Wahrheit, Beweis, Gedanke, Identität · 2019. 7. 26. · Triebfeder der Wissenschaft ändern - der...

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arXiv:1805.05419v7 [math.HO] 20 Sep 2020 Äquivalenz und Wahrheit Stefan Müller-Stach E-mail address : [email protected] Johannes Gutenberg–Universität Mainz, Germany

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Äquivalenz und Wahrheit

Stefan Müller-Stach

E-mail address: [email protected]

Johannes Gutenberg–Universität Mainz, Germany

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Vorwort

Dies ist ein Text über die Mathematik, der diese Wissenschaft und ih-re Bedeutung auf eine neue Weise, die vielleicht etwas zugänglicher alsüblich ist, beleuchten will. Das Ziel ist es, wichtige und lange bekann-te erkenntnistheoretische Fragestellungen mit neueren Entwicklungendes Fachs zu verbinden.Die Mathematik ist aus mehrerlei Gründen eine bemerkenswerte Wis-senschaft. Einerseits ist sie eine a priori Wissenschaft, die auf keineranderen Wissenschaft aufbaut1 und sich ausschließlich mit abstraktenBegriffen befasst, die man in unserer gegenständlichen Welt nicht di-rekt wiederfindet. Andererseits ist sie eine Wissenschaft, die in sozia-len Zirkeln betrieben wird - im Widerspruch zu manchen Vorurteilen.Wer jemals im Mathematischen Forschungsinsititut in Oberwolfachoder im Banff Center in Alberta zu Gast war, der weiß wie das kleineVölkchen der Mathematiker sich gegenseitig Vorträge hält, aber auchzusammen durch die Wälder spaziert, musiziert, gesellig zusammen-sitzt und über viele Dinge nachdenkt.Das gesamte menschliche Denken ist weit über die Mathematik hin-aus äußerst mächtig. Dabei spielt die Abstraktion eine wichtige Rol-le. Sie wird zur Präzisierung von Formulierungen und zur Ökonomieunseres Denkens benötigt. So dienen Begriffe wie „Tiere” und „Men-schen” zur Beschreibung ganzer Ansammlungen von Lebewesen, ohnedass man jedesmal die einzelnen Vertreter aufzählen muss. Sind sol-che Begriffe noch ziemlich konkret, so sind Begriffe wie „Vernunft”oder „Freiheit” sehr abstrakt, aber ebenso nützlich.

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Eine eng damit zusammenhängende Frage ist die nach der Existenzund der Natur der abstrakten Objekte in unserem menschlichen Den-ken. Die Frage, wie das menschliche Denken – also unser Gehirn– funktioniert und wie unser Bewusstsein entsteht, kann trotz derFortschritte der Neurowissenschaften bis heute niemand beantwor-ten, ebensowenig die Platonsche Frage, ob es einen Ort außerhalbunseres Gehirns gibt, in dem die Begriffe unseres Denkens lokalisiertsind. Bereits Leibniz hat in seinem „Mühlenbeispiel”2 darauf hinge-wiesen, dass jede Reise durch unser Gehirn nur eine Maschine – ebeneine Mühle von innen – zeigen würde, ohne dass Wahrnehmungen,das Bewusstsein oder andere Qualia erkennbar wären.Es gibt Antworten zahlreicher Wissenschaftler, die das Bewusstsein– oder andere emergente Phänomene des Lebens – gewissermaßendurch eine virtuelle Maschine (oder Software) in der Hardware unse-res Gehirns – also unter dem Aspekt der Berechenbarkeit – erklärenwollen. Das „Mühlenbeispiel” von Leibniz bleibt als Mahnung dafürstehen, dass man auf diesem Gebiet noch sehr wenig weiß.Die Mathematik ist trotz aller Abstraktion kein reiner Selbstzweck.Sie hat vielfältige Anwendungen in ganz praktischen Bereichen. Be-reits Mathematiker der Antike wie Pythagoras, Archimedes, Dio-phant, Euklid und viele andere davor und danach haben sich mitelementarer Geometrie und Arithmetik nicht nur aus reiner Neugieran der Forschung beschäftigt, sondern auch damals schon Anwendun-gen für den Handel, die Astronomie, die Kriegsführung, für Baukon-struktionen und in der Landwirtschaft im Auge gehabt.Die Naturwissenschaften können ihre Theorien nicht ohne Zuhilfe-nahme mathematischer Strukturen ausdrücken. Es ist vermutlich keinZufall, dass die Mathematik die „Sprache der Natur” ist, wie es Ga-lileo Galilei einmal ausgedrückt hat. Eugene Wigner hat dies einmalwunderbar ausgedrückt, indem er von der

Unreasonable effectiveness of mathematics in thenatural sciences

gesprochen hat. Natürlich ist diese Aussage besonders in der Phy-sik von enormer Bedeutung. Keine andere Wissenschaft profitiert so

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von der Mathematik als grundlegende Sprache. Die Sprache, d.h. dieSyntax, der Mathematik ist allerdings sehr formal und das macht sieunzugänglich für viele Menschen.Es war ein Ziel von Gottfried Wilhelm Leibniz, solche Gedankenge-bäude zu errichten und eine universelle Wissenschaftssprache – Lin-gua Universalis – dafür zu konstruieren. Dabei spielte von Anfang andie Semantik abstrakter Begriffe eine große Rolle, denn aus der Syn-tax der Mathematik und deren einfachen Grundprinzipien entfaltetsich ein Kosmos von verschiedenen Strukturen und Mustern, derenExistenz, Eindeutigkeit und Sinnhaftigkeit in Frage steht. Die seman-tische Welt, die dabei entsteht, zeichnet sich durch eine eigene innereSchönheit aus. Weil es in diesem Gebäude nur wenige Grundprin-zipien gibt, spricht man von einer Einheit der Mathematik. Geradedeshalb ist es so bemerkenswert, welche Vielfalt die Mathematik insich birgt.Die Begriffe Wahrheit, Beweis und Berechenbarkeit spielen eine großeRolle in diesem Bild. Neben diesen Begriffen gibt es weitere, die zumVerständnis von Mathematik und ihrer Arbeitsweise wichtig sind, wiedie Gleichheit oder Identität von Objekten und ihre Abschwächungenwie Äquivalenz und Isomorphie. Berechenbarkeit und Beweisbarkeitsind dabei weitaus einfacher zu verstehen als der Wahrheits- und derGleichheitsbegriff.Der Wahrheitsbegriff leidet unter der Kontextabhängigkeit der Wahr-heit, der daraus resultiert, dass Annahmen getroffen werden müssen,um Wahrheit festzustellen. In der Wahrheitstheorie von Tarski wirddies durch Wahl einer übergeordneten formalen Sprache gelöst, in derdie Semantik als Interpretation erscheint oder durch Hinzufügen vonAxiomen in der sogenannten Axiomatischen Wahrheitstheorie. DieUmgangssprache des täglichen Lebens ist mit beiden Ansätzen nichtgut abbildbar. Trotzdem muss es im Leben allgemeingültige Wahr-heiten geben, die über jeden Zweifel erhaben sind und die wir durchhartnäckiges Suchen finden können.Der gängige Gleichheitsbegriff in der Mathematik ist etwas zu starrund kann nicht gut mit auftretenden Isomorphien und Äquivalenzen

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umgehen, die allgemeiner als Gleichheit im engeren definitorischenSinne sind. Im Grunde ist die Praxis der Verwendung des Gleich-heitszeichens eine Art Baufehler der Mathematik und eine erweiterteSichtweise auf Gleichheit ist notwendig. Dieses innermathematischeProblem ist durch die Arbeiten von Per Martin–Löf in der Typen-theorie oder durch die Theorie der höheren Kategorien angegangenworden und hat eine große philosophische Relevanz.Die Zusammenhänge zwischen solchen Fragen und den damit verbun-denen Begriffen möchten wir in diesem Text, dessen Inhalt auf einenVortrag im Studium Generale der Johannes Gutenberg–UniversitätMainz zurückgeht, auf unterhaltsame und verständliche Weise skiz-zieren und dabei gleichzeitig einen historischen Bogen spannen, dervon der Antike bis zur aktuellsten Forschung reicht. Dabei werden wirinsbesondere über die Ideen von Platon, Gottfried Wilhelm Leibniz,Richard Dedekind, Gottlob Frege, Kurt Gödel, Alfred Tarski, SaulKripke, Alexander Grothendieck, Daniel Quillen, Per Martin–Löf undVladimir Voevodsky sprechen. Gerade die beiden letztgenannten Ma-thematiker haben – aufbauend auf den Ideen vielen anderer – neueKonzepte entwickelt, die die abhängige Typentheorie als alternativeSyntax der Mathematik etabliert und mit einer kategoriellen Seman-tik versieht. Unsere Absicht ist es, den Leser in die genannten Themeneinzuführen und dadurch zum eigenen Nachdenken und zum Selbst-studium anzuregen.Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich betonen, dass diesweder ein streng philosophischer noch ein wissenschaftshistorischerText ist, sondern aus einem ganz neuen und individuellen Blickwinkeleines Mathematikers geschrieben ist. Andere Sichtweisen und abwei-chende Einschätzungen sind selbstverständlich möglich.Annika Denkert, Jürgen Jost, Sieglinde Müller-Stach, Andreas Röd-der und Rainer Wieland danke ich für wichtige Gespräche.

Mainz und Neustadt–Haardt, im Herbst 2020

Stefan Müller-Stach

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort iii

Vorbemerkungen ix

Kapitel 1. Grundlegende Fragen 1

Kapitel 2. Die Suche nach einer Universalwissenschaft 21

Kapitel 3. Wie denken Mathematiker? 43

Kapitel 4. Mathematik in unserer Kultur 69

Kapitel 5. Berechenbarkeit und Entscheidbarkeit 93

Kapitel 6. Kategorientheorie 107

Kapitel 7. Deduktive Systeme und ihre Semantik 123

Kapitel 8. Gödel und Tarski: Unvollständigkeit und Wahrheit 133

Kapitel 9. Typentheorie und ihre Semantik 153

Kapitel 10. Mathematik und Wahrheit 175

Anmerkungen 181

Literaturverzeichnis 193

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Vorbemerkungen

Bevor wir beginnen, wollen wir einige der wichtigsten Fragen vorweg-nehmen, denen wir später begegnen werden. Die erste und vermutlichdie schwierigste Frage ist:

Was ist ein Gedanke und wo sind die Begriffe unse-res Denkens lokalisiert?

Darauf gibt es bis heute jedoch keine befriedigende Antwort, auchwenn manche Philosophen wie die Platoniker abstrakten Objekteneine Realität an einem Ort außerhalb der Wirklichkeit zugewiesenhaben. Eine Einstiegsfrage dazu ist die Frage:

Was ist eine Zahl?Zahlen sind nämlich Objekte, die zwar jedermann kennt, die aberin der Wirklichkeit eigentlich nicht selbst, sondern nur in Form vonAnzahlen vorkommen. Mit kleinen Zahlen gehen wir souverän um,aber sehr große Zahlen entziehen sich vollständig unserer Vorstellung.Ähnliches gilt für ideale geometrische Gebilde, wie zum Beispiel Krei-se, die in ihrer mathematischen Reinform höchstens näherungsweisein der Realität vorhanden sind.Da wir mit diesen Fragen schon tief in der Mathematik stecken, sollenauch folgende Fragen nicht zu kurz kommen:

Wie denken Mathematiker und welche Rolle hat dieMathematik in unserer Kultur?

Die grundsätzlichste Frage, die wir uns stellen, ist:Wie kann man den Begriff der Wahrheit definieren?

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Diese Frage wurde bereits im Altertum von Aristoteles und anderengestellt und über viele Jahrhunderte mit der problematischen Korre-spondenztheorie der Wahrheit beantwortet. Alfred Tarski hat im 20.Jahrhundert mit Hilfe semantischer Methoden eine tragfähige Ant-wort auf diese Frage gegeben, indem er den Wahrheitsbegriff zumin-dest für formale Sprachen, wie sie beispielsweise in der Mathematikvorkommen, mit Hilfe einer Metasprache als Semantik – in der Regeldie formale Sprache der Mengenlehre – ermöglicht hat.Bemerkenswerterweise hat Tarski aber in einem anderen Resultat fürdie wahren Sätze der Arithmetik gezeigt, dass diese innerhalb allerarithmetischen Aussagen keine definierbare Menge bilden. An dieserAussage sieht man, dass Wahrheit ein komplizierter Begriff ist.Der Begriff der Beweisbarkeit hingegen ist wesentlich leichter zu ver-stehen. Die Wahrheit einer Aussage in der Mathematik lässt sich ambesten mit einem Beweis überprüfen. Deshalb kann man sich fragen:

Ist Wahrheit gleich Beweisbarkeit?Natürlich ist jede beweisbare Aussage in einem vernünftigen logi-schen Kalkül wahr. Die Umkehrung gilt aber nicht, wie Kurt Gödelin seinem berühmten Unvollständigkeitssatz bewiesen hat.Trotz dieser negativen Antwort kann man folgende Frage stellen:

Ist Beweisbarkeit gleich Berechenbarkeit?Jeder Beweis ist eine Berechnung in einem logischen Kalkül. In einemgewissen Sinne ist umgekehrt auch jede Berechnung ein Beweis fürdie Aussage, die das Ergebnis der Berechnung behauptet.Eine etwas schwerere Frage ist das Entscheidungsproblem von Hilbertund Ackermann:

Kann man entscheiden, ob eine Proposition in ei-ner axiomatischen Theorie mit logischen Methodenbeweisbar ist?

