn er lernt es unter

dem größen1Gewiihl der Menschen .

In einzelnen Fällen wächst da s Verhaltn is zw1schen Gastund Kellner auch zu einer schönen Familiaritä t und Freundschaft heran . Reiche

,vo rnehme Leute

,vielleicht alt u nd

kinderlos,gewinnen oft ein wirkliches Vertrauen zu einem

jungen,frischen Menschen

,besonders wenn sich dieser in

freier,schöner Weise ihrer annimmt . und im Interesse des

Hauses und seinem eigenen den Aufenthalt der Gäste genußreich zu gestalten versucht . Mag das Leben und die Lageder Gä ste no ch so beneidenswert 'aussehen

,es hat immer

seine großen und kleinen Häkchen,die das Dasein versauern:

Und gerade solche Leute empfinden etwas ihnen Zugefügtes,das sie

,streng genommen

,nicht fordern können und worauf

sie keinen Anspruch haben, al s eine angenehme Überraschu ng

und wissen es zu würd igen . Warum sollte unter solchenUmständen nicht ein wirklich kordiales Verhaltnis zw15 chen

H och und Gering aufkeimen können ?Aber unser modernes Leben, unsere ge schäftlichen An

sichten ersticken do ch in den meisten Fallen jede schönereRegu ng in den Herzen der Menschen . Und das größteM erkmal im Verkehr der Menschen untereinander ist nichtdas W ohlwol len,9 die Güte und die Liebe, es ist auch nichtdie Gerrieinheit

,die Sklaverei

,der H aß oder die Sucht

,sich

gegenseitig zu schädigen, nein, es ist nur eines : die Gleich

gültigkeit, die Indifferenz Sie ist wirklich aus dem Trubelu nseres modernen Erwerbslebens geboren und ist die nieders te

1 2 0

nicht ganz wirku ngs und spurlos an dem leeren Gehirnvofüberstreift, so so ll er die notwendige Lektion

grüridlicli

erteilen .

‘Wenige,aber kräftige Worte und nu r Wahrhei t

,

das g enu gt schon . Bei . einem d erartigen Renkontre solltej eder Prinzipal, der nur e in klein wenig auf sich sein Hausund seine Leute hält

,den Angestellten unterstützen . Er wird

dabei die Meinung eines jeden rechtlich denkenden Mannesau f seiner Seite haben . Wird dem Angestellten Unterstützungverweigert

,so ist es Pflicht seiner Kollegen

,solidarisch

aufzu treten . Universelle Organisation und tatkräftiger R echtsbeistand kämen dann sehr zur Geltung . Dies bezieht sichnatürlich au f Fälle

,wo die Person oder die Ehre des Kellners

beleidigt wird . Bei gewöhnlichen geschäftlichen Differenzenzwischen Gast und Kellner entledigt sich der letztere derSache am einfachsten

,indem er sie demVorgesetzten über

gibt und nicht eigenmachtig handelt .Man sollte daher sagen

,meine Freunde

,daß

,wenn ein

Kellner oder irgendein anderer Mensch irgendeines_

Berufesein Menschenkenner

,ein tüchtiger Fachmann

,ein beschei

dener,höflicher Mann der Welt

,ein angenehmer Gesell

schafter ist,u nd wenn er das Gefu hl der Pflicht

,der Ver

antwortlichkeit und Zugehörigkeit zur menschlichen Gesellschaft in seiner Brust trägt

,

“so würde er sich damit selbst di eH ochachtung der gemeinsten seiner Mitmenschen erzwingen .

Aber unserm Kellner wird dies schwer,sehr

,sehr schwer

-

.gema cht Und so sehen Sie ein,daß ein Mann in einer

derartigen Stellung einer wirklich großen Philosophie bedarf,um stark zu bleiben sich aufrecht zu erhalten und nicht unterzu geb en . Wem aber ist die Philosophie gegeben ? In jedemneuen Menschen

,der u ns entgegentritt

,

‘ begegnen wir einerneuen kleinen Welt

,auf welche unsere vorherigen E rfahru rigen

nu r wenig,oft gar keine Anwendung findet . Zu r Erkenntnis

.solcher Wahrheiten,die u ns über alles Unheil der Erde hin

wegzutragen vermogen, gehort ein gutes, geübtes Auge, dasfrei von den K leinl ichkeiten der Umgebung weit hinausschaut . Dieses Auge besitzen nur wenige . Indessen die meistenwerden von der Notwendigkeit hinweggeschwemmt u nd lassensich tragen . Doch

'

das Leben versagt ihnen nie seine Hilfe

1 2 1

ganz . So werden sie vorsichtig,feinfühlig

,gewitzigt

,forschen

,

strecken die Fühler au s ins Dunkle und sind au f der Hut .Die Verirrungen und Verwirrungen unserer Zivilisation verlangen dies . Sie bilden uns zu Diplomaten und Politikernheran . Diplomaten sind Leute

,die in den schwierigsten

Stellungen des Geistes und des Körpers D inge verrichtenkönnen

,die j eder aufrecht stehende Mensch in natürlicher

Lage ebensogut und noch besser ausführen kann .

D as

Menschengeschlecht hat wirklich noch nicht die Kunststückchen seiner Vorfah ren in den Lianen des Urwaldes verlernt .

j a, es scheint, daß ,j e mehr die Zivilisation fortschreitet

,um

so mehr wir deren wieder bedu rfen,d . h . ‚daß wir zu ru ck

schreiten . Der beste Beweis dafür ist die Entwicklung desmodernen Kellners . I st es nicht geradezu bewu ndem swürdig,

wie er sich durch die Schlinggewächse unserer Zivilisationhindu rchschl ä ngelt ? Als pure Natu rerscheinu ng genommen,für den Forscher freilich hat es wenig Reiz

,weil verständlich .

Wie alles andere,wenn man mit den Ge setzen der E ntwick«

lung vertraut ist .Es ist bemerkenswert

,daß der Kellner ein sehr moder

ner Arbeiter trotz seiner Stellung zum Kapitalismus eherzum ganz achtbaren Phi losophen u nd sozialen Trapezkünstlerals zu m Sozialdemokraten heranwachst . Bedenkt er

,daß die“

glücklichen,fremden Menschen

,denen er so nahe tritt, an

seinem Unglück nicht dir ekt schuld sind ? Läßt er es ihnenau s diesem Grunde nicht fühl en ? Nimmt er darum keinedrohende Haltung an ? Welch formidablen Feind hätte dieGesellschaft ni cht in ihm ? ! Doch sein Wesen ist stetsohne gefährliche Hintergedanken gleich freundlich . SeineZüge versteinern sich so allmählich zu einem stereo typenLächeln

,einemtraurigen Gemisch von Entsagung, geschickter

Verstellungskunst,verhohlenem Leid und obligatorischer

Heuchelei ein Ausdruck,von der Zeit ins Antlitz . das

Großstadtmenschen gegraben,der ihm mit in den Tod

folgt .

Apropos, Herr Doktor, ich glaube auch nicht, daß der

Kellner ein großer T heaterschwä rmer ist . Wieso ? Nun,nach all dem

, was ‚er tagtäglich und nachtnachtlich zu sehen

bekommt und anhoren mu ß ,durften die Handlungen au f den

Brettern,die die Welt bedeuten

,meistens doch recht fade

und vérlogen erscheinen .

Kellner,ich nehme meinen Kaffee im

Nein,:n u r für mich a llein meine Gäste haben sich ‚empfohlen .

Wer ist dort ? Ein Herr,der “ mich eben begrüßen will !

Seine .Karte ! Zeigen Sic h er . Woh'

nt der H err auch imHotel ? Ah

,heute angekommeri . Natürlich ! Sagen Sie ihm

,

ich sei mit dem größten Vergnu gén bereit .Marcus Tottenham W ootslebu ry, 1 5 Regent Street .

Mein Schneider au s London ! W as mag er im S childe führen !Ich bin ihm doch nichts mehr schuldig !Ah ! . H ow do you do

,Mr . Wootslebu ry .

9 ! So, Siehaben mich im Speisesaal gesehen und bis zum Schluß

des

Diners gewartet,um mir guten T ag zu sagen ? D as ist aber

liebenswürdig von Ihnen ! Stören ? Bewahre ! MeineGäste batten’s eilig . Sie wollten noch ins Theater . Ganz u nzeremonielles Abendessen

,wissen Sie . Nehmen Sie auch

Kaffee ? Wie,keine Fine Champagne ? Aber doch’ eine

Perfecto ? j a, danke, mit der letzten Garderobe b in ichsehr . zufrieden . Alles sitzt wunderbar . Und was ‚gibt

s

sonst N eues zu sehen au f Regent Street und Bond Street ?So, einige revolutionäre Abänderungen am Morning Coat !Das ist ja ungeheuer wichtig ! ja , ja, aber sagen Sie

'mir !I st denn das wirklich wahr ? . Seit vorvorgestern trägt man dieFalten der Beinkleider an der Seite ! Ich konnte es nicht fürmöglich halten

,als ich das K abeltelegramm erhielt ! Hier

ist es noch nicht eingeführt . Die Leute sind hinter der Zeitzurück : Welch ein Glück

,daß ich Sie treffe

,mein

lieber

Mr . W ootslebu ry ! Da muß ich doch gleich meinen Valetinstruieren . Hm

,ja

,herrlicher Abend heute . Schönes

W etter überhaupt die ganze Zeit .Müde ? j a,

ich bin etwas mude . I ch habe einen a n

strengenden T ag gehabt . Schon um elf Uhr früh au fgestan

den, Bad genommen, anziehen lassen,Lu nch im Klub, zu r

Rezeption bei der Mrs . Van der Gold Augustus Cracker jackanziehen lassen

,. zum Polo anziehen lassen u nd zu m Dine r

Blum en,Palmen

, Marmor, Musik, Lichter, anständige, feineKellner

,das alles muß dazu beitragen .

Man braucht aber doch wirklich gar kein . sensitiverSinnenmensch‚zu sein, um sich von dem zweifelhaften Äußerneines in unsere Nähe kommenden

„Menschen abgestoßen zu

fühlen . j a, nicht wahr ! j ed es irgendwie“ “ verdächtig aus

sehende Individuum erweckt eine gewisse Unruhe u nd Un;behaglichkeit in der Brust seiner Mitmenschen . Dies unangenehme Gefu hl kann je nach dem Grade der Empfindlichke iteinerseits und den Umständen und na ch der Beschaffenheitdes Äußern andererseits bis zu r Unerträglichkeit gesteigertwerden . Einen so lchen Fal l hatte ich zweifellos vor mir . Derbetreffende Gas t konnte sich nicht einmal mit dem Gesichte

seines Kellners abfinden . Gegen seine Kleidung hätte keinMensch etv

vas anhaben konnen,denn ich .

\

verkehre in keinen'

H au serri , wo etwas D erartiges'

stattfinden könnte . Sie sehen,

für den Gast war das Aussehen des Mannes nu r eine Augenblicksfrage, fu r den Kellner eine Lebensfrage . Aber in einemSpeisesaa l gehört ein derartig gespanntes Verhältnis zwischenzwei Menschen in verschiedenen Lebensstellu ngen tatsäch

lich nicht zu den Freuden des Daseins . Daher wu rde derKellner entlassen . Denn gerade hier, wenn das Verhä ltnisnicht makellos harmonisch ist, d .

‘h . wenn der Gas t denKellner nicht gerne sieht

,so kann es von verderb licher

Wirkung sein . Der Gast verliert gewohnl ich seinen H u nger,das Haus Einkünfte u nd der unangenehme Kellner seineStellung .

ja ,Mr . W ootslebu ry, es ist etwas E igenart1ges, daß die

Gäste von möglichst disting mert aussehenden Leuten aufgewartet sein wollen . Warum ? I ch denke mir die Sachefo lgendermaßen . j e besser und intelligenter em Mensch ist,der uns vollständig zur Verfügu ng steht

,um so besser und

intelligenter müssen wir u ns doch wohl selber fühlen . N ichtwahr ? H ähä h l Ganz richtig ! Man entdeckt au f einmal Werte 111 5 1ch

,die uns selber .

b is dato unbekannt wä ren .

D as sind höchst angenehme Gefühle . Und als Gratiszu gabenzu einem guten Essen sind sie höchst willkommen, der Verdau

_u ng äußerst förderlich . Nein

,das haben wir nicht "erst

herausgefunden . Das wußte man schon zu den altesten Zeiten .

Warum mußten denn bei d en großen Essen im Mittelalterdie Herren Reichsfürsten die Majestät höchst eigenhändigservieren ? Vom Lakai au f dem Bock schließt man docherst au f den Herrn in dem Wagen . An der Uniform erkenntman doch erst den Geschmack der L eu te, nicht wahr ?Und au f dem geistigen Gebiete ist’s genau so . Die mei stenHerrscher zogen doch nu r ihre zeitgenössischen Geistes undandere Größen an ihre Hofe heran, um sich selber mit denBlüten der Nation zu garnieren

,da sie die Leere ihres eigenen

Das eins dumpf empfand en . In gan z vereinzelten Fallen, wokeine Selbstverherrlichung das Motiv ist

,sich mit großen

Geistern zu umgeben,'wuchsen die Beziehungen zwischen

Fürst und Protegé zu inniger Freundschaft au s . Sonst aberist dasVerhä ltnis ein unerquickliches . Protzentum,

Heuchelei,

Kriecherei u nd sonstige Unanhehm l ichkeiten . Haben Siejemals das Leben des Herrn Geheimrats Goethe gelesen

,

Mr . W ootslebu ry ?

Es ist eine schwierige Aufgabe fu r den Kellner,als

eleganter Mensch aufzu treten, ohne jedoch den Gästen ahn

lich zu sehen,zumal er auch noch aus gewissen anderen prak

tischen Gründen j uwelen,Uhrketten

,Ringe

,die auf allzu

deftigen Wohlstand des Eigentümers schließen lassen könnten,

sowie andere Distinktionen des Gentlemans unsichtbar tragenmuß . Man soll die M ensche n nicht unnötigerweise aufreizen .

Gerade aber,weil die » Kellner genötigt sind

,in einfacher

Eleganz aufzutreten,hat man sie immer u nd immer wieder

mit Kavalieren verwechselt . Viele praktische Wirte ziehensich nun aus dem Dilemma

,indem sie ihren Leuten ein paar

goldene K nopfe an den Frack annähen . Aber glaub en Sienicht, daß dies das Aussehen des Kellners zu sehr beeintrachtigt ? Es erinnert doch zu sehr an die Uniform . j a, sehenSie ! Unifo rm ohne Schnurrbart und Waffen ! W as ist dasfür eine Kombination ! Warum man den jungen Leutennicht gestattet, Schnu rrbarte zu tragen ? j a, das ist auchnoch ein Rätsel von den vielen im Leben des Kellners . Gehört das glatte Gesicht zur Unifo rm ? Soll der Mann jüngererscheinen ? W ill man durch Verbannung des Zeichens männ

1 2 6

licher Wurde das Selbstbewußtsein demu tigen oder heben ?Ich weiß es nicht . Der Kellner soll keine wohlriechmiden

Parfüms g ebrauchen, noch soll er .. sein Haupthaar salben

,

und wie er dennoch als zivilisierter Mensch erscheinen kann,

ist - mir gleichfalls rätselhaft . Sein Frack mit oder ohneGoldknöpfe ist das interessanteste Kleidungss tück

,da s

ich'

kenne. Nu r halte ich es etwas zu malerisch u nd daher zuunpraktisch

,um darin täglich Fußreisen von dreißig bis

vierzig Kilometern zu machen . Wieso ? Nun,wenn wir

bei einem anständigen Diner mit dem H orsd’

oeu vre anfangenund mit dem Nachtisch aufhören

,so wird unser Mann in

zwischen so oft hin u nd her,treppauf und treppab in die

Küche,Keller und u beral l hin Laufschritt gemacht haben

,

daß sich daraus eine gute Strecke zusammensetzt . H at ermehrere Partien zu befriedigen

,die sich alle zahlreichen ver

schiedenen Genüssen hingehen,so zieht sich sein W eg ziemlich

in die Länge . Bei einem starken Verkehr u nd zu allen Mahlzeiten des Tages wächst es ins Unglaubliche . Nein

,daran

läßt sich nichts verbessern . Er wird immer seine Stiegenu nd. Strecken zu laufen haben

,er wird seine Kilometer zu

Fuß machen mussen,denn es ist für ihn notwendig

,sich mi t

dem Koch persönlich in Verbindung zu setzen,die fertigen

Sachen eigenhändig in Empfang zu nehmen . Wenn seineKüche nun noch etwas weit vom Speisesaal entfernt liegt, wasau s vielen Gründen gewöhnlich der Fall ist, u nd wenn seinGedachtnis etwas unzuverlässig ist

,so entwickelt sich au s

dem Kellner ein Dauerläufer,der manchen M arathonrenner

beschämen könnte . Denken Sie sich, Mr . W ootslebu ry, dieseEntweihung des Frackes l Der Frack

,der Inbegriff aller

Eleganz,der einfache

,schöne

,geschmeidige Rock des

Gentleman ! D as Symbol der lässigen Ruhe ! W as wird au s

ihm,wenn der Sturm des Lebens hin-du rchsau st

,wenn die

Schoße ratlos u nd verzweifelt im Winde flattern ! DerK ellnerfrack

,nein

,das ist nichts ! D as Mal erische

,Derbe

,

U rkrä ftige, T r-otzige, das dem blauen Kittel des rußigen

Arbeiters anhaftet,fehlt der Kleidung des Kellners eines

modernen Arbeiters leider gänzlich . H at der Kellner nichtdie Berechtigung

,auch zu denjenigen Menschen gezählt zu

V .

„B u siness is Bu siness“

Es liegt etwas sehr Schones in dem Gedanken,den

Menschen Heime u nd Unterkunft zu bereiten,ihnen Speise

und Trank zu reichen .

Aber dann kommt das Geschaft . Wirklich, ich habe langeau f den Augenblick gewartet, um mit einem hervorragendenGeschä ftsmann ein Wörtchen über Geschäft zu sprechen undseine Ansichten zu horen . Darum ist unsere heu tige

K on

versation auch so interessant für mich . Natürlich,ich

verstehe Ihren Standpunkt als Großindustrieller'

vollkommen .

Sie müssen mir aber erlauben,daß ich vom menschlichen

Gesichtspunkt aus, auf dem ich stehe, mancherlei gegenmoderne Geschäftsmethoden einzuwenden habe . Das sinddie Widersprüche

,aus denen unser Dasein zusammengesetzt

ist . Aber e i n Zug tritt schon hervo r : wir alle versuchenunser Bestes

,und gleich stark in uns allen wühlt der Drang

nach Tätigkeit u nd. Arbeit, gleichviel, wie oder ob derselbezum Ausbru

'

ch kommt . Er ist da . Ob als Künstler,als

Geleh rter,als Kaufmann oder Handwerker

,jeder tut, was in

seinen Kräften steht,jeder ist gleich stolz auf seine“ Arbeit

von seinem Standpunkt au s . Und mit Recht . Aber jedesGeschäft oder Arbeit od er Kunst wie man will

,ist

eine A rt K leinigkeitskramerei . Ein Geschaftsmann,em

Künstler,ein Staatsmann

, ja schließlich j eder Mensch, welcherKleinigkeiten übersicht oder ignoriert

,wird dafür bestraft

in manchen Fällen ruiniert . Kleinigkeiten scheinen die Weltu nd da s große Leben au szumachen

,so lächerliche s klingt .

"

Goethe mußte sich al s Staatsminister um lederne Gendarmeriehosen u nd allerhand sonstigen Kram bekümmern . Und ertat es . Oft sogar mit wirklichem Vergnügen . Er, der Olympier !

1 2 9

Dann ist das Geschäft als solches aber auch etwas mehr,es ist ganz Unerbittlichkeit . So u nerbitterl ich wie jede fortlaufende Handlung, wie ein Drama, wie das Ticktack derUhr

, das ein Endziel, einen Abschluß hat . Sonst ist es keinGeschäft .

W as sagen Sie aber nun zu einem modernen R iesenhotel ,Sie

,der Inhaber von großen Industrien, von ausgedehnten

Geschäften ? I ch meine von Ihrem,vom geschäftlichen Stand

punkt aus . I st das moderne R iesenhotel nicht eine ganzgroßartige I ndustrie ? Und sonderbar ! So interessant undweitverzweigt das Hotelwesen als Ge schä ft ist, so miserabelist der W irt als Geschäftsmann . Wieso ? Ei, seineT ä tigkeit, sein Geschäft bringt dies selber mit sich . Und einschlechter Geschä ftsmann ist gewöhnl ich auch ein schl echterPrinzipal und A rbeitsgeber . Auch dies bestä tigt sich beimWirt . Ja, Sie haben sich vielleicht noch nicht genu gendfür die geschäftliche Seite der Hotelindustrie interessiert,und darum klingt Ihnen meine Behauptung neu und fremd .

Aber sie beruh t auf Tatsache . Gewiß, ich weiß, im Sinnedes b ürgerlichen Gesetzbuche s ist der Wirt ein Kau fmann .

Aber ‚darauf gebe ich nichts, gar nichts . I ch beku mmere

mich‚nicht um leere Phrasen und Namen . Nun wohl ! I chhabe Ihnen gesagt, daß etwas mehr Schones in dem Ge

danken liege, den der Wirt aufgreift und zu se inem Ge schäftmacht

,Nicht jedg

'

af G ésöhä ftsmann kann behaupten,daß

er durch seinen Beruf den Mitmenschen W ohltaten u nd

Freude b ereiten kann . Und gewiß hat kein Geschäft einenmehr ideal en Hintergrund, als das des W irtes ;Ein .W irt

,der nichts mehr wäre als ein strikter Ge

schäftsmann, müßte eine abschreckende Gestalt für se1neKundschaft sein . W enigstens für seine moderne, so anspru chsvo lle Kundschaft . Daher ist der Wirt mehr Menschals Geschäftsmann . Schlechte K aufleute sind oft sehr guteMenschen . Bitte

,ich weiß, was Sie sagen wollen ! I ch will

gewiß nicht behaupten,daß alle gewiegten Geschäfts

'

männerschlechte Menschen und alle geschäftlichen S tümp

-er gutemenschliche Exemplare seien . Es gibt Mittelwege . Abertrotzdem ! I ch glaube nicht an Gefühl, an Edelmut, an

P au l Ve h l i n g , D ie Moral des Hotels .

F'

reig1eb igkeit i bei einem geschäftlichen \Vo rgangfl Das

menschliche H erz“hat keine Stimme i n der.

Geschäftswelt ;E delrriu t lä ßt

'

sich'

rnit unserem kommerziellen L eben noch?

nicht ver einbaren . Es ist das Privilegium des Schönen, lachenlich zu werden

,wenn der Alltag spricht .

D er W irt ist sich seiner zwiefachen Stellung sehr wohlu nd schmerzlich bewußt . Sagen' Sie ihm,

daß sein Geschäft

genau das gleiche sei, was jedes andere Geschäft ist, so wirder freudig '

zustimmen . W enn man ihm“

aber‘

sagt, daß er

und seine Angestellten deshalb genau so “ auftreten sollten, .

wie es andere Geschäftsleu te tun, so wird die freudige M ieriever

'

schwinden und eine besorgt an ihre Stelle treten. E r

wird sagen, daß d ies unmögl ich sei . Er wird Ihnen eine ganzeReihe von Gründen hierfür angeben, u nd doch keinen einzigen,der stich

_

haltig u nd gr'

eifbar wäre . Nein,nein

,er kann den

Gäs ten gegenüber nicht so auftreten,’

wie es andere Ge

schäftsl eu te ihren Kunden gegenüber tu n .„ D as ist nu n

einmal so u nd nicht anders . D er Wirt wird Ihn en sagen,

daß er höflicher,zuvorkommend er

,nachsichtiger, freigiebiger,

williger, fügsamer Sein mu ß als irgendein anderer Geschäftsrhann, daß er sogar nötigenfalls sich bücken u nd

”Kratzfüße

machenmuß . D ie Gä s‘

te“

vérlahgän d ies nu n einmal so,h dieKonkurrenz ist

nun einma l so groß usw . D er arme Menschwird sich vo r Quä len winden und drehen,

aber keine richtigeLösung seiner eigenartigen Situation finden können

I ch kenne kaum einen Betrieb,dem mehr Gefahren von

innen und. Von au ßén drohen, Wie. der Hotelindustrie. Uh'

günst iges"

_

W et'

ter‘

und Verkehr sstörungen'

k önnen großenSchaden anrichten . Eine Epidemie, ja ein einziger Tode sfalloder eine ansteckende Krankheit können den Bet rieb voll?

ständig l ährnen. Selbstmorde, Skandale gehören nicht zu

nommeeéunermeßlichen Schaden beigefu gt“

werden . Schwindler , Hochstapler, Gauner, Dieb -e treiben hierihr Unwesen. Infolge der großen Haftpflicht

det Wirtedroht eine bestä r

'

1'

di'

ge Gefahr in Prozessendas Eigentum u nd die SiChérhei

wackeliger Karossen u nd K aleschen selbst bis in die modernsten Hotels verschleppt . Den Geist

,der die Hotelindu strie

als Geschä ft bedrückt, konnte ich „nur um ihn gan z genauzu definieren Postku tschcngcist

“ nennen . Und wie einevererbte Krankheit oder Angewohnheit schleicht er sich durchdie ganze große Familie des mild tätigen Bonifaz hindurch ,

So angemessen,gemütlich

und zutraulich dieser liebe altePostkütschcngcß t vor fünfzig oder hundert j ahren noch ge e

wesen sein mag, die heutige Zeit hat keinen Gebrauch mehrfür ihn. Das Dröhnen der stählernen Räder und Schienen

,

das gewaltige Fauchen der Lokomotiven,das dumpfe Stampfen

der Schiffsmaschinen haben ihn,den Alten

,vertrieben .

"

W ir bedauern dies unend lich . Wir betrau ern ihn, wie'

wir

uns über das Ableben eines alten Urgroßvaters oder Großonkels grämen, dessen Erbe wir, die j ungen, die Lebenden,antreten . Aber dann schnell in die E rde mit ihm !Gott hab ’ ihn selig ! Und zurück ins Leben ! Zeit istGeld !

„ Und in u nserer Zeit lautet der Kriegsr'u f

„B u siness is Bu siness!

D er moderne Hotelier wird alles,alles aufbieten

,seinen

reisenden Gästen Schutz, Obdach, Sicherheit, gutes Essen,gu tes Trinken, freundliche Bedienung zu geben . Er wird sein

Haus so bequem,so luxuriös

,so behaglich und vollkommen

ausstatten, wie es in seiner Macht steht . j a, wie gesagter wird däs M enschcnu nmöglichc versuchen : er wird denmuden Reisenden so aufnehmen, daß dieser unter dem Dachedes Ho tels sein eigenes zu rückgclassenes Heim vergißt . Gelingt dies j emals einem Ho telier, so ist er ein Künstler

,ein

großer"

Wohltäter der Menschheit,der stolz auf sein - Leb ens

werk se1n kann .

Es ist j edoch e1ne Tatsache,daß das moderne Hotel

das Heim der Menschen langsam verdrä ngt. BeachtenSie nur

, W i e die Hoteliers dies u nbewu ßt ahnen . Oder solltendie hosen Menschen es wirklich schon wissen ! j edenfallsaber, um den Übergang möglichst sanft zu gestal ten,

'

u m die

b ittet e P ille, die die Menschheit schlucken werdcn'

mu ß,süß

z'

u ina chen,preisen sie ihre Häuser instinktiv o der init

teu flisch schlauer Berechnung als Heime “

an. Siemachen

die verzweifel tsten Anstrengungen, sie sparen keine Mittel,ihre Lokale einem Heime ähnlich zu machen .

Aber ich bezweifle, ob es jemals einem Hotelier bishergelungen ist

,d em Reisenden das ferne Heim zu ersetzen .

Denn das Ho tel ist und bleibt doch immer ein Geschä ftshaus,

Und es kann doch auch nu r als solches betrachtet undbetrieben werden . Nach unseren bisherigen Begriffen war

das Heim aber kein Geschäftshaus,sondern e1ne Art Heilig

tum, eine geweihte Stätte . Der moderne Hotelier sollte dies

bedenken, und wenn er rechnen kann, wird er es bedenken .

Er würde sich dann auch nicht aufreiben au f der Suche nachetwas Unerreichbarem, nach dem E rsatz des Heims, sonderner würde dann nur danach trachten

,sein Haus zu einem

wirklichen Geschäftshaus zu ges talten .

Eine sehr traurige,trostlose Bo tschaft fu r das liebe

Publikum ! Der eine Hotelier,um sie ihm offen zu verkünden

,

müßte ein viel größerer Heros sein als alle seine heimebauenden Ko llegen zu sammengenornmen . Aber da das liebePublikum nur immer seine eigenen Interessen im Auge hat

,

und da die Hotels zur Selbsterhaltung auch bald anfangenmüssen

,das gleiche zu tun

,so wird wohl jemand unter ihnen die

Bo tschaft in nächster Zeit öffentlich verkünden müssen . Aberes braucht keine Kriegserklä rung zu sein . M an kann

'

es zum

sanften Appell an die Vernunft des lieben Publikums machen .

Der Hotelier wird heu temoch eingestehen müssen; daß er

seinen Gästen kein wirkliches Heim bieten kann, sondernnur ein vorübergehendes Obdach gegen Bezahlung . W as

man Geschäft nennt Damm soll das Publikum aucheigentlich nicht mit Millionen unsinniger Forderungen u nd

Erwartungen kommen und au s dem Ärmsten einen Neu rastheniket machen . Wenn dies geschieht

, s o ist es ni chts als diegerechte Strafe für die eigentlich geradezu unglaubliche Gemütsroheit

, ein Geschäftslokal als heimähnlich oder heimersetzend anzupreisen . Mögen die Hoteliers durch K on

ku rrenz zu solch waghalsigem Tun angetrieben werden,es

ist u nverzeihlich, roh, noch verfrüht . Das moderne Hotelkann in sich selbst eine kleine Stadt sein, es kann ein KunstMusik T heaterpalas t sein ein Heim nach unseren Be

griffen I st es noch nicht . Fu r unsere Enkel vielleicht; wer

weiß ? Freilich,freilich

,

es gibt heute schon genügendMenschen, Hotels zu ihhsfltsort machen und jahraus und jahre1

'

n darinnen‘

veg'

etieren.

Aber es gibt auch Menschen, denen der Begriff „H eirfi

fremd ist . Es gibt Menschen, deren Leben so entsetzlich öde,inhaltslos u nd leer ist

,deren Inneres so verwüstet ist

,daß

sie allerhand künstlicher Und mechariischer'Mittel bedürfen

,

um sich über ihre H erzensöde hinwegzutrösten . Doch dieseMenschen kommen für uns nicht in Betracht . Frauenallerdings

,Herr Kommerzienr

'

at, ach,

die Frau en,sage ich

Ihnen,so weit sie angefangen haben, die Krise der Umwand

lung,die Metamorpho se des H eim

'

s Zu erkennen sie begrüßendie neue Ä

'

1‘a mit einer frenetischen Begeisterung .

hu h ! da kommen unsere Damen gerade aus dem Gartensollten wir nicht lieber ein anderes 'Thema

Nicht”Nun,ich werde versuchen

,sie bald Wieder fort

zu bringen .

H äh,ich schaue so glu ckl ic

h drein, gnädigefühle ein großes Dichtwe

'

rk‘

in"ni ir

'

r'

eiäfen .

cht Wahr ? W ie‚meineri Sie E in

titanisches D rama ? Ah,Sie halten viel zu

'

wenig von mir !

Nein, nein ! I ch fu hle mich berufen, bald einen Nekrologauf die Hau sfrau zu singen . Vielleicht noch etwas verfrüht,aber immerhin Selbstverständlich, gnädige Frau ! DieMänner sind daran schuld . Sonst niemand ! Bevor ich

ich dem‘

séhlinimsten Feinde der'

Hausfrau,dem s iegre‘ich

eb versetzen,‘

ja, ihn- gar zu ru ckzu schlagen

n'

u er nicht"Weise genug ist, noch einiges vonder

ihrer Gerichte anwendet,deren magische Gewal t dem Sahne

in der Fremde grausa.mes Heimweh bereitet, deren Du ftallein schon den flatterhaften Ehemann m1t unsichtbarenFäden ans Haus fesselt ? Nein

,gnädige Frau

,so viel

W underglauben besitze ich leider nicht . I ch kann mirnicht einreden

,daß die traute Liebe der

'

Gattin und Muttergenug physische Kraft besitzt, um fürsorglich u nd beeinflu ssend über den dampfendenKochtöpfen zu schweben unddas Gedeihen des Inhalts zum Heile der Far

'

nilienverdau u ngs

Organe zu beschützen und zu segnen . W ie so vieles Transzendenta.le von ruchlosen atheistischenMenschen wissenschaftlich ausgelegt werden kann

,und da ich zur Beseitigung

,

jedesW u nderglaubens nach Kräften beitragen will, so bin ichdaher roh genug

,die W under der häuslichen Kuche phy

logisch zu erklären . Die Hau sfrau bereitet vor allem dieSpeisen nicht zu lange vor . Sie kommen direkt vom Feuerauf den Tisch . Sie sind daher frei von dem me tallischenGeschmack vieler H otelspeiseh, die stundenlang zubereitetwarten müssen

,bis sie serviert werden können . Während

dieser W artezeit zersetzen sich au f chemischem Wege kleineMetallteilchen

,die, ohne schädlich zu sein, gewissen Speisen

einen unangenehmen Geschmack mitteilen . Nichtsdestoweniger gibt es Sachen

,die aufgewärmt gerad ezu gottvoll

sind . Durch den wiederholten Prozeß des Kochens wird oftein gewisser

,erster

,halbroher Zustand beseitigt, die Speisen

werden garer,zuträglicher und verdaulich

'

er,wenn ihre ur

sprüngliche Kraft sorgfä ltigerweise erspart wird . Die Hausfrau

,die oft au s Sparsamkeitsrücksichten gezwungen ist,

Reste aufzuwärmen,hat dies entdeckt und weiß es wohl zu

benutzen . Der Kochkünstler dagegen schaudert meistens voraufgewärmten Speisen zurück . Durch weise Haushaltung anSparsamkeit gewöhnt verwendet die Hausfrau allerhandReste u nd Überbleibsel von Suppen

, Saucen, Knochen unddergleichen

,kocht alles wieder

'

au f und erzielt dadurch inihren Gerichten jenen unbestimmbaren Grad von Kraft undNahrhaftigkeit

,welche jede sparsame, haushälterische W irt

schaft in allen Lebenslagen erreicht das große, dem Verschwender ewig verborgen bleibende Geheimnis des Wohl

I 37

standes und der Gesittu ng . Der K ochku nstler ist gewohnl ich ein Verschwender, wie alle Genies Verschwender sind .

In der Enge mu ß das Genie zugrunde gehen . Aber die ganzeAusbeutung seinerKräfte und Mittel kennzeichnet den weisenKünstler

,den tüchtigen Handwerker . So viel kann der Koch

von der Hau sfrau lernen . Ja, me1ne Damen,ich

schaudere bei dem Gedanken, daß das Heim der Menschenau f dem Aussterbeetat stehen Das moderne Heim istnur noch ein Scha tten von dem fru heren . Und was wird dieZukunft uns als Ersatz bieten ? Nun

,etwas Ähnliches wie

ein Hotel muß es doch wohl werden, wenn die Frau en keinenanderen Rat wissen . W ie meinen Sie, ich sei ein Weiberfeind ? Oh

,welche ungerechte Anschu ldigung ! W e lche

VerleumdungDa fließen sie hin

,die Holden ! Zornig

,entru stet,

schmoll end,weil ich ihnen schmeichelte ! Wer kennt das

Gemüt der Frauen ! ? Wäre ich grob gegen sie gewesen,so lägen sie mir jetzt am Halse . Doch dem Himmel Dank !Nun können wir vom Geschä ft weiter sprechen .

Vernünftige Männer w1e w1r,Herr Kommerzienrat, welche

so hohe Preise zahlen, daß ein patriarchalisches Verhältniszwischen ihnen u nd dem Hotelier schwerlich aufkeimen kann,

werden daher vorläufig noch nicht die Torheit begehen undein Hotel mit einem Heim vergleichen oder erwarten

, daß

es ihnen ein solches -bietez*

Aber ein Geschä ftshaus sehen wirim Hotel

,ah

,und was fu r ein Geschäftshaus ! W elch ein

Leben und Treiben ! Interessant,nutzbringend sowohl für

den Besucher wie auch für den Unternehmer und den Angestellten . Vielseitig

,anregend ' wie kaum ein anderes . Und

aus diesem Grunde verlangen wir vom Hotelier und seinenAngestellten nur striktes geschäftliches Auftreten und nichtsmehr . W ürden Sie als Kau fmann bei einem Auftrageetwas mehr leisten

, als Ihr Kontrakt Sie verpflichtet ! ?Nein, sehen Sie . Jede u berflüssige Leistung ist verdä chtig .

Nicht nur im geschäftlichen,sondern auch im privaten Leben .

Als kleiner Junge besorgte ich oft gerne Einkä ufe für meineMutter . I ch tat

_

’s viel lieber al s zur Schule gehen, denn ichvibrierte damals schon vor Verlangen

, mich ins große Leben

stu-

rzen zu . konnßn . Aber ich habe niemals u nserm Metzgergetraut, wenn er zu gut gewogen hatte und mir .gar noch einStück Wurst obendrein gab . Es schien m1r me ganz geheu er .Und unser Metzgermeister war doch so ein ehrenwerterGeschäftsmann ! Zu viel. geben ist ‚meiner Ansicht ,

nachnicht gu t .

' Ein Mann , der von s ich selber -u nd . der . Güte

s e'

iner W are über-zeugt ist, wird dies nie tu n. Er wird me zu

wenig, . aber auch nie zu viel "geben . Freilich, zu r . Zeit derP ostku tsche rpflegten u nsere Großväter „einer R uhe die leidergänzlich au s unserem heutigen Geschä ftsleb -m ‚verschwu nden

ist . Sie . hatten geschä ftl iche‚Ansichten,die heute nieht rmehr gelten . Die Angestellten sind n ichtmehr die . au s . der „

guten,alten I ch _kann daher auch

nicht einsehen, warum sich im Hotel . ein ganz“

modernesGeschäft der Geist der Postku tschenara erhalten soll te . I chkann nicht einsehen

,warum dermoderne Hotelier von seinem

Kellner verlangt,daß -er sich total für das Wohl seiner Gäste

au freiben soll . E in Gast, der im Hotel e1nen Kellner vielleichtvon der

'

Höhe eines G'randseigneurs herab als seinen L eibeigenen ansieht

,wird es nicht wagen

,in einem Laden d en

geringsten Verkäufer durc h die aristokratische Brille zu betrachten . Nein, er wird geduld ig ,

warten,bis die Re1he an

ihn kommt . Anders hier ! W e,he ‚wenn hier jemand au f

die geringste Kleinigkeit warten mu ß ! Sie dürfen sich in

solchem Fal l e den Generald irektor des Hotels kommen lassen .

Sie . können das ganze Haus in A u fregu ng versetzen . Untereiner Flu t von‚devo telsten Entschuldigungen werden Sie ge :

tröster Und -besä nftigt gibt menschliche W esen,

die « nichts zu tun ‚haben, vornehme Tagediebe u nd ‚Müßiggänger, die derartigen Unfug a ls eine Spezialität betreiben .

So lche ; Leute ma chen e s sich zu m -

‘Prinzip, mögl ichst .;viel

A ufsehen -mit ihrer Person . zu erregen u nd die armen An

gestellten du rch„

ihren A nblick allein schon in ,allertiefste

dieser ,schon prä nu nterando auf das - Trinkgeld verzichtet

140

die nicht imstande sind, sich genu gend Dienerschaft anzulegen

,die für ihre exzentrischen Gelüste Sorge - tragen . Auch

werden solche armen Leute oft durch die damit verbundenenKosten so gemein und niederträchtig,daß selbst der simpelste,friedlichste Diener es bei ihnen nicht aushalten kann . DiesenMenschen kommt der Hotelangestellte ganz wie geru fen .

W as dem Ärmsten in so lchen Fällen blüht, kann ich gar nichtsagen . E in alter, aber immer

noch wirksamer Trick derMenschen

,die für ihre kleinen und großen Gelüstchen,

denensie frönen

,nicht bezahlen wollen

,ist

,die Angestellten mit

einer leicht verschleierten Andeutung au f ein opulentes Trinkgeld von Anfang an zu ködem und sie schließlich hintersLicht zu führen . Erkennen sie aber mit dem ihnen eigenenSchnüffelsinn, daß der Angestellte sie vorher durchschautoder alle Hoffnungen auf den versprochenen Obolus au f

gegeben ha t und nun anfängt, sie als qu antite'

neiqligeablezu behandeln

,dann bricht die ganze W u t u nd Gemeinheit

in den armen Gemütern los . Nicht selten bewirken sie dannunter Drohungen

, das Haus zu boykottieren, die Entlassungdes Angestellten und heimsen so durch die Befriedigung desniederen R achegefühls in ihren schwarzen Herzen kostenloseine neu e Freude ein . Es ist erschreckend und entmutigend

,

wie häufig man diesen Typus, diese Blüten der. Menschheitin den großen Hotels beobachten kann und wie sl e von den

Hoteliers au f Kosten der Angestellten gefördert, ja geradezu

gezüchtet und gemästet werden .

Eine schöne,entzückende Frau darf nicht glauben

,ein

Hotel sei ihre exklusive Domäne,wo sie ihre Augen und

Brillanten spazieren führen kann . Salonlöwen, L iteratu rtiger,K u nsthyä nen, die Wochen Tages und S tu ndengrößen dürftendas Parkett des Saales nicht fu r s ich a llein in Anspruchnehmen

,wenn sie siegesbewu ßt einherschreiten, nachdem

sie vielleicht für fünfzig Pfennig oder eine Mark diniert “

haben . Ja, ich versichere Ihnen, Herr Kommerzienrat, man

kann riasig billig essen, wenn es sein mu ß,u nd das furcht

bare ‚Gesicht des Lebens schimmert auch durch die glä nzendeSphäre des Saal es u nd den feinen Duft der Zigaretten .

Und lauschen Sie nu r einmal aufmerksam , Sie können al s

dann ganz bestimmt einen feinen, hohnisch'

en Ton au s der

brausenden M usik herau shörm ,der wie von einem lachendm

Teufel stamm t . Schauen Sie nu r einmal hinter die Kulissen !Man könnte daher namentlich dem jüngeren Kellner

nicht eindringlich genug eine geradezu athe istische Respektlosigkeit vor der vagen, götzenhaften Größe der D urchschnittszelebritä t predigen und anempfehlen . Die alten K ellnerlernen sie zwar mit der Zeit

,aber erst nach vielen Qualen und

Enttäuschungen . Es gibt Kellner, die sich diesen ruhigenBlick bald aneignen

,und sie werden nie enttäuscht

,wohl aber

hie und da einmal angenehm überrascht,und sie haben eine

u m so größere Verehrung für wirkliche Menschenwürde u nderkennen dieselbe . W as ein kleines Kunststückchen ist,da sie so vereinzelt u nd unauffällig auftritt .Die einfachsten

,im Verkehr der Menschen u ntereinander

geltenden Regeln der Höflichkeit sollten do ch auch einerstrikt geschäftlichen H otelführu ng genügen . Warummussen dieselben aber hier übertrieben werden ? Selbstverständlich

,derjenige

,welcher etwas feilzubieten hat, muß

sich möglichst den Forderungen seiner Kundschaft anpassen .

Da er Konkurrenz hat,muß er auch mit in den Wettbewerb

eintreten . Der W ettbewerb aber ist’s gerade,der dem Ge

schäfte zugleich eine interessante und gefährliche Seite verleiht . Für den Käufer

,der die reiche Auswahl hat

,bietet

sich darin auch ei1i? Gefahr . In je reicherem Maße eineWare vorhanden ist

,um so geringer wird sie im W ert u nd

um so mehr muß sie angepriesen werden . Der Käufer, derVielumworbene

,der überall W illkommene

,ist in einem

solchen Falle zu leicht verführt,die Stellung eines Despo ten

anzunehmen . Und je mehr u nd unwürdiger sich die Verkaufer um die Gu nst des Gewaltigen bewerben, um so mehrmuß er in seiner absolutistischen Stellung b estärkt werden .

Da das Menschenmaterial heutzutage im allgemeinen sehrbillig ist

,so ist es auch notwendigerweise verächtlich . Im

Mittelalter wu rde dies noch oft und unverhohlen au sgedru ckti

Doch man hat es in der modernen Geschäftswelt zu r Regelgemacht, derartige fromme, alte Gesinnungen hübsch fürsich zu behalten und sie keinem Menschen,

sei er noch so

142

gering :u nd billig,

“ direkt fuhlen— nzu l assen .

— "Nur im. Hotelgeschäfte

, s cheint -

res,darf sie s ich rnoch ungestraft ze igen?!

I ch habe nicht F alle - im A uge, wo j emand unter dem,

1E i1i

flu sse vong eistigen] Geträ nkem H andlu ngen begeht, für dieer nicht verantwortlich gemacht werden kann, sondern ich .

meine :das gewohnheitsm'

ä ßigé Auftreten der Kundschaftgegen-uber den Anges tellten im Hote lgewerbe im allgemeinen.

und den -K ellnem g egtmüber iin b esonder'

en . Und läßt ein

Angestel lter b ei einer -passendenG elegenheit einem gerechtenZorne Lauf

,so erwartet ihn ein unbarmherziges, v on Vo n

urteilen eingenommenes Gericht .' Be trachte n

'

Sie n u r die grenzenlose Freigiebigkeit d er;

Wirte . Ihre g länzenden Räume stehen jedem anständig gekleideten Menschen offen: S ei er, wer er will . Und mit einer;ungenierten S elbstverständlichkeit nehmen -wir von alleinBesitz, was u ns das » H otel b ietet . 1Komfort

,Luxus, Musik,

Umgebung . Die A ktien *eines'

Fremden,der i n einem -vor

nehmen Hotel lebt,steigen ums Hundertfache

,sobald es den.

Leuten b ekannt =wi rd,m it denen e r ge

'

schä ftlicho der g esel l

schaftlich'

in V erkehr tritt . Für ein paar Grosche‘ n kann .

'

einGast die u ngeteilte

“A u fmerksamkeit eines Heeres vön Ani

gestellten in Anspruch nehmen . Und e r tu t es . In welchemanderen Geschäfte finden - Sie; eine Parallele hierfu r ? Nirgendwo

,in keinem anderen Geschä ftsha u se, bei keiner anderen

Gelegenheit glaubt der liebe Käufer s ein-e Dummheit,» seine

L eidenschaften,’

ja o ft tierische Gemeinheit so —u ngestraft‘

ztth

Schau tragen zu können wie im Gastwirtsgewerbe . Nirgendim L eben wird er sich . soviel a nmaßen, geiziger, h errischef

und protzenhafter sein als gerade hier . Warum ? -D as

ist eine. Frage,die sich schwer beantworten l ä ßt . Es scheint,

a ls ob d i_e 1u xu riöse%A tmo sphä re, : das Bewu ßtsein des

zu , Get

bote stehenden großenBetriebes in vie len schwachen Köpfen‘

eineg elinde Form ‚von C ä sarenw‘

ahnsinn weckt.. eM anch "

c i1ii

armseliges H errchen glaubt s ich hier zu denfg'

rößten : Am

maßungenfberechtigt; weilwerfifünfMark fur einZimmer b ezathlt

'

Wenigkeit "

umgeb enw ird; erwachsen, tweiß er meistens keinen

144

oder dem betreffenden Angestellten ein direkter Schaden .

em ä chst . Bei dem weitgehenden Kr'

edit,den der W irt oft

wochenlang geben muß,bei der unendlichen Menge von

Kleinigkeiten,die er zu

‘ berechnen hat,ist selbst das ge

wissenhafteste System nicht unfehlbar,u nd Irrtümer, die

vorkommen, fallen gewöhnlich'

zu m Schaden des Wirtes au s .

Die meisten Gäste wissenwu nderbar genau, was sie verzehrthaben, und entdecken gewöhnlich beim Studium der Rechnu ng die fehlenden Posten sofort . Aber ich wette, nur ganzwenige s ind ehrlich genug, den Irrtum zu berichtigen, denndie Versuchung ist zu groß . Sie stehen reisefertig, und sobaldsie im Coupé sitzen, sind sie vor jeder weiteren

‘ Forderunggebo rgen und können sich ins Fäustchen lachen . Wehe aber,sollten ’ sie bei Durchsicht ihrer Rechnung wirklich etwasfinden

, das sie zu einer Entrüstung berechtigt . Ich glaube,

j eder halbwegs vernu nftige Buchhalter hütet sich peinlichs tzwecks Vermeidung solcher Szenen

,das Konto des Gastes

irrtüm lich oder wi ssentlich überflüssigerweise zu belasten .

Zweifellos gibt es auch eine Menge Gäste, die durch irgendeinegeschickte künstliche Aufregung das Gehirn des vielgeplagtm ,

anämischen Zahlenmenschen am Schalter zu verwirren suchen ,

damit er sich zu ihrem Vorteile verrechne . Hochstapler ziehenvon Haus zu Haus und wissen genau

,wie sie die unendliche

,

himmlische Geduld des W irtes und seiner Angestellten au s

beuten können . Es ist em allgemein beliebter Sport, der »

H otelkasse schlechte Schecks - und faule Wertpapiere“ stattBezahlung au fzu nötigen. Ein durchaus guter Scheck veru rsacht schon eine Menge Arbeit und Unannehmlichkeiten,wenn der Gast

,der damit bezahlen will

,dem W irt nicht

bekannt ist . Geduldig muß der unbekannte Scheckinhabe rdie kritischen Blicke des Bankbeamten an sich auf u nd abspazieren lassen

,doch würde er es nie gestatten

,daß ein

Wirt ihn in gleicher Weise beä u gle . Der brave Bonifaz zögertkeinen Augenblick : er beanstandet keinen Scheck in Gegenwart seines Gastes

,lächelnd reicht er die Feder zum Indossa

ment . Aristokraten,Studenten

,Offiziere vom General bis

zum Kadetten abwärts haben wunderbar zarte Gemüten Denkleinsten Zweifel an ihrer Person pflegen sie furchtbar übel

zu nehmen . W elch ein Gluck,daß sie die Kellner u nd W irte

nicht für satisfaktionsfähig hal ten ! Der Duelle gäbe es keinEnde . Ein Glück, daß die H o telrnenschen

'

so geschme idigsind ! Viel Blutvergießen wird dadurch verhu tet . Ein Glück,daß sie so wunderbar geduldig sind ! Viele hungrige, hochgestellte Persönlichkeiten haben daher etwas Gutes zu essenund zu trinken .

Ein Geschä ft, sei es, was es sei, kann, um auf die Dauererfolgreich und nutzbringend zu sein,

nur au f einer strenggeschäftlichen Grundlage gefu hrt werden . Wie der Hotelieramnaßende Forderungen sanft aber entschieden ablehnenmu ß

, so muß er den berechtigten unbedingt nachkommen .

Unter dem gegenwärtigen T rinkgeldsystem jedoch ist es fürden Hotelier und in noch größerem Maße für den Kellnerschwierig

,strikt geschäftlich vorzugehen . Einen recht

frappanten Fall,der d ies gu t illustriert, erlebte ich vor

einigenTagen . I ch wurde eines Morgens von einem widerlichenKüchengeru ch in meinem Appartement angeekelt, und als ichden Zimmerkellner nach der Ursache der Dufte fragte

,

beichtete er mir folgendes . Neben mir hatte,sich eine

knickerige Familie eingenist-et

,die den Kellner veranlaßte

,

sie mit allerhand Kleinigkeiten wie heißes Wasser, Zucker,Essig, Öl , Spiritus usw . zu versorgen . Dies e Dinge konnteder Mann s ich leicht

,ohne von der Kontrolle belä stigt zu

Gäste von ihm Tassen,Gläser

,Bestecke

,Teller

,Servietten

gleichfal ls kostenlos . Das alles sah und hörte sich rechtha rmlos an. In Wirklichkeit aber gebrauchten die Gäste dieseDinge, um sich von einigen initgebrachten Würstchen undwas es sonst noch gewesen sein mag, au f ihrem Zimmer einfmgales Mahl zu bereiten . W as sagen Sie dazu, HerrKommerzienrat ? Kann so etwas in einem erstklas sigen Hotelvorkommen ? Dem Kellner gegenüber schützten die GästeAppetitlosigkeit vor

,es sei so umständlich

,sich hinunter in

den Speisesaal begeben zu müssen usw , usw . ,und dein W irt

brachten sie mit ihrem Spiritu slämpchen das ganze Haus inGefahr . Sie verdarben die Möbel

,Tischdecken

,Teppiche u nd

Wäsche,und mit dem geradezu unerträglichen Gestank ihrer

P a u 1 Ve h l in z . D ie Moral des Hotels . 10

146

Ko chereien verpesteten -s ie i mir die L uft . Erst al s ich ,mich

darüber b eschwerte, wurde der Unfug eingestellt, u nd d ie

sparsamen Leute entrüsteten sich"

. höchlichst, als ihnen d ie

Benu tzu ng'

d er Utensilien in Rechnung gebracht wu rdaDurch diesen Fall a ufmerksam gewo rden,

i interess ierte

ich mich mehr für derartige Streiflichter des G lanzes ‚Meinfreu ndlicherZ immerkel lner erzählte be

reitwilligst . I hm - schiendas —alles n ichts Neues . So erfu h r ich denn . au ch,

—wie ind enfeinsten Hotels manche

'

sparsame .Dame der . höchsten G e

sellschaft ‘

im Badezimmer ihres Appartements eigenhändigihre Leibwäsc'he besorgt und die zarten *R öckchen

_u ndi I - I os

chenund was es sonst noch sein mag mit einem elektrischenPlä tteisen bügelt . A u s - al ledern entnahm ich die m ir hauptsä chlich wertvo lle Lehre

,daß

,sofern das Eigentu m des

Nächsten hier das des Hoteliers i n Betracht kommt, dieMehrzahl der Zeitgenossen von einer unglaublichen :Pietä tlosigkéit beseelt zu sein scheint .Sie als Geschäftsmann werden hieraus aberdie große

Gefahr erkennen,die den Arbe itgeber als Vergeltung für

schlechte Bezahlung der Angestellten'

verfolgt . Nur mit besondere r Erlaubnis hätte der Kellner die erwähnten K leinigkeiten verabreichen dürfen, .

selbst w enn er gesehen h ätte,daß durch d ie Verweigerung derselben sein Trinkgeld inGefahr geraten Wäre . Denke-

n Sie sich zum Beispiel einenFall

, wö‘ der gute Ruf des Hause s au f dem Spiele steht . D er

gewissenhafte,achtbare Angestellte

, der sich und das Hausrespektiert

,wird stets Sofort das Interesse desselben im Auge

haben,sollte diese Haltung selbst mit - e igenen ,

finanziellenVerlusten verbunden sein . Aber wieviel Angestellte tundies wirklich,

:w enn das Haus sie schlecht b ezahlt ! D er -Glanzdes Geldes lockt mächtig ; Das Geld ist schwer, E s ziehtzieht hinab . Geld hat hoch —keinen Menschen

emporgehoben.

I ch glaube, d aß ein‘

K el lher, „wenn er seinen Gast - kenntund seines fü inkgeld es s icher ist, eher die Interessen desGastes als die „ seines Arbeitgebers wahren wird In einemso lch en Falle wird er_ mir zum Beispiel ,

niemal s etwas an

empfehlen; was für das Haus besonders gewinnbringend istund das die Küche gerne absetzen möchte . E r. wird, wenn ich

148

schwindler unter seinen Gä sten so viel wie moglich schützt,

indem er den Angestellten für die unsauberen Handlungensolcher Leute verantwortlich macht . Das ist Politik, aberkein ehrliches Geschäftsverfahren . W enn ein vornehmer Gast

.spurlos verschwindet und eine unbezahlte Rechnung hinterl äßt

,so fühl t sich gewöhnlich nicht der Wirt geprellt

,sondern

er hält seinen Angestellten für den Geschädigten . Er hatnicht den Mut oder den Willen

,derartige geschä ftliche Ver.

luste zu tragen,eben weil er kein Ge schäftsmann ist . E r

befindet sich oft auch tatsächlich in einem Dilemma . W er

kann zum Beispiel wissen,ob der Gast nicht seine Rechnung

irrtüml ichervxgeise einem anderen Kellner bezahlt hat DieVariation solcher Fälle ist ebenso groß , wie die Gäste verschieden sind . Darum muß der arme Kellner beständig aufder Lauer sein . W er aber kann verhüten, daß ein Gast denAugenblick

, wo der Kellner abwesend, in der Küche odersonst wo beschäftigt ist

,benützt

,um stillschweigenden Ab

schied zu nehmen,od er daß er unter irgendeinem anderen

Vorwand, au f irgendeine Weise verschwindet, ohne die R ech«

nung zu begleichen , Wie der Kellner für die Unredlichkeitder Gäste des Hauses büßen muß

,so wird er selbstverstä nd

l ich auch für den Schaden, den er selber dem Hause durchUnglück

,Unachtsamkeit und Vergeßlichkeit zufügt

,ver

antwortlich gehalten . Bei den verderblichen W aren, demfeinen

,leicht zerbrechlichen Material

,das der Kellner in

seinem Geschäfte handhabt,ist der Schadenersatz

,den er

leisten muß, oft sehr beträchtlich .

W as W under nu n, wenn ein au f solche W eise bedruckterAngestellter zu all erhand unredlichen Mitteln greift, um sichan dem Hause und den Leuten zu rächen, die ein solchesDefizit in seiner an fur sich mageren Kasse veru rsacht haben !So wird manch ehrlicher Arbeiter durch die u ngesc

-hä ftliche

Führung des Hauses zur Unredlichkeit verführt oder dochwenigstens dazu aufgestachelt . Aber gegen die Unredlichkeitihrer Angestellten haben sich die meisten W irte die großenWenigstens gleichfal ls wohlweislich geschützt . Es ist daherschwer für einen Kellner, selbst wenn er kaufmännisch gebildet ist

,eines der modernen H otelbu chfu hru ngs und Kon

trollsysteme zu hintergehen . Ja, man kann mit Gewißh'

eitbehaupten, daß dies völlig ausgeschlossen ist, wenn er sichnicht direkt mit noch mehreren anderen K ollegen und einigenKontrolleuren selber in Verbindung setzt . Aber auch dies istsehr gefährlich . Solche Schwindelcliqu en leben nicht lange .Sehr bald zersplittert sie die Uneinigkeit über die Verteilungder Beute

,oder die Detektive des Hotels nehmen schnell

Interesse an den Schlichen u nd Wegen des Syndikats . Au sdiesen Gründen komm en sehr wenig Unredlichkeiten unterden Anges tellten

_ des großen modernen Hotels vor . Das

Dorado des schwind lerischen Kellners scheinen daher dieHäuser zweiten und dritten Ranges zu sein,

Geschäftchen, diegewöhnl ich kaufmännisch no ch schlecht organisiert sind, oderdie modernen Mas senbetriebe der großen Konzertsä le, Ver

gnügu ngslokal e, Bierhallen, Volksgärten usw .,wo das

Schwatzen, ]ohlen, Lachen der anspruchslosen biederen Kund

schaft und das entsetzliche Schr'

nettern gigantischer Blasinstrumente die Ohren des bedauernswerten W irtes erfüllen,so daß er gewohnlich

'

keine Zeit und kein Verständni s fürden W ert einer genauen Kontrolle und Buchführung hat undsich schon zufrieden die Hände reibt

,wenn seine Lokalitäten

von summenden Mengen gefüllt sind . Die do rt bedienendenLeute nennen sich freilich alle Kellner . Aber was floriertnicht alles unter dem Namen Literatur“ ? W as segelt heutzutage nicht alles unte r dem stolzen Banner der Kunst ?Also von Begriffen und Nam en wollen wir schweigen .

Doch, wie gesagt, in solchen Lokalen blüht das Geschäft desunsauberen Kellners

,der nur darauf ausgeht

,den Arbeitgeber

sowohl wie die Gaste zu beschwindeln . Dieses Individuumwird sich niemals an größere Zahlen heranwagen . E r weißzu gut, wie gefäh rlich es selbst hier in den schlecht geführtenHäusern ist . Für ihn gelten daher nu r Pfennige u nd Groschen .

Aber dies e fließen oft in so zahlreicher Menge auf schuftigeWeise in seinen Sack

,daß sie am Abend ein

“ beträchtlichesSümmchen ausmachen . Komm t ein Schwindelfal l zufällig ans

Licht, so ist der Gegenstand gewöhnlich so winzig und nu

scheinbar und so geschi ckt maskiert, daß die meisten Gästeder Sache keine Beachtung schenken

,und die ganze Affäre

wird mit der E ntschuldigung des„Kellners wegen

"

des

„ I rrtuins schnell 'vergeben und vergessen . Und es wirdWeiterge

'

schlafen und weitergeschwindelt. Söll te einem Gastein einem solchen Lokale irgend etwas, auch das Kleinste, anseiner Rechnung verdä chtig erscheinen

,so kann man ihm

dringend raten,sein Bedenken

'

au f diskrete W eise dem In

haber allein und sonst “ niemandem anzuvertrauen . Sich anden ' Oberkellner oder an ‘ sonst irgend-ein I 'ndividu um

,w

das

da herumwimmelt "u nd '

vielleicht etwas.

zu'

sagen * hat,zu

Wenden, ist gewöhnlich zwecklos,

‘ wenn es‘

nicht gar deng anzenP län verdirb t, denn diese

"Angestellten sind oft ‚mit - ihrenalten,

vertrau ten Untergebenen_verwandt u nd - verschwägert,

stecken oft mit ihnen unter einer Decke u nd beziehen von

dem illegitimen Erwerb einenWorin diese Schwihdelmethoden oft bestehen ? Hm

,

das kann ich wirklich nicht sagen . I ch habe mich auch niebemüht

,die laffen

,alten

,aber imm er noch bewährten Tricks

näher ms Ange'

zu nehmen . Wer nu r ein wenig die Augenaufhält

,bleibt vor ihnen immun . Wenn nu naber tatsächlich

einmal ein grober Verstoß gegen die allgemeine Ehrlichkeitoder ein P robestückchen der allgemeinen Unehrlichkeit anden T ag kommt, so ist es in den geschäftlich so miserabelgeführten Häusern ganz natürlich u nd charakteristisch

, daß

sehr wenig oder gar nichts getan wird,um die Schuldigen

fzu

_verfolgen und unschädlich

‘ zu‘

machen .

—.Wie' könnte es

anders “sein ! D iese'

charaktéristische'

Bumrrlelei vieler W irteist einer der

'

vielen K reb$schäden’

der ganzen Industrie . DieseSchlott

erei duldet nich t nur das h nehrliche Element bei sich,nein

,sie fördert

,sie unterstützt sie mästet es Sogar.

'

Sieschädigt dadurch gleichzeitig au f ganz unberechenbare W eisedas Ansehen der gut organisierten Häuser . Denn “das großePublikum denkt nicht sehr weit und schert alles über einenKamm . W enn dem D u rchschnittsgaste heute ein

Halunkein der Maskerade eines Kellners entgegentritt, = so hält ermorgen und noch für lange Zeit hinaus alle ihm» im Kellnerfracke entgegentfetend

'

en jungen -Leute ausnahm'

slos für Ha' lunken. Und er wird in diesemfreundlichen G lauben vielleicht noch mehr » = u nd für alle Zeiten bestä rkh werden, wenn

1 5 2

Keilerei kommt,so werden die Kombattanten jedenfalls als

„Kellner“ bezeichnet . Das sind natürlich keine Anhaltspunktefür den Charakter unseres freundlichen Ganymeds .I n einem Hause, wo ein gutes Geschä ftssystem die l nter

essen desselben automatisch wahrt und Unregelmäßigkeitenstumm von sich fern hält, wäre somit das zweifelhafte Elementunter den Kellnern au f die Ausbeutung des Publikums an

gewiesen,was aber gleichfalls aus vielen Gründen au s

geschlossen ist . Aber gerade in solchen erstklassigen Häusern,wo seitens der Angestellten keine Unehrl ichkeiten vo rkommen,weil der Charakter der Leute im allgemeinen zu gu t ist undweil die Systeme alles unehrliche Element ersticken

,dort

gerade wird der Kellner oftmals das Opfer betrügerischeroder auch nur achtloser, vergeßlicher Gäste . Es ist daherungerecht

,in solchen Häusern den Kellner für derartige

Unglücksfälle verantwortlich zu machen . Ein gutes Geschäftshaus sollte kulant u nd nachs ichtig gegen seine guten Angestellten sein . Wo dies nicht geschieht, sollten die Or

ganisationen der Angestellten gegen derartige Ungerechtigkeiten auf —Rechtswegen vorgehen . Aber auch hier wird nochlanged as alte, abgeleierte Lied vom Leide des Angestelltenweitertönen. Das Haus aber verdirbt sich durch Kurzsichtigkeit seine besten Kräfte

,nämlich den guten Willen und die

Zufriedenheit der Angestellten . Lassen wir die menschlicheSeite ganz außer acht, vom geschäftlichen Standpunkt alleinschon ist di es absolut verwerflich und unklug . Ah

,Pardon

,

Herr Kommerzienrat,sagen Sie das nicht ! Ein Angestellter

weiß gu te Behandlung zu würdigen ! Wenn ihm diese zuteilwird

,wird er dem Hause anhä ngen und mit Freud-e arbeiten .

Undankbare Elemente sind bald entdeckt und“ entfernt .Diese einfache Wahrheit scheinen die meisten unserer Indu striel len nicht mehr zu kennen, weil sie hie und da schlechteErfahrungen gemacht haben .

‚“W ir haben nun gesehen, - daß der Wirt und der Kellner

im allgemeinen schlechte Geschä ftsleute sind,wenigste-ns in

d em Sinne, nach d e n Prinzipien, die in der modernen Geschä ftswel t gelten und Ausschlag geben. W ir wissen jedochnoch nicht recht, wo der Grund hierfür zu suchen ist . Sind

es die verschiedenen Schwierigkeiten, die der Beruf bietet ?Gewöhnlich kann ein Kaufmann oder Fabrikant seine Warenoder Produkte jahrelang lagern, und wenn dieselben im gu tenZus tand abgeliefert werden, so kann man versichert sein

,daß

keine Reklamationen oder Scherereien nachfolgen . W ieanders ist es hier im Hotel ! Der Gastwirt und seine Angestellten wenn sie ihren Beruf nu r ein wenig liebe

'

n'

pnd

uns nicht ganz gleichgültig gegenüberstehen schwebentatsächlich beständig in der größten Angst um die Güteihrer Waren

,die vielleicht 1m tadellosen Zustande die Arbeits

räume verließen,um im nächsten Augenblick au s irgendeinem

Grunde unbrauchbar zu Werden, bevor sie den Gast,den

Käufer erreichten . Eine Speise, die zum Beispiel nicht mehrganz heiß ist

,kann völlig wertlo s werden

,u nd der Käufer

braucht sie nicht anzunehmen . Ferner können au f allemögliche Weisen Meinungsverschiedenheiten über die Güteder gelieferten Waren zwischen Kaufer und Wirt entstehen

,

daß es geradezu u nmogl ich ist, festzustellen, wer bei einerso lchen Frage im Recht ist . Die kompetenteste, gerechtesteKommission von Sachverstandigen ist hier oft machtlos .Nehmen Sie nur einen Fall an

, wo ein Gast eine Speise genossen hat und nachher behauptet, sie sei aus diesem oderj enem Grunde nicht zufriedenstellend gewesen was sichtatsächlich auch oft erst nach dem Genuß kundgeben kann .