Eine solche Entscheidung wäre ein Algorithmus, der das Ergebnis 1liefert, wenn die Proposition beweisbar ist und 0 andernfalls. Die Ant-wort auf diese Frage ist jedoch ein klares Nein, wie Alan Turing undAlonzo Church in ihren berühmten Arbeiten von 1936 gezeigt haben.

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Diese und weitere unentscheidbare Probleme, wie das Halteproblemfür Turingmaschinen, beruhen auf der Existenz von unentscheidba-ren, aber rekursiv aufzählbaren, Teilmengen der natürlichen Zahlen.Eine verwandte Frage ist offenbar:

Was unterscheidet die menschliche Intelligenz voneinem Computer?

Alan Turing hatte bereits über diese Frage nachgedacht und dazu sei-nen Turingtest entwickelt. Wir werden auch auf die Frage eingehen,ob es einen Berechenbarkeitsbegriff jenseits von Turingberechenbar-keit gibt, auch Hypercomputing genannt.Eine andere Richtung unserer Überlegungen bezieht sich auf die Fragenach der Identität:

Was bedeutet die Gleichung A = A?Viele Philosophen, wie zum Beispiel Gottfried Wilhelm Leibniz, Da-vid Hume und Martin Heidegger, haben darüber nachgedacht. Erstder Logiker Per Martin–Löf hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-derts eine abhängige Typentheorie entwickeln können, die die Frageder Gleichheit oder Identität durch die Einführung des Identitätstypsin das Zentrum rückt und ihnen eine angemessene Rolle als Spielarteiner Äquivalenz innerhalb der modernen Mathematik zuordnet. Vla-dimir Voevodsky hat vor wenigen Jahren mit seinem Univalenzaxiomdiese Theorie noch wesentlich erweitert. Mit dieser Theorie verbin-det sich die Hoffnung, mit den Fragen der Gleichheit bzw. Identität,Isomorphie und Äquivalenz in der Mathematik besser umgehen zukönnen und gleichzeitig ein neues System von Grundlagen für dieMathematik zu schaffen.Dieser Text hat sich zum Ziel gesetzt, auf möglichst verständlicheWeise alle Aspekte dieser Entwicklung darzustellen, einschließlich ei-niger Beispiele und Anwendungen. Am Ende wollen wir wieder aufWahrheitstheorien zurückkommen und sehen, inwiefern die von unsbetrachtete Mathematik ein neues Licht darauf werfen kann.

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KAPITEL 1

Grundlegende Fragen

In diesem Kapitel führen wir in einige grundlegende Themenkom-plexe ein, die wir in diesem Buch untersuchen wollen. Wir beginnendamit, die Natur abstrakter Begriffe3 in der Mathematik zu betrach-ten und darüber nachzudenken, ob die mathematischen Objekte ein-deutig identifizierbar sind und ob sie eine eigene Existenz jenseitsdes symbolischen Kalküls besitzen. Neben antiken Philosophen wiePlaton und dem Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz habeninsbesondere die Mathematiker Georg Cantor, Richard Dedekind undGottlob Frege zu diesem Thema zuerst tiefe Überlegungen im Bereichder Zahlen und Mengen angestellt.

Mathematische Objekte und ihre Identifikation

Was sind die Gegenstände der Mathematik? Diese Frage ist nichtleicht zu beantworten. Erschwerend kommt hinzu, dass die Mathe-matik eine enorm präzise Wissenschaft ist, die ihre Erkenntnisse ineiner eigenen und sehr formalen Sprache ausdrückt, was sie schwerverständlich erscheinen lässt. Gleichzeitig ist sie – trotz aller Anwen-dungsmöglichkeiten in der realen Welt – eine a priori Wissenschaft,d.h. sie beruht weder auf Erfahrungen noch auf anderen Wissen-schaften. Es gibt also sozusagen nichts vor der Mathematik. Den-noch scheint Mathematik in unserem Gehirn angelegt zu sein. Manhat herausgefunden, dass ganz kleine Kinder, manche Tierarten undMenschen in Kulturen ohne nennenswerte Schulbildung elementar-mathematische Probleme verstehen und lösen können.4

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Wir wollen uns zuerst mit abstrakten mathematischen Objekten be-schäftigen und die mathematische Denkweise anhand einiger Beispie-le mit Zahlen und Figuren illustrieren, um schnell zu den tieferenFragen über die Grundlagen der Mathematik zu kommen.Wenn Sie denken, dass Sie bereits wissen, was die natürlichen Zahlen

0, 1, 2, 3, 4, 5, . . .

sind, oder was für ein Objekt eine einzelne dieser Zahlen, wie die Zahl

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ist, dann sind Sie im Irrtum. Selbst Mathematiker hatten in der Ge-schichte viele Probleme damit, dies zu erklären. Georg Cantor, Ri-chard Dedekind und Gottlob Frege haben im 19. Jahrhundert alsErste erkannt, dass es notwendig ist, die natürlichen Zahlen in ma-thematisch präziser Weise zu definieren und ihre gewünschten Eigen-schaften zu beweisen.Schon alleine die Notation für die Zahl 5 variiert in den verschiedenenWeltsprachen und in der Geschichte. Dies alleine stellt natürlich nochkein Problem dar, denn wir alle, selbst kleine Kinder, haben eine klareVorstellung von der Zahl 5 und auch jedes intelligente außerirdischeWesen, das uns besuchen würde, hätte einen Begriff davon, denn eswürde beim Betrachten unserer Hände mit ihren 5 Fingern einenZusammenhang herstellen können und hätte vermutlich auch einenAusdruck oder ein Art Wort dafür, je nachdem welche Form vonKommunikation es pflegt.Aber ist das bei allen Menschen die gleiche Idee, d.h. sind alle „Avat-are” der Zahl 5 irgendwie identisch? Mit anderen Worten: Gilt immerdie Identität

5 = 5?

Man hat irgendwie das Gefühl, dass das richtig ist und man alle Va-rianten der Zahl 5 identifizieren kann. Dieser Eindruck kommt ver-mutlich daher, dass wir beim täglichen Umgang damit eben alle dasGleiche meinen und uns prima über solch kleine Zahlen verständigenkönnen. Untersuchungen im frühkindlichen Alter legen nahe, dass ein

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Gefühl für kleine Anzahlen von Objekten angeboren ist oder zumin-dest sehr schnell erlernt werden kann, ähnlich wie beim Spracherwerb.Wir verstehen jedoch nicht, warum diese Anlagen im Gehirn vorhan-den sind und wie sie dort „verdrahtet” sind.Zu allem Überfluss gibt es auch noch komplizierte additive und multi-plikative Beziehungen zwischen den Zahlen, die innerhalb der Arith-metik auftreten. Die Gleichungen

5 = 1 + 1 + 1 + 1 + 1

oder5 = 2 + 3 = 1 + 4 = 2 · 2 + 1 = 2 · 3− 1

sind als nichttriviale Aussagen über die Zahl 5 anzusehen.Hier tut sich ein großes Problem auf, nämlich die Frage nach der Iden-tifizierbarkeit mathematischer Objekte. Die Begiffe Gleichheit bzw.Identität oder auch Isomorphie sowie Äquivalenz sind dazu in derMathematik gebräuchlich. Die Gleichung

5 = 5

und insbesondere auch die verschiedenen Darstellungen der Zahl 5als Summen von anderen kleineren Zahlen berühren tiefere Ebenender Mathematik. Richard Dedekind und Gottlob Frege haben als ers-te gesehen, dass die natürlichen Zahlen nicht nur eine sondern sogarunendliche viele Realisierungen als Mengen besitzen und solche Glei-chungen zwischen Zahlen wie oben eine subtile Form von Gleichheitdarstellen, die man mathematisch erklären und beweisen muss. Fre-ge hatte vergeblich versucht, durch seine Methode der „Abstraktion”dieses Problem zu lösen. Georg Cantor hat die dazu nötigen Grund-lagen der Mengenlehre weiterentwickelt und ist auch in den Bereichder transfiniten Zahlen vorgestossen.Die Auffassung solcher Gleichungen als eine naive Form der Gleich-heit ist in jedem Fall viel zu optimistisch. Wir werden in Kapitel 9bei der Diskussion der Fragen der Identität und der Univalenz sehen,dass solche Nichteindeutigkeiten in der Mathematik zum Forschungs-gegenstand werden, aber größere Schwierigkeiten bereiten. Dies führtneben einer präziseren Definition des Begriffs der Gleichheit und der

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Identität auch zu einem besseren Verständnis von Verallgemeinerun-gen wie Isomorphien oder Äquivalenzen.

Die Frage nach der Gleichheit oder der Identität

Der Begriff der Gleichheit oder der Identität ist ein wichtiger Begriff,der ganz pragmatische Aspekte besitzt. Wir haben dies bereits amBeispiel der Zahl 5 gesehen, denn es ist natürlich unglaublich nütz-lich, dass wir uns über solche Konzepte wie Anzahlen von Dingenschnell und fehlerfrei verständigen können. Ein anderer Aspekt istdie Wiedererkennbarkeit von Objekten und Personen.Ein komponiertes Musikstück, das mit einem festen Notensatz ver-sehen ist, wird bei jeder Aufführung etwas anders gespielt werden.Trotzdem handelt es sich für den Hörer um das gleiche Musikstück.Also gibt es eine Art von Gleichheitsbegriff für Musikstücke bzw.musikalische Aufführungen. Noch etwas freier ist dies bei Jazzkom-positionen, bei denen über gewisse vorgegebene Grundthemen (z.B.bei Jazzstandards) improvisiert wird. Auch hier wird man niemalsdie selbe Aufführung hören, aber der Begriff der Gleichheit ist nochviel weiter und großzügiger gefasst. Jeder Mensch versteht dieses Bei-spiel sofort und erkennt „gleiche” Musikstücke ohne Probleme wieder.Das gilt auch für andere Kunstwerke. Jeder Autor kennt das Gefühl,dass ein Buch sich in der Entstehung weiterentwickelt, aber ab einemgewissen Stadium „gleich” bleibt, auch wenn noch gewisse Passagenverändert werden. Wenn sich einmal eine Identität des Buches her-ausgebildet hat, dann bleibt sie auch in der Folge erhalten.Ein weitere Beispiel ist der Mensch selbst und nicht umsonst wirdder Begriff der Identität für Menschen sehr häufig in Zusammenhangmit der Identifizierung bei Ausweisen benutzt. Ein Mensch verändertsich im Leben sehr und viele Zellen zum Beispiel der Haut habeneine viel kürzere Lebensdauer als wir selbst. Wenn ich zum Friseurgehe, oder auf andere Art und Weise ein paar Haare oder Hautzellenverliere, wird niemand bezweifeln, dass ich noch der gleiche Menschbin. Dies ist ein etwas anderer Fall als bei Objekten oder Dingen,denn ein Mensch ist eine Ansammlung von Einzelobjekten.

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Der Begriff der Identität ist in Zusammenhang mit dem Menschenin vielerlei Weise verwendet worden. Dies berührt die Persönlich-keitsentwicklung in der Psychologie und Psychatrie und die sozialenAspekte des Lebens in der Soziologie. Im Zusammenhang mit poli-tischen Strömungen ist dieser Begriff allerdings häufig in negativerWeise missbraucht worden. Auf alle diese Verästelungen werden wiraber nicht eingehen, sondern wieder zur Mathematik zurückkehren.Gottlob Frege, der sich ebenfalls mit dem Gleichheitsbegriff für Zah-len auseinandergesetzt hat, hat ein wunderbares mathematisches Bei-spiel dafür gefunden. Er schrieb über den Begriff der Gleichheit aus-führlich in seinem Aufsatz „Über Sinn und Bedeutung”.5 Für die Iden-tität A = B gab er darin das Beispiel zweier Schnittpunkte von je-weils zwei Seitenhalbierenden im Dreieck, die wegen eines bekanntenSatzes der Dreiecksgeometrie übereinstimmen (siehe Figur).

A A = B B

Das Fregesche Beispiel.

Der Beweis dafür ergibt sich daraus, dass sich die drei Seitenhalbie-renden eines Dreiecks immer in einem gemeinsamen Punkt schnei-den (dem Schwerpunkt). Sowohl A als auch B sind also mit diesemPunkt identisch und damit sind A und B auch identisch. Die Identi-tät A = B drückt also die Richtigkeit des geometrischen Satzes vomSchwerpunkt aus und ist keine zufällige Identität von zwei a prioriverschiedenen Punkten.In selben Aufsatz wies Frege darauf hin, dass in diesem Beispiel diebeiden Punkte A und B zwar übereinstimmen und damit die gleicheBedeutung haben, dass aber der jeweilige Sinn, der in der Definitionder Punkte liege, unterschiedlich sei. Der Unterschied zwischen Sinnund Bedeutung von Zeichen drückt sich seiner Meinung nach also

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gerade in der Existenz der Identität A = B aus. In seinem Textgibt Frege noch mehr Beispiele für den Unterschied zwischen Sinnund Bedeutung. Eines davon rührt von den beiden Bezeichnungen„Morgenstern” und „Abendstern” für den Planeten Venus her. DieBedeutung dieser Bezeichnungen ist jeweils die Venus. Die Gleichung

Morgenstern = Abendstern

drückt die übereinstimmende Bedeutung beider als Planeten Venusaus, wobei der Sinn sich auf beiden Seiten der Gleichung durch dieTageszeit beim Betrachter unterscheidet. Dieser Aspekt macht er-neut deutlich, dass eine genauere Untersuchung des Identitäts– oderGleichheitsbegriffs von Interesse ist. Solche Untersuchungen bildenbei Frege den Beginn einer Sprachphilosophie, die im weiteren Verlaufseines Textes in die Betrachtung von Gedanken und Aussagesätzenund deren Wahrheit mündet.Übrigens haben Sie vielleicht bemerkt, dass im obigen Beweis die bei-den Dreiecke in der Abbildung das „selbe” Dreieck symbolisieren sol-len. Um die jeweiligen Schnittpunkte besser sehen zu können, wurdezwei „identische” Kopien des Dreiecks gezeichnet, ein gängiger Trick.Man sieht gut, dass auch Originaldreieck und Kopie austauschbarsind. Unser Denken benutzt also Varianten des Gleichheitsbegriffsohne Zögern.Gottfried Wilhelm Leibniz führte einen sehr wichtigen neuen Identi-tätsbegriff ein, der in der Mathematik eine wichtige Rolle spielt. Inseinen eigenen Worten sagte er:

Eadem vel coincidentia sunt quae sibi ubique sub-stitui possunt, salva veritate.6

Nach Leibniz gilt also für zwei Objekte die Identität A = B, wennman in allen Untersuchungen zu solchen Objekten A durch B erset-zen kann bei Beibehaltung der Wahrheit der Aussage. Dies ist somitein substitutioneller Identitätsbegriff, der schwächer ist als der Iden-titätsbegriff der Ununterscheidbarkeit. Er wird zu einer Schlussregelin formalen Kalkülen wie der Mathematik in dem Sinne, dass iden-tische Ausdrücke unter gewissen Voraussetzungen in Formeln oder

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Propositionen ersetzt werden können. Dies wird uns später bei un-seren Betrachtungen der Typentheorie von Per Martin–Löf wiederbegegnen.Die bisher diskutierten Beispiele sind sehr anschaulich und eigentlichunproblematisch. Worin besteht also nun das Problem der Identität?Mathematische Objekte wie Vektorräume, Gruppen oder Mannig-faltigkeiten etc. sind nicht eindeutig. Der Begriff der Isomorphie istüberall in der Mathematik und in den Anwendungen vorhanden. Sosind zum Beispiel Raum–Zeit–Modelle in der Physik auf Mannigfal-tigkeiten modelliert, aber die physikalische Wirklichkeit ist natürlichunabhängig von der gewählten Modellierung. In der Regel gibt es fürmathematische Objekte keine „kanonische” Wahl und es ist gängi-ge Praxis, Wahlmöglichkeiten wie zum Beispiel Isomorphismen zuignorieren. Dies bedeutet, dass die „Wirklichkeit” eigentlich durcheine Äquivalenzklasse solcher Wahlmöglichkeiten beschrieben wird.Über den Isomorphismus hinaus gibt es auch allgemeinere Äquiva-lenzbegriffe, die man alle ebenfalls unter einen geeigneten Begriff derGleichheit oder Identität fassen will. Eine gängige Anschauung ist es,Äquivalenzen als Pfade in einem umgebenden Raum anzusehen, wiewir in Kapitel 9 sehen werden. Die Probleme bestehen darin, wie weitder Gleichheitsbegriff gefasst werden darf und ob „gleiche Objekte” inallen mathematischen Untersuchungen jederzeit austauschbar sind.

Der Identitätsbegriff in der Philosophie

Wir wollen für die eher philosophisch interessierten Leser einen klei-nen Ausflug machen. Das Problem der Identität ist nämlich nicht nureine Fragestellung der Mathematik, sondern auch ein tiefes Problemder Philosophie. Martin Heidegger hat in einem Vortrag mit dem Ti-tel „Der Satz der Identität” zum Tag der Fakultäten in Freiburg (27.Juni 1957) die Frage der Identität mit der Existenz, d.h. dem Sein inZusammenhang gebracht:

Der Satz der Identität lautet nach einer geläufigenFormel: A = A. Der Satz gilt als das oberste Denk-gesetz. Diesem Satz versuchen wir für eine Weile

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nachzudenken. Denn wir möchten durch den Satzerfahren, was Identität ist ... Was der Satz der Iden-tität, aus seinem Grundton gehört, aussagt, ist ge-nau das, was das gesamte abendländische Denkendenkt, nämlich dies: Die Einheit der Identität bil-det einen Grundzug im Sein des Seienden.7

Dieser Aufsatz von Heidegger ist nicht leicht zu verstehen und gehtweit in die Welt der Metaphysik hinein. Im Text beruft sich Heideggerauf Platon und Parmenides und zitiert letzteren mit den Worten inloc. cit.:

Das Selbe nämlich ist Denken sowohl als auch Sein.In Wahrheit geht es ihm also um die Zusammengehörigkeit des Men-schen mit seinem Sein und Denken. Es gibt eine bemerkenswerteSchlussbemerkung in diesem Text, die die Berechenbarkeit im Ge-gensatz zum Denken einordnet:

Heute errechnet die Denkmaschine in einer Sekun-de Tausende von Beziehungen. Sie sind trotz ihresNutzens wesenlos.

Hier steckt also auch die Frage dahinter, ob das menschliche Den-ken sich von der Berechenbarkeit unterscheidet. Hinter den Begriffendes Seins und des Selbst steckt natürlich auch die Frage nach demBewusstsein.Der englische Philosoph David Hume hat ebenfalls über Identitätnachgedacht und ist auf ähnliche Fragen gestoßen:

There are some philosophers, who imagine we areevery moment intimately conscious of what we callour self; that we feel its existence and its continuan-ce in existence; and are certain, beyond the evidenceof a demonstration, both of its perfect identity andsimplicity ... Unluckily all these positive assertionsare contrary to that very experience, which is plea-ded from them, nor have we any idea of self afterthe manner it is here explained ... The mind is a

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kind of theatre, where several perceptions succes-sively make their appearance; pass, re-pass, glideaway, and mingle in an infinite variety of posturesand situations. There is properly no simplicity in itat one time, nor identity in different; whatever na-tural propension we may have to imagine that sim-plicity and identity. The comparison of the thea-tre must not mislead us. That are the successiveperceptions only, that constitute our mind; nor ha-ve we the most distant notion of the place, wherethese scenes are represented, or of the materials, ofwhich it is composed ... We have a distinct idea ofan object, that remains invariable and uninterrup-ted through a supposed variation of time; and thisidea we call that of identity or sameness ... that allthe nice and subtle questions concerning personalidentity can never possibly be decided, and are tobe regarded rather as grammatical than as philoso-phical difficulties. Identity depends on the relationsof ideas; and these relations produce identity ... 8

Man sieht aus diesen Sätzen, welch kritischer Geist David Hume war.So stellt der erste Satz die ganze Idee eines Bewusstseins in Frage. Inder Tat ist das Rätsel des Bewusstseins bis heute noch ungeklärt. Dieweiteren Sätze differenzieren sehr zwischen persönlicher Identität undanderen Formen. Hume untersuchte die Begriffe bis ins Feinste undtraf detaillierte Urteile, die stets dem Skeptizismus verpflichtet waren.Er wird uns im Zusammenhang mit Frege noch einmal begegnen.Hume trug in vielerlei Weise zur Philosophie der Aufklärung beiund verkehrte lange Zeit im Pariser Salon von Baron Paul Thiryd’Holbach, einem Winzersohn aus Edesheim in der Pfalz. Er hattemit den dort häufig anwesenden Personen engen persönlichen Kon-takt und trug viel zu den Debatten bei. Unter den Gästen war stetsauch der einzigartige Denis Diderot, der zusammen mit dem Mathe-matiker Jean d’Alembert zu jener Zeit Herausgeber der berühmten

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Encyclopédie war. Dieser Salon war, wie auch die Encyclopédie, demGeist der Aufklärung und des Atheismus verbunden. Berühmt ist einAnekdote, nach der Hume nach seinem ersten Eintreffen im Salondie Bemerkung machte, dass er keine Atheisten kenne und d’Holbachdarauf sinngemäß antwortete, dass er ihm unter den 18 Anwesendensofort 15 nennen könne und 3 weitere, die noch nicht ganz entschiedenwären.9

Wahrheit und Beweisbarkeit

Der griechische Philosoph Aristoteles hat die Ideenlehre Platons ab-gelehnt. Er begründete die mathematische Logik auf seine Art, indemer Syllogismen studierte. Dies sind zweistufige Folgen von Aussagender Form (Modus Barbara)

Obersatz: Alle B sind CUntersatz: Alle A sind BKonklusion: Alle A sind C.

Die aristotelische Logik umfasst eine ganze Reihe solcher Modi undhatte über viele Jahrhunderte hinweg eine vorherrschende Stellungin der scholastischen Tradition bis ins Mittelalter. Aristoteles kannteauch bereits den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, d.h. das Prinzipdas dem Widerspruchsbeweis zugrunde liegt.10

In der Folgezeit, von der frühen Neuzeit bis zur Mitte des 19. Jahr-hunderts, war es in erster Linie Leibniz, der in der Logik die wesent-lichsten neuen Einsichten hatte. Er verfügte über eine symbolische lo-gische Syntax, einschließlich einer Version von Quantoren. Dies bliebaber den meisten Zeitgenossen verborgen, weil Leibniz seine Arbeitenin der Logik nicht veröffentlichte.Vom heutigen Standpunkt sind die aristotelischen Modi nur ein Frag-ment der modernen mathematischen Logik. Leibniz hat Elemente ei-ner mathematischen Logik zur Verfügung gehabt, die einen Kalkülvon algebraischer Natur beinhaltete, der die algebraische Logik des19. Jahrhunderts vorwegnahm. Leibniz hat auch in Ansätzen die Mo-dallogik zur Verfügung gehabt, die mit seiner Theorie der möglichen

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Welten zusammenhängt.11 Die mathematische Logik wurde schließ-lich im 19. Jahrhundert durch George Boole, Augustus de Morgan,Charles S. Peirce, Ernst Schröder und andere Logiker, insbesonderedurch Gottlob Frege, neu begründet. Aristotelische Logik wurde im20. Jahrhundert durch Jan Łukasiewicz wieder aufgegriffen und mitdamals modernen Theorien verglichen.12

Aristoteles hat sich aber auch mit dem Wahrheitsbegriff auseinan-dergesetzt und war damit ebenso einflussreich. In Aristoteles „Meta-physik”13 wurde der Wahrheitsbegriff ausfürhlich behandelt. Im We-sentlichen stellte er Überlegungen an, die man heute in zwei etwasunterschiedlichen Varianten Korrespondenztheorie der Wahrheit oderAdäquationstheorie der Wahrheit nennt. Die Adäquationstheorie be-sagt, dass Wahrheit in der Übereinstimmung zwischen dem Denken,d.h. den Bewusstseinsinhalten in unserem Gehirn, und der Wirklich-keit, d.h. der Dinge unserer Realität besteht. Die Korrespondenztheo-rie sieht Wahrheit in der Übereinstimmung zwischen den sprachlichenAussagesätzen in unserem Denken, d.h. den Ausformulierungen unse-rer Gedanken, und der Wirklichkeit. Wahrheit wäre demnach in bei-den Varianten eine Korrespondenz zwischen zwei unterschiedlichenWelten.Aristoteles gab dafür ein explizites Beispiel:

Nicht darum nämlich, weil unsere Meinung, Du sei-est weiß, wahr ist, bist Du weiß, sondern darum,weil Du weiß bist, sagen wir die Wahrheit, indemwir dies behaupten.14

Thomas von Aquin drückte dies so aus:Veritas consistit in adaequatione intellectus et rei...15

Diese beiden Theorien sind allerdings problematisch, weil dabei zu-nächst unvergleichbare Begriffe wie erstens das Denken, oder genauerdie Bewusstseinsinhalte in unserem Gehirn, zweitens die Gedankenund die darin vorkommenden Aussagesätze und drittens die Wirk-lichkeit auf wundersame und unerklärte Weise miteinander in Verbin-dung gebracht werden. Probleme liegen dabei in der Bestimmung des

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Wahrheitsträgers (Denken, Gedanke oder Aussage?) und des Wahr-machers (was ist eine Tatsache?). Wenn man solche Wahrheitsbegriffeauf die Mathematik anwendet, ergeben sich massive Probleme, dennmathematische Begriffe haben in der Regel keine Entsprechung in derWirklichkeit. Außerdem ist der Begriff der Wirklichkeit (oder Reali-tät) selbst problematisch, denn es ist nicht klar, ob damit nur die phy-sikalische Realität und alles was darauf aufbaut gemeint ist, oder nochmehr. Wenn die meisten Menschen von Realität sprechen, so sind siegeleitet von Aspekten der Materie und es gibt ein Urvertrauen in dieKonkretheit dieser physikalischen Wirklichkeit. Bei tieferem Nach-denken stößt man jedoch auf Zweifel und wird zum Schluss kommen,dass selbst die physikalische Realität ein sehr abstraktes Wesen hat,das wir nicht in toto begreifen können und höchstens mit mathemati-scher Sprache beschreiben können. Man denke nur an elektromagne-tische Felder, die sich im völligen Vakuum ausbreiten. Solche Feldersind nicht greifbar, außer durch ihre Ausbreitungsgesetze und durchMessungen oder ihre Wirkung. Spaltexperimente in der Quantenme-chanik mit stochastischen Ausgängen in Experimenten machen denBegriff Realität zusätzlich schwierig. Vielwelten– oder Parallelwelten-theorien, möglicherweise auch die Theorie der möglichen Welten vonLeibniz, auf die wir noch eingehen werden, können als Versuche ge-deutet werden, die Abstraktheit der Realität und ihrer Eigenarten zufassen.Diese Probleme mit der Adäquationstheorie und der Korrespondenz-theorie der Wahrheit haben verschiedenste Folgen gehabt. Einerseitshat dies dazu geführt, dass Wahrheitstheorien gesucht wurden, diefrei von Verbindungen mit einer wie auch immer gearteteten Wirk-lichkeit sind. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Kohärenztheorieder Wahrheit. Sie besagt, dass für die Wahrheit von Aussagen einerneuen Theorie hauptsächlich die Kohärenz im Umkreis des bereits be-stehenden oder zugrundeliegenden Theoriegebäude wichtig ist.16 Eineconditio sine qua non dafür ist wiederum die Konsistenz – d.h. dieWiderspruchsfreiheit – der betrachteten Theorie. Wir werden darauf