Steht nicht der W irt- a bsoiu t hilflos da ! ? I n den meistenvon solchen Fällen

,die fast täglich vorkommen

,muß dem

Wirte das Wort des K äufers genügen, und er muß denSchaden tragen ein Vorgehen

,das jedem Ge schäftssinn

und R echtlichkeitsgefühl direkt widerspricht . Viele Gästewissen sehr die hi lflose Lage des W irtes auszunutzen . Böswillig bestellen sie eine Speise, verzehren die Hä lfte u nd

senden, nachdem sie ih ren Hunger gestillt haben, die andereHälfte al s ungenießbar zurück . Launenhafte Menschen verlieren während der W artezeit den Appetit u nd senden dieganze Bestellung, ohne sie anzurühren, zu ru ck. Sie d enkennicht an die direkten Verluste

,die dem Wirte daraus er

wa chsen . Oft wissen die Gäs te nicht,was sie bestellen, und

die Enttäuschung ist groß,wenn der Kellner kommt . Und

in den meistea a l l=en nimmt1 der agefallige W irt seine verderblichen Waren zurück . E s gibt noch tausend andere Gelegenheiten,

. wo der'

Wirt geschäd igt w ird: ‚Immer *u nd aüberä ll

hat er das Nachsehen u nd t trägb‘ Ungerechtigkeiten, G rob.

b eitemund Verluste mit möglichst liebenswürdiger M ieneu Dasist ‚vom‚geschä ftlichen w Standpu nkt

'

au s betrachtet einfachhaarSträ u bend ! j ed er andere Kaufmann würde sich

'

*insolchen Fällen beim

Gerichte Recht suchen . I ch :zweifle sehr,ob wirklich

" ein ‘Wirt j emals daran‘

gedacht hat, sein R echtzu wahren . E s ist einfach unmöglich . .E r kann nur solchenu nerqüicklichen

"Fallen vorbeugen,indem er die größtmög

liche Sachkenntnis anwendet und das beste, 'gewissenhaftestePersonal zur Seite hat .I ch glaube jedoch nicht

,d aß die geschaftlic3hen Schwierig

keiten einen besonders nachteiligen Einfluß au f d en Ge

schä ftssinn des Wirtes „ u nd seiner Angestellten hab en, „ ichmeine”, daß sie au s ihnen schl echte Geschä ftsleu te macha i .

Geschä ftliche Schwierigkeiten machen gewöhnlich gu te Geschä ftsleu te .

‘ Im Leben des Wirtes .. aber ws'

pricht ein .«viel

ernsterer, schönerer Faktor mit. Da ist etwas ‘ Gutmütiges

,

Wohlwollendes mit dem Gewerbe des Gastwirtes -verbunden‘

,

das keinem anderen Handel oder . Gewerbe anha‘

ftet . fiM agder Wirt auch Bezahl u ng„ oft gute Bezahlung für seine Tätigkeit verlangen, das ist seinG es

'

chä ft,u rid -er m u ß rechnen ,

um zu leben. D er Gru ndzu g seines Handelns und Wandelnsaber bleibt :

'

Gutmütigkeit,und dieser d rückt sich seinem

Charakter in ganz prägnanter Weise au f: ‘

E s ist wirklich nochein kleines " Überbleibsel von dem schönen Geiste ‘ der altenGa stfreundschaft

,

das a lle an der Gastwirtsindu strie beteiligt enMens

chen b eseelt . Die Gäste verlangen, lieben = dies'

maineinmal . ! M

'

ithin gehort die ser R est einer schönen,! l’

ängsb ver

sohol lenen Sittew ie eina l tes E rbstück zur Familie der Wirte,oder richtiger zu : ihrem G eschäfte: Und welch ein wunder;bares E nbs tück ist

’s ! Freilich'

ist es geschä ftsfeindlich l Leiden!Und vidé p a

'

radöx es klingt,daß derjenige

W 1rt,xa tif den dies „ so entsetzlich anti -kon'

nnerziel le Betriebskapital sioh im reichsten Maße -vererbte

, in seinem !F'

ache der

1 56

sinnu ng in unserem modernen Geschä ftsleben ! » E S sind unvereinbare Begriffe . Bu siness ist so entsetzlich grausam,

k al tund berechnend, daß j ede bessere Regung davor zu rückschreckt . Und dem ist gu t so ! Es muß so sein . Denn sonstwäre Geschäft eine W ohltätigkeit

,ein Geschenk . W ir Käu fer

wollen keine Geschenke,wir sind nicht u nterstützu ngs

bedürftig . Wir bezah len fu r das,was wir verlangen . W ir

wollen aber auch erhal ten, wofür wi r bezahlen und was wirverlangen . Das ist Geschäft !

D er typische Wirt daher, der durch seine Gu tmu tigkeit

und Nachsicht mit se1mem Publikum möglichst viel Kundscha ft an sich fesseln will

,ist seinen Kollegen und K on

kurrenten gegenüber grausamer und gefährlicher als irgendeinstreng gerechter

,unerbittlicher Kaufmann gegenüber seinem

schWä cheren Bruder . Diese zweifelhafte Gutmütigkeit in Geschä ftssachen ist eigentlich nichts als unlauterer W ettbewerb .

Und sie sollte al s solcher gebrandmarkt werden . Denn s iemacht wirklich die Existenz jedes rechtlich d enkenden K ornkurrenten

,j eden gerechten

,erlaubten Wettbewerb unmöglich.

Im Geschaftsleben hebt die Konkurrenz gewöhnlich die Indu strien und die Gewerbe . Sie vervollkommnet . In der Gasthofsindu strie scheint die Konkurrenz eine andere, eine er

niedrigende Wirku ng zu haben . Denn wenn die Wirte sicheinander in der D ienerei und Kriecherei vor ihren Gästenüberbieten

und sowohl kostspielige wie entwürdigende Nach,

sicht mit allerhand g robem Unfug haben, so ist ein solchesDasein wirklich kein erhebendes

,sondern namentlich für

viele Tausende von Angestellten eine unerträgliche Qual .

E s ekelt mich oft an, in ein besseres Restaurant zu gehen .

Erscheint man an der T u r , so stürzt eine Schar von schwarzweißen Menschen heran und bemächtigt sich meiner Person .

Ich komme gar nicht mehr zu Atem ! Jeder will mir seinenStuhl anbieten . Alle wollen sie mich bedienen . Ich soll michzehnteilen. Dabei vergeht der Appetit . I ch weiß

,die

K ellner s ind nicht die Leute, die‘

mir einen solchen Empfangvon Herzen gern bereiten . Es ist die Notwendigkeit, die sie

zwingt,sich so aufdringlich zu benehmen . Wie oft wallt

es in der gequ alten Brust des ]ünglings vor Schmerz‘ über,

da er solche ekelhaften Schauspiele ansehen u nd mitspielenmu ß ! I ch habe mir häufig und liebevoll forschend meinen

j üngling durch die Augenwimpern betrachtet u nd eine wilde,gebändigte Wut deu tlich gesehen, die er gegen mich undalle Gäste hegte . Die unausstehlichen Qualen drückten sichdeutlich seinen Zügen au f

,verkürhmerten und bleichten sie .

Aber welche Schuld tragen wir, wir frohen Gäste, an denHöllenqualen unseres jungen Mannes ! Was hat e r verschuldet

,daß er sie tragen muß ? Es ist doch nur der

Geist der D ienerei, der erheuchelten Unterwürfigkeit, desTrinkgeldes

,vor allem aber das kolossale

,dickhäutige Ge

spenst der menschlichen Stupidität,der Eitelkeit und Genuß

sucht,die uns da s gute Mahl verdirbt und die jungen Leben

so vieler tausend Menschen vergiftet !D ie verderbliche Wirkung derartiger Zustande ist ganz

unberechenbar . Den Menschen, der in früher Jugend dorthineingedrängt Wi rd

,verkrüppeln sie fu r alle Zeiten . Eine

derartige Tätigkeit nimmt ihm von Kindheit an geradezu jedenMut für sein späteres Leben weg . Der junge Pikkolo wirdin der Lu ft

,in der Atmo sphä re des eleganten Speisesaals

systematisch geistig entmannt, damit au s ihm ein Eunuchzum Dienst des Reichtums werde . Der fru he Anblick desselben

,die gezwungene Unterwürfigkeit lähmt d as junge,

erwachende Leben in seiner Brust ; das keimende Selbstbewußtsein

,die Grundlage für sein spateres seelisches Leben,

alles wird unbarmherzig, grausam in seinem Frühling er .

stickt . Es erfo rdert ein ganz außerordentlich starkes Gemu t,

den Gefahren einer Geschäftsführung zu entgehen, die au f

solchen verderblichen Grundlagen beruht . Aber mit einemstarken Gemüt ist nicht jeder Erdgeborene beschenkt .

j a, es ist wahr ! In der Gastwirtsindu strie werden daherHunderttausende von jungen

,hoffnungsvollen Leuten fürs

Leben vergiftet,und es ist ihnen später u nmoglich, sich von

dem entsetzlichen Fluche der Unterwürfigkeit, der ihnendurch die verschiedenen Pflichten und Umstände in jungen

j ahren eingeimpft wurde, zu befreien . Der Furchtund Unterwu rfigkeitsinstinkt in der menschl ichen Brust istschon von

“ Hause au s stark genug . Er sollte nicht noch syste

1 58

m'

atisch geweck t u nd gefordert werden. Man so llte i hm erstiCken !

. W ir wollen dem Hotelie'

r in die Konzessionen und Vor

dreinreden .«Seine Geschä ftsmethoden i mu ß e r mit seinem

Debet u nd Kred itkonto”vereinbaren. Sofern aber diese d ieW ohlfahrt und das menschenwürdige Dasein der Angestelltenbeeinträchtigen

,sol lte than”sich “

dagegenwehren.“

Jede Gesch

'

äftsführu ng,’

]6d 6 1“ Zustand

, jede Notwendigkeit,» die ! den

Angeä ellten‘

leibl ieh'

oder s eelisch gefährdet, die sein i'

L eben '

,

auf"

das er Berechtigung hat, zu einem Schattendasein,‘

einemJamme‘r ‘

gestalten,muß man in Grund und Bodenverdammen.

Ungezähltes und unau‘

ssprechliches ’Elend seufzt in dendunkeln

,stinkenden”E cken“

der Großstädte und reckt untergräßlich

'

gestot'

terten Flüc’

hen " u nd Verwünschu ngeni die

mageren Fäuste «gegen die b lendenden L ichter der H auptstraßen . D er verwundete Mensch wie das verwu ndeteu Tierzieht " sich in Höhlen

"

zurück,“u m d ort in Dunkelheit einsam

zu'

verenden .

‘ Er schämt sich seiner Wunden,‚die das L ebenihm schlug . Denn sie zeugen von

"

seinen Schwä chen.

Darüfn fordern w ir im" Interesse der 'Menschheit,daß auch

der Hotelier u nd seine Angestellten, vor al lem aber die Gäs temitarb eiten

,d er großen Krankheit unserer Zeit zu wehren

,

daß'

jeder sein Steinchen in“

den W eg der Menschh eit füge,umihn zu glätten

,und daß jeder ihn rein halt e . D ie aber,

die ihn mit Trümmern u nd Leichen”besäen, sind nicht wert,

Aber die Wirte u nd Kellne'r mussenendl ich emmal au f;

wachén !‘

Bücklinge ‘

geziemen sich "für“

trö chéné *H of-l

schrä hz‘e‘

n,a b er nieht " für

einen gesunden Geschäftsmann;W if l eben‘

iin“

R eiche"de5' Geschä ftes. Der Ar istokrat

darinist "der Kaufmann, Die Welt von heute hat einegrenzenlose V eracht

'

u'

ng für alle Menschen, die keine p

'

et sön-J

lichen W erte au f'

q eisen haben, sei er nu n König oderBettler . Man lä ßt sie links 'liegen . Also keine Büttkling

'

e

mehr vor der sogenannten Gesellschaft, vor dem au sgetrock

er‘

n1‘

1n der deutsche Freiherr von und zu Immern-P u mpp,der

fur solche Reklamen . Und die Hotelindustrie ist kein Paradiesfür den K apitalisten . Sie ist weit davon entfernt, wirklichprofitabel zu sein

,wenn sie nicht von einem ökonomischen

Genie geleitet wird . Man hört von den schwindelnden Summen, die da eingehen, wer aber die Bilanzen vieler großerHo tels sieht, wird sich enttäuscht hinterm Ohr kratzen . WerGeld in solchen . Unternehmen „ hat, wird auch seine Sorgendarum haben . Und waru m? Nur weil die meisten Wirteund ihre Angestellten es noch nicht verstanden haben

,ge

schä ft lich aufzutreten . Alle Hochachtung vor ihrer Liebenswürdigkeit und ihrer Zuvorkommenheit ! Aber es gi btGrenzen

,wo es heißt

Bu siness is Bu siness .

Man sehe sich nur die großen Dampferlinien mi t ihrenschwimmenden H o telpal ä sten an ! Da wird doch nicht gepumpt ! Da macht der Wirt auch keine besonderen K ompl imente . Da da rf ein Gas t sich nicht einmal mucksen

_und m

u nvernu nftiger Weise den Mund aufmachen ! Und keinerwird es von selber wagen . W er es versucht, gratis zu leben,wird per Schub zu rückexpediert und muß seine Fahrt ab

arbeiten . Das ist ‚Bu siness ! So sollte es auch 111 den Hotelsau f dem Lande sein ! Die Wirte sollten ein Gesetz haben,

welches ihnen das Recht gibt, jeden saumseligen Genu ßmenschen

,=o

_

b Aristokrat oder Bürger,m se1nem Hotel be

schä ftigen zu können,bis die Schuld abgetragen l st . Wo ?

7 Na da kommt doch nu r die A u fwaschküche m Betracht,wo der Schuldner Teller was chen und Kasserollen scheuemmüßte . Denn zu höheren Leistungen besitzen so lche Epikureergewöhnlich nicht die Fähigkeiten . Ein hochgebor

'

en'

es Aqwaschküchenpersonä l wäre in der T at viel mehr Reklameund Nutzen für ein H otel, als die Gegenwart so lcher zweifelhaften Gäste. Leu te nu t e1ner brennenden Genu ßsu cht imHerzen und minu s den nötigen Mitteln 1111 Beutel würden sichdann in andere Gefilde begeben als in das‘ Schlaraffenlanddes W irtes, welches , w1e si e glauben, keine großartige, gig

an»

tische .Wohltä tigkeitsanstal t, sondern in W irklichkeit ein Ge

schä fishau s ist .

VI .

D ie Sklaven verlieren in ihren K etten alles,selbst endlich denW u nsch, ihrer los zu sein .

R o u s s ea u .

Sie haben sicher schon einmal in Ihrem Garten zu r

schonen Frühs-0mmerzeit einen blühenden Rosenstock betrachtet ich meine natürlich nicht mit den Augen einesS chwärmers oder eines Verliebten

,sondern als ein Gärtner

oder vielleicht gar als Naturforscher . Ihnen wird dann auchgewiß mitunter eine geschäftige Scha r von Ameisen aufgefallen sein

,die behende an dem Stamm und den Stielch

'

en

auf und ab liefen . Alsdann wurden Sie noch aufmerksamer,s chauten noch scharfer zu

,und Sie entdeckten an den zarten

Knospen und unter den saftigen Blättern versteckt ganzeHerden von Blattläusen

,die in ungestörter Ruhe sich am

Safte des Bäumchens gu tlich taten . Und mit großem Interesse sahen Sie weiter

,wie die fleißigen

,schlauen Anieisen

eine nach der anderen'

z

'

i1—

d'

en Blattlau skolonien pilgerten u nds ich dortselbst al lerhand zu schaffen machten . Aha ! SieW l ssen, was ich meine! Ganz richtig ! Die Ameisens tatten den Blattläusen einen Besuch ab . Sie tänzeln unds charwenzeln und krabbeln da herum,

bis sie ganz dicht and ie faulen Kreaturen herankommen . Dann machen sie ihrK eimpliment und beginnen mit ihren Fühlern die feistenRücken ihrer Freunde zu streicheln und zu kitzeln . D iesefühlen sich natürlich sehr geschmeichelt und geben als Dankeinen süßen

,blinkenden Stoff“ von sich

,den die Ameisen

s ehr hoch schätzen. Denn darum kommen sie Ja doch, dieS chlauberger ! N u r um die Blattläuse zu melken . Und habensie genug

,so verschwinden sie in ihrem Bau . M an wird

natürlich einige Zeitlang -mit großer Freude den flinken

P a u l Veh l in g , D ie Moral des Hotels . I

Tierchen zuschauen . Das Leben und Treiben der Ameisenist doch so interessant und lehrreich man kann gar nichtgenug davon sehen . Aber man haßt die Blattläuse, dasfaule Gesindel

,denn sie verderben au f die Dauer den schonen

Rosenstock . Darum nimmt man die Spritze zur H and undschüttelt das Stämmchen

,damit die Ameisen abfallen . Die

gewandten Geschöpfchen landen irgendwo sicher au f ihrenFüßen

,aber die Blattläuse si nd zähe und bleiben hängen .

Darummüssen sie mit dem scharfen Zeug abgespritzt u ndgetötet werden . Denn sonst kann der Rosenstock nichtweiterleben

W ie ich au f einmal au f die Natu rgesch1chte zu sprech enkomme ? Oh

,ich dachte nu r eben daran

,daß die Ameisen

die Kellner und W irte par excéllenoe im Reiche der Insektenseien . Beherbergen sie nicht auch viele Gäste in ihren Bauen !Werden diese nicht gut gefüttert und gestreichelt l ; — e Natür«

lich des„blinkenden Stoffes wegen . Der . einzige‚Unten

schied ist,daß nicht die Gä s te, sondern die W irte dabei

betrunken werden . Auch sind dieAmeisen bu sinesslikegenug,den G ast

,der für die gu te Behandlung nicht bezahlen W il l,

einfach aufzufressen . So können wir uns auch die geschäftigen Armeen von Kellnern vorstellen, die der so

genannten Gesellschaft“ diesen Nichtstu em , diesen Blattläusen am R osenhau me des Lebens den süßen Mammonabstreichelri u nd abschmeicheln mussen .

Diese Blattläu sesaugen sich an den Knospen des grünen Lebensbaumes sofes t, daß es bis j etzt noch keinemGärtner gelungen, sie abzu spritzen. Schon vi ele Tausende tapferer Männer habenMillionen und Millionen Flaschen giftiger Tinte verspritzt .E s hat nichts genutzt ! Noch immer sitzen d ie faulen Geschöpfe da und saugen dem Leben den Saft aus .

D ie.Ameisen sind ganz schlau ! Sie wissen

,welche

Arbeit sie haben würden, das Ge sinde l auszurotten . Darumnehmen . S1e nu r sov iel, wie jsie au f einigermaßen angenehmemW ege erlangen können . Gewiß, gewiß ! Viele brave Menschen

,besonders diejenigen

,die au s Mangel an Gelegenheit

und Fähigkeit dem Ameisenbeispiel nicht folgen können,halten solche diploinatische Lebensweise für ganz und gar

Philologe, und durch die Etymologie -kö nnen wir vielleicht'etwas Aufklärung erhalten . ; S ehen Sie, der . Franzose *

zu m

Beispiel nennt das Trinkgeld„P ou rboire“

'

i11'

1 Schwedischenheißt es

„Drickspmgar

“ beides g leichbedeu tend mit demGeld zum Vertrinken“ . Der Italiener dagegen gebr auchtdie Ausdrücke Bu ona mano“ und

„Mancia“ Hier hat das

Geld etwas mit„Hand ‘ “ zu tun . Der Spanier wendet das

W ort„P ropina

“au f

„ Trinkgeld an, u nd es hat sonst keineandere Bedeutu ng . Im Englischen sagt man

„ fee“ ode r

meistens„tip

“. „Fee“ ist ganz einfach „

Bezahlung“, „T ip

dagegen hat eine mannigfaltige Bedeutung . Das W ort hängt

mit dem deutschen„Tüpfchen“ und Zipfel“ zusammen und

heißt eigentlich Dann gebraucht man es aber auchin der Bedeutung

„Wink j a, nicht wahr, Herr Kommen

zienrat ! —'

A n der Borse ! Richtig, au f dem Rennplatz

auch ! Ein guter„Tip

“. Schließlich in dem Sinne auch in

bezug auf die Polizei . Aber das hilft uns nicht weiter . Dieeinzige Erklärung in unserem Falle kannm an erhalten

,wenn

man„tip

“ etymol-ogisch von“

dem mu n-dartlichen„ dibs

süßer Sirup was im Volksmunde aber auch mitunter für Geld“ angewandt wird . I ch habe mich ziemlicheingehend dafür interessiert, aber die dickleibigsten englischen W orterbu cher schweigen sich über den Ursprung desW o rtes

„tip

“ in der Bedeutung„Trinkgeld hinweg . Das

Trinkgeld Scheint ihneneine sehr verächtliche Sache zu sein .

Un sere philologische Weisheit bringt u ns also doch nichtviel weiter . Zwar gebraucht man im Umgang auch nochW orte wie Obolus“ oder D iobolu s was sich schrecklichanhört

,aber doch nur eine harmlosegriechische Bezeichnung

für eine gewisse kleine Münze ist . Auch das französische

„dou a mr wird mitunter für Trinkgeld“ angewandt . Dochman

kann es höchstens als Freundlichkeit oder Süßigkeit“

verstehen . Das persische„Bakschisc u nd noch verschiedene

andere W orte, die das Trinkgeld ch‘arakterisieren sollen, sind

aber auch -

a lle nur gleichbedeutend mit Geld“ , „Geschenk“

,

freiwillige Gabe“ usw. Gewöhnlich aber ist das Trinkgeldeine sehr unfreiwillige Gabe, eine dringende N otwendigkeit,zu d er man sich in gewissen Lagen verpflichtet fühlt -

u nd

165

wodurch gewohnl ich hochst peinliche Situationen entstehen .

Doch nirgendwo au f der W elt scheint man ihr aus dem Wegegehen zu wollen

,oder besser : u beral l wird man hinein

gedrängt . In der Türkei, in China, wo wenig alkoholischeGetranke genossen werden, gibt es eben „

K affeegelder“ Tee

gelder u nd allerhand son'

stige„Gelder“ .

Ich halte des T rinkgeldgeben und n ehmen fu r eine‚echtorientalische Krankheit mit allen für den Orient charakte

ristischenAnsteckungsgefahren, Symptomen und Folgen . Mankann wirklich die Länder und Völker am Trinkgeld erkennenman kann den ganzen W ert und die soziale Stellung derNation danach bemessen Wo diese Form von Bezahlung für geleistete Dienste vorherrscht

,da ist es faul im

Staa te . . Der Orient klassisch für Korruption mitseiner teilweise noch bestehenden Sklaverei, ist auch klassischfür das Trinkgeld . Es ist nur noch mit Beulenpe st oderasiatischer Cholera zu vergleichen . Solche unhygienischeFinanzen grassieren natürlich auch in Europa sehr stark .

Rußland steh t bekanntlich wie in po litischer u nd sozialerM alpropretä t so auch in finanzieller Unreinlichkeit an derSpitze der europäischen Nationen . Dort besitzt man sogardie charakteristische Roheit

,das Trinkgeld Schnapsgeld

zu bezeichnen . Doch die anderen Staaten Europas sindnicht minder von der orientalischen Krankheit verseucht .In den Vereinigten

8i ää tén von Amerika wird noch amwenigsten Trinkgeld gegeben, weil im großen ganzen dieArbeitslöhne gu t u nd geregelt sind . Allein in den letzten

'

Jahrzehnten hat mit der zunehmenden europäischen Kulturund Sitten auch das T rinkgeldwesen sehr zugenommen . Die

Trusts sorgen eifrig dafür, daß es den L ohnarbeitem und

kleinen Leutchen nicht allzu gut gehe, und sie schraubendemge

_

mä ß die Preise fur Lebensbedürfnisse in die Höhe ineinem Tempo

,worin die Lohnsätze nicht folgen können .

So ist dem freien Durchschnittsamerikaner auch schon einegewal tige Hochachtung vor dem T rinkgelde beigebrachtworden .

Wie lange die Menschheit schon von der Trinkgeldkrankheit behaftet ist

,läßt sich gar nicht sagen . Jedenfalls

ist s ie so alt wie die Gastwirtschaftsindu strie, in der sie sichnoch am stä rksten erhalten hat . Gan z hitzige Köpfe in unserenTagenb elieben häufig

,das Trinkgeld als eine gelinde Form

von Bestechung zu bezeichnen. Trifft diese Bezeichnung zu,

so ist das Trinkgeld sehr, sehr alt ; denn die Bestechung inj eder Form ist e ine erbliche Angewohnheit der Menschen .

Schon im grauen Altertum gab es keine Festung, die nichtein mit Gold beladener Esel hätte einnehmen können . Das

Mittelalter mit seinen schlechten sozialen Verhältnissen undsonstigen unhygi enischen Zuständen war natürlich die Blütezeit des Trinkgeldes . Vom Hofma rsch

'

all herab bis zumgeringsten Kanzleischreiber

,vom Meister bis zum Lehrling

,

hoch und gering, alle waren sie die Ritter von der hohlenHand . Die trotzigen Meister der Zünfte schämten sichnicht

,fu r sich u nd ihre Gehilfen ein Trinkgeld zu verlangen

,

wenn der Patron,der sie mit einem Auftrage betraut hatte

,

befriedigt - vor dem fertigen Meisterwerke stand . Al br echtDürer

,ein wackerer deutscher Mann

,ein unerreichter Meister

des Pinsels und des Stichels,heute noch u nd für alle Zeiten

der Stolz der ganzen deutschen Nation, war auch von derunheilvollen Krankheit behaftet

,Trinkgelder zu verlangen .

Er hat d ies sogar schriftlich gegeben,dam it es niemand später

abstreiten könne . Aber selbst schon dam als gab es Männer,die die Verderblichkeit dieser niederen Angewohnheit erkannthatten . Die ehrlichen, braven, gestrengen Räte und Landesväter

,die die bayrische Landesordnung vom Jahre 1 5 53

verfaßten, haben sich gegen solche Ü belstände gesträubt .Ich kann mich wirklich nicht mit dem W orte

„Trink

geld zurechtfinden . Da es aber der gebräuchlichste Au sdruck für freiwillige Belohnung geleisteter Dienste ist, vonDiensten

,die der Empfänger nach eigenem Gutdünken selber

abschä tzt u nd ein dementsprechendes, xbeliebiges Stuck Gelddafür hinwirft, und wo .derjenige, der den Dienst geleistet hat,geduldig und demütig harrend das tehen muß, bis ihm das

xbeliebige Geldstück hingeworfen wird und dabei gar nichtsüber das Gewicht und die Dicke des Geldstückes zu sagenhat

, ja nicht einmal'

mu cksen darf, wenn er überhaupt nichtsbekommt

,so will ich ihn den Ausdruck Trinkgeld“

168

wenn infolgedessen das Ehrengehalt, Opfergabe, Spende,Peterspfennig oder wie

_man sonst noch das Trinkgeld taufen

mag, etwas mager ausfällt, so können die betreffenden HerrenEmpfänger auch nichtshanderes

'

machen a ls das, was irgendein ;

'

ganz _plebejischer Bakschischheischer i n einem Falle vonWenig generöser Abschätzung seiner Dienste machen kann,(1. i. heimlich schimpfen . Laut und hörbar zu schimpfenSpricht von einer überaus großen Gemütsroheit und Undankbarkeit . Indessen tritt diese leider sehr hä ufig auf . Oft wirdsie ganz u nverblümt von der Kanzel heru ntergedonnert .

Bei einem 'ansehnlichen T rinkgelde, oder wenn es sichgar um fette Ziffern handelt

, erfinde t gewöhnlich der respektvolle Mensch allerhand wohlklingende Namen . Mit demNamen und der Summe

,die das Trinkgeld repräsentiert,

steigt dann auch natürlicherweise die Achtbarkeit desselben,so daß j eder dann ungeniert seine Hochachtung vor dem .

T rinkgelde ausdrücken darf . Ganz wie beim ‚Menschenselber . Daher is t es auch erklarlich, daß selbst d1e höchstenPersönlichkeiten Trinkgelder annehmen konnen und sie dankend quittieren .

- Ein sehr düsteres Bild von der Notwendigkeit u nd! derWirksamkeit des Trinkgeldes

entfaltete sich anfangs 1909in New York, wo sich zu den bevorstehenden Wahlen desBürgermeisters und der städtischen Verwaltungsbeamten eineneue Partei ;gebildet hatte, die beantragte, daß der neueBürgermeister außer seinem Gehalt

,welches höher ist als

das des Präsidenten der Vereinigten Staaten, nach Ablaufseiner Amtstätigkeit e1nen

„Bonu s“ von fünfh

'

u nderttam end

Dollars erhalten solle . Dieser „ Bonu s“

,Gratifikation, Cc

schenk,Trinkgeld was es nun gerade ist sollte d urch

Subskription unter Privatleuten beschafft wer den, damit die

politische Unabhängigkeit, die Unparteilichkeit des neu enW ürdenträgers und zu gleich d ie Wohlfahrt der ,

Stadt gesichert sei . D ie U rheber dieses Gedankens behaupte ten,daß es auf eine andere W eise u nmoglich sei, „

einen Mann fürden Posten zu erhalten, der seine Pflicht au f ehrliche Weiseausführen würde . D ie Partei klagte weiter, daß dieserad ikalen _Maßnahmen nämlich der Bonu s“ durch die

169

bisherige Verwaltung der Stadt, die schlechteste in irgendeiner Großstadt no twendig geworden se ien . Entblößt,beraubt

,betrogen

,so gu t wie bankerott stehe die herrliche

Stadt nun da und bedu rfe eines „ehrlichen —und kompetenten“

Verwalters . Selbst die dümmste und ungebildetste Bevölke

rung der Stadt habe nun einen dämmerigen Begriff bekommen, was eine derartige M ißwii tschaft der öffentlichenAngelegenheiten das Wort sei nur em beschönigenderAusdruck für Diebstahl u nd Schwelgerei au fKosten der Stadtbedeute . M an will also durch eine T rinkgel dver

sprechu ng die neu e Stadtverwaltung bewegen, ehrlich undhaushä lterisch

,unbestechlich u nd unparteiisch zu arbeiten.

W elche Abgründe werden da Vor unseren Augen geöffnet !Über ,die Gefühle, die

'

der Mens ch bei der Entgegennahmeeines Trinkgeldes hegt

,läßt sich vieles sagen . Indes mu ß

ich gleich hinzufügen,daß dergleichen Gefühle züsehr durch

äußere Umstände bestimmt w erden,als daß man eine ein

heitliche Regel auf sie anwenden könnte . Die äußeren Umstände sind nämlich

,wie wir bereits gesehen haben

,die

verschiedenen Bemä ntelu ngen,worin das Trinkgeld auftritt .

Jedoch auch diese Verkleidungen sind noch nicht der letzte,der bes timmende Fakto r für die Gemütserregung des E mpfängers . Nein

,die Entscheidung hängt einzig und allein von

dem Moment ab,wo das empfängliche Gemüt den ersten

Eindruck von der materiel len Bedeutung des Trinkgeldes insich aufnimmt und über das Verhäl tnis der Wirklichkeit zuseinen vielleicht idealen Erwartungen unterrichtet wird . DieMöglichkeiten für

”alle Arten von Gefühlsausbrüchen sind

daher u neingeschrankt .“

Und ihr Feld wird sond‘

erbarerWeisenoch bedeutend durch das bemerkenswerte individuelle Ver‘

halten des Trinkgeldes erweitert . Seinerseits erheb t nämlichdas ganz winzige Trinkgeld gewöhnlich die größten Anspru cheau f eine regelrechte

,öffentliche

,möglichst feierliche Ku nd

gebung von überwallenden Dankbarkeitsgefühlen . Höchstungerecht und arrogant, aber charakteristisch wie für jedeKleinigkeit . Der gewöhnliche Kellner wird besonders davongetroffen und hat sehr unter der Tyrannei zu leiden . Das

Trinkgeld von mittelmäßiger B edeutung gibt sich mei stens

mit einer angemessenen Verbeugung des lachelnden Empfängers zufrieden Das große Trinkgeld generös wie es istbeansprucht nichts . Höchstens eine Empfangsbestätigungauf Papier . Der Ordnung halber . Auch der Empfängerverhält sichh ier äußerlich sehr ru hig . Wir können uns abernu r in 'wenigen Fällen au f äußerliches Verhalten verlassen .

Es ist für die inneren Gefühle des Kulturmenschen meistensnicht maßgebend .

Es hängt also ganz allein von dem T rinkgelde ab , ob esfu r u ns an oder unannehmbar, a chtbar, ehrfu rchterregend

oder das Gegenteil davon ist . Und'

der Empfänger empfindetdieser Beschaffenheit entsprechend . Es ist ihm aber imInteresse seiner Gesundheit und seines Sed enfriedens dringend anzuraten

,keine allzu hohe Überzeugung von d er Güte

s einer Leistungen zu besitzen . Für den T rinkgeldempfä nger

kann eine solche Selbstüberhebung verderblich werden;Überha upt in allen Lebenslagen ist sie s chädlich

,denn sie

ist zum allerwenigsten lächerlich"

u nd provoziert die Mitmenschen .