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zurückkommen, ob diese Sichtweise wenigstens innerhalb der Mathe-matik zielführend ist.Andererseits haben Frege und andere sehr bald erkannt, dass manMethoden der mathematischen Logik benutzen muss, um Schluss-folgerungen im Kontext der Wahrheit von Aussagen zu präzisieren.Berühmt ist sein Cäsar–Beispiel, das zeigt, welche Probleme in derUntersuchung der Wahrheit von Aussagen der Umgangssprache be-graben liegen.Im nichtwissenschaftlichen Kontext sind mit dem Wahrheitsbegriffganz fundamentale weitere Schwierigkeiten verbunden, denn in natür-lichen Sprachen kann man widersprüchliche selbst–referentielle Aus-sagesätze wie zum Beispiel das Lügnerparadoxon

Eine Politikerin sagt: „Alle Politikerinnen lügen”oder andere Sätze wie

Der Barbier der alle Männer rasiert, die sich nichtselbst rasieren

bilden.Dies verhält sich in formalen Sprachen anders, wie Alfred Tarski ge-zeigt hat. Insbesondere kann man seine Theorie auf die formalenSprachen anwenden, die der Mathematik zugrundeliegen. Dazu be-nutzt man eine über eine gegebene formale Sprache L hinausgehendeInterpretation der Aussagen – ein sogenanntes Wahrheitsprädikat –in einer Metasprache M , d.h. die Hilfe einer Semantik. Durch die-se Trennung der beiden Sprachen wird die Selbstreferenz vermiedenund ein definierbarer Wahrheitsbegriff möglich gemacht. In der Ma-thematik wird die Semantik in der Regel durch mengentheoretischeModelle gegeben.Tarski hat dafür selbst ein Beispiel gegeben:

Der Satz „Schnee ist weiß” ist wahr ⇔ Schnee istweiß.

Dabei ist der linke Satzteil in Anführungsstrichen eine atomare Aus-sage der formalen Sprache L und sie ist genau dann wahr, wenninnerhalb der Metasprache M nachgewiesen werden kann, dass die

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Farbe des Schnees tatsächlich weiß ist. In der Literatur wird diesesBeispiel oft in der Form abgewandelt, dass der Satz auf der linken Sei-te in einer anderen Sprache formuliert wird. Mir erscheint dies abernicht geeignet zu sein, um den Unterschied zwischen einer forma-len Sprache und Metasprache (oder Semantik) besser zu verstehen.Für Mathematiker ist das vielleicht natürlichste Beispiel die forma-le Sprache der Dedekind–Peano Arithmetik und ihre semantischenInterpretationen in der Mengenlehre mit all den unterschiedlichenexistierenden Modellen, siehe Kapitel 8 und die diophantischen Fra-gestellungen in Kapitel 5. Die Modelltheorie in der Mathematik istdaher eine Art ultimatives Beispiel einer Tarskischen Interpretationin einer Metasprache.Selbst–referentielle Gebilde aus natürlichen Sprachen von der Form

Dieser Satz ist nicht wahroder

Dieser Satz ist nicht beweisbarkann man in bestimmten Kontexten von formalen Sprachen mit ei-nem Kunstgriff ebenfalls erzeugen. Darauf basieren der (erste) Un-vollständigkeitssatz von Kurt Gödel und ein verwandter Satz vonAlfred Tarski, auf die wir in Kapitel 8 genauer eingehen werden.Wahrheit hängt innerhalb und ausserhalb der Mathematik eng mitden verwandten Begriffen der Beweisbarkeit und Berechenbarkeit zu-sammen, die die Wahrheit von Aussagen implizieren. Die Umkehrunggilt jedoch nicht, denn der (erste) Unvollständigkeitssatz von Gödelzeigt die Existenz wahrer Aussagen, die nicht beweisbar sind. Es istdennoch die Regel, dass die Wahrheit von Aussagen und die Verläss-lichkeit von Daten mittels geeigneter Algorithmen überprüft wird.

Der platonische Realismus

Nehmen wir mal für einen Moment an, dass wir alle „Avatare” derZahl 5 identifizieren können. Wo lebt dann diese eine Vorstellung derZahl 5, wenn es nur eine gibt?

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Die sogenannte platonische Sichtweise – auch Platonismus oder pla-tonischer Realismus der mathematischen Objekte genannt – schreibtabstrakten Begriffen wie der Zahl 5 eine Existenz, d.h. eine Ontolo-gie, außerhalb der Wirklichkeit und auch außerhalb unserer Gedan-ken zu. Die platonische Sichtweise geht auf Platon, einen Schüler vonSokrates, zurück, der zuerst eine Ideenwelt mathematischer Objekteeinführte. Platons Nachfolger Aristoteles hat die platonische Sicht-weise abgelehnt, aber er teilte die Auffassung, dass der Mensch inabstrakten Begriffen denkt.

Realität

Ideenwelt

Verstand

Platonische Sichtweise.

Wenn man diese Vorstellung erklären will, so bietet sich ein dreige-teiltes Bild an (siehe Figur). Dieses Modell dient der gedanklichenTrennung der drei begrifflichen Kategorien Realität, Idee und Ver-stand, auch wenn man der Welt der Ideen keine Existenz zumisst.Man kann nämlich der Meinung sein, dass die Welt der Ideen keineExistenz besitzt und nur in den Gedanken des Menschen (oder einesdenkenden Wesens) vorhanden sind. Damit ist dann die Frage ver-bunden, ob Ideen grundsätzlich auch vorhanden sind, zum Beispielschon bei der Entstehung des Universums, als noch keine menschli-chen Wesen existierten. Die Strukturen in unserer Welt, besonders diemathematischen Grundlagen der Physik, legen nahe, dass die Ideenauch dann schon ihre Wirkung entfaltet haben. Somit waren die Ideenirgendwie doch existent, entweder in einem platonischen Sinne oderin den Augen eines göttlichen Wesen. Diese Art von Argument, unter

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der Prämisse, dass Ideen nur im Verstand von Wesen existieren undnicht per se, kann man als ultimativen Gottesbeweis werten, wennman den Platonischen Realismus ablehnt. Jedoch ist die Prämissenatürlich höchst zweifelhaft.Unter Mathematikern ist die platonische Sichtweise weit verbreitet.Die meisten Mathematiker schreiben die Existenz mathematischerObjekte einer Existenz von Mengen zu, sie glauben also ganz konkretan die Existenz von Mengen als abstrakte Objekte und damit auchan die Konsistenz der Mengenlehre als mathematische Theorie. Esgibt unterschiedlich starke Versionen des platonischen Realismus.17

Platon, Leibniz und Frege haben sich auch ähnliche Fragen für geo-metrische Gebilde gestellt. Betrachten wir einen „Kreis”. Mit dieser

Kreisfigur.

Zeichnung sind viele Fragen und Probleme verbunden. Ein „echter”Kreis hat im Grunde keine Ausdehnung, ein Hereinzoomen dürftekeine Pixel oder einen Kreisring erzeugen wie in dieser Abbildung,d.h. ein „echter” Kreis wäre eigentlich unsichtbar. Man kann also mitFug und Recht sagen, dass ein echter Kreis noch niemals auf der Weltirgendwo gezeichnet oder gesehen wurde. Hieraus folgt, dass ein Kreisim Gegensatz zum Fall der Zahlen noch nicht einmal einen einzigenkonkreten Vertreter besitzt. Was wir zeichnen oder sehen ist immernur ein Bild unserer Vorstellung von einem Kreis, also ein Abbild un-serer Gedanken oder eine Projektion aus der platonischen Ideenwelt.

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Wenn man etwas wohlwollender ist, könnte man auch sagen, dass al-le diese Annäherungen eines Kreises irgendwie äquivalent zueinandersind und wir sind wieder beim Begriff der Gleichheit bzw. Äquivalenz.Die Platoniker haben diese Ideenwelt als die eigentliche und sogardie wichtigere Welt im Vergleich zur Realität angesehen. Der pla-tonische Realismus ist unter Mathematikern sehr populär und dieNichtexistenz „echter” Kreise in der Wirklichkeit liefert scheinbar einüberzeugendes Argument dafür, weil man sonst gar keine Verortungsolcher abstrakten Objekte hätte.

Kritik am platonischen Realismus

Das Nichteindeutigkeitsproblem für abstrakte mathematische Objek-te wird oft als Argument gegen den Realismus verwendet. Diese Fragedes Realismus von mathematischen Objekten kann man sich aller-dings auch ohne die Annahme einer Identifikation stellen, wenn zumBeispiel alle „Avatare” der Zahl 5 verschieden sind. Dies führt zu ei-ner Art von Parallelwelten oder einer Leibnizschen Theorie möglicherWelten, wodurch alles noch komplizierter wird und der platonischeRealismus noch unwahrscheinlicher erscheint.Im Grunde ist der platonische Realismus also eine schwer zu recht-fertigende Position. Eine Gegenposition zu ihm bildet der Nomina-lismus, der die Existenz abstrakter Objekte in platonischen Weltenoder extremen Fällen auch eine Semantik grundsätzlich ablehnt.Abstraktes Denken findet im Nominalismus nur in Zeichen und Wor-ten (also Namen) statt, daher kommt auch der Name dieser Strömunginnerhalb der Philosophie der Mathematik. Bereits bei mittelalter-lichen Denkern wie Roscellinus oder William von Ockham, auf dendas Prinzip des Ockhamschen Rasiermessers zurückgeht, spielte dieseDenkweise eine Rolle. Die Denkökonomie, die sich durch das Prinzipdes Ockhamschen Rasiermessers ausdrückt, impliziert den Nomina-lismus, indem sie den unnötigen Realismus von Objekten verwirft. Inneuerer Zeit vertreten Harty Field, Paul Benacerraf und John Searlenominalistische Ansichten.18

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Die Frage, ob man eher die platonische oder die nominalistische Sicht-weise bevorzugt, ist verwandt mit dem sogenannten Universalienstreitin der Philosophie. Dieser wird meist nur auf die Existenz von Uni-versalien angewandt, d.h. auf die Existenz von universellen Oberbe-griffen, die Gesamtheiten von gleichartigen Objekten benennen. Einbekanntes theologisches Beispiel dafür ist die Existenz der Dreifaltig-keit. Ein mathematisches Beispiel für Universalien stammt von Frege.Er definierte Zahlen wie 5 durch „Abstraktion” als die Klasse allerendlichen Ansammlungen, die aus 5 Elementen bestehen. Genauergesagt identifizierte er alle Mengen mit 5 Elementen zu einem neuenObjekt, das diese Klasse repräsentiert. Dieser Ansatz hat ihn aberdurch die Russellsche Antinomie in Schwierigkeiten gebracht, wie wirnoch sehen werden.Es ist erstaunlich, dass dieser Universalienstreit und das Auftretenvon Nominalisten bereits in der mittelalterlichen Scholastik begann.Anselm von Canterbury, der die Scholastik mit begründete, war einVertreter des Realismus und hatte auch Gottesbeweise versucht. Fürihn war es plausibel, dass man die Existenz eines göttlichen Wesensmit der Existenz mathematischer Objekte oder gewisser Universalienvergleichen kann. Ein bekannter Mathematiker, der sich zum plato-nischen Realismus bekannte, was Kurt Gödel. Er hatte in seinen letz-ten Jahren einen Gottesbeweis mit Hilfe einer geeigneten Modallogikskizziert.19

Es gibt bis heute keine eindeutigen Antworten auf solche Fragen. Esspricht manches dafür, den Realismus zu verwerfen, denn wir kön-nen auch ohne Realismus unsere Überlegungen mit abstrakten ma-thematischen Objekten durchführen, indem wir Zeichen oder Wortebenutzen. Im „Dialogus” schrieb Leibniz dazu passend:

Cogitationes fieri possunt sine vocabulis ... At nonsine aliis signis.20

Das Problem des platonischen Realismus hängt mit der Frage zusam-men, ob Mathematik eine Semantik besitzt oder nicht, d.h. ob denmathematischen Objekten eine Bedeutung in einem anderen, über-geordneten Kontext zukommt. In einem nominalistischen Kontext ist

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dabei auch eine rein mathematische Semantik denkbar, etwa mit Hilfemengentheoretischer Modelle.21

In der Wissenschaftstheorie gibt es ebenfalls diverse Formen des Rea-lismus. Die populäre Spielart des wissenschaftlichen Realismus stelltsich Wissenschaft als Repräsentation der Wirklichkeit vor.22 DieseVorstellung ist sicherlich durch die Natur– und die Sozialwissenschaf-ten geprägt. Für die Mathematik als eigene Wissenschaft scheinteher der strukturelle Realismus geeignet, der sich auf die Beziehun-gen zwischen Phänomenen beruft. Mit anderen Worten, Mathema-tik beschreibt Strukturen, die anderswo auftauchen können, abernicht müssen, und jegliche mathematische Erkenntnis ist ausschließ-lich symbolischer Art, ganz im Sinne von Leibniz. Wir werden auf dieinnermathematische Semantik in Kapitel 8 ausführlich eingehen.

Ausblick

Wir haben in diesem Kapitel viele offene Fragen diskutiert, die mitder Mathematik zusammenhängen. Offenbar ist die Mathematik aberein sehr nützliches Werkzeug, das auf vielerlei Weise sehr erfolgreichim Einsatz ist, ohne dass diese Fragen sehr ins Gewicht zu fallen schei-nen. Man kann Mathematik einfach „machen”, wie die Mathematikersagen.Aber diese Sichtweise ist nicht ganz richtig. Das größte Problem hin-ter der Fassade der Mathematik ist die richtige Sprache mit der manbeginnen muss. Das nennt man die Grundlagen der Mathematik undsie sind auch für den reinen Anwender durchaus von Bedeutung. Da-für gibt es drei Kandidaten – die Mengenlehre, die Kategorientheorieund die Typentheorie.Auf diese drei Möglichkeiten und ihre Zusammenhänge werden wirim Rest dieses Buches nun genauer eingehen.

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KAPITEL 2

Die Suche nach einer Universalwissenschaft

Die Suche nach einer Universalsprache der Menschheit ist eine sehralte Idee. Das babylonische Sprachgewirr, d.h. das Phänomen dass dieMenschheit sich aufgrund der unterschiedlichen Sprachen nur schwergegenseitig verständigen kann, gab schon immer Anlass zu Überle-gungen, ob es einmal eine Ursprache gegeben habe (die von Adamund Eva gewissermaßen) und ob man wieder zu einer solchen zu-rückkehren sollte. Im Verlauf der Jahrhunderte gab es viele Ansätzezur Erfindung von verschiedenen Arten von künstlichen neuen in-terlinguistischen Plansprachen, die der gegenseitigen Verständigungdienen sollten, oder von philosophische Sprachen, die das Denkenund die Wissenschaft unterstützen sollten. Umberto Eco hat die Ge-schichte all dieser Versuche in einem wunderbaren Buch23 aus demJahre 1993 festgehalten. Darin stellte er fest, dass die Suche nachsolchen Sprachen im Grunde zum Scheitern verurteilt war, aber in-teressante Nebeneffekte hatte, wie u.a. die Entwicklung der Logik,der Computer und der künstlichen Intelligenz.

Die Ideen von Gottfried Wilhelm Leibniz

Gottfried Wilhelm Leibniz war ein Universalgelehrter mit einem enor-men Oevre, das bis heute noch nicht vollständig editiert werden konn-te. Seine zum Teil unveröffentlichten Werke haben erst zu Anfang des20. Jahrhunderts nach Veröffentlichungen eines kleinen Teils durchLouis Couturat eine angemessene Wirkung entfaltet.24

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Leibniz kann man – neben seinen Arbeiten zur Theologie und Meta-physik – als den Begründer der Erkenntnistheorie mit Hilfe symboli-scher Methoden ansehen.25 Er war der Meinung, dass das menschli-che Denken – im Gegensatz zur seiner Meinung nach intuitiven undumfassenden Auffassungsgabe Gottes – aufgrund der Grenzen dermenschlichen Vernunft auf die symbolische Erkenntnis angewiesensei.Leibniz träumte von einer Universalwissenschaft, die wir in diesemBuch Scientia Generalis nennen wollen. Sie sollte es ermöglichen,auf symbolische Weise mittels einer Universalsprache, die er LinguaUniversalis oder Characteristica Universalis nannte, das menschli-che Denken abzubilden. Die Scientia Generalis operiert auf diesemGedankenalphabet mit einem symbolischen Kalkül, den er Calcu-lus Ratiocinator nannte und gewinnt dadurch neue Erkenntnisse undEinsichten, die in das Denken und Handeln eingehen.Das philosophische System von Leibniz, insbesondere das seiner Mo-nadologie, ist auf dem Konzept primitiver Denkbegriffe aufgebaut,welches er auch manchmal „Alphabet der Gedanken” nannte. Sein Zu-gang bestand also darin, die Begriffe des Denkens auf einfache (oderprimitive) Begriffe zurückzuführen und mit diesen Bausteinen mitHilfe eines logischen Kalküls übergeordnete Fragen wie zum Beispielnach der Wahrheit von Aussagen auf elementare Begriffe zurückzu-führen. Auf diese Weise war Leibniz in seinem Denken ein Vorläuferder Logik von Gottlob Frege, der Nummerierung von Ausdrücken informalen Sprachen bei Kurt Gödel und der Wahrheitstheorie von Al-fred Tarski. Wenn man nur seine Leistungen in der Logik betrachtet,ist Leibniz der einflussreichste Logiker nach den Vertretern der Antikeund vor dem Aufstieg der Logik im 19. Jahrhundert.Leibniz hatte sich neben seinen zahlreichen anderen Gebieten auch in-tensiv mit der Mathematik auseinandergesetzt und dabei eine großeDenktiefe erreicht. In vielerlei Hinsicht war der Leibnizsche Traumvon der Scientia Generalis auch ein Traum von einer Art von gene-ralisierter Mathematik.

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Leibniz baute seine Erkenntnisse auf Gedanken verschiedener Vor-läufer und Zeitgenossen auf. Zum einen hatte der mallorquinischePhilosoph Ramón Llull (lat. Raimundus Lullus) bereits im 13. Jahr-hundert damit begonnen, menschliches Wissen methodisch mit sym-bolischen Methoden zu untersuchen. Leibniz bezieht sich in seiner„Dissertatio de arte combinatoria” von 166626 explizit auf das Buch„Ars Magna”27 von Llull von 1290. Ebenso kannte Leibniz die Ideenvon René Descartes, Thomas Hobbes und John Wilkins.Hobbes hatte in seinem Werk „De Corpore”28 erkannt, dass man dasDenken in einem verallgemeinerten Sinne mit Rechnen gleichsetzenkann. Descartes hatte schon vor Leibniz von einer universalen phi-losophischen Sprache geträumt, wie er in einem Brief an den Zah-lentheoretiker und Mönch Marin Mersenne vom 20. November 1629schrieb:

Man sollte sämtliche Gedanken methodisch so an-ordnen, wie die natürliche Zahlenreihe methodischangeordnet ist. Wie man an einem einzigen Tag inirgendeiner fremden Sprache sämtliche Zahlen bisins Unendliche zu nennen und zu schreiben erlernenkann, die Zahlen, die jedenfalls eine endlose Rei-he von Kombinationen bilden, ebenso muß man dieMöglichkeit finden, sämtliche Wörter zu konstruie-ren, die erforderlich sind, um alles auszudrücken,was dem menschlichen Verstand einfällt und ein-fallen kann ... Die Erfindung einer solchen Sprachehängt von der wahren Philosophie ab.29

John Wilkins schrieb 1668 ein Buch über eine universelle philosopi-sche Sprache, die der natürlichen Sprache überlegen ist. Viele der an-deren damals erdachten Universalsprachen waren hauptsächlich aufdas Aufzeichnen von Wissen und die Kommunikation ausgelegt undgelten als Vorläufer von heutigen interlinguistischen Plansprachen.30

Leibniz träumte wesentlich tiefergehender31 als seine Vorgänger voneiner ganz allgemeinen und über die Mathematik hinausgehenden

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symbolischen Universalwissenschaft – der Scientia Generalis. Sie be-steht aus zwei Teilen. Erstens aus einer universellen Sprache der Wis-senschaft, die er in unterschiedlichen Phasen seines Lebens Ars Com-binatoria, Lingua Universalis oder Characteristica Universalis nannteund zweitens darauf aufbauend einen Kalkül, für den er in unter-schiedlichen Kontexten Namen wie Calculus Ratiocinator oder Ma-thesis Universalis wählte. Die Scientia Generalis war für Leibniz eineMöglichkeit, das Denken in einer symbolischen Weise zu vollziehenund Schlussfolgerungen sowie Beweise mit einer rechnerischen Metho-de durch Termersetzungen innerhalb des Kalküls durchzuführen. DieNähe von Beweis und Berechnung, die für uns noch wichtig werdenwird, war also bereits in den Ideen von Leibniz, Descartes, Hobbesund Wilkins vorhanden.Vermutlich aus Zeitgründen arbeitete Leibniz diese Ideen selbst nie ineiner zufriedenstellenden Weise aus. Regelmäßig beschrieb er jedochdie Scientia Generalis in seiner Korrespondenz, zum Beispiel in einemBrief an Nicolas Rémond vom 10. Januar 1714 wie folgt:

... dann hätte ich die Hoffnung, eine Art „allgemeineRichtigkeitslehre” herauszubringen, in der alle Ver-nunftwahrheiten auf eine Art Rechnung zurückge-führt sein würden. Das könnte gleichzeitig eine Artuniversale Sprache oder universale Schrift sein, aberunendlich verschieden von all denen, die man bisheute vorgeschlagen hat; denn die Zeichen und dieWorte selbst würden hier die Vernunft leiten, unddie Irrtümer (mit Ausnahme derer über eine Tat-sache) wären hier nur Rechenfehler. Es wäre sehrschwierig, diese Sprache oder Charakteristik zu bil-den oder zu erfinden, wohl aber sehr leicht, sie ohneirgendwelche Wörterbücher zu erlernen. Sie dienteauch dazu, die Grade der Wahrscheinlichkeiten ein-zuschätzen (wenn wir nicht genügend Daten haben,um zu sicheren Wahrheiten zu gelangen) und zu se-hen, wessen man bedarf, um hier zu ergänzen.32

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Der von Leibniz erträumte Kalkül wurde innerhalb der mathemati-schen Logik im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert durch Fre-ge und andere Logiker realisiert. In seiner angedachten Allgemeinheitwurde er jedoch bis heute nicht konstruiert und auch von Leibnizspäter nicht innerhalb seiner Metaphysik angewandt.33 Ein Grunddafür mag sein, dass seine Zeitgenossen einen Kalkül der eindeutigherleitbaren Wahrheit mit einiger Wahrscheinlichkeit ohnehin nichtakzeptiert hätten.Leibniz selbst hat viele Jahre lang eine Rechenmaschine mit Staf-felwalze für die vier Grundrechenarten bauen lassen und man kannspekulieren, ob er von einer leistungsfähigen, universellen Maschinegeträumt hat, die seinen symbolischen Kalkül in die Praxis umsetzenkönnte und mit Hilfe derer alle philosophischen Fragen durch eineAnwendung des Kalküls eine rationale Antwort bekommen könnten.Leibniz hat auch das Rechnen im binären Zahlsystem mit den Ziffern0 und 1 eingeführt, sowie den sehr bekannten Differenzialkalkül, dernoch heute in Form des Differenzials dx und des Differenzialquotien-ten

df

dxim Gebrauch ist, entwickelt.34 Das Differenzial dx symbolisiert eineinfinitesimal kleine Größe. Der Kalkül von Leibniz hat sich bis in dieheutige Zeit durchgesetzt und beinhaltete die Rechenregeln, die manauch heute noch in folgender Form kennt:

d(f + g) = df + dg (Additivität)

d(af) = adf (Linearität)

d(fg) = fdg + gdf (Produktregel)

d

(f

g

)

=gdf − fdg

g2(Quotientenregel)

d(f g) = df

dgdg (Kettenregel).

In der Entwicklung der Infinitesimalrechnung war Leibniz in einemteils erbitterten Wettbewerb mit Isaac Newton und dessen Theorie

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der Fluxionen. Die moderne Infinitesimalrechnung wurde erst im 19.Jahrhundert mit Hilfe von Grenzwerten von Folgen rigoros durchKarl Weierstraß und andere definiert. Jedoch konnte später die Exis-tenz unendlich kleiner Größen innerhalb der Nichtstandardanalysisvon Abraham Robinson doch noch mathematisch exakt begründetwerden.Der Begriff der Wahrheit war für Leibniz eine Eigenschaft der Ge-danken nicht der Dinge, ähnlich wie bei Frege.35 Im LeibnizschenDialogus steht:

Veritatem esse cogitationum non rerum.36

Leibniz hatte eine eigene Definition der Wahrheit von Aussagesätzenin einem symbolischen Kalkül. Zunächst zerlegte er kompliziertere,zusammengesetzte Aussagen (notio composita) in einfachere, unzer-legbare Aussagen, die Teile eines „Gedankenalphabets” sind.37 MitHilfe dieses Alphabets kann dann ein symbolischer Kalkül Verwen-dung finden gemäß der Intention der Scientia Generalis. Unzerlegba-re Aussagen mit Subjekt und Prädikat sind dann definitionsgemäßwahr, wenn das Prädikat aus dem Subjekt analytisch ableitbar ist.Die Leibnizsche Wahrheitstheorie ist auch gegründet auf die Un-terscheidung zwischen Tatsachenwahrheiten und Vernunftwahrhei-ten.38 Die Tatsachenwahrheiten gelten in unserer realen Welt undsind durch Erfahrung zu gewinnen. Die Vernunftwahrheiten gelten inallen möglichen Welten. Leibniz hatte eine solche Theorie möglicherWelten erfunden, um andere mögliche Realisierungen der Gegeben-heiten unserer Welt zu verorten. Die diente ihm auch dazu, die Wirk-lichkeit, in der wir leben, als diejenige darzustellen, die von Gott alsdie beste aller möglichen Welten gewollt ist.Leibniz hat übrigens über Gott gesprochen als jemand, der die sym-bolische Sprache nicht brauche, weil er die Wahrheiten direkt sehenkönne. Zudem ist Gott seiner Meinung nach sicherlich ein „Wesen”,das zum Beispiel den Raum–Zeit Begriff und daher die gesamte Dy-namik der Welt als Ganzes auf einmal erfasst. Wenn man Gott aussolchen Gründen nicht als gewöhnliches „Wesen”, sondern als eineArt von universellem Prinzip begreift, das synonym mit der Welt ist,

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dann wird Leibnizens Aussage zu einer Art Tautologie, die zwar nurAtheisten genügen dürfte, die aber klar herausstellt, dass warum wirals gewöhnliche Menschen die „Wirklichkeit” als eine Art von Seman-tik betrachten müssen, weil wir sie nicht ganz begreifen können.Während eine Erklärung von Gott von heutigem Standpunkt ausunklar erscheint, hat die Theorie möglicher Welten letztlich im zwan-zigsten Jahrhundert zur Entwicklung der Modallogik geführt.