Wenn der Kau fmann Nr . I dem anderen Nr . 2 au s

purer Freundschaft einen guten Wink gibt ja ganz richtig :einen

„Tip

“ oder ihm ein Geschä ftchen vermittelt, das e r

au s den verschiedensten Gründen nicht selber machen kannoder will, s o darf er dafür nicht zuviel Trinkgeld verlangen .

E s ist nicht schön von ihm . Der Kaufmann Nri. 2 wäre au fdie besagte Geschä ftsgelegenheit vielleicht o h n e die Gütedes Nr . 1 aufmerksam geworden . Aber selbst in' der nüch ‘

ternen Geschä ftswelt, wo nur Ziffern und keine Ge fühlereden

,hat man so viel Anstand besessen Und das häßliche

Trinkgeld in ein schönes Kleid gesteckt . Ja, in diesemKleide heißt es

„Kommission“ . Sie meinen, man könnte

die -Kommission nicht zu den T rinkgeldem rechnen l ? Oh,man. hat sogar die I llegitimität derselben erkannt und ver

sucht, sie legitim zu .

“ machen, indem man sie im voraus vereinbart und sich über die Materie klar ist, bevor das Geschäftchen zustande kommt . Dieses Verfahren verhindertvie‘1 Unannehmlichkeiten . Ein Trinkgeld - im

'

K ommissions

kleid od er ein W olf im Schafspelz ist ungefähr das gleiche .

I 72 .

verschonern. Manche P rinzipale gewahren au s diesem Grundegewissen Angestellten überhaupt keine Gehäl te

'r . Die Leutedürfen glücklich sein

,daß sie bei ihm überhau pt

'

gedu ldet

werden . :Wieder andere Prinzipale,von einer heillo sen Angst

vor der zukünftigen Konkurrenz ihrer Angestellten am

getrieben, suchen die nahende Flut solcher Gefahren e inl

zudämmen, indem sie im Namen des heiligen Rechtes, dasihnen z usteht, einen Teil der Trinkgelder ihrer Angestelltenim eigenen Sack verschwinden lassen . Sie verkaufen alsoeine fette Stelle an den Meistbietenden . Eine juristisch durchaus ehrliche

,achtbare und zulässige Geschä ftstransaktion .

Selbst inAm erika kommt dies vor . Der CloakR oom -

„Boy

der Garderobe-

„Junge“ eines R iesenhotels ein ganz

beträchtlicher Finanzier muß oft zehntausend Dollarsjäh rlich für das Privilegium zahlen

,sein D asein fuhren zu

können, und außerdem muß er noch eine Herde von anderen

„Jungen und Parlormaids zu seiner Hilfe au s eigenen Mittelnanstellen . Selbst in kleineren Betrieben l assen wieder anderePrinzipale die Anges tellten an aufreibenden Posten

,wo so

ungeheuer viel Trinkgeld eingeheimst wird, vollständig ohneHilfe stehen und drohen mit Entlassung

,wenn nicht

„alles

klappt Der Angestellte in seiner Angst,die Stelle zu ver

lieren und seine Gesundheit zu schonen,engagiert sich die

no twendige Hilfe auf eigene R echnung . So hat ein' großer

Oberkellner‘

-

.öder ein Portier sehr haufig seinen Privat

sekretär,der mit dem Hause

,in welchem er arbeitet

,direkt

nichts zu tu n ha t und nur für den M ann lebt,der ihn engagiert

hat und ihn entlohnt . Es ist eine alte Geschichte,daß ein

Hausknecht hä u fig ein halbes Dutzend anderer Hausknechtebeschäftigt u nd bezahlt . So kommt er dadurch in die rätse lhafte Situation

,daß seine Kollegen zu gleicher Zeit Haus

knechte bei ihm sind . Sie lachen,niein lieber Freund !

D as

'

sind Lagen,verzwickte Produkte des zwanzigsten Jahn

hu nderts,Blüten

,die überal l zu finden sind . In manchen

komplizierten Ehe und Verwandtschaftsverhaltnissen kannes vorkommen, daß man

‘eines Morgen s als"

sein e igener

Wir — wollen u ns daher nicht uber die Hau sknechte bei

I 73

einem Hausknecht amu sieren. In den großen Hotels, wo dieOberkellner ihren eigenen Speisesaa l haben, gi bt

’s sogar einenOberkellner für die Oberkellner . Na also !Die Vorteile, die das liebe Publikum au s den Marchen

von den T rinkgeldschä tzen zu ziehen sucht, liegen natürlichklar auf der Hand . Manchem Gaste

,der mit seinem Gelde

rechnet oder zu rechnen hat, treten bei der Abschätzung dervom Kellner geleis teten Dienste die horrenden Einkünftedes Menschen vor Augen . Na

,denkt er

, „der Mann ver

dient ja ohnehin so viel, u nd ich bin gerade knapp bei Kasse .

—. I n einem solchen Falle wird das Trinkgeld sehr mager

sein,oft selbst so unscheinbar

,daß es nu r ein illusorischer

Begriff ist,der sich mit dem Sehnerv oder dem S inne, der

in den Fingerspitzen steckt nicht wahrnehmen läßt . Wennsolcher Fälle viele auftreten u nd sie kommen so wirddas Budget des Kellners dadurch sehr beeinträchtigt . Wennnun alle Gäste eine nebelhafte Vorstellung von den Einkünften eines Kellners haben und die haben die meistenund wenn diese Vorstellungen optimistisch sind was g e

wöhnl ich der Fall ist dann schrumpft das Trinkgeld zu

einem hoffnungslosen,vagen Begriff zu sammen

,mit dem

der Kellner sich au f die Dauer nicht zufrieden erklären kann .

So sind die Aussichten des Kellners au f eigene Hotelsu nd Rittergüter verhältnismaßig gering . Dank demoptimisti

schen Publikum,dank

eigensüchtigen P rinzipalen. Und selbstvon den freigiebigen Gästen

,die in dem großen Ge

‘wühlevon Geizhälsen und Optimisten des Kellners einzige Hoffnu ngund eisernen Bestand bilden

,geht dem Armen viel verloren.

Die freigiebigen Leute sind gewöhnlich gutmütig und vertrauend

,aber auch leider ignorant in vieler Hinsicht . Sie

verteilen den Lohn für das gute Service, das sie erhaltenhaben, oft so ungeschickt wie möglich . D as Trinkgeld gerätdann meistens an die unrichtige Adresse

,und er

,der am

meisten zum W ohlbefinden der Gä ste beigetragen hat, d erKellner, wird entweder vergessen oder geflissentl ich vondenen

,die das Trinkgeld einheimsen

,übersehen . Daß dies

ein Mistbeet fu r allerhand Auswüchse häßlichster Leidenschaften ist, braucht man wohl gar nicht zu bemerken .

In vielen Hotel s hat sich die geradezu satanisch ‘e Methodeeingebürgert, daß alles Trinkgeld in eine gemeinsame Kassefl ießen muß, die von dem Argu sauge des Herrn Obelikel lneisbewacht und deren Inhalt“ am Schlu sse der W oche „

gerecht“

verteilt wird Viele Menschen haben sehr individuelleRech tsbegriffe . So auch manche Hoteliers und Oberkellner; M afiCh

mal sollte man sagen,die Leu te hätten zehn

'

Seme'

ster Jurastudiert . Ein Drittel wenn nicht gar mehr dieserKasse fließt gewöhnlich dem Herrn Ober '

zu ,fünfzig Prozent

vom Rest wird unter den Assistenz -Oberkellnern'

verteilt,der

Rest vom Rest,also höchstens fünfundzwanzig bis“ ‘

dreißigProzent vom Ganzen

,geht unter die vielen K ellner,die d avon

gewöhnlich noch etwas ihren treuen P ikkolos abgebenmüssen,ohne d eren H ilfe

'

sie vielleicht nicht fertig geworden waren .

Hier gebiert das Böse wiederum Boses . Die ungerechteVerteilung verleitet die Kellner natürlich oft, nu r einen Teildes sauer verdienten Trinkgeldes in die Kasse fließen zulas sen

,und sie machen sieh so der Unterschlagu ng schu ldig.

Selbst das ehrlichste Gemüt wird Grund genug fur einensolchen Akt finden und wird die Stimme des Gewi ssens miterfundenen Theorien zu beschwichtigen suchen . Dies istgewöhnlich der erste Schritt zur wirklichen Unterschlagu ng,wenn die Feinheit des Gevirissehs durch das Praktizierensolcher Tricks abgestumpft ist und sich einen Grund für eineverbrecherische Tat ausheckt . Derartige Systeme sind alsogeradezu Vorschu len für den werdenden Verb recher . Siekitzeln und animieren die verbrecherischen Instinkte

,die in

j ed er menschlichen Brust schlummern . E in Kellner ist gewöhnlich in den Jahren der Jugend, wo sein Gemüt amdunkelsten

, am chaotischsten u nd zugleich am eihpfahgl ichsten ist . Die äußern Einflüsse bestürmen ihn so gewaltig,daß er sich oft der unheimlichen Mächte nicht mehr entziehenkann und sinkt, rettungslo s sinkt .Das Rittergut des Kellners liegt also

nicht so nahe, wieman glauben sollte . W as bleibt ihm sons t noch übrig ?Sein Gehalt . Dies Gehalt ist, wie wir sahen, infolge desfreundlichen Glaubens an das

Trinkgeld überall geringmeis tens sehr gering manchmal sogar Null, in allen Fällen

fu tteru ng seiner Angestellten werWertet, so macht er a dabeiein sehr lukratives Geschäft f

Bei einer großen Anzahl v onAngestellten läuft dies natürlich kolossal zusammen u nd bildete ine beträchtliche Einnahmequelle des *P rinzipals . In seinem

großen Hause findet der Hotelier natürlich auch genügendS peicher und Kellerräume

,vieleW inkel u nd Stuben, um seine

Schar von Angestellten zu beherbergen . Für die Gäste könnenderartige L öcher nicht in Betracht kommen

,

al s sonstige Betriebsrä ume sind sie vielleicht nicht geeignet oder überflüssig .

Folglich stehen sie leer und sind unbenutzt . Aber jeder

Q'

uadratzoll,den ein Hotel bedeckt

,kostet Geld

,oft sehr

viel Geld, u nd somit ist j eder unbenutzte Raum . in dem

G ebau de verlorenes Geld . Die obligatorische Einquartierungd er Angestellten ist daher aus diesem Grunde höchst er;

wünscht . Die Angestellten,die im Hause schlafen tmüssen

,

sind wertvollere Gäste als die Gäste selber Sie las sen sichirgendwo

,in irgendeinen Stall hineinpferchen u nd bezählen

schweres Geld dafür . Denn für zwanzig Mark im Monatb ekommt man überall ein halbwegs menschenwürdigesmöb liertes Zimmer wenigstens nach unseren heutigen Begriffen und vielleicht noch liebenswürdige Wirtsleute oben«

d rein Der Kellner und die anderen Angestellten des Hotelswerden aber nicht selten zu fünf oder zehn Personen - in einemRaume kaserniert, der kaum mehr als den gesetzlichenKubikinhalt hat . Oft hat er diesen nicht einmal . Und für solches

Q uartier bezahlt der Kellner seine hohe Miete . Von den

Unannehmlichkeiten, Unzu trä glichkeiten,

von der zweifeLhaften Gütergemeinschaft

,die durch das Zusammenleben in

so lchen Quartieren entstehen,will ich schweigen . Ich will

s chweigen von der Schmucklosigkeit, die solchen Räumen.anhaftet . Sie sehen allem ähnlich, nu r keinem Heim,

dessenein hart arbeitender Mensch zu r Ruhe u nd Erholung drin

;gendst bedarf . Ich will schweigen von den unhygienischen,.s chmutzigen Zuständen, die sich dabei no twendigerweise entw ickeln müssen . Ich will schweigen von der deprimierenden,—erdrückenden Wirkung

,welche derar tige Quartiere au f das

Gemüt des jungen Mensch-en haben, der soeben seinenA rbeitsplatz eine Stätte”des Überflusses, d es R eichtums

I 77

und der Üppigkeit verließ . Hier hat er Gelegenheit, erstrecht sein eigenes Elend einzusehen und darüber nachzu

grübeln . I ch will schweigen von den verderblichen Folgen,

welche Massenquartiere von jungen Leuten beiderlei Geschlechts mit sich führen . W ir brauchen keine Moralisten zu

sein,um uns über die bestehenden Versuchungen u nd den

Verfall der M oral der Angestellten zu entrüsten . Nein,

wir wo llen keine Moralisten sein . W ir wollen uns nichtdaru ber entrüsten . Wer schlecht sein will, kann es irgendwound überall sein . Ein reiner Mensch kann in einem Pfuhlvon L as ter und Elend stecken, ohne daß er davon berührtwird . Aber der Ekel, die Krankhe iten an Leib nnd Seele, diesolche Umgebungen auf die Dauer selbst dem stärkstenGemüte aufdrücken

,sind unbeschreiblich

'

.

Und für solche Umgebungen u nd E infl u sse bezahlt derKellner schweres Geld . Um solcher Quartiere willen, die nurder Bereicherung seines A rbeitsgebers dienen

,der schon

ohnehin zu viel Nutzen aus seinen Angestellten zieht,muß der

Kellner den Gedanken an ein gesittetes Familienleben vonvornherein als etwas ganz Unmögliches von sich abweisen .

Um solcher Qua rtiere willen kann er kein menschenwürdigesDasein führen

,darum geht ihm die so no twendige Ruhe u nd

Erholung ab . Freilich hat die obligatorische Einquartierungihren doppelten Vorteil

_

_

für den Prinzipal . Er kann seineLeute möglichst lange im Geschäft halten und sie je nachBedarf immer bei T ag und Nacht zitieren, sie mög

'

9

l ichst früh wieder heraustrommeln . Sie sind ihm immer zu rHand immer ! Natürlich veranlassen solche ekelhaftenZustä nde die jungen Leute, statt nach der Arbeit sich zu r

.

Ruhe zu begeben,noch spä t in der Nacht oder vielmehr früh

am Morgen zu fliehen und im Nachtleben der GroßstädteZerstreuung zu suchen .

I ch war sehr generos u n Kostenanschlag fur das Logisund die Nahrung, die dem Kellner als ein Entgelt für seineDienste aufgenötigt werden . I ch kann mit ruhigem Gewissenbehaupten, daß die Ko st einer Volksküch

'

e oft besser,11ahr

hafter, appetitlich'

er zu bereitet ist,al s das Futter, das man

gewöhnlich dem Kellner vorwirft . Auch hier hat er. wieder

P a u l V e h l in g , D ie Moral des Hotels .

178

schmerzliche Gelegenheit, Vergle iche zu ziehen zwischenseinem M enu und dem der glücklicheren Menschen

,die er

abfüttert . Eine . monatliche P ensmn m einer Volksküchewird nieht die Summe von dreißig Mark

,die ich für Kellner

kost veranschlagt habe,verschlingen . Dafür kann man sich

schon ganz‚leidlich in einem P rivatkosthau se oder bei eineranständigen Bürgerfamilie durchbringen

,wo es gute H aus

mannsko st und gelegentlich einen saftigen Braten oder ein

Hühnchen am Sonntag gibt . Die veranschlagten zwanzigMark als monatliche Miete für einen Stall denn mehr kannman die sumpfigen Quartiere meistens nicht nennen, sindgleichfalls reichlich . Addieren wir nun diese zwei Zahlenzu dem schon oben erwähnten Gehalt von rund fünfunddreißigMark

,so ergibt dies eine Summe von fünfundachtzig Mark,

die der Kellner von seinem A rbeitsgeber für die geleistetenDienste monatlich erhält . Und nehmen wir an, daß

“ er nurvierzehn Stunden durchschnittlich im Tage arbeitet, so erhä lter für eine monatliche Arbeitszeit von dreißig mal vierzehnalso vierhundertu ndzwanzig Arbeitsstunden ein

-en Lohn vonzirka zwanzig Pfennig pro Stunde . Dies ist ein —Lohnsatz, mitdem sich nicht der geringste Tagelöhner zufriedengibt .Die illusorische Summe von fünfzig Mark

,veranschlagt

fu r die Verpflegung,zieht nicht viel direkte finanzielle Aus

lagen für d en Prinzipal nach sich . Das P ersonjal,Welches

für die Verpflegung des Personals „ engagiert ist, ist nichtzahlreich . Gewöhnlich probieren die angehenden Kochkünstler

,die Lehrlinge in der K üche ihrer Künste an dem

Essen des Personals . D as Menü des Personals_ ist oft sozu

sagen ein VerSu chskaninchen. Auch hierin liegt ein Profitdes P rinzipal s . . In den meisten Fä llen braucht er den Lehrlingen k ein Gehalt zu geben im Gegenteil

,diese bezahlen

oft das Haus noch,damit sie das Essen der Angestellten

versalzen und anbrennen lassen du rfen ; zweitens erstrecktsich die verheerende und zerstörende Tätigkeit dieser jungenSchuler des L u ku l ls nicht auf die delikaten Rohmaterialien,die hübsch zubereitet die Tafel der Gäste zieren sollen, sondern au f den minderwertigen Fraß der Angestellten, welchenichts zu sagen haben . Die jungen Köche lernen auf Kosten

u nd anstandig erscheinen, denn dies darf jeder Prinzipalverlangen nein

,sie sollen womöglich nob el

,hochnobel

auftreten . Dies i st zwar ein sehr dehnbarer Begr iff, aberum ihn nur ha lbwegs gerecht zu we rden, braucht man schoneinen ansehnlichen Posten Geld . Die W äsche verschlingteinen großen Teil davon . Kragen, Manschetten, Hemdensind wegen der anstrengenden Tätigkeit des Kellners nacheinma ligem Gebrauche gewöhnlich zu erneuern . In denSommermonaten wächst es ins Ungeheure . Die absurdeMode

,den Vielgeplagten selbst in der größten Hitze mit

steifem Kragen,weißem Panzerhemd und engem

,schwarzem

Frack zu quälen,verschlingt eine Menge Ge ld . Die gute

Kleidung des Kellners Wird durch den häufigen Kontakt mitfettigen Schüsseln und Gegenständen in der Küche gleichfallssehr bald ruiniert . Ein neuer Frack . in jedem Quartal ist dieRegel des anständigen Kellners . Mit dem Schuh 'zeuge gehtes gleichfalls nicht besser . Gute

,leichte Schuhe

,d ie fur den

Kellner nur in Betracht kommen,halten einen täglichen

Sturmschritt von zehn,zwanzig

,oft dreißig Kilometern trepp

auf u nd treppab über Teppiche, Marmor und Steinfliesennicht lange aus . Nach einem Monat ist das Leben einesPaares Schuhe

,das z

'

wanzig Mark gekostet hat,im Hotel

dienste erloschen .

S o kommen wir zu d em erschreckenden Resultat,daß

die Einkünfte,die der Kellner vom Hause bezieht

,nicht .

einmal seine notwendigsten geschäftlichen Auslagen decken.

Wie muß er sich nun mit den anderen geschäftlichenVerlustenabfinden

,die ihm au s s einer Tätigkeit erwachsen ? Wie

bezahlt er das Bru chgeld, die'

.Verlu st-e durch d ie Gäste oderseine Unaufmerksamkeit, die Abgaben an seinen Pikkolo,die Strafen

,die

ihm von den Vorgesetzten auferlegt werden,

das Schützengeld u nd wie sonst noch alle die Anzapfereienheißen ? Wie bestreitet er alle diese Kosten ? Wie verschafft er sich die Mittel für seine fortwährenden aus

gedehi1teri ’

,kostspieligen Reisen ? W ie lebt er zur Zeit

seiner oft entsetzl ich langen Stel lenlosigkeit ?*W as ver

bleibt ihm'

für sein Alter, welches mit seinem fünfunddreißigsten

b'

is vierzigsten’

L ébensjahre beginnt u nd ihn u nbarm

18 1

herzig z . D . oder a . D . stellt ? .Selbstverstandlich ! DasTrinkgeld mu ß es machen !Ich habe Ihnen aber klargemacht, was d as Trinkgeld ist .

Es ist kein Einkommen,es ist nu r ein Auskommen . Würde

der Kellner nicht lieber ein s i c h e res Einkommen seinemunsicheren Auskommen vorziehen ? Ich kann es nicht sagen !Der Kellner wie ein Jongleur liebt das Waghal

'

sige .

Wie ihm ein sicheres Einkommen verschafft werdenkonnte ? Nichts einfacher als dies ! Und vielleicht nichtsschwieriger . Selbstverständlich gibt es unter dem Pu blikumviele Gegner — des T rinkgeldes Und mit Recht . Manchedarunter sind aber doch recht sonderbare K ä u ze . Sie agi tierengegen das Trinkgeld an der unrichtigen Stelle . Wieso ?Nun

,indem sie dem Kellner k e i n Trinkgeld geben u nd in

ihrer heiligen Entrüstung nicht bedenken, daß ,solange d ieser

Mensch schlecht bezahlt ist,er quasi ein Anrecht au f das

Trinkgeld hat, u nd daß der Gast moralisch verpflichtet ist,eine angemessene Belohnung für die erhaltenen Dienste zugeben . Denn wenn die Löhne der Angestellten erhöht werden

,

so mussen auch folgerichtig die Preise der Waren erhöhtwerden

,sonst kann der Wirt u nmoglich au f se1ne

_K osten

kommen . Der Gast hat also auf j eden Fall die bittere. Pilledes Zahlens zu schlucken .

Unter den gegenwä rtigen Verhaltnissen profitiert naturl

_

ich ein„Gegner des

"

T rinkgeldes“ ganz erheblich auf Ko sten

des armen Kellners . Der Gast, welcher kein Trinkgeld gibt,schind et es dem Kellner ab . E r bereichert sich au f Kos teneines armen

,arbeitenden Menschen . Der Kellner steht macht

los da, aber er merkt sich gewöhnlich seine Kunden . Beiseinem häufigeren Erscheinen wird einem solchen Gastenicht das Interesse entgegengebracht, welch es er sich wohlwünsche-n möchte . Auf die Dauer entstehen Spannungenzwischen ihm u nd dem Kellner

,die wirklich unerträglich,

oft gar gesundheitsschädlich für beide Parteien werdenkönnen . Dennoch ist der bedauernswerte Nichttrinkgeldgeber au s Prinzip eigentlich noch der achtbarste unter denen,deren Hand verschlossen bleibt . Geldverlegenheit ist zu ent

schuldigen, aber der Geizige im Speisesaal ist die veracht

182

l ichste K reatu r„ die i ch mir denken kann . Sie machen auchgewöhnlich immer die größten Ansprüche

,und ihr Erscheinen

ist das Zeichen eines hereinbrechenden Strafgerichtes Go ttesfür den Hotelier und seine Angestellten . Aber scharenweisetreten sie auf . Sie wollen gewöhnl ich nie

„etwas Extras

haben,sondern nur das

,wozu sie berechtigt sind“ . Sie sind

gräßlich,wenn wütend gemacht durch die ind ifferente Ruhe

mit welcher ihnen gewöhnlich der Kellner begegnet,sobald

er sie erkannt hat . In derartigen Gemütserregungen verringert sich meistens der Wortschatz dieser Leute au f die

primitivsten Formen,und in willkürlichen

,u ngewähl ten Aus

drücken ergießen sich die schön-en Seelen . I ch kann“ nichtversteh en, warum die Hoteliers nicht in eine Versicherunggegen solche Gäste gehen und überall

,wo sie diesem Typus

begegnen, sich seiner ohne viel Zeremonien entledigen . Die

einzige Erklärung für die Unterlassung der Maßregeln istder Umstand

,daß meistens nicht s i e

,sondern die An

gestellten unter der Pest zu leiden habenAndere prinzipielle Feinde des Trinkgeldes sind die

Herden von Reisegesellschaften,die unter der Führung eines

Leithammels mit Sprachrohr u nd Baedeker ganz Europaüberschwemmen . Man kann sie sehen, die großen Fuhrender R eiseviehtransporte . Zusammengepfercht rasseln sie imGalopp du rch die Straßen und recken die

'

Gummihälse .

Ihnen ist jedoch zu verdanken, daß unsere Museen nocheinigermaßen bevolkert sind . Diese Leute und auch dievereinzelt und doch nicht minder zahlreich auftretendennomadisierenden

,ästhetischen Jungfern

,die ein gemischtes

Parfüm von M u seu mslu ft und welken Rosen init sich bringen,sind durch gewohnheitémä ßige, kompu lso r

'

ische Arithmetikau sgesprochene Gegnerinnen des T rinkgeldgebens . Sänger,Schauspieler

,Theaterdichter

,K onzertkünstler verbinden oft

mit dem T rinkgld einen guten Zweck . Sie geben dasselbereichlich

,j edoch in der

weniger liquidierbaren Form von

Billetten zu ihren'

respektiven V orstellungen . Sie haben dabeioft wenig Ahnung, welch kritisches Füllsel sie sich für

gähnend e Leeren im Parkett des Hauses auserwählt haben .

Ich kann wirklich nicht einsehen,warum die Wirte vön

setzl ich em iedrigend fu r einen reichen Gast,einen armen

Angestellten prellen zu wollen . Und darum wird der Kellnergeschmäht und verachtet

,weil sich seine Gäste so entsetzlich

emiedrigend, so hühdisch ben-ehmen ? ! Es ist sonderbar,

wie“

die R echte verdreht werden ! Wir können es doch wohlkaum einem Menschen verdenken

,daß er zu allen möglichen

erlaubten, ja verzweifelten Mitteln greift, seinen verdientenLohn einzukassieren . Was tun die Menschen nicht alles

,um

unverdientes Geld zu erwerben ! ?Es rentiert sich wirklich

,dem Kellner das verdiente Trink

geld zu . geben . Ein schwerer Druck lastet au f dem Gemüteder Gäste

,die ihm den schuldigen Lohn verweigern . Sie

wissen wohl,welches Unrecht sie begehen, u nd beschämt

suchen sie sich so schnell wie möglich zu entfernen . Ja, ihrAuszug gleicht dem eines Diebes bei der Nacht . Und ihnenfolgen keine Segenswünsche . Ihn

'

en folgt die W u t u nd dergerechte Zorn des Betrogenen . Wer von diesen moralischenBeweggründen u nberu hr-t bleibt

,mag vielleicht den materiellen

Schaden,der se1ner Ungerechtigkeit nicht selten folgt

,um

so mehr empfinden . W ir wollen uns nicht die Augen ver

binden,um von dem Anblick verschont zu sein

,den unser

Gepäck in den Fäusten eines rachsüchtigen Hausknechtsdarbietet

,wenn dieser weiß

,daß er leer ausgehen wird . Mit

Handschuhen wird er es nicht behandeln . Er wird seinenR acheakt . so g eschickt ausführen, daß man ihm nicht einmaletwas anhaben kann . Es ist zwar eine Dummheit, aberimmerhin die typische Kundgebung der kochenden Volksseele . Die gebildeten, vielgereisten Gäste sollten damit vertraut

.sein . Die Kenntnis derartiger K leinigkeiten . is)t nicht

zu unterschätzen . Dem Geizhälse im Saal ergeht es kaumbesser . Sein Diner wird gewiß nicht zu m Genuß . Er mußgeduldig

,wenn auch innerlich kochend

,zusehen, wie sein

freigiebiger M itgast den ganzen Balsam einer gu ten, erstklassigen Behandlung und Hochachtung erhä lt . Dies alleinkann einem . Knicker unter Ums tänden schon gen

u gend Gelbsucht einbringen

,daß die Doktorrechnu ngen sich weit höher

belaufen als das K é l lnertrinkgeld . Denn er darf als Gastdes H auses doch auch die größtmögliche Aufmerksamkeit

185

beanspruchen . Diese laßt sich jedoch nicht energisch beitreiben . Sie will gelockt sein . Energie im Speisesaal wirdbegrinst ; sie ist absolut machtlos .Es folgt nu n noch ein anderer Typus von Trinkgeld

gebern . Das . ist der verschwenderische, der protzenhafte .

Es ist leicht,sich in die Seele des Ge izhalses hineinzu denken.

Der Protz aber und der Verschwender sind ganz andere,viel

schwierigere Fälle . Der Grundzug im Charakter des Geizha lses ist List und Egoismus

,beim Protzen hochmütige

Du mmheit und beim Verschwender Leichtsinn . Nichts entblößt sich mehr als List und Egoismus . Ein ehrlicher Menschkann sie lächelnd durchschauen

,wenn er seine Augen au f

hä lt . Die Dummh eit aber zu durchschauen hat noch niemandvermo cht . Sie ist hoffnungslos dunkel . Und der Leichtsinnist wie ein Sumpf

,unergründlich tief . Der w

i

rkliche Leichtsinnhat keinen Boden . Er ist bodenlos . - So schön'

u nd so edeldie milde

,diskrete Freigiebigkeit ist

,so ekelhaft ist die Art

des . Protzen, zu geben,und so verwerfl ich die des leicht

sinnigen Verschwenders . Und doch ! Warum können wir derDummheit und dem Leichtsinn nie wirklich ganz von Herzengram sein wie dem Geize ? Weil wir die be iden'ersteren undihre Schrecken nicht vollig erkennen können ? Eine verschwenderische und pro tzenhafte Handhabung des Geldesverleitet

'

naturgemäß auch den Empfänger zu solchem T u n.

W as man fortwirft, kann—

nicht viel Wert haben . So wird derWert des Geldes durch den Protzen u nd den Verschwenderentehrt . Und so wird die keimende Lebensanschauu ng desjungen K ellners . vergiftet . Wenn sein Gemüt nicht ganz starkist, so wird er das au f solche Weise erhaltene Geld auch wiederau f solche Weise verlieren .

Hier will ich Sie auch gleichzeitig au f die eine, vielleichtdie größte Gefahr des Trinkgeldes aufmerksam machen, d ersein E mpfänger ausgesetzt ist und der er schwer widerstehenkann . De r Kellner arbeitet nicht w ie die meisten anderenL ohn oder Gehaltarbeiter von Woche zu Woche oder vonMonat zu Monat . Nein

, als T rinkgeldempfä nger arbeitet'

er

von Tag zu T ag oder noch richtiger von Minute zu Minute‘

.

Diese Art und Weise, den Lohn zu beziehen, hat einen

ganz verderblichen Einfluß auf das Leben und den Charakterdes Mannes . Derjenige

,der ein monatliches Gehalt bezieht

,

ist gezwungen, mit den Früchten seiner Arbeit haushälterischumzugehen, damit dieselben bis zum nächsten Zahltage au s

reichen . Er lernt also rechnen . Ohne diese Kunst wird eran den letzten Tagen vor dem Empfang des neuen Gehalteshungern müssen . Anders der Kellner . E r kann heute abendseine ganze Barschaft verjube

ln,morgen früh fließt das Geld

wieder herein . Er kann seinen morgigen Tagelohn am Abenddes Tags verju beln

,übermorgen zu Frühstück hat er

wi ed er ein wenig im Sack . Und so weiter . Er kommt niemalsin Geldverlegenheit

,der glückliche Mensch ! Darum ist er

auch scheinbar so sorglos und lebt von heute au f morg en .

Darum kommt er'

nie in Not,denn er hat immer Geld

,und

er hat niemals Geld,weil es immer geht

,wie es kommt .

Folglich tötet das Trinkgeld auch im Innern des Empfängersdie Stimme ab

,welche ihn warnt

,daß er nicht immer jung

sein wird,daß er aufspeichern muß fu r magere Jahre . E s

bestärkt ihn im Leichtsinn,den er durch die verderb lichen

Beispiele au s seiner Umgebung gelernt hat .Der legitime Anspruch

,den der Kellner in seiner gegen

wartigen Lage auf Trinkgeld hat, artet oft in“

vielen F ällenin eine Sucht nach Trinkgeld aus

,die namentlich besonders

auftritt,wenn der eben erwähnte Leichtsinn Oberhand ge

wonnen hat . Die T rinkgeldfrage ist wirklich eine moderneHydra Schneidet man ei nen Kopf des Ungeheuers ab

,so

wachsen drei andere sofort - nach . Unerbittlich fordert u ndverschlingt sie ihre Opfer . Auf die eine oder die andereW eise . Nur die wenigsten können ihr entgehen . Setzt derKellner seinen Anspruch au f Trinkgeld energisch durch

,so

zieht e r sich die Verachtung der Menschen zu ,gefährdet

seine . Stellung und macht sich F einde unter seinen Kollegen .

Verzichtet er generös und resigniert,so arbeitet er umsonst

und reibt seine Gesundheit a u f für nichts .Auch ein Zankapfel unter den Kollegen selbst is t das

hose Trinkgeld. ‚Es ist eine unerschöpflich'

e Quelle vongroßen und kleinen Streitereien

,Ungerechügkciten, ja selbst

Unredlichkeiten: Zu den vielen So rgen des Oberkellners tritt

188

Arbeiters und verletzt die Wurde einer modernen Geschäftsführung . Kein Mittel ist ihm zu gemein und zu niedrig„ seine

fluchwürdige Existenz zu erhalten,u nd es hat sich folgender

Verbrechen gegen die Menschheit schuldig gemacht, d ie wir

durch unumstößliche Doku mente und ‚die Zeugnisse vonHunderttausenden ruinierter Leben, zertru mmerter «Jugendhoffnungen beweisen und bei einem Meer von Tränen eidlichbekräftigen können

1 ; Degradation unschuldiger Menschen . 2 . Demor'alisationunschuldiger Seelen . 3 . Verführung zu m Leichtsinn u nd

Förderung desselben . 4 . Vernichtung des Selbstbewußtseinsdes Empfängers . 5 . Verleitung zur Verschwendung . 6 . Verleitung zu r Unehrlichkeit . 7 . Stiften von

'

Unfrieden zwischenKollegen . 8 . Schüren der Leidenschaften d es Neides undder Gemeinheit . 9 . Untergrabung des Ansehens bei . den

Mitmenschen . I O . Foltern des guten Gebers . I I . Schä digungdes N ichtgebers in moralischer u nd materieller Hinsicht .1 2 . Verleiten der Wirte zu r Bequemlichkeit und Faulheit .13 . Tausende von indirekten schädlichen Folgen besagterVerbrechen u nd verdä chtig vieler ihm nicht direkt nachweisbarer Verbrechen .