Wahrheit und Kantsche Urteile

In seinen Überlegungen zum Wahrheitsbegriff entwickelte ImmanuelKant die Leibnizsche Wahrheitstheorie wesentlich weiter, ohne aberLeibniz explizit zu erwähnen.39 Kant verwendete den Begriff Urteilfür Aussagen, deren Wahrheit zu untersuchen ist. Er traf eine episte-mische Unterscheidung zwischen a priori Urteilen – notwendige undallgemeingültige Urteile unabhängig von der Erfahrung – und a pos-teriori Urteilen – Erfahrungsurteile und empirisches Wissen – die ingewisser Weise auf Aristoteles zurückgeht (in Form von Bedingungund Bedingtes).Ein einleuchtendes Beispiel für ein a priori Urteil ist jeder Gottesbe-weis, wie die Beweise von Anselm von Canterbury und Gödel, denndie Existenz göttlicher Wesen kann nicht aus der Erfahrung oderdie Beobachtung der Welt gewonnen werden, auch wenn das mancheMenschen behaupten. Gottesbeweise beruhen auf logischen Argumen-ten und meist auf dem Axiom, dass Gott alle positiven Eigenschaftenin sich vereint. Axiome dieser Art sind natürlich ultimative Beispielevon Urteilen a priori.Immanuel Kant unterschied weiterhin zwischen analytischen und syn-thetischen Urteilen40, die einen Geltungsgrund der Wahrheit aus-drücken. Ein analytisches Urteil ist ein Erklärungsurteil, d.h. es kannaus der Definition des betrachteten Objekts (oder eines Begriffs, ei-nes symbolischen Ausdrucks, eines Subjekts) direkt gefolgert werden.Dagegen ist ein synthetisches Urteil ein Erweiterungsurteil, d.h. esist aus dem betrachteten Objekt nicht sofort erkennbar, sondern nur

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über eine darüber hinausgehende Beobachtung, Erfahrung oder Be-gründung.Ein Beispiel für ein analytisches Urteil ist:

Nachts ist es dunkel.Es ist nämlich gerade die Definition der Nacht, dass es zu dieser Zeitdunkel ist.Die Begriffspaare analytisch–synthetisch und a priori–a posteriorisind zunächst grundsätzlich voneinander unabhängig. Die Leibniz-schen Vernunfturteile werden in diesem Denksystem zu analytischenUrteilen a priori und die Tatsachenurteile zu synthetischen Urteilena posteriori.41 Analytische Urteile a posteriori werden dabei ausge-schlossen, da analytische Urteile immer a priori sind42, so dass nocheine dritte Kategorie der synthetischen Urteile a priori übrig bleibt,die nach Kant eine neue Kategorie war.Kant hat der Mathematik im Allgemeinen diese Eigenschaftspaarungsynthetisch a priori zugeschrieben. Mathematik ist sicherlich a priori,denn sie ist bestimmt kein Erfahrungswissen. Kant behauptete auch,dass Mathematik synthetisch ist, da sie aus nichts anderem abzuleitenist. Als Beispiel hat er selbst die Gleichung

7 + 5 = 12

benutzt. Die Grundfrage ist, ob die dargestellte Gleichung aus derDefinition der Zahlen unmittelbar folgt, welches einen Induktions-beweis mit umfassen könnte, oder ob es einen „tieferen Grund” gibt,aus dem man dies ableiten kann. Obwohl die Kantsche Gleichung sehranschaulich ist, wäre die präzisere Frage, ob die gesamte Dedekind–Peano Arithmetik eine analytische Theorie ist oder nicht.Frege, Dedekind, Russell et al. haben im Rahmen des Logizismusdiese Ansicht von Kant zurückgewiesen und wollten die Mathematikvollständig auf die Logik zurückführen, so dass die Mathematik alsKonsequenz der Logik analytisch wäre.Das Programm des Logizismus ist trotz vieler Versuche bis in die heu-tige Zeit letztlich gescheitert, da man die Existenz und Unendlichkeit

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der natürlichen Zahlen und ihre wichtigsten Eigenschaften nicht allei-ne aus der Logik erklären kann. Daher hatte Kant mit seiner Aussagevermutlich recht. Jedoch ist für die Mathematik die erkenntnistheo-retische Abstufung von Urteilen nach Kant weitgehend unbedeutend.Die Ideen von Leibniz waren besonders im Hinblick auf die mathe-matische Logik wesentlich einflussreicher.

Der Aufstieg der mathematischen Logik

Leibniz kann als Begründer der modernen mathematischen Logik ge-sehen werden, da er alle logischen Operationen inklusive einer Versi-on der Quantoren eingeführt hatte, auch wenn sein Beitrag im We-sentlichen unbemerkt blieb. George Boole, Augustus de Morgan undandere Logiker entwickelten in der Mitte des 19. Jahrhunderts dieGrundbegriffe der algebraischen Aussagenlogik und die Anfänge derPrädikatenlogik neu. Insbesondere erdachten sie einen Kalkül, umAussagen mathematisch zu behandeln, den man im Begriff der Boo-lesche Algebren wiederfindet. Es gibt dabei die möglichen Wahrheits-werte

⊤ (WAHR),⊥ (FALSCH)und Aussagen werden durch die Verknüpfungen

A ∧ B (UND), A ∨B (ODER),

¬A (NEGATION), A⇒ B (KONDITIONAL oder IMPLIKATION)zu neuen Aussagen verbunden. Der Begriff der Booleschen Algebraverallgemeinert diese Rechenregeln für Wahrheitswerte zu einem al-gebraischen Strukturbegriff.43

Während die UND–Verknüpfung in der Alltagswelt auch gebräuchlichist, wird die ODER–Verknüpfung häufig als ausschließliches ODERverwendet. In der mathematischen Logik meint die Aussage A ∨ Baber, dass mindestens eine der beiden Aussagen A oder B erfüllt sind,d.h. sie können auch beide gleichzeitig erfüllt sein.In der klassischen Aussagenlogik gelten Rechenregeln wie

¬A ∨ ¬B ⇔ ¬(A ∧ B) und A⇒ B ⇔ B ∨ ¬A,

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so dass einige Zeichen im Prinzip redundant sind. Beweise für solcheRechenregeln kann man mit Wahrheitstafeln führen (siehe Figur).

A B A⇒ B B ∨ ¬Awahr wahr wahr wahrwahr falsch falsch falschfalsch wahr wahr wahrfalsch falsch wahr wahr

Wahrheitstafel.

Beweise in der klassischen Logik verwenden oft Widerspruchsbeweiseund damit den Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Der Intuitionis-mus ist eine von Hermann Weyl, Luitzen E. J. Brouwer und ArnulfHeyting begonnene Strömung der Mathematik, die unkonstruktiveBeweise in der Mathematik, und somit den Satz vom ausgeschlosse-nen Dritten und das Auswahlaxiom, ablehnt. Brouwer hat erbitterteKämpfe mit Hilbert wegen dieser Einstellung gehabt.Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten besagt, dass für jede AussageA gilt:

Entweder A ist wahr oder ¬A ist wahr, d.h. A∨¬A.Man kann zeigen, dass dies gleichbedeutend ist zu folgenden zuein-ander äquivalenten Propositionen:

• Für jede Aussage A gilt: ¬¬A⇒ A.44

• (Gesetz von Peirce) Für alle Aussagen A,B gilt((A⇒ B)⇒ A)⇒ A.

Wenn man den Satz vom ausgeschlossenen Dritten nicht anerkennt,so kann man keine Beweise logischer Aussagen mit Wahrheitstafelndurchführen. Stattdessen benutzt man die Strategie der Brouwer–Heyting–Kolmogorov Korrespondenz, die einen Beweis von einer zu-sammengesetzten Aussage als eine Vorschrift darstellt, die aus denBeweisen der Bestandteile den Beweis der Aussage zusammensetzen.Dabei wird zum Beispiel ein Beweis von A⇒ B als eine Vorschrift an-gesehen, die aus einem Beweis von A einen Beweis von B macht. Was

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eine Vorschrift genau ist unterscheidet sich in diversen Varianten die-ser Theorie. Die Wahrheit von Aussagen wird mit dem Beweis– undBerechenbarkeitsbegriff Intuitionismus gleichgesetzt. Mit einem ent-sprechenden Kalkül entwickelte Arnulf Heyting die intuitionistischeTheorie der Arithmetik.Es gibt unterschiedliche Spielarten des Intuitionismus. Eine Form da-von ist der Konstruktivismus. Dahinter liegt die Vorstellung, dassman mathematische Objekte stets „konstruieren” können muss. Oftwird argumentiert, dass dies wichtig wäre, um mathematischen Ob-jekten eine Existenz zu verleihen. Die Legitimation über eine Art vonExistenz erscheint meiner Meinung nach jedoch aus mehrerlei Grün-den fragwürdig, insbesondere natürlich, wenn man gleichzeitig einenplatonischen Realismus ablehnt, wie es manche Protagonisten des In-tuitionismus tun. Zum einen ist es für mathematische Objekte, dieohnehin nur ein abstraktes Dasein fristen, egal, ob sie „konstruktiv”erzeugt wurden oder nicht. Zum anderen kann man es den Objektenselbst gar nicht ansehen, ob sie „konstruiert” wurden oder überhaupt„konstruierbar” sind. Hinter solchen Vorstellungen vom Konstrukti-vismus oder des Intuitionismus steht in meinen Augen eher die sicher-lich begründete Befürchtung, dass waghalsig erzeugte mathematischeObjekte einen Widerspruch erzeugen könnten und nicht, dass sie inirgendweiner Weise nicht existierten. Einen solchen möglichen Wider-spruch können diese vorsichtigeren Zugänge aber nicht verhindern,wie wir bei der Diskussion des Gödelschen Unvollständigkeitssatzessehen werden.Es gibt jedoch eine andere Interpretation des Konstruktivismus, beidem das Wort „konstruierbar” im Sinne von „berechenbar” gemeintist. In dieser Form macht der Konstruktivismus sehr viel Sinn undman bekommt unter gewissen Voraussetzungen einen Formalismus,in dem „alle” Funktionen f : N → N berechenbar im Sinne von Ka-pitel 5 sind. Besonders in der Informatik ist diese Interpretation sehrgeläufig.

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Die mathematische Logik wurde gegen Ende des 19. Jahrhundertsin der sogenannten logizistischen Periode besonders durch die Arbei-ten von Gottlob Frege und Bertrand Russell weiter entwickelt. AuchRichard Dedekind und der frühe Ludwig Wittgenstein spielten eineRolle in der frühen Phase des Logizismus. Die mathematische Lo-gik als mathematische Theorie entfaltete sich erst im zwanzigstenJahrhundert vollkommen. Die Resultate von Kurt Gödel und AlfredTarski ab etwa 1930 spielen eine besondere Rolle in diesem Buch.Frege erkannte anhand vieler Beispiele, dass die natürliche Sprachekeine gute Basis für die Grundlagen der Mathematik ist und entwi-ckelte deshalb die mathematische Logik als

Wissenschaft der allgemeinsten Gesetze des Wahr-seins.45

Frege begründete die moderne mathematische Logik mittels formalerSprachen in seiner „Begriffsschrift”.46 Auf ihn und seine Zeitgenossengeht im Wesentlichen der Kalkül der mathematischen Logik zurück,der logische Zeichen wie den Urteilsstrich

⊢ A

und den Allquantor (folglich auch den Existenzquantor)

∀x (und ∃x)beinhaltet. Auch Leibniz hatte bereits die meisten Teile dieses Kal-küls zur Verfügung, wie man aber erst im 20. Jahrhundert heraus-fand. Am Anfang der Begriffsschrift beruft sich Frege ausdrücklichauf Leibniz als Vorbild:

Auch Leibniz hat die Vortheile einer angemessenenBezeichnungsweise erkannt, vielleicht überschätzt.Sein Gedanke einer allgemeinen Charakteristik, ei-nes Calculus Philosophicus oder Calculus Ratioci-nator war zu riesenhaft, als dass der Versuch ihn zuverwirklichen über die bloßen Vorbereitungen hättehinausgelangen können.47

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Übrigens hatte Leibniz auch einen großen Einfluss auf viele ande-re Logiker wie Giuseppe Peano und Kurt Gödel. Frege war somitder erste Mathematiker, der deduktive Systeme formal korrekt ein-geführte. Bei seiner Variante einer Leibnizschen Sprache handelt essich um eine formale Sprache, die wir heute Prädikatenlogik zweiterStufe oder einfach Logik zweiter Stufe48 nennen würden.