I st das nicht ein stattliches Schuldkonto ! ? Konnten Siemir etwas angeben, das zur Entlastung des Angeklagten beitragt ? ! Das seine Existenz 1rgehdwie berechtigt ? Nein

,

nichts, gar nichts ! Unser Urteil ist daher fertig . Es heißt

,

„Schuldig“ . Schuldig, unwürdig der Zu gehörigkeit zu r menschlichen Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts . Nachdem Kodex des Lebens steht da rauf Ausstoßung aus demVerbande der Menschheit, lebenslängliche Verbannung u nd

Verlust samtlicher bürgerlichen Ehrenrechte und Existenzrechte .

Aber durch diese Aburteilung wird die Hydra noch langenicht getötet . Der erste Kopf ist nur Eswachsen sogleich drei andere nach, wenn die W u nde . nicht

ausgebrannt wird .

Das offene Geschwür mu ß behandelt u ndverbunden werden

,die Wunde muß sich schließen u nd . heilen .

Es soll womöglich keine Narbe bleiben . Anfangs mag sieden Körper noch sehr peinigen, doch der Schmerz wird

189

sich bei richtiger Behandlung bald legen . Die Zeit wirdheilen .

Wer,meinen Sie wohl

,wurde am schlimmsten durch eine

derartige Operation an unserem Geschäftskörper betroffenwerden ? Nun

,j edenfalls doch diejenigen Leute

,die au s

dem T rinkgelde Nutzen für sich selber zu ziehen suchen .

Und diese sind,wie wir sahen : die Kellner

,die P rinzipale

u nd

die Gäste Eine Flut von erzürnten, erstaunten, wütenden,ängstlichen

,feigen

,dummen Fragen würde plotzlich mit

einem Male brausend aufspringen . Das W ort Rousseauswird sich wieder bewahrheiten

Die Sklaven verlieren in ihren Ketten alles,selbst

endlich den W unsch, ihrer los zu sein .

Die Kellner würden fragen : ‚W as wo llen wir ohneTrinkgeld anfangen l ?

‘ Sie würden besorgt auf den Prinzipa l schauen und ungeduldig dessen Bewegungen abwarten .

Der Prinzipal würde genau dieselbe Frage stellen,besorgt

au f,seine Angestellten schauen und ungeduldig abwarten

,

was diese machen . Die armen Gäste sind dann sogar indrei Lager geteilt . Die beiden ersteren Lager werden sichgenau dieselbe bange Frage stellen

,jedoch mit verschiedenen

Hintergedanken . Lager Nr ._

1 denkt mit Schrecken an diePreiserhöhung der guten Dinge ; Nr . 2 ist in Verzweiflung,denn es weiß nicht

,was es machen soll, wenn es kein Trink

geld mehr gebenkann . Das dritte Lager aber wird sich garnichts fragen und auch nicht besorgt den Kopf hängenlassen, sondern es wird sich freuen, daß alles endlich einEnde nahm . Und dieses Lager ist das weitaus größte .

Ah , Sie glauben also wirklich an d ie Unbesiegbarkeitdes Trinkgeldes, an seinen endgültigen Triumph ? ! I ch

bewundere die Schärfe und Feinheit Ihres Gedankens, vor

Ihrer Menschenkenntnis graut mir beinahe ! Ja, ich mu ß

mein Haupt im Schmerz beugen und zugestehen : das Trink

geld ist das Zauberwort, der große , wu nderwirkende Sesam,

vor dem die stärksten Tore in Staub zerfallen . Ein Trinkgeld verwirklicht das Unwirkliche

,es ermöglicht das Un

mögliche, es buchstabiert das Unaussprechliche . W ie

ich mich selber zu betrügen versuche ! I ch weiß ja genau,

daß unser Almosen doch gerade das Gegenteil von dein ist,was es sein soll . Es wird doch niemand die Frechheit besitzen

,

zu behaupten,daß er mit der elenden Münze

,die er dem

schlotternden Bettel hinwirft, denselben au s seinem Jammerhelfen will . M an gibt sie doch nür, um seines unliebsamenA nblicks oder seines

'

Gedudels los zu werden . Außerdemi st Geben seliger denn Nehmen .

E in Trinkgeld mag oft mehr sein,viel

,viel mehr sem

a ls eine'

vom5Arbeiter verlangte Bezahlung für seine Leistung,

a ber es w ird sich doch immer erhalten,denn die schmierige

Vertraulichkeit im Verkehr untereinander, zu der es Ber echtigu ng gibt, welche es

' sanktioniert,scheint vielen

M enschen zu behagen . Es ist die fette,lauwarme

,schmierige

V ertraulichkeit zwischen dem Gebieter u nd dem Sklaven undd em. Sklaven mit dem Gebieter . D as moderne Trinkgeldsystem weist tatsachlich alle symtome einer regelrechtenSklaverei au f. Durch die Aufhebung «des Trinkgelde s würdejedenfalls der gleiche heillose Wirrwarr entstehen

,der durch

d ie Emanu pation der Negersklaven über Nordamerika her«

einbrach . Materialistisch genommen ist die Negerfragenind die Lage der Neger in Amerika selbst heute noeh

s chlimmer, als S ie vo r dem Bürgerkriege, also vor der A u fh ebung der Sklaverei war . Die wirtschaftliche Lage der Beh eiten hat

,

sich bisher in kein-er Weise gebessert .'

Von vielene inzelnen Ausnahmefä llen freilich abgesehen . Diese bergena llerdings s chon die schö ne

,große Hoffnung

_ auf a l l ge

m e i n e Besserung des Schicksals der befreiten Sklaven insich . Das Verhältnis zwischen dem Sklavenhä lter ii nd demS klaven ist oder besser war in vielen Fä l lenein durchauskordiales, oft sogar sehr intimes . D as hing natürlich vomCharakter des Sklaven ab . Der Halter war im völligen Besitzd es Leibes und der Seele des“ mit Geld gekauften oder inseinem Besitze geborenen Menschen . Ungefähr so wie man«ein wertvolles Stück Vieh besitzt . Und man b ehandelt seinBesitztum gewöhnlichgu t, namentlich, wenn es sieh um leichtverderbliches u nd sterbliches Menschen oder T iermaterialh andelt .

W ie wahr das W ort R ousseaus ist und immer sein wird,

meisten bestellten und hüteten die Hauser ihrer Halter treu,als diese, Vater und Söhne, alle im P u lverrau ch

'

standen, umdie Schwarzen in der Sklaverei zu erhalten . Es warenmeistensnur entflohene S klaven, die ihren Befreiern ernstlich bei

gestanden haben,teils aus Rachsucht

,teils aus Furcht vor

einer Niederlage ihrer Beschützer . Ein solches Ereigniswäre auch für sie

,die Entflohenen

,verhängnisvoll geworden.

"

W ieder andere Kellner werden sich durch die Aufhebung desTrinkgeldes aller besonderen’ Pflichten dem Gaste und demHau se gegenüber enthoben fühlen

,zu deren Ausführung das

Trinkgeld heute ein wahrer Spo rn ist,

Pflichten,die nu r

die Wunderkraft eines fetten Trinkgeldes auszuführen vermag .

Beobachten Sie nu r, wie die befreiten Sklaven von einemExtrem ins andere fielen ! Manche glaubten nach der erhaltenen Freiheit so fest an ihre P ersonl ichkeit

,daß Sie es für

ihrer unwürdig hielten,die Pflicht als Angestellte zu tu n

, jaüberhaupt irgendeine körperliche Arbeit zu verrichten . Siehatten also nicht ihre frühere schmachvolle Lage erkannt,sondern hielten die A r b e i t an sich für schmachvoll . Da.

durch entstand vielfach der heutige Jammer der Befreiten .

Sie dachten sich vom Gesetze vor der A r b e i t geschützt undzum Do lcefarniente geboren . Ähnliche oder die gleichenSchwierigkeiten würden auch nach der Entfernung des T rinko

geldes auftreten .

Wird unsere Theorie und M0ral aber sklavische Verhaltnisse dulden

,die im praktischen Leben ganz annehmbar und

unter Umständen sogar sehr nutzbringend sind und derenAufhebung voraussichtlich großen Tumult und Schaden füralle Beteiligten anrichten würde ? Es hieß -e sich doch

"

nurvor den Schmerzen einer Operation fürchten

,welche aber

durch ein verhärtetes Geschwür an unserem gesellschaftlichen‘

K örper notwendig gemacht wird . So sollten wir auchdem T rinkgeldu ngeheu er furchtlos

zu Leibe rücken,denn

wir haben die ganze Verwerflichkeit desselben eingesehen.Die Operation ist unumgänglich notwendig geworden, wennder Körper gesund bleiben soll .Vom moralischen und theoretischen Standpunkt au s

kann das T rinkgeldsystem unter keinen Umständen mehr in

193

unserer Mitte geduldet werden,selbst nicht

,wenn die Hotel

angestellten,die Prinzipale u nd gar eine gewisse Sorte von

Gästen durch die A u fl1ebu ng des Trinkgeldes finanziell benachteiligt werden, was aber in Wirklichkeit nicht der Fallist . Die Operation wird sich am Ende als heilsam und wohl .

tuend erweisen . Die amerikanischen Nordstaaten kämpfteneigentlich nicht direkt für die Besserung der materiellenLage der Negersklaven, sondern sie verfochten ein hohesPrinzip

,Welches sie sich gebilde t hatten . Dieses Prinzip

od er Erkenntnis war,daß die Sklaverei eine für zivilisierte

Völker u nwu rdige Einrichtung sei . Ob . und wann durch dieDurchsetzu ng des Prinzips eine materielle Besserung oder

gar Verschlechterung eintreten wird, sind andere Fragen,die uns nicht beschäftigen sollten

,wenn wir eine Glaubens

sache,ein Ideal im Auge haben .

Ganz genau derse lbe Statu squ o herrscht auch bei derBekämpfung des Trinkgeld es . Dadurch

,daß wir im Trink

geld einen formidablen Gegner haben, erkennen wir erst,

was es ist . Aber die Opposition wird immer den Kämpferreizen . Denn sonst wäre seine Handlung ja kein

‘ Kampf,

sondern nu r‚eine Arbeit . Ein träger, widerstandsloser Misthaufen läßt sich mit einiger Überwindung entfernen . Das

lebendige Bose aber läßt,wenn es einen festen F u ß gefaßt

hat,nicht ohne Widerstand los von den beherrschten Ge

bieten . Und seine H artiiä ckigkeit bietet die Garantie zu

einem regelrechten heißen Ringen . Erst diese Aussichtensticheln den Kämpfer zum Angriff an .

Der Feldzugsplan gegen das Trinkgeld ? I ch kannnu r di e allereinfachsten

,natu rlich’sten Vorschlage machen

,

die jedermann weiß,die jedermann fühlt

,die notwendig sind

,

um den Kampf erfolgreich durchzuführen . Diese sind,indem

die,

Kellner ein ihren Fä higkeiten,Kenntnissen

,Arbeit u nd

Arbeitsstunden angemessenes Gehalt bekommen,das ihnen

die Achtung der Kundschaft u nd ihrer Mitarbeiter erzwingt .Demzufolge wurde er an die Seite eines jeden andeien An

gestellten au f der ganzen Welt treten . Die P rinzipalekönnen sehr gut ohne da s Trinkgeld existieren, indem

' siedie durch die Gehaltserhöhungen in ihrer Kasse entstandenenPa u l Ve h l i ng , D ie Moral des Hotels.

Lucken durch entsprechende P reiserhohu ngen i hrer Warenausgleichen . Eine ganz geringe Erhöhung vonvielleicht zehnPfennig pro Platte Wurde schon das Gehalt des Kellnersbestreiten konnen . Man soll nicht zu r

_Entschuldigung desTrinkgelds sagen

,daß der Kellner nu r mit Aussichten auf

ein fettes Geldstück seine Pflicht tu n wird . Ein gu t bezahlterMann wird sich immer anstrengen, seine Pflicht zu tun undseinen Posten zu halten Man konnte das Interesse der Angestellten am Geschäfte noch steigern, indem man

—den Kellnermit einem gewissen Prozentsatz an seinem täglichen Verkaufeteilnehmen läßt .

Ohne sehr hohe Gehälter zahlen zu müssen,

würde dann der Wirt den Umsatz seiner W are fördern u ndden Verkäufer seinen Fähigkeiten angemessen entlohnen.

Es wäre auch nicht”richtig

,allen Kellnern ein gleich hohes

Gehalt zu zahlen, denn die Dienste des einen mögen für einHaus unschätzbar sein

,während der andere weniger Talent

zu diesem eigenartigen Berufe hat : M an müßte ° jedoch einengewissen Lohnsatz festsetzen

,den die

P rinzipale'

in den. eineinzelnen Fällen nach Belieben und ‘ Gu tdünken steigernkönnten

,u m sich A u snahmekrä fte für ihr Geschäft zu sichern .

Der freigiebige Gast,der nicht mit seinem Trinkgeld

kargt, wird nichts gegen die Preiserhöhung der Waren zu

gunsten seines Kellners einzuwenden haben . Im Gegenteil,er wird erleichtert aufatmen

,ja in den meisten Fällen noch

dabei profit ieren . Denn sein Trinkgeld ist gewöhnlich größerals die Preiserhöhung ausmachen würde . Denjenigen Gästenaber

,die mit Schrecken an die Erhöhung der Preise denken,

weil sie . gerne au f Kosten der armen Angestellten bedientsein wollen

,können wir raten

,sich dorthin zu begeben, wo

sie etwas für nichts bekommen . Aber sie sollen mit solchenHoffnungen ein Geschäftshaus verschonen . Und den Blattläusen am Rosenstock des Lebens raten wir, sich durchkeinerlei Streicheleien mehr bewegen zu lassen

,irgendwelchen

süßen,blinkenden Stoff“ auszuschwitzen .

Sie sehen also, mi t einigen„antiseptischen Mitteln ware

das grausame Ungeheuer des Trinkgeldes, die orientalischePest

,auf immer au sger

-ottet . Damit wird auch die großeWendung zum Bessern im Leben von vielen Tausenden

VI I .

Ach,gnä dige Frau

,das ist doch wirklich eine traurige

Geschichte ! Ja, ein Stiefkind in der Familie sollte man

besond ers schonend behandeln . Stiefkinder sind au ßerst zartfühlend und mißtrauisch . Die Unsicherheit ihrer Stellung

,

ihr Verhä ltnis zu r Familie,das Gefühl der Nichtmgehörigkeit

bestimmen ihren Charakter . D ie geringste Kleinigkeit kannsie bitter kränken . Gewöhn lich aber ist immer jemand inder Familie , der d em S tiefkind gram ist . Vielleicht ist’sein hartherziger Stiefvater oder eine keifende

,zänkisch

'

eStiefmutter ; die Geschwister sind auch nicht immer liebevo ll . Das Stiefkind mu ß es eben leiden ; es ist nicht vollwertig .

Sprechen Sie daher niemals zum Kellner wegen desTrinkgeldes . Sie können ihn tödlich verletzen

,denn der

Kellner ist das Stiefkind unserer Zivilisation . Sehen Sie nur,

wie schwierig es ihm gemacht wird, auf ehrliche, menschenwürdige Weise ein Stück Brot zu verdienen . Warum müssenihm denn noch andere Schwierigkeiten und Nachteile in denLebensweg gelegt werden

,die ihm sein Dasein vollends

versau ern l ?

Die geschaftlichen Nachteile, w oran der Kellner seinLeben lang zu schleppen hat, stehen natürlich im Vorderg“rund e . Es ist kaum möglich, einen anderen Beruf anzugeben,

schä ftliche Una nnehmlichkeiten aufzuweisen hat .rische Einquartierung und Verpflegung im Hause,

die langen Geschäftsstunden, die vielen Reisen, das allesschließt ein gesittetes Familienleben au s und verdammt denKellner zum Zölibat

,während ein Heim und geliebtes W eib

den jungen Menschen vor Verschwendung,Unstetigkeit

,ja

Verderben retten und die Beschwerden des Berufes ihm

I 97

erleichtern könnte . Wir alle kennen die langen Sitzungen,

die sich bis in den frühen Morgen hinein ausdehnen . Wirkennen die Festlichkeiten

,Banketts und Bälle . Für uns

heißen sie Vergnügen,für den Kellner Verlängerung seiner

Arbeitszeit und Verlust seiner Ruhe . Zur grauen Morgenstunde

,wenn die letzten Nachzügler über die verlassenen

Straßen wanken und sich über die Heimatlosen lal lend lustigmachen

,die au f den Rosten uber warm dünstenden Keller

löchern zusammengekauert dem neuen Tag entgegendämmern

,dann kramt auch verschlafen der Kellner se ine

Siebensachen zusammen,zählt sein Trinkgeld

,flu cht ein

wenig und schleicht sich in sein Lager .Ich habe einmal gesagt

,daß der Kellner keinen Sonn

und Feiertag kenne . Das ist unrichtig . Er kennt die Tagesehr genau . Denn dann hat er gewöhnlich doppelte Arbeit .Der Anblick der schön geputzten

,fest und sonntäglich! ge .

stimmten Menge macht keinen erhebenden,freudigen Ein

druck au f sein schwarzes Gemüt . Die Sonntagsmenschensehen ihn nicht . Sie leben in einem schönen Traum undschwatzen

,schwatzen

,lachen

,lachen

,schauen

,sch auen . Der

Sonntag ist das Ereignis . Der gute Rock tritt in seine Rechte .

Die Barschaft erlaubt,daß man wenigstens einmal in der

Woche über die Stränge schlagen darf,daß man seinen

Neigungen zur Verschwendung wenigstens einmal Raum läßt .Die Sonntagsmenschen sind sehr gemi scht . Sie wissen esaber nicht . Sie lachen und schwatzen . N u r der Kellner weißes und fühlt es .Wenn der erste leichte M orgenreif gefallen ist und das

durre,bunte Laub an den Bäumen zittert

,wenn die frische

,

klare Luft vom Schrei der südwarts ziehenden Zugvögeldurchbebt wird

,dann schnu rt auch der Kellner sein Bündel

u nd rüstet sich wieder einmal zur Wanderschaft . Der Wirthat sein Etablissement geschlossen oder die Zahl der Angestellten vermindert

,denn die bunten

,wimm elnden Sommer

menschen,die schönen Frauen mit den dünnen Blusen

,lachen

den Augen und fliegenden Haaren,die smarten Herren mit

den Negl igéhemden,weißen Flanellhosen

,seidenen Stru mpfen

u nd farbigen Schuhen,mit dem malerischen Panamahut

,der

198

feinen Stummelpfeife und dem T ehnisracket,alle die ge

schmückten,glücklichen Kinder des Sommers

,alle sind sie

verschwu nderi . Wohin ? Das weiß man nicht . Sie sindfort. Das ist alles . Aber darum gahnen auch die Hotelzimmerin ödef Langweiligkeit, und man erklärt die Saison wiedereinmal für

tot: In den schwarzen Ba'

hnhofshallen der Großstäd te aber stehen Berge von Koffern und Gepäck . Die frohenSommermenschen schauen schon wieder winterlich au s . Hinu nd wieder hat ein ankommender Kellner auch das Ver

gnu gen, für einen Sommermenschen gehalten zu werden,

'

undder Dienstmann berechnet ihm etwas mehr als Taxe für dasK offerschleppen. Der Kellner zahlt es gern : er gibt noch

'

einTrinkgeld obendrein . Dann aber wird’s bald anders . Esheißt nun Stelle suchen . Manchmal glückt’5 gleich

,manchmal

nicht . Schnee fällt,und die Bar 'schaft auch . Der Kellner

macht Offerten,geht von Geschä ft zu Geschäft. Immer

begegnet ihm das gleiche indifferente Achselzucken . Allesbesetzt ! Die Trottoirs

,die Eingänge vor den schmutzigen

,

verrauchten Kneipen der P lazieru ngsb u reau s sind bereits inaller Frühe von bleichen

,frostelndén jungen Männern be

lagert .

_

Endlich gegen zehn,elf Uhr kommt ein dicker Herr

im Pelz . Man macht ehrfurchtsvoll Platz . Schnaufend'

setztsich der Gewaltige an seinen Schreibtisch in der elenden,stinkenden Bude . Er öffnet die Lade, und die fetten Finger,mit Brillanten geschmückt

,nehmen die lange Liste heraus .

Der erste,blasse Jüngling

,der am längsten gewartet hat

,

tritt heran . Die listigen Schweinsaugen des dicken “Herrngleiten halb an ihm auf u nd ab, prüfen das Bleichgesicht aufeine Möglichkeit hin

,die nicht möglich ist

,während eine

große,dicke Havanna mit feinem Bändchen zwischen den

saftigen Mundwinkeln hin und her wandert . Ein AugenblickTo tenstille

,dann stummes Vem einen

,Kopfschütteln

,ein zager

Einwand seitens des Bleichen, eine gebieterische Handbewegung, die Brillanten blitzen : adieu ! Der Nächste .

Diese Pantomime wiederholt sich hundertmal mit tödlicherPräzision

,bis die Sonne von dem. grauen Bilde sich langsam

abwendet .Der hu ngnge Kellner pu mpt nun schon bei seinen

auch noch bei seiner Ehre als Arbeiter angreifen und ihn alsdie minderwertigste aller Kreatu ren hinstellen ?Früher

,als die Zeiten einfacher waren

,hatte j eder seine

Werkzeuge, arbeitete bei sich und für sich in seiner Werkstattund verkaufte seine Produkte . Dieser kleine

,fleißige Mann

von damals ist heute fast ganz ausgerottet'

wo rden . Nu r inkleinen , abgelegenen Städtchen taucht er noch vereinzelt aufund fristet ein kümmerliches Dasein . Die zahllosen Mas senverkaufen heutzutage ihre Körper und Geisteskräfte an dieFabriken

,die die Produkte im großen hervorbringen und

auf den Markt tragen . Die Fabriken stellen dem Handwerkerdie Aufgaben und zur Ausführung derselben Werkstatt

,Werk

zeuge und Maschinen . Gleichzeitig beanspruchen Sie natürl icherweise die besten Stunden des Tages und die bestenLebensjahre des Arbeiters . Eine Arbeiterfamilie brauchtweder dem lieben Herrgott noch dem lieben Fab i ikherrn zuda nken

,wenn ihr Ernährer Arbeit u nd Verdi enst hat . Der

Arbeiter glaubt auch nicht, daß seine Arbeitgeber ihn an

stellen u nd bezahlen,damit er u nd seine Familie etwas zu

essen u nd eine Schlafstätte habe . Er kennt seine Lage genau .

Arbeitgeber stellt seine Leute an,weil er in den Kräften

derselben einen Nutzen für sich selber erblickt . Er kanndem Arbeiter nicht so viel zahl-eu

,al s wie dessen K orper

und Geisteskräfte für ihn, den Arbeitgeber, wert sind . Und

wenn der Arb eiter noch so gu ten Lohn erhält, se1ne Kräftesind dem Fabrikherrn mehr wert .Diese W ahrheit mu ß natürlich auch der Kellner in seiner

Arbeit erfahren . Denn auch er gehört zu den großen, unermeßlichen Kolonnen

,die mit Sonnenaufgang zur Fabrik

pilgern u nd sie mit Sonnenuntergang verlassen . Ja, er tu tnoch mehr . Er arbeitet noch lange nach Sonnenuntergangweiter

,er arbeitet fast ununterbrochen .

Fu r den alten,trotzigen

,stolzen Handwerksmeister der

vergangenen j ahrhunderte muß die Arbeit eine unendlicheFreude gewesen sein

,eine Quelle der W onne u nd der Stärke .

I Ch kann nicht glauben, daß die strammen Gesellen, di eflinken Lehrlinge

,die bärtigen

,ernsten Meister jema ls müde

geworden sind . A u s ihrer Werkstatt heraus drang schmettem

der Gesang lebensfroher Menschen, und die Burger draußenhielten am Fenster an

,die werdenden Meisterwerke zu be

wundern .

Anders ist es heute . D1e Maschinen surren,die Motoren

heulen : wilde, gebändigte, unterirdi sche Geister seufzen darinvor Wut und wo llen sich von dem

]och'

e der Menschenbefreien

,die es vermochten

,die geheimen Mächte des E rd

innem zu bändigen u nd ihremWillen untertänig zu machen,

ohne sie auch nu r im entferntesten zu kennen . Do ch die Geistersind wild u nd bleiben es . Und sie haben sich an der Menschheitgerä cht, haben ihr Hammer u nd Säge aus der Hand genommen und schmieden nun Maschinenwe rke mit der Scharfeund Genauigkeit

,die der Schöpfer s ie au s dem Wande l der

S té'

i’

iie gelehrt hat . ° Die Werke der Maschinen sind nichtmehr die Werke der Menschen . Ihnen fehlt die schöneSpur der menschlichen Hand

,das Tasten und Suchen des

Meisters,der die Vorbilder der Schöpfung nachzuahmen

versucht . Die gefesselten Elemente haben sich gerächt, dasLeben der Maschinen hat die Menschen

,welche sie bedienen

,

selber zu Maschinenmenschen gemacht .Das ist di e Rache der furchtbaren Elemente . D ie M a

schinenmenschen des zwanzigsten Jahrhunderts haben das

Herz des Schöpfers nicht mehr in sich . Aber dafür sind sieganz mit der

'

dämonischen Kraft gefesselter E leinente erfüllt .Sie wühlen u nd arbeiten init heißer

,fiebernder W u t

,fauchen

und keuchen wie die Maschinen,fluchen und stoßen unheilige

Worte a u s . Der Gesang der Werkstatt tönt nicht mehr . Erist au f immer verstummt . Die unersättlichen

,selbsttätigen

Maschinenmenschen aber hasten stumpfsinnig, betäubt undrasten nicht

,bis sie eine s Tages die innere Kraft verläßt .

Die Feder bricht,sie fallen zusammen

,werden au f den

Schutthaufen geworfen u nd später u rngeschmo lzen . Schauderhaft groß ist dieser menschliche Schutthaufen unseres Jahrhu nderts . Und stumm ziehen da ran vorüber die Armeen desMo rgens und die Armeen des Abends

,stumm

, gefu hl los,apathisch, ohne einen Go tt im Herzen . W as nützt es

,daß der

eine oder der andere 'frivol und zynisch auflacht,wenn er ein

sieht, daß auch er bald zu m Schutthaufen gehört ? Wer

gedenkt derer die schweigend den Kampf aufgeben u nd inder stummen Finsterms verschwinden ? Wer steht jenenbe1

, die sich wild gegen die u nterdru ckenden Kräfte au fbaumen u nd am Rande . des . W eges ihr B lut verröch

'

eln ?'

Die großen Armeen,marschieren we iter, schnell werden

die Lücken der unterbro chenen Linien von h inten au s

1Wir leben im Zeitalter des industriellen Faustrechts .Ungestraft darf der starke M asch1nenmensch über dieTrümmerhaufen

,über die Leichen hinweghasten . Wenn er

mit größerer Kraft erfüllt ist al s seine schwacheren B rüder,

so preist man ihn,man jubelt ihm zu

,wenn er niedertritt

,

was schwächer u nd zarter ist . D a sich aber die mensch licheNatur nicht mit dem Faustrechte verständigt

, da sie ihmflucht, so nennt man die rohe K raft, welche T ausende undAbertausende verdrängen und niedermetzeln darf

, „Energie“ .

Wied erum nur einer der vielen schönen Namen, die sich dieMenschheit erfindet

,um ihre größten Laster und Sünden

zu verdecken . I ch habe I hnen bereits gesagt,welch' schöne

Namen man dem T rinkgelde gegeben hat . I ch habe Ihnenauch gesagt

,daß das meiste Unglück au f der .W elt durch die

Tatsache hervorgerufen wird,daß der einze lne Mensch seiner

eigenen P ersönlichkeit viel zu viel Wichtigkeit zuschreibt .Dies war zu al lenZ eiten der Fall . Napo leon zum Beispiel warso von der Wichtigkeit seiner eigenen Person überzeugt, daßer sich gar nicht lange bedachte, seine Pläne durchzu setzen,selbst wenn es galt

,Gewal t zu gebrauchen und wenn sie

Hunderttausende von Menschenleben kosteten,wenn Hundert

tausende 'von friedlichen Menschenhäusern dabei in Flammenund Asche au fgeben mußten Aber er wurde gepriesen . Erwar energi sch M an ahrnt ihm nach . Indes, was ist a u s ihmu nd seinem Reiche geworden ? Was ist au s den Reichenaller großen M enschenschlachter geworden ? Das Reicheines C hristus wird weit 'erbestehen . Zum bleichen

,dom en

gekronten H au pte auf Golgatha wird die Welt immer . . die

Blicke in Ehrfurcht erheben müssen .

D er Napo leone großen,u nd kle inen Stils gab es u nd

gibt es viele und zu allen Zeiten . Der offentlichen Sicherheit

sten Kräften u nd Begabungen einzelner das große moderneHo tel, welches oft die Kräfte von tausend bis zweitausendMenschen beansprucht . Und dieser große H o telkörper produ ziert . Er ‚produziert Essen u nd Trinken u nd Unterkommen für Menschen,

wie eine Schuhfabrik Schuhe u nd eineKleiderfabrik Kleider für Menschen produziert . Somitnimmt der Kellner eine Stellung als Arbeiter in der Hotelfabrik ein .

In unserer menschlichen Gemeinschaft hat man meistensdie Gewohnheit, den einzelnen Menschen nach seiner Arbeitod er seiner Stellung in dieser Gemeinschaft zu schätzen undzu bemessen . Diese Art und Weise

,einen Menschen“

zu berechnen

,ist die einfachste

,denn man braucht nicht viel dabei

zu denken . Man macht sich gewöhnlich nicht gern viel Gedanken

,und demnach hä lt man einen Schuster gewöhnlich

für einen Schuster . Und einen Priester od er einen P remier l

minister gewöhnlich für einen Geistlichen oder einen Staa tsmann . Aber natürlicherweise ist nichts falscher als dies .Indessen wieman denMenschen gewöhnlich nach seinerArbei tbemißt

,so bemißt man seine Arbeit auch nach dem L ohne

,

den er dafür erhält . Das ist natürlich ebenso falsch . Es istsonderbar

,wie falsch die Menschheit denkt u nd urteilt und

immer wieder die gleichen Irrtümer begeht . Wer der Wahrheit auf den Gru nd kommen will

,der stelle ein von der

Menschheit'

als wahr akzeptierte Sache einfach auf, den Kopf,und in neunu ndneunzig von hundert Fällen wird er dieWahrheit erkennen .

Sie glauben dies nicht ? Sie werden mir doch wohl nichtsagen wollen

,daß die beste , edelste Arbeit stets am besten

bezah lt oder gar nu r als solche anerkann t wird ! ? Und daßdie s chlechteste Arbeit am schlechtesten belohnt wird ! Nein,so «verkommen kann ich mir keinen Menschen denken, daßer solches zu behaupten wagt .Da man nun aber einmal die Arbeit nach ihrem Lohne

abschä tzt,so finden wir auch erklärlich

,warum der Kellner

allgem ein m ißachtet wird . Wir haben die Lösung des Rätsels,warum der junge Arbeiter in unseren Tagen der großenIndustrie u nd. Arbeiterbewegungen abseits dastehen muß ,

wie wenn er ein N ichthinzu gehoriger ware . Aus diesemGrunde erkennt man ihn im Rate der großen Arbeiterschaftennich t an. Da er sehr geringen Lohn für se ine Arbeit, empfä ngt,so ist diese auch in den Au gen des Vo lkes gering . Wo er

gar keinen Lohn erhält, ist seine Mühe und sein Schweißgleich Null . Ich sehe hier na tu rlich vom T rinkgelde ab „ dessenVerwerflichkeit u nd I llegitimität ich erwiesen habe . Weil dieArbeit des Kellners nun so schlecht bezahlt wird

,weil sie von

der Gnade und der Barmherzigkeit und der unrichtigenWertschätzung derer abhängig ist

,denen er sie liefert

,so

fühlt sich auch selbst der geringste Taglöhner mehr als derintelligenteste «Kellner u nd läßt dem letzteren diese seineliebevo lle Meinung bei jeder Gelegenh eit fühlen . Nicht einmal der niedrigste Arbeiter halt den Kellner aus diesemGrunde fu r einen vollwertigen Genossen . Er hat eine un

bestimmte Vorstellung von ihm,er halt ihn für etwas

,aber

nicht für seinesgleichen,für e inen Arbeiter .

j a selbst die Gesetze der verschiedenen Lander scheinentatsäc ‘hlich noch nicht zu wissen

,was sie mit dem Kellner

anfangen sollen,wohin sie ihn stecken sollen

,in welche

Kategorie er gehort . Und doch ist er da ! Er ist doch etwas,er will doch auch ein Mensch sein

,zur menschlichen Gesell« .

schaft gehören u nd nicht mit schelen,zweiflerischen Blicken

betrachtet werden . Das ist der größte Schmerz,den unser

Ganymed, ‚d er K ellner, hat . D as ist die größte von allen

Ungerechtigkeiten,die wir gedankenlosen Menschen ihm an

tu n . Traurig, gekrankt wendet er sich von u ns ab

,mit aller

Charakteristik eines verfemten und. verhaßten Volk-es halt erzu s einer Art und sucht sich unter seinesgleichen zu trösten .

Er hat keine Freunde außer den Seinigen,er will keine .

Diese internationalen Menschen,ohne Heimat

,ohne Vater

land u nd doch überall zu Hause,die u beral l Bekannten und

do ch F remden,die Namenlosen

,sie nennen sich bescheiden

Zugvögel“ .

Wir haben aber gesehen,daß sie Arbeiter sind f D aß sie

sch-were,intelligente Arbeiter sind

,die mit den Körperkräften

eines Bullen hohes geschäftliches Wissen und die Finesseneines Diplomaten verbinden mussen

,wenn sie nicht vor

Hunger sterben wo llen . Wir haben erkannt,welche wichtige

Rolle der Kellner in dem großen Verbände der Gastwirtsindustrie spielt. Warum soll er nicht gleichberechtigt seinmit den Arbeitern

, _die die Maschinen beaufsichtigen und

bedienen ? Bedient der Kellner - keine Maschinen ? Ja, undwas für gefährliche ! Soll er noch länger von fern stehenu nd uns fremd sein müssen ! ? Ein Arbe iter sein müssenund nicht ‘einstimmen dürfen in das Summen _der Maschinen,in das Singen der M o toren, in das Dröhnen der Hämmer, indas brausende Hohelied der Arbeit“ D as ist schrecklich !D as ist die schlimmste Beleidigung

,die man einem Arbeiter

ins‚Gesicht schleu-dern kann . E in Krieger opfert u ns allesau f

, Gu t, Blut und Leben . Aber wir dürfen ihm nicht wehren,

in den Gesang der Schlacht miteinzu stimmen .

Das i st der Kern in der Handlung der T ragodie vomK ellnerfrack .

Zu all diesem tr1tt aber noch mehr hinzu,um das Dase1n

des anständigen Kellners u nerträglich zu machen, um seinegeschä ftliche Existenz zu bedrohen und sein Ansehen in

unseren Augen herabzu dru cken . Ich will Sie,meine Freunde

,

nu r noch au f eins aufmerksam . machen, das ich soeben bemerkte . Zu dies em Zwecke mu ß ich unseren Kellner mit insGesprach ziehen .

Sagen S ie mal,Kellner

,was ist denn das fur ein — ent

setzlich ung'

eschickter Mensch da drüben ? I ch habe ihnseit einiger Ze it beobachtet ; er scheint sich nicht ein nochau s zu kennen . Wie ? noch nicht lange im Geschäft ? Eris t doch schon Verhältnismäßig alt ! Aha ! E r war

früher etwas . anderes‘ *

- l W as denn ? Doktor ? Oder ist erein , Adeliger So

,man weiß nicht recht . Der arme

Teufel ! Sieht sonst ganz an ständ ig aus ! Aus diesemGrunde hat . man ihn wahrscheinlich auch nu r engagiert .Kommt es hau fig.er vor, daß «

sich diese mysteriösen Gestaltenin die Kellnerei hineinflüchten ? So ! j a, leid-er

,sehen Sie,

Kellner,das scheint auch noch ein Krebsschaden an Ihrem

Stande zu sein. ; E s sieht au s, als ob er die letzte Zufluchtaller verkrachtem E xistenzen sei. “ Nicht wahr ? So eine ArtAbladeplatz -fürfdie Scherben der . Gesellschaft, für die ver

2 08

die „von Sensationshascherei dazu ange trieben werden,ist

n1cht nur bedauerlich für den Kellner und sein-en Stand;nein, es ist geradezu entmutigend . Der betreffende R estaurateu r aber hat sich au fs Glatteis begeben . Denn wenn seinEtablissement von verrotteten

,verschuldeten

,ausgemergelten

,

moralisch und intellektuell auf der niedrigsten Stufe stehenden Aristokraten geleite t werden kann

,so stellt der Inhaber

des Geschäftes sich dam it selber ein Zeugnis aus,das einem

b u rgerl ichen Totenschein verzweifelt ahnlich sieht . Wiederum ein schrecklicher und zugleich interessanter Beweis, wiegedankenlos die me isten Menschen vorgehen und dadurchsich immer u nd immer wie-der verraten und sich kom

promittieren .

Was wird aber au s den anstandigen Arbeitern, unterwelche sich solch zweifelhafte Elemente ungestört mischendürfen ? .Kann man gar unter diesen Umständenverhindern

,

daß uneingeweihte nachteilig über den Stand urteilen ?Gewiß nicht ! Ich will Ihnen nu r ein einziges

,aber ein

klassisches Beispiel erzählen,wie und was man in der

höheren Gesellschaft unter den Einflüssen genannter Artvon dem freundlichen

,hart arbeitenden jungen M an denkt

,

der uns am Tische aufwartet . Er ist der bekannte 'Ausspruch

,den der dam alige Direkto r der Königlichen Kunst

akademie in Berlin,Herrn Anton von Werner

,gelegentlich

einer Kritik ’

über das Gemälde von M ax Klinger, „Christus

im Olymp sich erlaubte . D as genann te Bild erregte beiseinem Erscheinen vor etlichen Jahren als das Werk einesModernen“ großes Aufsehen . Herr von Werne

,r der auch

ein ganz tüchtiger Maler ist, sich aber bekanntlich zu r„alten“

Schule bekennt,ließ sich zu heftigen Worten gegen den Mo

dernen hinreißen . Das Bild, welches sich jetzt in Wienbefindet

,stellt den Erlöser dar

,wie er in Begleitung von

christlichen Büßerinnen_d ie Götter des heidnisch-en Altertums

von ihren Höhen verdrängt . In den Augen des Herrn vonWerner stellte das klingersche Gemäl de jedoch Christus inGesellschaft von pari ser Kellnern u nd Freudenmädchen dar .

So druckte er sich wenigstens au s . M an hat ihm natürlichdies vorübel genommen, u nd er mußte öffentlich bedauern,

daß er sich getauscht hätte . Die Geschich te ist ja genugsambekanntI ch habe mich aber oft gefragt

,warum der brave Herr

von Werner gerade den Kellner zur Zielscheibe seines geistarmen Spottes machte . Haben pariser Kellner etwa mehrmit pariser Freudenmädchen zu tu n als — na l — sagen wir

pariser Maler ? Oder berliner Kellner u nd berlinerMadchen u nd berliner Maler ? — Oder die Kellner

,Mädchen

und Maler irgendeiner Stadt auf der Welt ? M an brauchtwirklich nicht in Paris gewesen zu sein

, um zu wissen,was

ein Quartier Latin,M onmartre oder Porte St . Martin ist

,

oder wie sonst die Stadtviertel heißen mögen,wo Pseudo

künstler mit P seu do ju ngfrau en ein P seu dodasein,ein Dämmer

leben und - treiben führen,da s nichts ist al s ein tatenloses

,

selbstverherrl ichendes, langsames Verglimmen . In jeder Großstadt sind solche Quartiers“ zu finden . Doch das Themaist bis zum Überdru ß verherrlicht

,behandelt

,abgeleiert u nd

abgedro schen wo rden ; es wirkt nachgerade uninteressant .Der gute Herr von Werner war sehr erregt

,als er die

W orter„Kellner“ und

„Freu demnä dchen in einem Atem

aussprach . Er muß sehr erregt,fieberhaft erregt gewesen

sein . Der Arme ! Darum hätten die Kellner sich damalsnicht aufzu regen brauchen . Darum hätten sie ihm stillschweigend verzeihen mussen und ohne seine öffentlicheErklärung zu verlangen .

Sie haben einesteils recht, gnädige Frau, wenn Sie sagen,

daß die ganze Geschichte für u ns Mitglieder der Gesellschaftvon sehr geringer Bedeutung sei . Aber gestatten Sie, daß ichSie da rau f au fmerksam mache

,welche Bedeutung sie für die

Kunstgeschichte ha t . Uns K u nstkennem liefert sie nämlichein Freibillett zu einer Arena

,wo asthetische Gladiatoren

sich au f T od und L eben ans Fell gingen . Die bösen Worte,

die Herr von Werner in der Hitze des Gefechtes ausstieß,

bilden für uns den höchst interessanten,für ihn aber ver

hä ngnisvollen Kulminationspunkt in einem erschütterndenDrama vom Kampfe des Alten gegen den Ansturm desJungen . Dieser Schauspiele in mannigfaltig er Gewandungerleben wir viele gerade in unserer Zeit . Ja, jeder von uns

Pau l V e h l i n g , D ie Moral des Hotels.

wird eins auskämpfen mussen . Das Drama mag verschiedensein

,aber der Kern der Handlung ist meistens der gleiche .

Der a lte Maler,der seit Jahr

u n-d Tag in Berlin Militärstiefel gemalt hatte

"

u nd sich im Strahle al lerliöchster me

diceischer Gunst sonnte und so der deutschen Kunst,wel che

ohnehin in den damaligen Jahren ein schwächliches Blüm

chen war,vollstandig die Sonne wegn

'

,ahm er mußte in dem

K ämpfe weichen, denn er hatte s ich zu sehr entblößt . E r

hat das Gift eines alten_

Geiferers gegen die frische Jugendausschleu dern wollen

,statt sie lächelnd u nd freudig zu be

grüßen,statt sich an ihrem übermütigen Streben als Philo ‘

5 01511 zu ergötzen und,

" wenn_

er auch selbst kein groß-er Malersein kann

,so doch zu versuchen

,ein großer Mann an Herz

und Gem u t zu sein,was

'

noch etwas mehr ist als”pu r geniales

Pinseln .

Aber Herr Anton von Werner war kein großer Mann anHerz und Gemüt

,und darum hat die Zeit ihn auch schon

vo r seinem leiblichen"

Tode gerichtet . Hu,mit einer ganz

unheimlichen S icherheit richtet die Zeit ! Und nament lichden Eiferer und Geiferer . Wie schmerzlich mu ß es für einenMenschen sein

,der sich sein Lebtag lang au f den Höhen des

Lebens Wähnte , wenn er eines Tages erwacht und sit daß

er Ruck für'

Ruck hinabgezerrt wird . So arbeitet die Zeit .Ruck für Ruck . Niemals heftig und plötzlich, sondern wiedas knappe, abgerissene Zucken des Pendels:Es klopft die Jugend an unsere Tür und ruft : Platz

,

Platz ! “ Dann mu ß man zuschauen,wie die Zeit

einem dasLebenswerk in die R u mpelkammem unserer Kultur steckt

,

in die dumpfen Kellerräume,wo an den feuchten Gewölbene1n mu ffiger Grabgeru ch

-wi-e von verfaultem Sonnenlicht u ndwelkem L -

orbeer klebt .Aber wie alles Böse,

"

sö birgt auch das gehassige Wortdes ‘ Herrn von Werners' etwas Gutes in sich . Es läßt einenherrlichen ' Gedanken in sich aufdämmern

,an d em » freilich

der Urheber unschuldig ist, nämlich d e n Gedanken, daß inWirklichkeit einmal ein C hristus unter Kellne rn u nd auchwieder u ntér Freüdenmadche

'

n segnend Und tröstend einherwandeln möge .

2 1 2

er jung ist,laßt sich di es leicht ertragen ; aber was wird aus

ihm, wenn er in Jahren vorrückt ? Al s junger Mensch hater Gelegenheit

,viel Geld zu verdienen

,mehr wie manch ein

anderer seiner Gesellschaftsschichte . Aber seine Unkostensind auch groß . Und nach dem dreißigs

_

ten bis fünfu nddreißigsten Jahre lassen seine physischen Kräfte sch-on nach .

Sein Aussehen ha t schon nicht mehr die nötige Frische derJugend, welche verlangt wird( W as wird nun au s ihm

,nach

dem er seine Jugend weggegeben hat ? Nich t jeder kann imGeschä fte fortkommen u nd höher steigen.. Von einemTausenderreichen nu r wenige einen höheren Posten . Aus hundertd i e s e r Glücklichen wird vielleicht nur einer Geschä ftsinhaber . Und es tritt noch der merkwu rdige Umstand hinzu,daß ein Kellner außerha lb seines gelernten Geschäftes ineiner anderen Beschäftigung oder Beruf trotz oder wegenseiner Welterfah rung und Weltgewandtheit selten oder fastnie erfolgreich ist . Vielleicht kann er sich nicht einschränken .

Er fühlt sich nicht wohl in der Enge,in welche so viele

Berufe die Menschen zwängen . Er kann kaum das zustandebringen

,was ein bescheidener

,ungebildeter

,beschrä nkter

Mann vermag . Er ist zu sehr an großartiges Leb'en,gutes

Essen,Luxus

,Geldverschwendung

,Frivolität gewöhnt ; er

kann nicht haushälterisch mit seinen Mitteln umgehen,er

kann schlecht rechnen .

Nach einer eingehenden Betrachtung des Werdens,Seins

und Vergehens des Kellners kommt man zögernd aber sicherzu dem hoffnungslosen Fazit, daß sein Los eines der u n

dankbarsten,unangenehmsten ist

,die unsere Zivilisation zu

verteilen hat . Höchstens pekuniär scheint sein Beruf den

gewohnlichen Gewerben gegenüber einige Vorzüge au fzu

weisen,aber au f die Dauer hält er seine Versprechungen

nicht und hintergeht den, der mit vielen Freuden und Hoffnungen begonnen ha t

,meistens so schnöde

,daß: sein Opfer

j eder weiteren Hoffnung beraubt wird u nd. sein Leben innoch verhältnismä ßig jungen Jahren schon als ein verfehl tes verflucht .Ein ganz Sc‘hnodderiger wird daher nu r die Achse!

zucken u nd sagen,daß überhaupt kein anständiger, sich selber

respektierender junger Mann die H o tel lau fbahn als Lebensweg erwählen wird . Aber der erfah rene Kellner lächeltbitter darüber . Er weiß, wie wenig gewöhnlich die Kindersagen und zu sagen haben

,wenn sie am Scheidewege stehen

,

wo al le vier Straßen in das große Leben, in die ‚weiteWelt hinausfuhren . Hier sind die Eltern genau so hilfloswie ihre Kinder . M an wählt den großen, breiten W egam liebsten . Eltern haben meistens nu r vage Begriffe vonden Berufen, die sie für ihre Sprößlinge in engere Wahlziehen ; u nd wie immer sehen sie nu r die glänzende Seitederselben.

Der Kellner,der von Jugend an in seinem Beru fe tätig

war und ihn allmäh lich mehr hassen statt lieben gelernt hat,

mu ß oft schmerzlich einsehen,wie schwer es ihm gemacht

wird,denselben gegen eine andere

,seiner Natur u nd seinen

Kenntnissen passendere Beschäftigung umzutauschen . Immerund immer wieder wird er abgewiesen werden

,obgleich er

noch jung sein mag . Und wer in den zwanziger Jahren stehtund ein Geschäft gründl ich kennt

,will auch in einem fremden

nicht gerne mehr Lehrling sein . So verbleibt die größteAnzah l der Kellner in ihrem Berufe

,oder man kehrt nach

einigen fruchtlosen Versuchen auf anderen Feldern dorthinzurück

,obgleich derselbe du rch seine vielen Nachteile und

Mängel verleidet worden ist und au f die Dauer sogar unerträgl ich werden muß .

D as Hauptproblem unseres jungen Mannes besteht alsoin der einen Frage, wie ein intelligenter, vielgereister jungerW eltmensch sich au s den verschiedenen Dilemmen u nd

Hind ernissen seines Berufes herauszieht u nd das Beste au s

dem Leben machen kann . Diese schwierige Aufgabe losennu r einzelne

,al lerdings dann oft in gan z bewu nda u ngs

«

würdiger Weise . Und aus ihnen entstehen die vielen erfolgreichen Hoteliers

,welche durch andauernde strenge Selbst

zu cht sich vom K el lnerstande empo rgerafft haben undum den gebräuchlichen Ausdruck anzuwenden „

zu etwasgekommen sind .

Wie zu jedem Leben,so gehort eine gewisse, mcht zu

unterschätzende Philosophie zum Leben des Kellners, die

natu rlich nicht jedem gegeben ist,die sich aber mit e1n1gem

Willen,Fleiß u nd Stu dium mehr oder Weniger aneignen und

bemeistern läßt . Wenn Siemir au fmerksam zugehört hab en,

so werden Sie auch gesehen haben, wie ich mich bemühte, dienotwendige Philosophie an den einzelnen kri tischen Pu nktenzur Geltung kommen zu lassen . Ein feiner Zu g von Selbstiro

!

nie ist au ch oft in dem Leben d ieser Leute zu finden undbildet

,einen beträchtlichen L ehrsatz 1n ihrer Lebensweisheit

,

deren Basis natu rlich au f den großen Grundregeln des Umgangs mit Menschen beruht . Ohne vielleicht jemals mit denWeisheiten der großen Klassiker des Altertums bekanntgeworden zu sein

,lebt der wirkliche gute K ellner doch ganz

nach diesen herrlichen Vorbildern . In seinem Leben be

stä tigt sich au f die wundervollste Weise die reine, einfacheWahrheit der alten Lehren

,was um so erstau nlicher ist

,j e

mehr die m einer ganz einfachen,von Dampfkraft u nd

Elektrizität ungestörten Zeit entstandene W ahrheit ln unsererkomplizierten Zivilisation Anwendung findet u nd sich mi tihrer süßen, mahnenden, sanft drängenden Gewalt immer u ndimmer wieder Recht verschafft .

Ja, meine Freunde, welche Leidensgeschichte habe ichIhnen da e

'

rzahl t ! Nichts Großes, nichts Blutiges, nichts Erhaben- Schreckliches

,aber immerhin Leiden . Und nu r Leiden !

Glauben Sie jedoch, das L eben sei so grausam,daß es

e1nen Menschen nur peinigt u nd ihm nichts, gar nichts als

Entgelt für seine Leiden bietet ? Niemals ! Es ist gerecht,

es tröstet die Schmerzensreichen . Es gewahrt ihnen'

hoheFreuden, die den u nw1ssenden Glücklichen nicht bekannt sind .

Das Leben stärkt auch seinen Kämpfer . Es stellt keinenSchwachen an die gefährliche Stelle, ohne ihm die Mittel indie Hand zu geben, mit denen er sich decken kann: Eshängt ganz vomMenschen ab , ob er sie weise benutzt oderübersieht .Wie sich d1es u beral l und auch hier bewahrheitenwill

ich Ihnen noch kurz“

beweisen . Ein altes! Volkslied beginntmit den Worten : Wem Go tt will eine rechte Gunst erweisen,den schickt er in die weite W elt . Alte Volkslieder sindoft nicht nur schon

,sie sind auch ivahr

,ja berauschend wie

in einsamen Nachten sehnsu chtig aus mangelhaften, nu vol lständigen

,von Menschen verfertigten Büchern u nd Bildern

schlürfen,das legt di e Gunst Go ttes dem“ jungen Kellner in

Natur,in W irklichkeit

,in königlicher

,erhabener Größe vor

seine jugendfrischen Augen . W as ist ein Abdruck gegendas Originalbild ! Was ein Bild erst gegen“

den Glanz derW irklichkeit W ie viele Menschenwürden unseren Ganymedals den Glücklichsten der Sterblichen beneiden

,wenn Sie

wüßten,welche Genüsse das große Leben ihm

,seinem Gunst

ling,lächelnd reicht .Fragen Sie

,meine Freunde

,nur unseren jungen Mann

hier . Vielleicht kann er es Ihnen sagen ._ Heu te ist er hier,

aber mit den Zu gvogeln zieht er schon wieder im Spätherbstnach dem Süden

,nach Italien

,der Riviera

,nach Ägypten,

nach Algier . Wir finden ihn im W inter vielleicht in Indienoder auf den Kanarischen Inseln, in Florida oder au f Honolulu, in Athen oder Konstantinopel oder Monte Carlo . D en

Fruhling begru ßt er in den Bergen, den Alpen, K arpathen,in den Pyrenäen oder im Taunus am Rhein, im schottischen .

Hochland oder im amerikanischen Felsengebirge . Im heißenHochsommer promeniert er vielleicht am Strand in Ostende

,

Scheveningen,Boulogne

,Biarritz

,Atlantic City oder Santa

Cruz . Überall ist er . Gefällt ihm heute Berlin nicht mehr,

so sitzt er morgen im Expreß nach Paris . W enn er will,

vertauscht er . L ondon mit Rom,New York mit San Francisco,

Buenos Aires mit S ydney, Yokoham a mit Calcu tta . Überallfindet er Arbeit

,überall ist er willkommen

,überall zu Hause .

Verordnet sein Arzt ihm K arlsbad,so zögert er nicht lange

und packt seinen Koffer . I st Aachen oder Nauheim seinerGesundheit zuträglicher

,so besinnt er sich nicht lange, son

dern studiert den Fahrplan für diese Richtu ng . Zu r Kurwählt er Wiesbaden oder Saratoga, Baden- Baden oder Aixles - Bains

,Virginia Hot Springs oder Marienbad je nach

Bedarf . Entfernungen spielen keine R olle, Finanzen sindNebensache, Nationalitäten gibt

’s keine er ist. der Weltbürger par excel lence.

Mit einem wehmu tigen Stolze blickt dieser Wandererauf sein unstetes Leben zurück . Alle Himmelsrichtungen

kennt er . Fä llt ihm ein Buch in die Hand, das Beschreibungenvon fernen Ländern oder Orten bringt, so greift er es au fund “freut sich herzlich

, wie wenn er einen lieben altenBekannten sehe .

W enn doch auch nur die anderen Menschen die gleicheGelegenheit zum Wandern hätten

,oder wenn sie nicht zu

faul waren und nicht in ihren muffigen' Nestern hockenblieben

, so würde viel Engherzigkeit verschwinden,die

Nationen wurden dichter und inniger aneinander kommenund sich besser kennen lernen . Denn sie

'

wissen trotz allerunendlicher Schreiberei

,trotz aller E isenbahnen u nd Dampf

schiffe,trotz aller Kabel und drahtlosen Telegraphie

,trotz

aller Luftschiffe noch herzlich wenig oder so viel wie garnichts voneinander . Wenigstens keine Wahrheiten . Und dasResultat ist

,daß sie sich gegenseitig beständig scheel be

lauern, anknurren und”womöglich sich die Kopfe blutig

schlagen,wo sie sich nu r begegnen .

In seinen Reisen liegt die eine einzige,aber große . Freude,

die das Leben dem Kellner bietet . Hier liegt auch das Geheimnis seiner Friedfertigkeit, seiner Geschmeidigkeit undDuld samkeit verborgen

,welche sein Be ruf erfordert . Und

wie nu r wenige andere Erdbewohner hat er Gelegenheit, indie Tiefen der Menschheit zu schauen . Er. kann

„die edelsteBeschäftigung

, da s interessanteste Stud ium betreiben : M en

schen studieren . Er sieht”sie . Alle Nationen

,alle Rassen

,

alle Klassen kommen zu ihm . Könige,Fürsten

,Edle

,Ge istes

und Gel dgrößen und deren Frauen kommen als Gaste ; diemittleren und armen Schichten arbeiten mit ihm als Kollegenund Helfer . Er sieht s ie alle . Er sieht

sie b esser, al s andere

sie sehen können . Mitten in das glänzendste, summendeGewimm el

,das unaufhörliche Getriebe u nd. Gewu hl der ver

schiedensten Cha raktere,in das unendliche

,willkürliche

,u n«

verantwortliche, rücksichtslose Treiben einer verwirrten Zivilisa tion wird er gedrängt . Und er sieht noch mehr, viel Wertvolleres : er sieht die verwu ndbarsten Stellen der Menschenihre Schwächen .

Manch ernstes Bild,manche unerwartete Überraschu ng

,

manchen grauenvollen Schrecken stellt das Leben vor seine

Augen, 1ndem es ihm offen sein tiefstes Geheimnis,den

Menschen zeigt . Tagtäglich predigt es dem Kel lner seineerhabenen, stumm mahnenden P redigten auf die mannigfaltigste Weise

,Es führt ihn ernst lächelnd hinter den leeren

Glanz des Reichtums,mit unerbittlicher Miene an die ab

scheu l ichen Tiefen der Armut h eran . So kann da s rätselha fte Gesicht des Lebens nur flüstern

,stumm

, .aber es gibt

keine eindringlichere Sprache: So spricht es zu m Kellner . Solegt es ihm einen immensen Reichtum an . Gesehenem undGeschehenem zum Gebr auch -fürs eigene Dasein vor die Füße .

Und‘ unerbittlich verlangt e s Verwaltung und weise Ver

wertung dieser Schätze .

Doch wer verwertet sie Wirklich ? Wer lauft nichtunachtsam

,gedankenlos daran vorüber ? Ach

,sie schauen

nu r, aber sie sehen nicht ! Sie denken nur, aber sie wägennicht ! Man kann zwar nicht erwarten

,daß jeder Mensch

ein großer Philosoph sei,aber man darf von

'

jedem erwarten,

daß er Schlüsse au s d e m Leben ziehe, das ihn umgibt . D oches braucht Gewalt, dies zu tun ; u nd die Gewalt kann nu r

durch Übung erlangt werden .

Das Leben aber verzeiht weder dem . Unwissenden nochdem Schwachen .

Es versagt ihm seinen hochsten . Genuß,sem

schönstes Glück ; und die Stimme des Gewissens, das Bedauern

,die Reue über ein verschuldetes

,verfehltes Dasein

wird ihn bis zum Tode verfolgen .

Erst aus dem Kern der hehren Gewalt, aus der großenSelbstzucht entspringt das su ße, überwältigende Bewußtseinder Kraft; u nd die einzige, die wahre dionysische Freu de amErdendasein loht daraus au f, sich zum Gottesdienste erhabensten Stils entfaltend .

Ei,gnädige Frau

,au f diese Frage habe ich lange ge

wartet ! Woher ich mit dem Schicksal der Kellner sovertrau t

_bin ? Hm ich habe so viel ja,

natürlich al s

Gast in den großen internationalen H otelpalä sten aberich habe

'

n-

och'

mehr getan :“

nämlich selber einmal al s Kellnergearbeitet . Und nicht n u r gearbeitet, sondern noch mehr

tro tz aller ihrer Schlechtigkeit hundertmal mehr Genuß bereitet hat, wie meine schönsten Jagderfahrungen in denBergen, au f den weiten Prärien oder in den Urwä ldem .

Und die Menschen, den-en ich begegne t bin, waren so offenherzig gegen mich

,daß ich viele M ä sken '

lä chelnd beiseitelegen konnte und ohne dieselben hinter ihre Schliche kam.

Ja, Gnädige, das sieht beinahe wie Vertrauensbruch aus .Aber es ist nicht so . Danke! Ich habe auch nie durchSchlüssellöcher geguckt oder sonstige D ienstbotenmethoden

angewandt . Wie gesagt,es war unnötig . Die Offen

herzigkeit war nicht die schone Tugend, das edle Vertrauen,welches jeder dem anderen entgegenbringen sollte

,nein

,es

war gerade das Gegenteil davon . Es war eine unverzeihlicheBequemlichkeit

,eine Gemütsfau lheit

,eine Dummheit

,be

leidigend , wie nur sie sein kann ; es war eine verletzendeverallgemeinernde Stupidität

,die die Menschen an anderen

voraussetzten,weil sie selber damit behaftet waren. Darum

soll man nie jemand mit dem eigenen Maßstäbe messen,ebensowenig

, wie man eine fremde Sprache sprechen soll,während man in der Muttersprache denkt .Mit einer geradezu ekelhaften

, widerwartigen Frechheitund Voraussetzung

,einen ihresgleichen oder weniger vor sich

zu haben,sind die Menschen mir begegnet und haben mich

demgemäß behandelt . Solche ru cksichtslose, beleidigendeBehandlung verdiente so grausam bestraft zu werden, wieich es tat . Worin die Strafe be stand ? Nun

, die großte

ist doch,wenn man alles lächelnd über sich ergehen läßt

und mit scharfem Auge unter den Wimpern hervor denAhnungslosen beobachtet . Solche Blicke sind wie die Pfeiledes wilden Jagers . Sie durchdringen das tiefste Innere desOpfers u nd erkennen es . W as ich“ erkann t habe, besitzeich

,gehört mir . E s ist mir untertan wie der Körper des

erlegten Wildes .I ch bin überall . Ich speise in erstklassigen Hotels, ich

frequentiere die ! gefährlichsten Spelunken . Künstler undD ienstmä dchenballe besuche ich gleich gern . HintertreppenKammerdiener und Staatsgeheimnissen schenke ich das

gleiche willige Ohr . Ich produziere mich in den verschieden

sten Berufen u nd Stellungen mit großtem Geschick u nd

größtem Vergnügen . Als Automobilist in den Garagen u nd

auf den Landstraßen . Als Cowboy auf weiten Prärien unterruppigen Desperados . Als Privatsekretär in den Familiender Multimillionäre

,als Maler in Kunstreichen

,in Minen

unter Goldsu chern, als Literat au f journalistischen undliterarischen Gefilden

,als Handl ungsreisender

,Maschinen

schmierer,Zeichner

,Koch

,und in noch verschiedenen

anderen Stellungen habe ich konditioniert .Die Welt ist klein . Und wer in so vielen Kapazitäten

und überall auftritt,hat das Vergnu gen,

häufig alte Bekannte anzutreffen . Dann entstehen meistens köstlicheSituationen

,namentlich wenn man wie ich ehrlich

genug ist,immer unter dem eignen Namen aufzutreten . So

kam ich auch einmal auf den kühnen Gedanken,als Kellner

Material für einen monumentalen Roman der höchsten internationalen Hautevolee zu sammeln . I ch hatte damal s einen

genu ßreichen Sommer im amerikanischen Felsengebirge verbracht

,mein Freund ging nach Europa zu ru ck

,ich aber

blieb in New York,um meinen Plan auszuführen . Durch

Empfehlung gelang es mir,bald eine Stellung als Kellner m

einem großen Hotel zu erlangen

,und ich stürzte mich mit

Wonne in das Getriebe . Ja, ich ava'

ncierte sehr bald .

In dieser Stellung sahen mich eines Tages ein paarHerrschaften schalten und walten

,mit denen ich au f einer

M ittelmeerreise , von Ägypten kommend, flu chtig bekanntgeworden war und die ich zu fällig während des vergangenenSommers in Colo rado wiedergetroffen hatte, wo sie die Ehregehabt hatten

,einige angenehm e Tage mit mir zu verbringen .

Nein,gnädige Frau

,ich habe mi ch nicht im geringsten

geniert,denn im Eifer meiner Tätigkeit bemerkte ich die

H errschaften nicht gleich . Mit Staunen und Schreckenaber erkundigte sich die liebenswürdige

,junge Dam e bei

ihrem Kellner nach meinem Namen . Allmächtiger ! Ihrentsetzlicher Verdacht bestätigte sich ! I ch war wahrhaftigder geniale

,reizende Mensch

,den sie unter dem Azu r des

Mittelmeers kennen gelernt und in Colorado wiedergetroffenhatten Ganz verwirrt und erstaunt konnten sie eine ganze

Weile lang n ichts sagen . Dann zogen sie den Kellner wiederzu Ra te und vertrauten dem Milden; Vielgeplagten ihreKalamität an . Aber wie ist denn das möglich

,Kellner,

flüsterte die Mutter m Luxor hat er doch archäologische‘

Studien betrieben,sagte er ! “ Diesen Sommer erst noch

haben wir mit ihm in seinem Automobil gefahren und ‚beiihm zu Abend gespeist ! “ seufzte der Sohn . Und mit ihmGo lf gespielt ! jammerte

"

das reizende T öchterchen . Weißtdu no ch

,Mama, hinter dem Hotel au f dem prachtvollen

Rasen ! “ M ama wußte noch . Traf er ni cht auch alleVorbereitungen zu einer Jagd au f Grizzlybären in den kanadischen Bergen erinnerte sich der Sohn . Und das T öchterchen antwortete : Was ist denn au s seinem reizenden Freundgeworden ? I st der a u c h Kellner D ie arme ’

Mutter waram s chwersten getroffen : Ach, konnten wir denn ahnen,daß er so was ist ! Wir haben ihn doch als anständigenMenschen kennen gelernt ! Und hier Uh l

Das war zu viel für den braven Kellner,und er ; ant

wo rtete ruhig :„Madam e

,ich habe noch nicht gesehen, daß

er sich hier unanständig benommen hat !“ Und :er wandte

sich ab,

u m mich heimlich aufmerksam zu machen undmir die ganze Geschichte hastig zu erzählen . Meine F reundeaber fühlten sich plötzlich so unbehaglich, daß! sie den Saalverlassen mußten Sie gingen

,ohne mit mir zu sprechen .

Nein, ich sprach auch nicht mit ihnen . Zum Dank für dieschönen Erinnerungen an kühle Autofahrten, an herrlicheK u h stgenüsse und an schöne, unschuldige Spiele auf grünemRasen versu chten

sie,mich au s der Sklaverei des flatternden

K ellnerfrackes zu befreien,indem sie meine Entlassung be

wirken“wollten . W as ihnen aber nicht gelang, da i ch ein zu

guter Kellner bin,um ohne Grund an die Luft gesetzt zu

werdenW ie ? Sie wollen sich schon so fru h zu ru ckziehen,

gnä dige Frau ! ? Wir gedachten.

doch noch ein wenig derMusik zu lauschen . Hm Fatige Ich springe schnellzum Apo theker» im,

Hause die Kapseln zweiStück au f ein Glas Wasser nicht

u nd Right Reverend und alles das sind, so konnen Sie dochein Gläschen W e in mit mir wie ? nicht ein wenigdie alten Erinnerungen auffrischen ! ? W aaas ? keinenWein Hör ’

mal,du bist wohl verrückt geworden

oh, oh, Pardon ! Ich kann es gar nicht fassen ichstaune Sie trinken keinen W ein mehr ! ? Sie warendoch fru her hm O h ,

oh ! Wie sich die Ze itenändern ! Sie haben sich aber großartig gemacht

,Mr .

Shou ltse ! S ie seh-eu vo rzüglich au s ! Wie meinen Sie ? Obich noch immer trinke ? Ja, leider, ich hab

’s mir noch nichtabgewöhnen können . Es ist schrecklich ! Oh

,oh

Ob ich weiß,was die amerikanische Prohibition ist ?