Gottlob Frege: Wahrheit, Sinn und Bedeutung

Wir sind bereits in Kapitel 1 darauf eingegangen, dass sich Frege ne-ben der Logik mit dem Gleichheits- bzw. Identitätsbegriff beschäftigthatte und in diesem Zusammenhang auch die Begriffe Sinn und Be-deutung von sprachlichen Aussagen untersuchte. Er dachte auch dar-über nach, wie man die Wahrheit von Aussagen nachweisen kann undwie die Aussagen und ihre potentielle Wahrheit mit den Gedankenund dem Inhalt unseres Bewusstseins zusammenhängen. Mit solchenUntersuchungen, in denen er alle vorkommenden Begriffe sorgfältigvoneinander unterschied, wurde er nach seinen Arbeiten zur Logik zueinem der bedeutendsten Philosophen der Neuzeit.49

Frege war der Meinung, dass die Identität

A = A

eine a priori wahre analytische Aussage (im Sinne von Kant) sei.Jedoch sei die Aussage

A = B

eine Erweiterung von ganz anderer Gestalt, womöglich synthetischund nicht automatisch a priori. An diesem Beispiel erklärte Fregeden Unterschied zwischen den Begriffen Sinn und Bedeutung, wiewir bereits anhand des Dreiecksbeispiels erläutert haben.Besonders intensiv setzte sich Frege aber auch mit dem damit zu-sammenhängenden Wahrheitsbegriff auseinander. Bei seinem Nach-denken stellte er in einer Notiz von 1906 fest:

Was wahr sei, halte ich für nicht erklärbar.50

Frege setzte sein Nachdenken über Wahrheit aber dennoch fort undversuchte, Aspekte der Wahrheit präzise zu erforschen. Er wollte

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die aristotelische Adäquationstheorie bzw. Korrespondenztheorie derWahrheit weiterentwickeln und schrieb 1918 in einem Aufsatz:

So ist mit jeder Eigenschaft eines Dinges eine Eigen-schaft eines Gedankens verknüpft, nämlich die derWahrheit.51

Die Wahrheit, obwohl häufig sinnlich erfahrbar, liegt also im Gedan-ken, d.h. der Gedanke ist der Träger der Wahrheit und nicht etwader Mensch, sein Bewusstsein oder die Dinge selbst. In dem Moment,in dem die Wahrheit eines Gedankens behauptet oder gezeigt wird,fällt der Mensch ein Urteil.52

Aus diesen Überlegungen folgt, dass die Wahrheit weder Teil derWirklichkeit noch Teil unseres Bewusstseins im Gehirn ist. Fregeschrieb zum Denken und der Welt der Gedanken:

Die Gedanken sind weder Dinge der Außenwelt nochVorstellungen. Ein drittes Reich muß anerkannt wer-den.53

Das „Reich der Gedanken” als ein eigener Ort der mathematischenObjekte bzw. Gedanken ist verwandt mit der Idee des platonischenRealismus. Allerdings ist die Existenz eines solchen Ortes natürlichäußerst fraglich und wird von vielen Philosophen abgelehnt. Zu einemfrüheren Zeitpunkt hatte Frege zu diesem Thema geschrieben:

Aber wenn auch das Subjective keinen Ort hat, wieist es da möglich, dass die objective Zahl 4 nirgend-wo sei? Nun ich behaupte, dass darin gar kein Wi-derspruch liegt. Sie ist in der That genau dieselbefür jeden, der sich mit ihr beschäftigt; aber dies hatmit Räumlichkeit nichts zu schaffen. Nicht jeder ob-jective Gegenstand hat einen Ort.54

Die hier diskutierten Begriffe Wahrheit, Sinn und Bedeutung gehörenallesamt zum Bereich der Semantik, die in der Philosophie im Bereichder von Frege begründeten Sprachphilosophie und der Linguistik an-gesiedelt ist. In diesem Text werden wir die Semantik in erster Linie

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in der Mathematik studieren und uns auf den Wahrheitsbegriff fo-kussieren.

Gottlob Frege: Zahlbegriff und Logizismus

Frege schrieb insgesamt drei Bücher zur Arithmetik: „Die Grundla-gen der Arithmetik”55 und die „Grundgesetze der Arithmetik”56(TeileI und II). Das Ziel der „Grundlagen der Arithmetik” war die Ausfor-mulierung des Zahlbegriffs und die Korrektur und Verbesserung vonfrüheren Zugängen von Anderen. Dabei benutzte Gottlob Frege dieMethode der Abstraktion, um Zahlen und andere mathematische Ob-jekte zu erklären. Zunächst erkannte er, dass es entscheidend ist, vonBegriffen zu sprechen.

Damit wird uns ... nahegelegt, dass die Zahlangabeeine Aussage von einem Begriffe enthalte.57

Die Zahl 0 lässt sich leicht durch einen Begriff definieren, der niemalserfüllt sein kann. Zur Illustration gab Frege das Beispiel der (großen)Jupitermonde in §57. Dem Begriff der (großen) Jupitermonde kommtoffenbar die Anzahl 4 zu. Da die gleiche Anzahl mehreren Begriffenzukommen kann, benötigte Frege das sogenannte Humesche Prinzip:

Der Ausdruck „der Begriff F ist gleichzahlig demBegriffe G” sei gleichbedeutend mit dem Ausdrucke„es giebt eine Beziehung ϕ, welche die unter den Be-griff F fallenden Gegenstände den unter G fallendenGegenständen beiderseits eindeutig zuordnet.”58

Diese Prinzip besagt in einfacher Sprache und auf Mengen ange-wandt, dass Mengen A und B genau dann gleichmächtig sind, wennsie isomorph zueinander sind. Frege bemerkte in seinen Untersuchun-gen, dass diese Herangehensweise, die Zahlen selbst noch nicht defi-niert und dass außerdem zusätzliche Probleme auftreten können. Seinberühmtestes Beispiel ist das Problem, ob der Mensch Julius Cäsareine Zahl ist oder nicht.

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Im Weiteren sucht er einen Ausweg aus dieser Lage und versuchtalle Vorkommnisse von Begriffen mit der gleichen Anzahl durch Ab-straktion zusammenzufassen zu einer Äquivalenzklasse. Als Lösungpräsentiert er die Einführung des Konzepts des Begriffsumfangs, ei-ne Idee, die auf Leibniz zurückgeht. Zum Beispiel wird - in heutigerSprache - die Zahl 5 definiert als die Klasse aller Mengen, die aus 5Elementen bestehen. Obwohl es viele Mengen mit 5 Elementen gibt,existiert nur eine solche Klasse. Daher wird diese Begriffsumfang zumRepräsentanten aller Gegenstände, die unter den Begriff der Zahl 5fallen. In Freges Worten:

Die Anzahl, welche dem Begriffe F zukommt, istder Umfang des Begriffes „gleichzahlig dem BegriffeF ”.59

In mathematischer Notation würde man schreiben:

Umfang(F ) = G | G ∼ F,wobei hier ein Begriff wie F mit der Menge der Objekte (oder Ele-mente) gleichgesetzt wird, die zu F gehören. Diese Konstruktion führtzu einem Widerspruch durch die Russellsche Antinomie, wie Fregedurch Bertrand Russell in einem berühmten Brief vom 16. Juni 1902erfuhr. Dieser Brief beschreibt das Problem, das Russell entdeckte,drückt aber zugleich seine Wertschätzung für Frege aus:

Sehr geehrter Herr College!Seit anderthalb Jahren kenne ich Ihre „Grundgeset-ze der Arithmetik”, aber jetzt erst ist es mir möglichgeworden die Zeit zu finden für das gründliche Stu-dium das ich Ihren Schriften zu widmen beabsichti-ge. Ich finde mich in allen Hauptsachen mit Ihnenin vollem Einklang ... Nur in einem Punkte ist mireine Schwierigkeit begegnet. Sie behaupten (S.17) eskönne auch die Funktion das unbestimmte Elementbilden. Dies habe ich früher geglaubt, jedoch jetzt

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scheint mir diese Ansicht zweifelhaft, wegen des fol-genden Widerspruchs: Sei w das Prädicat, ein Prä-dicat zu sein, welches von sich selbst nicht prädicirtwerden kann. Kann man w von sich selbst prädi-ciren? Aus jeder Antwort folgt das Gegenteil. Des-halb muss man schliessen dass w kein Prädicat ist.Ebenso gibt es keine Klasse (als Ganzes) derjenigenKlassen die als Ganze sich selbst nicht angehören ...bei Ihnen finde ich das Beste, was ich aus unsererZeit kenne, und deshalb habe ich mir erlaubt, Ihnenmein tiefes Respekt auszudrücken ...60

Frege antwortet einige Tage später am 22. Juni und drückte dabeiaus, dass er die dramatischen Konsequenzen erkannt hatte:

Ihre Entdeckung des Widerspruchs hat mich aufsHöchste überrascht und, fast möchte ich sagen, be-stürzt, weil dadurch der Grund, auf dem ich dieArithmetik sich aufzubauen dachte, ins Wanken ge-räth. Es scheint danach, dass die Umwandlung derAllgemeinheit einer Gleichheit in eine Werthverlaufs-gleichheit (§9 meiner Grundgesetze) nicht immer er-laubt ist, dass mein Gesetz V (§20, S. 36) falschist und dass meine Ausführungen im §31 nicht ge-nügen, in allen Fällen meinen Zeichenverbindungeneine Bedeutung zu sichern ... Sie ist umso ernster,als mit dem Wegfall meines Gesetzes V nicht nurdie Grundlage meiner Arithmetik, sondern die ein-zig mögliche Grundlage der Arithmetik überhauptzu versinken scheint ...61

Die Russellsche Antinomie kann in Freges Gedankenwelt durch denfolgenden Begriff F ausgedrückt werden:

F: Der Begriff aller Objekte, die unter keinen Begrifffallen, dessen Umfang sie bilden.

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Wenn dann der Umfang von F unter F fällt, dann ergibt sich einWiderspruch, ebenso wenn der Umfang von F nicht unter F fällt.Frege konnte die durch Russells Brief entstandenen Probleme nichtlösen und verzweifelte darüber sehr.Die Russellsche Antinomie hatte auch Konsequenzen für die von Can-tor und Dedekind ab etwa 1870 begründete Mengenlehre, die erstdurch die Aufstellung der Zermelo–Fraenkel Axiome behoben wer-den konnte. Bertrand Russell (später mit Alfred Whitehead in der„Principia Mathematica”) versuchte auch selbst einen Ausweg aus denAntinomien der Mengenlehre, indem er Mengen in eine aufsteigendeFolge unendlich vieler Typen hierarchisierte, so dass immer x /∈ xgilt.Freges Buch „Die Grundlagen der Arithmetik” war auch eine Begrün-dung des Logizismus62, d.h. der Reduktion der Mathematik auf dieLogik, und ist in dieser Hinsicht als Gegensatz zu Kant zu sehen, dennFrege behauptete, dass Mathematik analytisch sei und nicht synthe-tisch a priori wie Kant sagte. Mit anderen Worten könnte man auchsagen, dass der Logizismus ein Instrument ist, durch das die Mathe-matik keine a priori Wissenschaft mehr wäre, sondern auf noch fun-damentaleren Grundsätzen beruhte und damit ihre Rechtfertigungals Wissenschaft plausibler wäre. Dies bedeutet jedoch eine Verschie-bung der Rechtfertigung der Mathematik in eine andere noch grund-legendere Wissenschaft der Logik und verbessert die Situation nichtwesentlich. Dieses Vorgehen ändert ebenfalls nicht die grundsätzlicheProblematik, dass die Mathematik Axiome postulieren muss, um ihreeinzelnen Gebiete zu begründen.Da die Arithmetik auf dem Prinzip der vollständigen Induktion auf-baut, musste Frege insbesondere dieses Prinzip aus fundamentalenlogischen Prinzipien ableiten. Nach Auffassung einer Gruppe vonNeologizisten, zu denen Crispin Wright, Charles Parsons und BobHale zählen, gelang dies Frege dennoch trotz der Probleme mit derRussellschen Antinomien durch Verwendung des Humeschen Prin-zips, welches die Gleichmächtigkeit von Mengen mit deren Isomor-phie gleichsetzt. Dazu beobachteten sie, dass Frege im Grunde keine

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„Umfänge” mehr benutzte, nachdem er das Humesche Prinzip bewie-sen hatte. Wenn man daher das Prinzip einfach als Axiom postuliert,dann kann man die Antinomien vermeiden und Freges restliche Be-weise der Eigenschaften der natürlichen Zahlen können akzeptiertwerden. Insbesondere definierte Frege die Nachfolgerfunktion S undalle Axiome der Dedekind–Peano Arithmetik.63 Es ist jedoch ziemlichklar, dass das Humesche Prinzip kein echtes logisches Prinzip ist.Russell hatte, ähnlich wie Frege, den Logizismus als Ziel. Henri Poin-caré war der Meinung, dass die vollständige Induktion synthetisch apriori sei und daher grundsätzlich nicht aus anderen Prinzipien ab-leitbar sei:

Dieses Gesetz, welches dem analytischen Beweise(n)ebenso unzugänglich ist wie der Erfahrung, gibt deneigentlichen Typus des synthetischen Urteils a prio-ri.64

Das Programm des Logizismus scheiterte daher unter anderem an derExistenz unendlicher Konstrukte wie der natürlichen Zahlen N, derenExistenz man aus rein logischen Prinzipien nicht folgern kann. Einanderes, untergeordnetes Problem ist, dass jeder logische Formalis-mus in der Regel auch einen Zahl- und Mengenbegriff in der Notationenthält und die vollständige Induktion in vielen Beweisen vorkommt.