0 ja,ich hab mal was davon gehört . ‚Wissen Sie

’s auch,

Herr Bischof Was ? Sie sind einer der H au ptkämpfer fürdie Prohibition geworden ? ! Das ist ja interessant ! Undsagen Sie mal

,wie bezahl t

'

sich die Sache denn ? So,

Sie verfolgen nu r den idealen Zweck der gu ten Sache ? Dasist löblich . Aber ist denn das wahr

, was ich in den Zeitungen gelesen habe

,daß bereits an die vierzig Millionen

Menschen in den freien Vereinigten Staaten von Amerikakeine geistigen Getränke mehr zu sich nehmen dürfen ? So,so

,das ist also Tatsache ! Unglaublich, wie Sie gekämpft

haben müssen,Mr . Shou ltse . Na

,dafür konnen Sie sich jetzt

auch ein wenig au sru h-en ! D as ist recht ! Vierzig MillionenMenschenmüssen Durst leiden ! Das ist ja einfach fabelhaft !Ja, in Amerika wird alles im großen Stil betrieb-en . Aberwas fangen denn die armen Durstigen an ? W ird denn jedereingesperrt

, wenn er ein Glas Bier oder Wein trinkt ? Vergehter sich gegen das Gesetz, wenn er dies tut ? Nicht ?Aber wie hä ngt denn das zusammen ? Das T r ink e n istgestattet u nd wird nicht bestraft ! M an verbietet nur denVerkauf

,den Transport u nd

"

das Fabriziere n von geistigenGetränken ! Das sind ja geradezu diabolische Gesetze !

T antalu squ alen l flMari darf trinken, aber das edle Naß

wi rd einem vorenthal ten ! Einfach ungeheuerlich !So

,Sie glauben also

,mein lieber Mr . Shou ltse, daß

Amerika die erste Nation ist,die versucht hat

,den Alkohol

auszurotten und sich so unsterbliche Verdienste um die ganze

Menschheit zu erwerben ! ? D a sind Sie im Irrtum . Bei denältesten Völkern der Erde hat man schon T emperanz undAbstinenzbewegungen entdeckt . Die Chinesen brüsten sichheute noch damit

,den Krieg gegen den Dämon“ des Weins

eröffnet zu haben . Und ich glaube ganz bestimmt daran .

China sieht gerade danach aus . Im elften Jahrhundert vorBeginn unserer Zeitrechnung soll ein Kaiser in China alle

Weinstöcke in seinem Reiche haben ausreißen lassen . D ie

Priester in Persien und Indien haben schon lange vor ChristiGeburt den Genuß des Weines verboten . Die Karthagerhatten auch ein Weinverbot . I ch selber habe die Spureneiner T emperanzbewegu ng in Pompeji entdeckt und werdevielleicht ein Traktätchen darüber schreiben . Wie ?Verschiedene Sekten der Juden durften nichts trinken, ohneihr Seelenheil zu gefährden . Noch heute erwarten die Mohammedaner und Buddhisten im Jenseits kolossale Schwierigkeiten

,wenn

'

sie zeitlebens einen edlen Tropfen nicht verabscheu en .

Die P rohibitionsepidemie in Amerika ist ni chts als eineWiederholung der orientalischen Sitte . Wirkliche Epidemientauchen immer periodenweise auf . Das ist eine alte Geschichte . Es ist aber geradezu phänomenal, wie die Bewegungin den letzten fünf bis sechs Jahren um sich gegriffen hat .

Vor dem amerikanischen Bürgerkriege 186 1 — 64 dachten nu rwenige Mensch-en daran

,daß jedes geistige Getränk ohne

Gnade u nd Barmh erzigkeit vom Erdboden vertilgt werdenmüsse . Aber es entstanden allmählich die großen amerikanischen Brauereien und zugleich eine der häßlichsten Ausgeburten der anglo - amerikanischen Zivilisation, die AmericanBar oder Saloon“

,wie das A u sschanklokal fu r geistige

Getränke gewöhnlich genannt wird . Die Bar ist eintypisches Produkt des amerikanischen A lltaglebens . Mit derzunehmenden Rastlosigkeit in europäischen Ländern wirdsie sich dort auch sehr bald einbürgern . Die GroßstädteEuropas erfreuen sich der American Bar“ bereits . Indessenwird in Europa die Bar wie auch alles andere Amerikanischefalsch aufgefaßt und falsch dargestellt . Entweder aus Absicht oder au s Ignoranz . Meistens ist das: letztere der Fall .

Pa u l Ve h l i n g,D ie Moral des Hotels . 1 5

Die eu r0pa15 che American Bar ist gewohnlich'

nu r eineA n1m1erkneipe ,

was die amerikanische Bar gewöhnlich nichtist .

„Das muß man dem Amerikaner lassen : 1n seiner ‚Bar

findet man keine Mädchen zur Bedienung, was in Englandund am Kontinent fast ausnahmslos der Fall ist . Dennochist die amerikanisch-e ‚Bar em entsetzlich abschreckenderOrt . Nu chtern

,inhaltslos

,kalt ! I ch glaube

,einer schmutzigen

,

al tromischen Taberna vinazia haftete mehr Begeisterung undLiebenswürdigkeit an

,wie dein feinsten amerikanischen

Sal oon“ mit allen seinen Spiegeln

,

«Bildern,Lichter-n u nd

seiner Reinlichkeit . Die geschäftsmäßige Verabreichung desTrunkes

,die Vorherrschaft scharfer geistiger G

,etränke das

u nbedachtsäme,hastige Hinuntergießen des starken Stoffes

,

die ganze I nhaltlosigkeit des Ortes, der nu r daraufhin eingerichtet ist

,möglichst große Quantitäten ln möglichst kurzer

Zeit -umzusetzen,die Menge herums

_tehender

,den Schanktisch

belagernder Menschen,welche keine Zeit haben

,ihren Trunk

in R uhe zu genießen und sich dazu niederzulassen,das alles

macht die amerikanisch-e Bar zu einem sehr -wen1g einladenden Ort . Der biedere Deutsche wurde seine ganzeAbneigung dagegen in dem einen Urdeu tschen Worte

„u n

gemütlich“ zusammenfassen . I ch stimme vollständig m itIhnen

,Herr Bischof

,überein

,wenn Sie den

„Saloon“ nicht

sehen können . Auch finde ich es gerechtfertigt,daß

dieBundesregierung infolge des zunehmenden Umsatzes vongeistigen Getränken den Verkauf von Alkohol 111 irgendwelcher Form an die Indianer: verbot . E s ist v iel in dieserHinsicht gesündigt worden .

Warum aber dies drakonische Gesetz au f die vernu nftigeweiße Bevölkerung der Vereinigten Staaten erstreckt werdens oll od er schon wurde, i st mir nicht verständlich . In denNeu - E nglandstaaten,

wo das pu n tanische Element besondersstark ist, wurde schon fru h in —einzelnen Gemeinden unter demDruck der strengen Kirche der Au sschank von b erauschendenGetränken magistratlich verboten . Aber dann kam der StaatMaine als e rster

,der fu r absolutes Verbot von Spirituosen

innerhalb se1ner ‚Grenzen stimmte . Der starke Rum, dervon Westind ien nach Maine exportiert wurde und dort viel

s1e Stimmen haben . D ie P rohibitionisten wußte'n aber auch,

ganz genau, daß sie bei vernünftig denkenden Männern mit

ihren Ideen nicht durchdringen würden . Bitte,Herr

Bischof, lassen Sie mich weitererzahlen.

_

Darum versch.anzten sie sich hinter die Röcke der Weiber . In der erstenNationalversammlung der neuen Partei am 2 2 . Februar 1872zu Columbus

,Ohio

,wurde von den P rohibitionisten der

Entschluß gefaßt,fu r Frauenwahlrecht in den Vereinigten

Staaten aufzutreten,da man dringend der weiblichen Stimmen

in der Alkoholfrage bedurfte . D as ganze weibliche Elementsollte hysterisch gemacht werden . M an begann die schrecka

lichen Verheerungen, die der Teufel Al kohol“

in den Familieu anrichten soll, in den glu hend _

sten Farben zu schildern.

In den darauffolgenden Jahren waren die Stimmresültate

der neuen Partei alle noch sehr bescheiden . Siewuchs nurmäßig . Den P rohibitionisten schien aber kein Gedanke zu

schlecht zu sein,um sich neue Anhänger für ihre Partei zu

verschaffen . Sie kitzelten die brennenden Fragen im amerika=

nischen Leben,wie die der Einwanderung, u nd suchten durch

eine schäbige Politik der Beschränkung u nd Erschwerungder europäischen Einwanderung die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich -zu lenken u nd dadurch mehr Anhänger anzuwerben . Gleichfalls wurde die Fo rderung für das Frauenwahlrecht au frecht erhalten .

M it w echselndem Glück wuchs die neue Partei . In denletzten fünf Jahren jedoch hat sich eine wahre Panik desP rohibitionistenlagers bemä chtigt . Seit dieser Zeit hat sicheine nervose Tätigkeit entfal tet, so fieberhaft, daß manglauben sollte

,der jüngste T ag sei nahe, um die Menschen

für ihren Hang zu m Alkohol zu r Rechenschaft zu ziehen . Dieverschiedenen großen -T emperanzgesellschaften, fünf odersechs an der Zahl

,sowie eine u nübersehbare Menge ver

schiedenster Sekten und Kirchengemeinden wurden plötzlichvon Reue und Zerknirschung ergriffen und vereinigten sichzum Feldzug gegen ihre Sünden und die ihrer Mitmenschen .

Dieses plötzliche,ruckartige Erwachen des nationalen Ge

wissens ist anscheinend ein ganz unerklärliches Phänomen .

Aber alles hat seinen Grund .

Die Gegner der Spirituosen hatten es namlich vor zehnbis fünfzehn Jahren zustande gebracht, sich der Schu lbu cherzu bemächtigen . Im Laufe der Jahre wurden nu n systematischden Schu lkindem Lügen und Verdrehungen der Wahrhe iteingeimpft

,indemman die Schulbüchermit prohibitionistischet

Propaganda, mit Flüchen gegen den Alkohol anfüllte . DieSchulkinder sind nun inzwischen zum Teil oder ganz erwachsen und haben den Keim der engherzigen Lehren insich aufgenommen

,von deren W irku ngen sie sich nicht mehr

befreien können . Sie sind in der Jugend geistig entmanntoder verstümmelt worden . Und bei jeder neuen W ahl trittnu n am Ballotagekasten die geistige Impotenz drastischtage . Bitte

,bitte . Der Same, der gesät wu rde, trägt nun

reiche Früchte .

Unendl iche Massen von‘Pap1er wurden verschwendet

,

die der lesewütigen Frauenwelt alle Schrecken des Alkoholsgratis und franko vor Augen führten . Schade um die Tannenwälder

,welche zur Herstellung dieser Gebirge von Makulatur

ihr unschuldiges Leben lassen mußten . Immer und immerwieder wurden dieselben bombastischen Reden

,die al t-en ab

ged roschenen Phrasen und K anzelweisheiten in echt melo e

dramatischer Weise wiederholt und von hinten au s u nsicht

baren Quellen gespeist und verstarkt . Jeder erdenklicheTamtam, alle H eilsarmeemethoden

,für die das Gemüt des

D u rchschnittsamerikaners so wu nderbar empfänglich ist,wurden angewandt

,die Gewohnheitssä u fer zu Reue und Leid

zu veranlassen und die simplen Herzen der Jugendi von derVerwerflichkeit des Trinkens zu überzeugen . Wie

,ich sei

ungerecht ! Ich kann der P rohibitionspartei leider keineinziges vernünftiges Argument na chrühmen, so gern ich estäte . Die ganze Kampagne besteht aus einer endlosen,hysterischen Rezitation absurdester Geschmacklosigkeiten

,

von einer hartnäckigen,teu flisch au sgerech

'

n—eten Appelationan die Stupidität der biederen Landbevölkeru ng

,. die das

größte K ontingent der amerikanischen Nation stellt . KeinMittel schien der Partei zu stu

'

pide,zu lächerlich

,zülügnerisch

zu sein,um die Stimme des ungebildeten Farmers zu, erbetteln,

zu erschmeicheln oder zu erdrohen,der nota bene noch durch

die Abgabe seiner Stimme an die Prohibition seine Existenzuntergräbt .Der beliebte Gedanke und Ausgangspunkt der Prohibition

nämlich, daß der Alkohol so viele traute Heime ruiniere, istunvernünftig und grundfalsch . Aber dieser Gedanke wirdgehegt u nd gepflegt u nd gemästet . Bis zur Überdrüssigkeitwird

'

er dem Volke immer wieder aufgetischt . Gewöhnlichist es nicht der Mann ,

der als Trinker sein Heim zerstört,

sondern es ist das Heim,welches den Mann zerstört und in

die Wirtschaft jagt . Die Anschuldigu ng, daß der AlkoholArmut schaffe

,ist falsch . Es ist nachgewiesen

,daß das

jährliche Einkommen des amerikanischen Arbeiters durchschnittl ich 768 Dollars und 54 Cents beträgt . Davon gibter jährlich durchschnittlich 1 2 Dollar s und 44 Cents fürSpirituosen aus . Für Tabak bezahlt er fast genau so viel .Wenn die Nation verarmt, so ist es also nicht die Schuld desAlkohols . Da muß die Ursache '

1n e1nem anderen Übelgesucht werden . Wenn die Heime der

Menschen ru 1n1'

ert

werden, so geschieht dies einzig u nd allein durch die Menschen selber . Wenn ein Mensch herunter kommt

,so ist es

sein N atu rel l i Welchen Anteil hat der Alkohol an einemMenschen

,der durch übermä ß iges Trinken zugrunde geht ! ?

Alkohol schafft nicht Wahnsinn Wahnsinn sucht Alkohol .Nach den Grundsätzen der Prohibition mußte man das

Weib für nahezu" alle Übel u nd Unglücke aller Zeiten undauf der ganzen Welt verantwortlich machen . Wir müßtendas weibliche Geschlecht prinzipiell au s der Welt schaffen .

Und die Frauen müßten das männliche Geschlecht au szu

rotten suchen .

Die Menschen mussen immer eine Art S u ndenbock fu rihre Leidenschaften u nd Sunden haben . Und wenn es auchnu r eine dumme Ausrede ist . Sie richten andere auch meistensnu r nach ihren e i g e n e n Beschaffenheiten .

W enn einSchwachkopf zum Beispiel unter dem Banne der Trunksuchtod er irgendeines anderen Lasters steht, so setzt er von derganzen übrigen Menschheit das gleiche voraus . W enigstensglaubt er, die anderen m ü ß t e n unter d emselben Druckestehen

,die - Leidenschaften m u ß t e n die gle iche W irkung

einen wunderbaren Takt bese ssen,sich nicht an einer solchen

Megäre zu vergreifen? Haben S ie nicht meistens stillschweigend den oft in die Hunderte gehenden Schaden getragen ?Die ird ische Rentabilität der Agitation gegen die wohl

habend e Spiritu osenindu strie ist unverkennbar . Bitte,

bitte ich bin noch nicht zu Ende Jede Agitationist profitabel und erfolgre ich

,Wenn sie au f die Beschränktheit

der Massen gemu nzt ist Hier 1st sie doppelt erfolgreich .

Die ganze P r-o'

hib itionsbewegu ng scheint im Grunde nichtsanderes zu sein als eine unter dem Deckmante l der christlichen Liebe versteckte perpetuelle Schröpfung der wohlhabenden Brauere ien und verwandten Interessenten . Weileine derartige Operation im k olossalen Stil betrieben wird

,

ist sie zulässig . Große R ä u bereien werden staatlich undgesellschaftlich sanktioniert

,denn man ist ihnen machtlos

gegenüber ._ Außerdem sind sie rentabler wie d ie kleinen .

Die Spirituosen - Int-eressenten haben durch ihre anfä ngliche Untätigkeit und Sorglosigkeit bei der Abwehr ihrerAngreifer viel versäumt . Die leidige Bruderschaft

,die viele

'

Saloor'

1wirte während der Wahlen :mit den Tausend-en u nd

aber Tausenden von korrupten Politikern schließen, verleitetdurch Aussichten

,au f gu te Geschäfte vonseiten der betreffen

den po litischen Parteien und gutes Einvernehmen in bezugau f die Gesetzgebu ng

,hat der Sache der Spirituosen- Inter

essenten auch viel bei dem gerecht denkenden Publikum geschadet . Denn die Saloons sind oft die W iegen vonkorrupten,politischen Strohkönigen,

stellen sich dadurch in sehrschlechtes Licht und haben manchen gegen sich erbittert,der sonst vielleicht nichts gegen ihr Dasein einzuwendenhatte . Diese Tatsache ist von den P rohibitionisten gleichfallsmehr als reichlich breitgetreten und ausgebeutet worden

,denn

eine solche Unvorsichtigkeit kommt ihnen gut zustatten .

Wie wackelig aber im * Grunde das Gebäude der Pro ‘

hibition steht,beweist die fi-eberhafté

,hysterische Note

,die

au s allen Stimmen der Antialkoh-ol iker herau sschril lt . Die”skrupellosen Übertreibungen und Verdrehungen von T ä t

sachen,der nervöse

,neu

'

rasthenische Ton ihrer Sprache erinnert wirklich an einen Bösewicht, der seine Schliche u nd

Absichten um jeden Pre1s durchsetzen will, oder an eineneigensinnigen, hartnäckigen Dummkopf, der einen im Eiferbegangenen Unsinn eingesehen hat, denselben aber mit allenihm zu Gebote stehenden Mitteln zu verfechten und aufrechtzu erhal ten sucht . Die P rohibitionisten haben nicht dengeringsten Re spekt vor der Gerechtigkeit, der sie geradezuins Gesicht schlagen . Der unberechenbare M aterialschaden

,

den sie der Nation zufügen,gi lt ihnen nichts . Die Frage

,

wie es um die hochgepriesene und nur noch künstlich erba ltene Freiheit im Lande stehe

,sobald ihre Ansichten durch

gesetzt werden,beantworten sie nicht .

Die Sprache der Spirituo sen - Interessenten ist meistenseine durchaus ruhige und vernu nftige . Sie steht wenigstensin wohltuendem Kontrast zu den leidenschaftlichen A u s

bruchen ihrer Gegner . Sie widerlegt ruhig u nd sachlich dievielen Übertreibungen

,entmä ntel t u nd beweist klar und deut

lich mit Hilfe von statistischen Ziffern die Unwahrheiten derAnschuld igungen und wehrt die Angriffe sachgemäß ab . Einso lches Verhalten sollte zum mindesten die rapide Verbreitungder Prohibition doch etwas aufhalten und di e vernünftigerenBürger zu m Nachdenken veranlassen .

Aber sonderbarerweise gewinnt die Prohibition immermehr Grund . Auf mehr a ls zwei Drittel des Gebietes derganzen Nation ist das Haus

,wo es etwas zu trinken gibt

,dem

Erdboden gleich gemacht worden ; auf dem letzten Rest desLandes ist es von gi erigen Fe inden belagert, die au f seinenSturz warten . Acht oder neun Staaten der Union sind jetztsch-ou vo llständig

„trocken gelegt

,mit anderen Worten

der Verkauf,die Fabrika tion

,der Versand von geistigen

Getränken in diesen großen,weiten Gebieten ist zu e iner

verbreche rischen Handlung gestenipelt worden und wird gerichtlich verfolgt . Trinken darf man in diesen trockenenStaaten

,denn das T r i n k e n ist nicht als verbrecherische

und strafwürdige Handlung im K odex erwähnt wo rden . 0

ihr bösen P rohibitionisten ! Wenn ein Hausmütterchensich aus H eidelbeeren

,Johannisbeeren oder Trauben einen

Saft bereitet,denselben au f Flaschen Zieht u nd gären läßt

,

so macht es sich damit zu r Verbrecherin ! Der Prohibitionist,

der sich auf irgend -eine We ise seinen Whisky verschafft undihn heimlich genießt

,ist unschuldig wie ein nw geborenes

Lamm“Die Musterstaaten, welche ihren

\

. M il lionen von E in

wohnern den Genuß von geistigen Getränken irgendwelcherArt vo llständig entzogen haben, welche die einschlägigenIndustrien

'

und Inter-essenten ‘

als Verbrecher g ebrandmarktund mit Gewalt ihre Existenz und Lebensunterhalt zerstörtu nd die Unglücklichen ihres H eimatb -odens verwiesen haben

,

ohne ihnen “ein Äquivalent für den zugefügten Schaden zubieten, sind in chronologischer Ordnung : Maine, Kansas,No rth Dakota,

Georgia,Oklahoma

,Alabama

,Mississippi,

No rth Carolina, Alaska und nu n reiht sich auch noch derStaat T ennesse—e der wu rdigen Galerie an. Rund fünfzehnMillionen Menschen wohnen in diesen Staaten . Zu dieserZahl von T ranklosen treten noch die Eingeborenen u nd

Passanten der einzelnen Landbezirke,Städte u nd Ortschaften

der anderen Staaten hinzu,denen durch die

„L ocal op tion

Gesetze der stärkende Trunk entzogen werden ist . Die Zahldieser unglücklichen vertrockneten Land—erstriche betrug Ende1908 fünfhu nderteinu nddreißig und die Zahl der bedauernswerten Städte und Ortschaften im ganzen Lande (außerha lbder P rohibitio ,nsstaaten wohlverstanden) war zur gleichenZeit zehntau sendeinhu ndertzweiu ndfünfzig . Darunter befindensich dreihundert Städte mit je fünftausend Seelen u nd neunzigStädte mit je zehntausend Seelen u nd. mehr. Worchester inMassachusetts

,eine S tadt von zirka einhu ndertfünfzigtau send

Einwohnern,ist total trocken

,. Die ganz genaue Summe

der Einwohner der von der Prohibition gedeckten Bezirkeim ganzen Verbände der Nation lä ßt sich schwer feststellen.

Man beziffert diese Summe auf zirka fünfundzwanzig MillionenMenschen . Demnach wär—en zusammen mit den Einwohnernder P rohibitionsstaaten ungefähr vierzig Millionen Menschen,also fast die Hälfte der Einwohner der Vereinigten Staatenauf zwe1 Drittel der Fläche des Landes unter dem Zwängeder Prohibition. 3

Die Agi tation wird wu tend weiterbetrieben . In neunweiteren Staat en tobt der Kampf für die gänzliche Vertilgung

elenden, lächerlichen Farce geworden sind und von keinemMenschen heilig geha lten

,sondern au f alle erdenkliche W eise

heimlich und öffentlich umgangen‘

und übertreten werden,

sondern auch in den jüngeren P rohibitionsstaaten wird dasAnsehen des Gesetzes und des gesetzgebenden Körpers inden Schmutz gezogen . Wie kommt es

, daß die Trunkenheitin den P rohibitionsstaaten zugenommen hat, seit man denEinwohnern die Gelegenheit zum Trinken nahm ? DieBürger wissen sich schon ihren Trunk zu verschaffen . Daßsie dies aber wie die Diebe bei Nacht tu n müssen

,ist eine

Schande . Es ist unglaublich, wie erfindungsreich die bedauernswerten Bürger der trockenen Staaten werden

,wenn es gilt

,

ihren Durst zu löschen . Die Apotheken,welche jetzt

Spirituosen al s Medizin verkaufen,machen Bomben

geschäfte,denn die Medizin darf in solchen Fällen nur in

Literfla schen verkauft werden . Überall werden Gesöffe aus

geschä nkt, die man für alkoholfrei erklä rt, u nd wenn man

sie näher untersu cht,sind sie nichts al s purer Wh isky oder

Bier,manchmal eine geradezu gesundheitsschädliche Mischung

von allerhand scharfen Flüssigkeiten . Freunde und Be

kannte handeln frei ohne Lizenz mit Spirituosen untereinander.Die Gesetzgebung und der Staat ist machtlos . Sie kennendo ch die genialen Methoden,

die vo r kurzem im StaateGeorgia entdeckt wurden . Wer sich eine Flasche Whiskyverschaffen

"

wollte, gi ng in ein Hotel und verlangte einZimm er . Je nach dem Preise, den er bezahlte, fand der Gastauf dem Tische in seinem Zimmer eine Flasche, welche denersehnten Trunk Whisky

,Wein

,Bier

,oder was es gerad e

war,enthielt . Diese Flasche steckte der Gast in sein K öffer

chen, „reiste“ sofort wieder ab

,und das Zimmer wu rd e gleich

darauf neu besetzt“ . So kam es vor, daß ein und das selbeZimmer oft hunderte Male an einem Tage „

besetzt" wurde.

Die Tru nkenheit nahm überhand, das Gesetz wu rde öffentlichverhöhnt . Ein eifriger

,leitender Prohibitionist war hinter

diese Schliche gekommen und mietet-e“ sich auch einmal einZimmer in einem Hause, wo er nich t bekannt war, zwecksÜberführung des Wirtes . In der gewohnten Weise eignetesich der Fromme die verhä ngnisvolle Flasch-e an

,um sie bei

der Anklage al s K o rpu sde likti zu benutzen . Der W irt aberstrengte ganz kaltblütig eine Gegenk lage wegen Diebstahlsgegen den eifrigen Spiritu osenfeind an

,der nicht das Recht

habe,Gegenstände, welche sich in Hotelzimmern befinden,

da raus zu entwenden . Und unter allgemeinem Gaudium u nd

Gegröle au s tausend feuchten Kehlen wurde der Ärms teals ein gemeiner Dieb verdonne-

rt . Dem Wirte konnte nichtnachgewiesen “werden

,daß er Spirituo sen verkaufte . Er ging

frei au s .

Solche Komöd ien in verschiedenster Art und Wei sekommen täglich vor . Es ist schon nicht mehr amüsant, es

ist lächerlich . Man d enke sich einen Soldaten ohne Bieroder Wein ! In Amerika, wo bekanntlich alles möglichist

,ist auch solch ein undenkbarer Vaterlandsverteidiger

möglich . Seit einigen Jah ren hat man sämtliche Kantinen inder amerikanischen Armee abgeschafft . Das Resultat ist

,

daß im Februar 1909 ein Armeebefehl erlassen wurde, wonachalle Flaschen

,Behäl ter u nd Gefäße in der

'

Armee,welche

denaturierten Spiritus enthalten,mit der abschreckenden Auf

schrift Gift“ versehen werden müssen,da die Soldaten in

vielen Fällen, u m ihren Durst zu stillen, zur Spiritu sflaschegegriffen ha tten, in dem guten Glauben,

Spiritus habe nu rdi e wünschenswerten Eigenschaften eines starken Whiskys .Natürlich kam en viele Erkrankungen u nd auch Todesfälle vor .Die P rohibitionisten haben sich auch eine unpassende

Zeit zur Purifikation des Menschengeschlechtes gewählt,

welche au f Kosten vieler Tausende r von ehrlichen Arbeiternstattfinden soll . Gerad e zu u nserer heutigen Zeit

,wo A rbeits

mangel und Stel lenlo sigkeit in al len Indu strien überhandgenommen hat

,gi lt es

,alte Industrien

,die seit Jahrtausenden

existieren,nicht mehr zu zerstören

,als bisher schon durch

die unabwendbare Ebbe u nd Flut der Zeit geschehen ist,

sondern es gilt, n e u e Industrien ins Leben zu rufen, dieden Millionen von hungernden Familien in allen zivilisiertenLändern Brot geben .

I ch glaube nicht,daß das amerikanische Volk der

Arbeiter sich mit der mutwilligen Vergrößerung seines ansich schon bedenk lichen Notstandes einverstanden erklären

wird . Die direkten und indirekten okonomischen Verluste,

die die Prohibition mit sich bringt,sind ganz unberechenbar .

Das ganze immense Kapital der Brauerei D estil lations undW einbau indu str ien in Amerika steht auf dem Spiel ; zahllose,davon abhängige Industrien und Gewerbe smd bedroht . W as

würde die Landwirtschaft allein an Hopfen,Gerste usw . jähr

lich verlieren ! Im Staate Kentucky allein,wo man gegen

wat tig au f absolute Abschaffung der Spirituosen drängt,

steht ein Kapital von 192 Millionen Dollars au f dem Spiel,

welches durch den Sieg der Prohibition rettungslos verlorengehen würde .

So ha t die Prohibition seit mehr als einem halben Jahrhundert

.ihres Bestehens genau das Gegenteil von dem be

wirkt,was sie versprach . Sie hat weder die Verbrechen ven

mindert,noch die korrupten Politiker vertrieben . Sie hat

auch nicht die Trunkenheit abgeschafft, sondern dieselbeindirekt gefördert . Sie hat die Bürger aber zu Sklavenerniedrigt u nd au f die gemeinste Stufe gestellt

,welche ein

zivilisiertes Volk einnehmen kann . Sie hat sie . zu r Menschenfurcht und Heuchelei gezwungen . Sie hat den ehrlichenBürger

,der eines Glase s Bier oder Wein zu seiner Erholung

bedarf oder dessen nicht entbehren will,z u r Überschreitung

und Mißachtung der Gesetze des Landes veranlaßt .Jawohl

,. Herr Bischof

,die Kirchen des Landes haben viel

zur Förderung der Sünden beigetragen . Aber darum will ichgerade die Stellungnahme der römisch - katholischen Kirchezu m Trinkverbot lebend hervorheben . Seit ihren ersten Zeitenhat diese Kirche (von einigen einzelnen Fällen abgesehen)einen versöhnlichen Standpunkt gegen die uralte Frage eine!

genommen u nd nur Mäßigung anempfohlen . Das wirklichgroßzügige und weitsichtige Urteil

,welches der würdige

Repräsentant der katholischen Kirche in Amerika,der

K ar

dinal Gibbons,über die wachsende Prohibition vor einigen

Jahren abgab,verdient verewigt zu werden . Es hat seinerzeit

dem Kardinal volle Anerkennung und Beifall der vernu nftigenWelt zu beiden Seiten des Atlantiks eingebracht . W as

aber war die Folge ? Sieg der Dummheit der Prohibitionselbst in der Diözese des Kardinals .

2 40

u nd Gemu tsroheiten, in Verbrechen u nd in offentlichen

Wohltaten .

So wenden auch die P rohibitionisten den superlativ inder A nklage gegen Bacchus und seine Freuden an . AberBacchus, der Milde, wird dem jungen Amerika verzeihen . Ander Hand der Geschichte wird er Amerika leiten u nd ihmzeigen, was er au s seinem Feinde gemacht hat .Tausend Jahre vor Christi Geburt tobte ein kaiserlicher

Sohn des Himmlischen Reiches der Mitte gegen die Machtdes Weines . Er ließ alle Weinstöcke entwurzeln . Wo ist derKaiser jetzt ? Tot

,sehr

,sehr lange tot . Die Reben blühen

noch immer . So sehr tot ist die armselige,bezopfte Majestät

,

daß man schon gar nicht mehr weiß , welcher Dynastie sieangehörte . Die Reben blühen weiter . Tausend persischeFakire und Pfaffen grolten in der Mitte des elften Jahrhu nderts die verderbliche Macht des Weines an . Als Gegengabe schenkte uns Persien zur selbigen Zeit einen einzigenOmar Omar Chajjam . D as Lachen eines einzigen Omarswar tausendmal wuchtiger al s das Gezeter u nd Geheul vontausend Derwischen und Priestern zusammen . Alle tausendSchreihälse sind tot . Sehr

,sehr lange tot . M an kennt ihre

Namen gar nicht . M an hat sie nie gekannt . Und nie kennenwollen . Omar lebt weiter . Seine Rubaiyat

,sein Lachen

macht heute noch alles Gezeter stumm .

W as ist au s Indien, dem uralten Lande der W under, dertiefsten Denker

, der jungfräulich herrlichen Poesie geworden ?Was ist Arabien und die anderen Länder

,denen Buddha

und Mohammed den Wein verbot ? Unzä hlige Beispiele wirdBacchus bringen

,wo er seine Gegner in die Lächerlichkeit

zog,sie dem Spott der Welt preisgab . Er wird die Dichter

und Denker aller Zeiten und aller Völker kommen lassen, umZeugnis fu r ihn abzulegen . Sollte ihm dann noch die Türgewiesen werden

,so wird er Sich nicht darob grämen . Dann

wird er ruhig das Land verlassen und es mei-den. Und woer auszieht

,da zieht orientalische Apa thie, Trägheit und

Lasterhaftigkeit ein und legt sich wie ein böser Traum aufdas Gemüt des Volkes . Dann wird die Statue der Freiheitdie größte Lüge u nd Karikatur, die jemals von den Menschen

errichtet wurde . Sie wird dann zum verlockenden Aushängeschild an der Tür zum Despo tismus des Pöbels

,der Pluto

kratie,der Pfaffenwirtschaft und Heuchelei .

Ich weiß,der wirkliche Amerikaner ist mit solchen Zu

standen nicht einverstanden . W as kann aber die vernünftigeMinderheit gegen die blinde Mehrheit machen ? Die Heiligkeit des Geset zes darf nicht verletzt, nicht in Frage gestelltwerden . Die Heiligkeit des Gesetzes hat nichts zu tu n mitdem Blodsinn,

den das Gesetz oft vertritt,fördert und be

schützt . Wenn ein Unwürdiger die Priesterweihe erhält, soist nicht die Weihe entehrt

,sondern der. Unwürdige selber .

Wenn das Gesetz einen Blödsinn sanktioniert,so ist nicht das

Gesetz anzugreifen,sondern der Blödsinn . Ein Untertan

,

geschmückt mit dem Purpur und den Regalien des Königs,darf sich hochstens in einer komischen Oper sehen lassen .

Wenn er sich aber ernst nimmt,so kann man ihn mit gu tem

Gewissen für geistesgestört halten u nd ihn einsperren .

So kann man auch den Blödsinn in das würdige Gewanddes Gesetzes kleiden

,aber er wird immer ein Blöd sinn ble iben .

Daß er so in monumentalster Weise angebe tet wird,daß

Millionen u nd Abermillionen vor ihm auf die Knie sinken,

ändert gleichfalls nichts an der Tatsache, daß er ein Blöds1nn lst .Mit der Autorität der Stimmenmehrheit war es von jeher

,

u bera l l u nd zu allen Zeiten‘

eine eigenartige Sache . In einemSchwarm von Spatzen hat eine Nachtigall nichts zu sag-eu .

Wer unter den Wölfen ist,muß mit ihnen heulen . In Rom

tu t man,was die Römer tu n. Und in Amerika bei der Über

macht der P rohibitionisten muß man tun, was diese Leutetun : nämlich im geheimen trinken oder Kokain nehmen undfromm drein schauen . Aber die Heiligkeit des Gesetzes istunantastbar . Bevor ich mich aber hiermit einverstandenerklärte

,würde ich mich betrübt von Amerika abwenden und

das schöne große Land betrau em,das dem Schicksale Indiens

und Arabiens entgegengehen soll . Ich würde mich nichtwohl fühlen in einem Lande

,wo man sich an e inem toten

Sonntage Inspiration au s Gefrorenem u nd Limonaden mitStrohhalmen in die öd en

,müden Schädel einsaugt und sich

Pau l V e h l i n g , D ie Moral des Hotels. 16

einen “

Sodawasserenthu siasmu s antrinkt,damit man wieder

mutig den Stürmen des mühevollen Lebens am Montag entgegentreten kann . Nein

,wenn ich an der Tafel u nd beim

Wein sitze,dann fühle ich Erdgeborener mich den ewigen

Göttern gleich und will nichts,aber auch absolut gar nich ts

verachten und entbehren das die schöne Erde mir bietet,

wenn ich es haben und in schöner Freude genießen kann .

Und mein Kellner ist dann me in Ganymedes,und. mag

er noch so verzweifelt ird isch drein und ausschauen . Dannwill ich seine und die eigene Weltlichkeit vergessen . Abervierzig Millionen Menschen ohne einen Tropfen Wein ! Einschallendes

,anakreontisches Ge lächter dafür ! N u n

,

Herr BischofSo Hm Warum ich nicht lache

,warum! ich plotz

lich so ernst dreinschaue ? Einge sehen ? Nein,gar nichts

habe ich eingesehen ! Aber'

hör’ mich an,alter Freund !

I ch habe dir noch etwas zu sagen . D u zitterst

Ja du tust mir leid ! Bitte,laß mich red-en ! Nur

noch ein paar vernünftige W ort-e will ich zu dir sprechenBitte, laß mich reden, sag

’ ich ! Nitmh’

d -och noch einmaldeine frühere Vernunft zusammen . Und dann will ich dichhoren

,was du zu sagen hast . Al s-o du behauptest

,das

Ausschänken von Spirituosen hat einen“

verderblichen E influß au f das S eelenl -eben des Kellners ! Mein Kellnermacht sich zum Mitschuldigen an meinen Sunden

,am Unter

gang der Säufer und der Schlemmer ! D as sagst du mir ! ?N u n höre

,was ich dir zu sagen habe

Mogen fromme Menschen, die sich um das Seelenheilanderer bemu hen

,ihrem lieben Herrgott danken

,daß sie

nicht so sind wie der Kellner, der seine Kräfte in die Dienstedes entsetzlichen Dämons Alkohol stellt ; mögen die frommenLeute ihm sein Brot abnehmen ; mögen sie ihn in Grund undBoden verdammen

,über dies-en Fluch

,über sein Unglück

hilft die Philosophie den freu ndlichen Ganymed hinweg . Mußder Solda t nicht

,durch die Umstände gezwungen

,Menschen

töten, die er niemals zuvor gesehen hat, Menschen, die ihm

nicht das geringste „Leid zu gefu gt haben ? Und je mehr

er von diesen unschuldigen Menschen abmordet, um s o ein

Wenn die Menschen aus allem, was s1e sehen, Lehren fursich u nd ihr Leben zögen, so . stünde

_

vieles besser um sie .

W enn die Kellner dies täten, so würde aus ihnen ein gewa ltiges Geschlecht entstehen

,wie die Welt noch keines

gekannt hat, dagegen sich die größten Satyriker als armseligeKläffer verkriech-en müßten . Sie wurden stärker und machtvo ller werden al s die biblischen Prophet-en,

die beim Anblickeines versumpften Volkes nichts als weinen oder schlechtesWetter prophezeien konnten . Jerusa lem

,Babylon

,Ninive

,

wieviel Gutes müßt ihr noch in euch geborgen haben,da

man noch Lamentationen und Tränen an euch verschwendete !Es werden aber diejemgen kommen, die nicht predigen,

nicht weinen und nicht propheze ien, sondem nu r schauen,

mit kalten,ruhigen Augen schauen

,darinnen alles Mitleid

erstarrt ist,starke Geister

,die das Gift den Schwachlingen

reichen und den Trunkenen zuflüstern :„Trinkt

,trinkt und

lebt euch tot ! Wir wollen allein sein ! Uns gehört dieErde und das Leben, uns, den Gesunden und Starken !

Und allmählich wird die Macht der Erde in die Händedieser kalten

, ‚starken Menschen u bergehen,sie werden die

Herrscher u nd d ie Selb stbehe1rscher sein . I ch nenne dassoziale Chirurgi e und Okulation des Baumes des Lebens .Die Menschen haben aber noch immer nicht sehen ge

lernt . Und da die Kellner eben auch nicht mehr al s Menschenvon heute sind

,so tun sie eben auch nicht mehr als andere

Menschen tu n u nd ziehen keine Lehren für sich au s demLeben der anderen . So geht der ganze Wert des Bösen anihnen verloren . Und er verwandelt sich, wie immer, zu r

bösen Macht,die sich au f alle ausnahmslos erstreckt .

.Darum schmähe nicht,mein Freund ! Fürchte dich

,

ekle dich aber auch nicht vor dem Laster . Schau ihm kaltu nd ruhig in das triefende Auge, wie ein Arzt die eiterndeWund e betrachtet . Und es wird scheu vo r dir zurückweichen .

Denn selbst das Laster hat seine Scham,wenn es sich durch

schaut fühlt . Dann wird es zusammenschrumpfen wie eineleere

,elende Bagatelle

,der du einen Fußtritt versetzest .

Das schleimige Lächeln in seinem Gesichte wird zu hoffnungsloser Traurigkeit erstarren

,erfrieren es wird nicht wagen,

2 4 5

um Vergebung zu winselh oder dich beru hren. Es wird vondir lassen

,denn es halt dich für einen Gott oder einen

Teufel,und keinen von beiden liebt es . Nu r unter den erd

geborenen Menschen sucht es seine Opfer . Ein wildes T ierist’s

,das du im Auge behalten mußt

,greifst du es an

,

fürchtest du dich oder kehrst du ihm den Rücken,so springt

es auf dich . Bedenke : Jeder Angriff, jede Abwehr°

ist einZeichen von Hochachtung .

Nicht Furcht soll dich stark machen ! Keine Go ttesfurchtso ll dich verhärten, keine Menschenfurcht soll dich zumFeigling erniedrigen, so ll dich Vom Laster fernhalten . Dusollst in das Laster hineingehen

,um au s ihm wieder hervor

zugehen . Die Furcht vor dir selber allein soll dich reinigenund auferstehen lassen

,Phönix ! Und laß nie deineWangen

um das Heil anderer ble ichen . W o es sein mu ß,da schau

ruhig der Vernichtung zu . Laß zugrunde gehen, was dazubestimmt ist . Denn du verschwendest dich, wenn du einenFinger rührst

,zu helfen . Es gibt große

,übermenschl iche

Machte,die nichts zugrunde gehen lassen . D u hast nicht das

Recht,einzugreifen in fremde Seelenwel ten . L aß jede W elt

ihrem Frühling und ihrem Winter entgegengehen .

Darum verdamme nicht zu schnell ; es mochte dich vielleicht später reuen . Nicht nur der Kellner wird verführt undberauscht von dem wogenden Getriebe des Lebens . Es liegtin der menschlichen N atur

,von der Menge und dem Geiste

der Zeit mitgerissen zu werden . Niemand von uns kann sichganz von diesen Fesseln befreien . Das einzelne Individuumist machtlos . Nur der ganz Starke

,der Seher

,der die Schal

heit,das H ohlc des vorübergehenden Treibens erkennt u nd

der ruhig verachtet, was sich ihm aufdrängt, weil er genugmit sich selber zu schaffen hat, wi rd bleiben . Alle anderenverschwinden halt und rettungslos im großen Strudel desDaseins . Hier treiben sie hin und her

,bis sie untergehen .

Hier erstickt das moderne Fatzkentum,hinter dessen hohlem

Lachen und Überlegenheit sich eine erschütternde Tragikverbirgt

,welche die Schwester der Nacht

,der Dummheit ist .

Hier wanken die Trunkenbolde,nicht voll vom Weine des

Lebens,sondern trunken vom billigen Fusel der Geme inheit

,

grausige Fluche lallend . Hier sammeln sich die mudenVeteranen

,zerlumpt

,krüppelig, die Geschlagenen, die Eti t

laufenen,die Betrogenen ; krank, gebrochen, elend, dämmern

sie in der S ö nne dahin . Die Schlo t,

tergestal ten Skelette,

Galgenvögel,faule Schwämme

,Zerrbilder Gottes

,Tuber

'

ku lösen,die aschigen Kinder des Rinnsteins, gradenhaften

Nachtschatten der Großstadt,Stotternd

,zitternd

,vagen Zielen

zustrebend,die Bacchanten der Gosse

,grauhaarigeVagranten,

vibrierend nach Schmutz,sich ins eigene E lend wühlend

,im

Genuß der . eigenen Gerüche zitternd, die grimmen Maskenherzzerreißender Komödien

,die nä cht1gen K loakengeschöpfe

einer lächerlichen Tragödie, die Halbgebildeten, die Halbwissenden

,welche die Wonnen des Lebens kennen ohne

Gewalt darüber zu haben,die Ohnmächtigen, die Verzweifel

ten . Müde,schläfrig brechen sie zusammen

,bis der Fußtritt

des Po lizisten s le weckt . Und draußen,freudig

,daß es

Platz gibt,schieben sich die jungen Kolonnen mit Jubel

geschrei vor in die Gefechtsl inie . Immer neu werden dieLücken von den nie endenwo llenden Reserven gefüllt ; immerneu schlürft sie der unersättliche Rachen hinunter

,immer

neu speit er sie wieder aus,und geschlagen

,verwundet

,ge

brochem,befleckt kriechen die Gestalten au s dem Feuer in

die Dunkelheit . Die Parkbankgam itu r ! Die Leierkas'

tenkomöd ianten ! D ie Zierden der Stadt !

'

Die Trophäen derZivilisation ! Preise des Lebens ! Überprodu zierte Unterentwickelte Lemuren Halbmenschen quoi !

Und die Tragikomödie desK el lne11ebens besteht in diesemeinen Gedank zen Es ist nich ts Großes

,Gewaltiges

, das denKellner bedroht und oft zermalmt . Kein Grubenunglück

,

keine D ainpfkesselexplosmnen,keine tobende S ee

,kein

brüllend‘

es Feuer . Das Lächerliche, Oberflächliche, die Bagatelle

,die Halbeleganz, die H ä lbbüdu ng,

das alles bemächtigtsich seiner Gestalt

,sucht sich darin zu verkörpern

,darin zu

leben . Die Mühle der Kleinigkeit reibt ihn langsam au f, dieMühle unseres modernen Lebens . Sie zerkleinert die hehrenSchmerzen der M eflschenbrüst langsam

,damit das

,was wir

anfangs für einen heiligen Funken göttlicher Gewalt hielten,morgen zu einem lächerlichen Quark wird . Dies, dünkt mich,

von Land zu Land . Eine Hoffnung . ersetzt die ‚andere . K eineerfüllt sich v ielleicht . A ber sein Herz bleibt wunderbar jung .

!

Heute sieht er Laster, wird verführt, stürzt sich hinein, um .

Ekel vor sich selber und seinem Leben daraus zu schöpfen,morgen hält ihn wieder eine blühende Landschaft, eine neueHoffnung

,die Freude an einer neuen ‚R eise, vor der Selbst

verachtung und Selbstvem ichtu ng zurück . Er kann nicht.

verzweifeln ; er bleibt Jung . Mögen auch die Musik,die

parfümierte Atmosphäre, der Glanz, der Geruch und die"

Hitze der Küche,das Strahlen der Lichter, die körperlichen

Anstrengungen, der Ärger, der Haß gegen den Reichtum,

die Dienerei, die Verachtung seiner Person, das Trinkgeld,mag alles au f ihn einstürmen und sich wild in s einem Herzenfestkrallen

_und es aussaugen

,der Kellner bleibt jung .

So entwickelt sich au s ihm der heimatlose, unstete Wanderer

,der gott und freund lose, gut u nd blutarme Mensch,

der er heute ist . Die schönsten Kräfte seiner Jugend gibt »

er dah in,ohne an sich zu denken . W em gibt er sie ? Sich

selber ? Nein ! Den anderen Menschen ? Nein ! Siewerden zersplittert

,entkrä ftigt, zermalmt in der großen un

menschlichen Mühle unserer Zivilisation . Es gi bt das berühm te Düngermehl für ku nftige Kulturen .

Bei einem solchen Anblick sollte selbst das Gesicht e1nesGo ttes zu Marmor erstarren . Aber das Gesicht des Lebensmit seiner ganzen Inkonsequenz lacht, lacht, Während seineTatzen die Herzen zerreißen . Die großen

,entsetzlichen Kon

traste,das grausam

,willkürlich zusammengewürfelte Gemisch

von Schwarz und Weiß, Gelb u nd Rot, ungeordnet, verwahrlost

,verwitternd

,r eizt nu r den Künstler

,den Fleißigen .

Der Mensch aber,der darin nicht umkommt

,ist ein Künstler .

E r fühlt sich glücklich in dem großen Haufen von Sand undMörtel

,bunten Steinchen

,Gläsern

,Scherbenund Splittem ,

die in allen Farben leuchten vom reinsten Go lde bis Zu mgiftigsten Grün . Wo aber ist der Me ister

,der diese Stück

chen, die Fragmente zu einem herrl ichen vM osaik, zu einem

gewaltigen Gedichte zusammense tt Er ist noch nichtgeboren . Aber darf man sich nicht schon glücklich schätzen,wenn man au s der Ferne , mit den Augen eines Schöpfers

2 49

verschwommene Konturen einer erhabenen Kompo sition er

kennen kann, die au s dem Material‘

entstehen könnte undentstehen mu ß ?

Aber die Lasterhaftigkeit bleibt doch so ziemlich dasZuverlässigste in der menschlichen Natur . In den allerschlimmsten Fällen kann man fast immer mit ihr rechnen .

j a ,leider ! So ist’s ! W as nützen die schönen E xku i‘éionen

ins Blaue ! Und ich habe mir auch sagen lassen,daß

Bibelgesellschaften in Amerika Sogar v ersuchen, Freiexema

plare der Heiligen Schrift in den Hotelzimmern aufzulegen,um damit au f das Seelenheil der Gäste einen w-ohl tä tigen

'

Einfluß auszuüben . Schön ! Indessen glau be ich nicht, meinFreund

,daß sich tru gsinnende Makler dadurch von ihrem

bösen Vorhaben abhalten oder in ihren Kalkula'

tionen beirrenlassen . Nein

,das Selbstbewußtsein unseres inneren Men

schen ist unsere einzige Rettung . Ich bezweifle auchsehr

, daß etwaige entlaufene,legitim vielleicht nicht zu

sammengehörige Parchen, die, nachdem sie es au f oft ganzwunderbare Weise zustande gebracht haben

,den spähenden

Augen des gestrengen Detektivkorps eines großen Hotelszu entschlüpfen

,unter der schützenden Flagge des he iligen

Ehestandes den sicheren Hafen eines molligen Appartementserreicht haben

,sich durch den plötzlichen unerwarteten An

blick der ernsten Bibel zu einer schleunigen Umkehr undBuße mit Reue und Leid veranlaßt fühlen oder sich gar nurzu einem flüchtigen Stoßgebet errnahnen lassen

,bevor sie

sich in die Versuchung begeben,wirklich Mann und Frau

zu sein . Mein Freund,ich bezweifle es . Aber du wirst

j edenfalls auch hier wieder den Wirt verantwortlich machenwollen für anderer Leute Sünden

,wie du eine Eisenbahn

od er eine Schiffahrtsgesellschaft verdammen wirst, weil sieden Halunken und Verbrechern Mittel bieten

,sich der Ge

rechtigkeit zu entziehen . Oh,all der bittere Hohn

,mit dem

uns da s”hose Leben überschüttet ! Wenn wir doeh nur

das Geld sparen könnten, das wir durch unsere Dummheitenverschwenden ! Die Qua len der blutenden Herzen

, ja selbstdie L ächerlichkeiten, denen wir uns aussetzen, ließen sichda nn leicht ertragen .

2 50

Wenn ihn also eine feine Dame beauftragt, W hisky oder

Cocktail in einem zierlichen T eetöpfchen und dünnen, u n

schuldigen, goldu mranderten Porzel lanschä lchen zu servieren,

so mag ein unbeholfener Kellner wohl heimlich grinsen u nd

sich darüber lustig machen,ein wirklicher

,tüchtiger Kellner

aber wird den Auftrag ausführen,ohne mit einer Wimper

zu zucken . Es wird nur eine grenzenlose,stille

,tiefe Ver,

achtung in seinem Herzen aufkeimen für dieF eigheit und dieHeuchelei der Menschen

,welche Furcht vor sich u nd ihres

gleichen haben,die Menschenfurcht

,die gemeinste

,die hün

dischste aller Fu rchtgefühle . Und es wird eine ganz stille, tiefe ,

heilige Verachtung sein, die es gar nicht mehr liebt, sich zu

zeigen . Sie wird nicht mehr versuchen wollen zu spotten, dennder Spotter verdirbt doch viel

,statt zu bessern

,u nd sein ohn

mächtiges Gelächter kehrt unverrichteter Sache an seineigenes Ohr zurück . Und das tu t weh . Selbst das Gelä chter der Götter uber die Torheiten der Sterblichen istnicht das Höchste. Die Ewigen können auch Blitz

'

e schleudern oder tief

,ganz tief wie das spiegelglatte

,unergründliche

Meer schweigen .

Ein Mensch,der dies empfindet

,steht hoch uber allem

Schmutze,mit dem ihn das Leben umgibt

,und er selber

wird keiner schmutzigen T at fähig sein . Ja, der Schmutz,den seine Hand b -eru hrt

,wird verklart . Gelehrte u nd ge

wissenhafte'

Menschen mogen ihm vorwerfen, daß man unterkeinen Umständen eine T at begehen darf, die er mit seinemGewissen nicht vereinbaren konnte . Aber was ist denn dasGewissen ? Wachse ich nicht ? Wechsele ich mich nichtwie das Licht des Tages ? W er

'

sagt mir,daß mir morgennoch gelten wird, was ich heute denke ? Und eine Notwendigkeit

,die bis zu r Neige auszutrinken uns das Leben

zwingt,ist ein mä chtigerer Befehl al s das heutige Gewissen.

Nein,Freund

,nu r das Bewu ßtsein unsere s inneren Menschen

ist unsere einzig-

e Rettung ! Das robuste , gesunde Selbstbewußtsein mit der Verantwortlichkeit für sich selbst . E in

so lches Gewi ssen wünsche ich jedem meiner Zeitgenossen,den unser heutiges Leben in einen wilden Kampf u m ein S tückButterbro t oder noch weniger stößt, den es zwingt, nach

VI I I .

Kellner,meine Gaste lassen heute aber lange auf sich

warten . So,Sie sahen den Herrn ‚Dokto r ausgehen ?

Hm,dachte mir schon

,daß er nicht kommen würde . Und

die anderen Herrschaften ? Abgereist ? Wer ? DerHerr Bischof ? Davon hat er mir doch gar nichts gesagt !Na

, und der Herr Professor laßt sich entschuldigen !Der Herr Kommerzienrat hat plotzl ich wichtige Geschäfte zuerledigen ! Die Damen sind unwohl ! Hurra ! Die Musikspielt

*

heu te auch nicht hier . Der Saal ist schwach besetzt !Großartig ! Ein wahrer Glückstag .

Na,Kellner

,dann bringen Sie mir aber mal was Gutes

zum Essen . Heute werde ich me1ne Mahlzeit mit Andachteinnehmen können ; heute werde ich

"

doch verstehen können,was ich esse . W as ? Canapé de Caviar a la RomanoffNein

,danke

,heute nicht . A ls H orsd

aau vre einen ein .

gemachten Hering . Ich habe ’nen Katzenjammer . Daraufeinen Teller“ gute Fleischbrühe

,einen saftigen Rostbraten

mit hausgemachten Nudeln . Die Nudeln mit ein klein wenigMuskatblüte und recht viel geri-ebenen Käse . Und eineFlasche Bier . Ah

,das wird mund-

eu !

Übrigens muß ich Ihnen mein Kompliment machen,

junger Mann . Sie verstehen Ihr Geschäft . Und das ist keineKleinigkeit ! Sie haben mich u nd meine Gäste währendmeines Aufenthalts ausgezeichnet gu t bedient . Meine Dinerswaren fehlerlos

,ein Gegenstand des Neides für me1ne Rivalen .

Ich habe nicht zu warten, mich kein einziges M al umzusehenbrauchen . Alles kam von selber . Alles War einfach perfekt .Hier

,darf ich Ihnen daher diese Kleinigkeit für Ihre

Mühen und Wie ? Sie nehmen kein T rinkgeld l ?Oder wo llen Sie mich gar beleidigen ? Sind zwanzig Mark

für acht Diners nicht genug ? Wie ? Überreichlic'h,und

doch wollen Sie es nicht annehmen ! Dann halten Sie michalso für einen Kollegen ? Auch nicht ? Sonderbar ! Vonm i r nehmen Sie kein Trinkgeld Warum gerade vonm i r nicht und doch von den anderen Gasten ? Mein Geldist do ch genau so gu t wie das der anderen und vielleichtweniger

„befleckt nu n

,was ist es denn ! So sprechen

Sie sich doch au s ! Ja, ja, gewiß , ich nehmeAnteil an Ihrem Lose

,ich nehme Anteil an jedem

menschlichen Lo se . Aber woher wissen Sie denn das ?Aha ! Sie haben au f meine Reden mit meinen Gästen

geho rcht ! Welch ein Wunder ! Der Mensch horcht undbedient gu t zu r gleichen Zeit ! Aber ein Kellner soll nichtho rchen . Ein guter Kellner tut das überhaupt nicht ! Das

wissen Sie so genau w1e ich . W irklich, ich habe mich inIhnen getauscht ! Ich hätte Sie für einen besseren Manngehalten ! Was ? Sie konnten beim besten Willen nichtwiderstehen ? Na, diesmal soll Ihnen noch verziehenwerden ! Aber das ist interessant ! I ch soll etwas fürSie tu n j a, mein lieber, junger Freund, Trinkgeld nehmenSie nicht von mi r an ! W as so ll ich denn sonst noch fürSie tu n ? Ich habe Ihnen doch bereits ein gutes Zeugnisausgestellt . Wollen Sie Ihr Lob noch einmal vor demPrinzipal au spo sau nt horen ? Nicht ? Dann konnte ichSie höchstens noch als meinen Haushofmeister engagieren ;aber mein Chateau ist erst im Bau begriffen, und es wirdno ch lange

,sehr lange dauern

,bis es fertig Na

, jedenfalls geben Sie mir Ihre Adresse ich will sehen, wasWie ? Nicht für Sie personlich,

sagen Sie ! Aber für wendenn sonst ? Den Stand ? I ch 5 011 etwas fu r den Kellnerstand im a llgemeinen tu n ! Sie meinen

,seine soziale Lage

verbessern,das Ansehen heben Aber wie kommen Sie

denn auf eine solche Idee ? Wie soll ich denn das anfangen ! ?Bucher darüber schreiben ! Bah

,welchen Zweck sollten

so lche Bücher haben ! ? Bei der heutigen Flut von Büchernhaben Sie eine Ahnung ? Niemand würde Bücher über

die Kellner lesen . Die Kellner selber würden sie nicht einmalbeachten ! Wenn die freie Zeit haben

,liegen sie au f dem

2 54

Turf . Wenn ohne Stellung,treiben sie sich in den dumpfen

Schnapslokalen der Stellenvermittler herum . Sie haben keineZeit, Bücher zu lesen und sich u m ihr Los zu kümmern .

Nein,mein junger Freund . Die Kellner allein haben ihr

Schicksal in der Hand ! Sie und niemand“ anders au f der

Welt kann es bessern, kann ihnen helfen ! Sehen Sie dennnicht

,niemand bekümmert sich um Ihr L os ! Der Bischof

,

gegen den ich gestern Ihren Stand verteidigt habe,reist

heute ab . Der Soziologe , dem ich die Ohren voll gepredigthabe

,läßt sich entschuld igen . Der Herr Doktor strahlt durch

Abwesenhe it . D er Großindustrielle ist jedenfalls so von derVerwerflichkeit des Trinkgeldes überzeugt worden

,daß er ‚in

Zukunft keins mehr geben wird . Die Damen,oh Ihre

schlimmsten Plagegeister Sie sehen ja selber, wie es

mir ergeht ! Ich bin in argen Mißkredit geraten ! Nein;mein Freund

,Ihr Schicksal müssen Sie selber ausfechten .

Die Zeit wird komm-

en, wo die Kellner gut organisiert und

menschenwu rdig für ihre Arbeit bezahlt sind . Dann wird IhrStand von selber angesehen sein . Wenn alle Vorurteilebeseitigt

,alle Übelstände und Schaden Ihres Standes im

Laufe der Zeit kuriert sein werden,wenn die Zustände

,die

heute noch als primitiv und engherzig Ihr Leben u nerträglich machen, verbessert wo rden sind, dann fallen die meistenMöglichkeiten zu Konflikten in Ihrem Geschäfte wie imgeistigen Leben in sich se lber zusammen . D as Dasein desKellners wird sich dann als ein menschenwu rdiges und glückliches erweisen, wie es deren trotz allen Elends in denmodernen Industrien noch zu Millionen unter den Menschengibt . Es wird dann eine Freude sem,

m I href. Stellung arbeitenzu können . Dann werden Sie auch die Freude der Arbeitempfinden ihr e igentlicher Lohn, der Ihnen bis jetzt nochversagt ist .Ob ich wirklich einma l als Kellner gearbeitet habe ?

Selbstverständlich, :mein Freund ! Und als solcher habe ich

einen unvergeßlichen Augenblick erlebt . Die s war, als icheinen jungen Koch am Herdfeuer stehen sah

,einen sauberen

,

kleinen,lebhaften Franzosen mit schwarzen, funkelnden

Augen . Meine stumme ‚Bewunderung schien ihn mit Stolz

2 56

Wir Menschen konnen einander wenig oder gar nichthelfen . Aber einer unserer größten Denker, Kant, sagt, daßder Mensch so viel tun soll, al s in seinen Kräften steht

,um

ein besserer Mensch zu werden . Unter dieser Voraussetzungaber dann auch gewiß kenne er hoffen

,was nicht in

seinem Vermögen stehe werde ihm durch hohere Veranstaltung zuteil werden

NACHWOR T .

I ch hatte also meinen Zweck erreicht ! I ch stand alleinmit meinem Kellner . Meine internationalen Freunde hattensich entschuldigt

,sich zerstreut mich gemieden . Sie hatten

genug . Ganz sanft hatte ich sie tot gelangweilt, respektvollu nd au f praktische

,ehrliche Weise hinweggeekelt . Der Kellner

ist gu t zur Bedienung . Sehr gu t sogar mitunter . Unzu

reichend aber ist er als Gegenstand amüsanter Betrachtungam Tische

, den er bedient . Darum schließt man di e Augenlieber . D ie Spannung bleibt al lerdings .Ich hatte also meinen Zweck erreicht . Aber wie ! Mit

welchen Mitteln ! Mit welchen Opfern ! Nicht,daß ich

den Verlust der Freunde beklage ! Be ileibe nicht . Aberdurch die hartnäckige Verfolgung des Fadens wurde ich inTiefen geleitet

,die ich anfangs selber nicht ahnte . I ch hatte

einen neuen Menschen kennen gelernt . Ich fühle aber nu n,

daß die schöne Zeit d er s orglosen,frohlichen Mahler auf

immer dahin ist . Denn seit ich unseren Ganymed,den

Kellner, ganz kennen gelernt habe, se it ich die Leiden, das

Schicksal dieses M enschen weiß, seit diesem T ag kann ichkeine Mahlzeit

,kein Glas Wein mehr so froh wie ehedem

genießen,und mag’s mir noch so freund lich gereicht werd-eh

oder gerade dann noch viel weniger . Ich fühle mich nichtmehr als Gott . Alles rings u m mich ist menschlich . Sehrmenschlich .

Meine Freunde ahnten dies Unheil dumpf . Sie hattenzwar keine bestimmte Vorstellung davon

,aber darum gerade

blieben sie weg. Sie entfem ten sich . Sie fu hlten etwas wieein kalter Hauch einer unsichtbaren

,neidischen Geisterhand

über ihren Freuden schweben,sie hörten einen Tropfen

Wermut in ihren Becher sickern . Sie sahen bleiche Ge

sieb ter, Tranen sie sahen Gespenster was weiß ich !Ku rz, sie schlossen die Augen, sie wollten nichts sehen, siedankten, zitterten,

HohenHalb erleichtert

,halb bedruckt atmete ich au f. Dann

ging ich hinaus in die frische Luft . Doch noch lange lagdie brütende Schwüle des werdenden Menschenschicksals

drückend au f meiner Stirn .

Wir atmen nicht nur ein, w1r atmen auch au s . Und derkeimende Gedanke wirkt in u ns, bis er zum Ereignis wird.

Das Ereignis ist die stumme Nacht die Frucht dlas

Und das Wesentliche an dem Vergangenen ist nicht,es ging, sondern daß es nicht mehr w iederkehrt .

E n d e

L . D I D I ON CO . ,VE R L AG

B L AKE BUIL D ING, 72 3 L E ! INGTON AVENUE, NEW YOR K

W I CHT I GE A NZE I GE !

Mit dem vorliegenden W erke Die M oral des Hotels

von Paul Vehling glauben wir den Grundstein zu einer Samm

lung von Büchern gelegt zu haben, die fiir die Entwicklung

und den Fortgang der Ho telindustrie von g roßer W ichtigkeit

werden soll . Mit dem Weltverkehr,der in den letzten Jahr

zehnten einen so ungeahnten Au fschwung genommen hat,

und die Unterschiede zwischen den Völkern der Erde 1mmer

meh r und mehr ausgleicht, hat sich auch die Hotelindustrie

zu e iner großartigen menschlichen Arbeit entwickelt,die

viele andere moderne Kulturarbeiten an Wichtigkeit bei

weitem übertrifft . D as moderne Gasthaus, welches dem

Re isenden Luxus,Komfort und Sicherheit bietet

,hat neben

der Dampfkraft zum großen Teil dazu beigetragen,daß der

Werdegang der Menschheit d e n Lauf genommen hat, den

er nehmen m u ß , nämlich zu einer Vereinigu ng der Volker,zu m Weltfrieden .

Während die Technik mit ihren gigantischen Maschinen,

die unentwegt au f dies hohe Ziel hinarbeiten, mit einer wahren

Flut von Literatur sowie m1t der größten Pflege u nd Studium

bedacht wir-d,steht die Ho telindustrie ziemlich vernachlässigt

da . j eder » daran beteiligte Arbeiter und Arbeitgeber weiß,welch große Anforderungen an die Kenntnisse und Kräfte

der - in den großen Hotels arbeitenden Menschen gestellt

werden, damit ihr Werk «der Erfolg krone . Die Hotelindustrie

mit ihrer unendlichen Reichhaltigkeit u nd Vielseitigkeit ist

zu einer Wissenschaft herangewachsen,welche sich nicht

mehr durch einfache praktische“

Arbeit’ erwerben oder be

herrschen läßt . Diese Tatsache ist oft und bitter empfunden

werden, und man hat bereits Versuche gemacht,durch Er,

richtung von Fachschulen,Lehrkursen u swfdem Übelstände

Abhilfe zu schaffen . Man hat das Bedu rfnis für eine theore

tisch - praktische Erziehung des H otelarbeiters al so erkannt .

Es scheint aber noch immer an den notigen L eh'

rkrä ftm

gefehlt zu haben . Am meisten aber hat man die Notwendig

keit einer gediegenen Fachliteratur empfunden, die vor allem .

den menschlichen Gehalt,der in der Hotelindustrie der wesent

lichste von allen ist,behandelt . Hier helfen keine Anstands

bucher und Umgangsphrasen mit Menschen . Hier muß die

Psychologie, das tietfinnerste E rg&ifen .dermenschlichenNatur,

die Kunst, die Dinge in ihrer Art zu sehen, zu erkennen und

zu nehmen, einschreiten und muß erzieherisch wirken .

Wie weit Mr . Vehling in dem vorliegenden Werke dies

Problem zu‘

e rfassen verstanden hat, überlassen wir dem

Urteil des geneigten Lesers . Zweifellos aber ist der\ju nge

Autor der e r s t e,der sich

,so intens1v dieses u ndankbamn

Themas bemächtigt ha t, um mit kraftvoller Hand Licht und

Luft zu schaffen . Und wir,der Verlag

,haben es uns zu r

Aufgabe gemacht,das begonnene W erk auszubauen mit allen

Kräften, die u ns zu Gebote stehen . W ir beabsichtigen,eine

Reihe von sachlichen,aber doch interessant geschriebenen

Werken über die einzelnen Gebiete des modernen Verkehrsu nd insbesondere Monographien über die Hotelindustrie her

auszugeben, die nicht nu r zu r Belehrung u nd Erziehung des

modernen H otelarbeiters dienen sollen,sondern namentlich .