Was wurde aus der Scientia Generalis?

In der Mathematik, und auch in Teilen der Philosophie, hat die Ent-wicklung der Logik und der formalen wissenschaftlichen Sprachen unsin die Nähe einer Realisierung der Scientia Generalis gebracht. Wirwerden in diesem Buch noch deutlich sehen, wie einflussreich die Ide-en von Leibniz derzeit in der Mathematik und Informatik sind. Manmag erstaunt sein, dass seine Vorstellungen erst in der heutigen Zeitso erfolgreich umgesetzt werden konnten.Was passiert außerhalb der Mathematik und in anderen Wissenschaf-ten sowie in der Gesellschaft? Dort sind wir im Moment noch weitdavon entfernt, auch nur annähernd zu einer vollständigen Umset-zung von Leibniz Vision einer Scientia Generalis zu kommen. Leibniz

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hatte schon das Motto „Theoria cum praxi” geprägt. Er wollte, dassKalküle in formalen Sprachen, Beweise und Berechnungen auch dasmenschliche Leben bereichern, indem sie Irrationalität, Ungenauig-keiten und Ungerechtigkeit möglichst beseitigen.In anderen Wissenschaften, in den Medien und in der Kunst undim Rest der Gesellschaft sorgt die Digitalisierung derzeit dafür, dasseine starke Formalisierung von Wissensverarbeitung und Anwendun-gen in fast allen Bereichen Einzug hält. Dieser Prozess wird durchAlgorithmen aus der Künstlichen Intelligenz mit hohem Druck vor-angetrieben, die große Ansammlungen von Daten (Big Data) von un-terschiedlicher Qualität nutzen, um zum Beispiel neuronale Netze zutrainieren und damit eine mit einem enormen Wissen ausgestatteteForm von Intelligenz zu erzeugen.Das Sammeln solch großer Datenmengen in Serverfarmen von kom-merziellen Firmen wie Google oder in den Datenbanken der staatli-chen Geheimdienste hat das Zeug, ein „Gedankenalphabet” im Sinnevon Leibniz zu erzeugen, denn zumindest alle zugänglichen Schrift-stücke und Äußerungen der Menschheit werden über kurz oder langin diesen Datenbanken verortet sein. Suchfunktionen und Verknüp-fungen der Daten sorgen dafür, dass auch gängige Schlussweisen undSystematisierungen und dergleichen sichtbar werden. Auf diese Weisewird in relativ kurzer Zeit in vielen Bereichen a posteriori eine schwa-che Form einer Lingua Universalis entstehen, die den digitalen Pro-zessen in den Programmiersprachen der Algorithmen zugrundeliegt.Man muss allerdings bedenken, dass alle zugrundeliegenden Formali-sierungen vielfach nur auf bereits vorhandenen Daten und der Arbeitvon Nichtexperten beruhen und zudem die Algorithmen in der Re-gel nur stochastisch, und daher approximativ, arbeiten, ohne dass injedem Fall Güteabschätzungen vorliegen. Das Ergebnis solcher Algo-rithmen ist also mit großer Vorsicht zu genießen, insbesonders, wennder Verdacht besteht, dass zum Trainieren des Algorithmus ungeeig-nete oder zu wenige Daten benutzt wurden.

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Bis heute ist noch keine wesentliche wissenschaftliche Neuentdeckungvon solchen Systemen ausgegangen, obwohl man grundsätzlich krea-tive schöpferische Leistungen in der Kunst oder Wissenschaft auchmit Hilfe der künstlichen Intelligenz durch Formen von ungerichte-tem Suchen auf Basis des Vorhandenen implementieren kann. SolcheAnsätze werden jedoch innerhalb der sogenannten „Strong Artifici-al Intelligence” verfolgt. Es gab neben Wissenschaftlern auch immerschon Künstler, die sich digitale Technologien zunutze gemacht ha-ben.Die Wissenschaft und die Universitäten sollten versuchen, diesen Pro-zess auf allen Ebenen mitzugestalten und ihn nicht nur anderen Play-ern zu überlassen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit war das Wohlerge-hen der Menschheit das wichtigste Ziel von Leibniz in seiner Suchenach der Scientia Generalis.

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KAPITEL 3

Wie denken Mathematiker?

Ob Mathematiker eine besondere Spezies sind oder nicht ist ein be-liebtes Thema. In Filmen oder auf Parties kann man sicher sein, dassKlischees bedient werden, die jedem Mathematiker regelmäßig un-angenehme Gefühle bereiten können. Fragen und Aussagen wie „InMathe war ich immer schlecht” oder „Mathematiker sind autistisch”bis zu „Was gibt es da noch zu forschen?” sind an der Tagesordnung.In der Tat ist die Denkweise von Mathematikern einzigartig und äh-nelt oft eher der Herangehensweise von Künstlern. Godfrey HaroldHardy, ein sehr berühmter britischer Zahlentheoretiker, hat das viel-leicht bekannteste Buch über die Innensicht eines Mathematikers ge-schrieben. Es trägt den Titel „A mathematician’s apology”.65 In die-sem Buch spielt die Schönheit der Mathematik und ihre Verwandt-schaft mit der Kunst eine besondere Rolle. Hardy betont darin, dassdie Nützlichkeit von Mathematik in Anwendungen kein Maßstab fürihren Sinn und ihre Qualität sei. Er verweist darauf, dass Gebietewie die Zahlentheorie eine enorme Schönheit besäßen und niemals ir-gendwelche Anwendungen gehabt hätten. In diesem Punkte hat sichHardy getäuscht, denn gerade die Zahlentheorie besitzt gerade heut-zutage enorm viele Anwendungen, die wir hier in diesem Buch zumTeil auch beschreiben.66

Wir werden jetzt einige erwähnenswerte Spezialfälle von mathemati-schem Denken erklären.

Geometrie und der Raumbegriff

Geometrische Formen Formen modellieren viele Situationen in An-wendungen der Mathematik. Man möchte dabei möglichst einfache

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geometrische Strukturen betrachten. Eine Möglichkeit, von einemgeometrischen Objekt zu einer wesentlich einfacheren Struktur zukommen, ist die Methode der Landvermessung, d.h. der Triangulie-rung. Dabei werden Stützpunkte gewählt, Verbindungskurven zwi-schen ihnen, Flächenstücke zwischen den Verbindungslinie usw. bisin höhere Dimensionen (siehe Figur).

Triangulierung einer Sphäre.

Diese Vorgehensweise hat eine lange Historie. Die Grundfrage, diesich von Anfang an stellte, war die nach den einfachsten geometri-schen Objekten. Das einfachste 0–dimensionale geometrische Objektist offenbar einzig und allein der Punkt, den wir für unsere folgendenZwecke mit ∆0 bezeichnen. In Dimension 1 gibt es die Verbindungs-linie bzw. das Einheitsintervall [0, 1], das wir mit ∆1 bezeichnen. DerKreis S1 entsteht auf dem Intervall, wenn man den Anfangs und End-punkt identifiziert. Insofern ist ∆1 das einzige einfache geometrischeObjekt der Dimension eins. In zwei Dimensionen gibt es das offen-sichtliche Dreieck ∆2, aber auch das Einheitsquadrat 2 und vieleandere Vielecke. Jedoch kann man durch Triangulierung alle dieseObjekte in Summen von Dreiecken ∆2 verwandeln. Das Einheitsqua-drat 2 wird durch Einfügen einer Diagonale zur Summe von zweiDreiecken zum Beispiel. In höheren Dimensionen wird es komplizier-ter. Bereits in der Antike wurden die 5 platonischen und die 18 ar-chimedischen Körper gefunden. Die platonischen Körper sind, neben

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dem Würfel 3 und dem Tetraeder ∆3, der Oktaeder, das Dodeka-eder und das Ikosaeder. Bei den archimedischen Körpern kommennoch abgestumpfte Körper, wie der Ikosaederstumpf oder Fussball-körper vor, der aus 5– und 6–Ecken besteht und bis vor Kurzem alsModell für den Fussball diente. Ab Dimension 4 generalisieren sichdiese geometrischen Formen aber nicht alle und es bleiben nur diedrei Serien ∆n (n–Simplex oder Hypersimplex), n (Hyperwürfel)und das Kreuzpolytop (die Verallgemeinerung des Oktaeders) übrig.Von diesen drei Serien sind ∆n und n am gebräuchlichsten. DieseGebilde kann man korrdinatisieren. So wird etwa ∆n durch n + 1Koordinaten t0, . . . , tn beschrieben, die die Gleichungen

0 ≤ ti ≤ 1 und t0 + · · ·+ tn = 1

erfüllen.Alle Räume, die wir gerade betrachtet haben, sind topologische Räu-me. Ein topologischer Raum in der Mathematik ist eine Menge X,die einen Umgebungsbegriff (auch Topologie genannt) trägt, indemoffene Mengen in dieser Menge ausgezeichnet sind, so dass eine of-fene Menge U , die einen Punkt a enthält eine offene Umgebung desPunktes bildet. Ein topologischer Raum wird durch die Existenz sol-cher offenen Mengen axiomatisch charakterisiert. Er besitzt im All-gemeinen keinen Abstandsbegriff, wie wir es üblicherweise aus derGeometrie kennen. Der dreidimensionale euklidische Raum, der unsumgibt67, trägt einen natürlichen Abstandbegriff, auch Metrik ge-nannt, den wir alle benutzen. Für zwei Punkte a = (a1, a2, a3) undb = (b1, b2, b3) ist der euklidische Abstand gegeben durch

d(a, b) =√

(a1 − b1)2 + (a2 − b2)2 + (a3 − b3)2.

In der Mathematik gibt es jedoch viele andere Beispiele von mehroder weniger exotischen topologischen Räumen, die ganz verschiedenvom euklidischen Raum sind und die man nicht leicht visualisierenkann, weil sie andersartige Topologien tragen. So gibt es zum Bei-spiel die nichteuklidischen Geometrien, die im 18. Jahrhundert vonJános Bolyai, Nikolai Lobatschewski und Carl–Friedrich Gauß ent-deckt wurden. In diesen Geometrien gilt das Parallelenaxiom von

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Euklid nicht. Mit Hilfe der Differentialgeometrie, die Bernhard Rie-mann entwickelte, konnte solche Räume als Mannigfaltigkeiten mitkonstanter (negativer) Krümmung realisiert werden und die Defini-tion von „Geraden” in solchen auf die Betrachtung von geodätischenKurven zurückgeführt werden.Die strukturerhaltenden Abbildungen zwischen topologischen Räu-men sind die stetigen Abbildungen. Sie sind dadurch definiert, dasssie den Abstandsbegriff in gewisser Weise erhalten. Dies ist gleichbe-deutend damit, dass je zwei Punkte a, b ∈ X, die nahe genug beieinan-der liegen, Bildpunkte f(a), f(b) besitzen, die nicht weit voneinanderentfernt sind.68

Zwei Räume haben eine ununterscheidbare topologische Struktur, mitanderen Worten sie heißen homöomorph, wenn es eine bijektive ste-tige Abbildung f zwischen ihnen gibt, so dass f als auch die Um-kehrabbildung von f stetig sind. Bei einer Triangulierung wird eingeometrisches Objekt X sozusagen in gewisse einfache Teile zerlegt,die durch stetige Abbildungen f : ∆n −→ X gegeben werden. Dasenstandene kombinatorische Objekt, das aus Simplices und Abbil-dungen zwischen ihnen besteht, nennt man auch einen simplizialenRaum.Simpliziale Räume bestehen also aus den einfachsten Bausteinen,nämlich den Simplices in mehreren (oder unendlich vielen) Dimen-sionen, und sie sind durch die Ränder der Simplices verbunden. DerRand ∂∆n eines einzelnen Simplex ∆n ist durch die Vereinigung allerTeile der Form ∆n−1 gegeben, die durch Nullsetzen einer Koordinateentstehen, wenn ∆n wie oben beschrieben koordinatisiert wird.Besonders einfache simpliziale Räume sind Graphen, die nur 0– und1–dimensionalen Simplices, d.h. aus Knoten (Ecken) und Kanten, be-stehen. Graphen sind wichtige Strukturen in der Mathematik, genau-so wichtig wie Zahlen oder geometrische Objekte. Sie beschreiben vie-le kombinatorische Zusammenhänge und Abläufe. Das Internet undviele Beziehungen zwischen Menschen, Organisationen und Objektenin der Welt kann man mit Graphstrukturen beschreiben. Die einfachs-ten Graphen sind die Bäume. Sie sind Graphen, die keine Schleifen

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enthalten, d.h. geschlossene Pfade, die wieder zum Ausgangspunktzurückkehren.Simpliziale Räume sind geometrische Realisierungen von sogenann-ten simplizialen Mengen, die im Grad n aus einer Menge von Simpli-ces bestehen. Simpliziale Räume bzw. simplizialen Mengen könnensehr kompliziert sein und viele Simplices enthalten. So kann maneinfach alle stetigen Abbildungen f : ∆n −→ X für einen topologi-schen Raum X betrachten und erhält eine simpliziale Menge, die mitSing•(X) bezeichnet wird und in diesem Text eine besondere Rollespielt.Simpliziale Räume und simpliziale Mengen kann man also als Verall-gemeinerungen topologischer Räume auffassen und sie stellen damitselbst Raumformen dar. Sie werden uns in diesem Text bald wiederbegegnen, denn sie hängen eng mit dem Begriff der (höheren) Kate-gorien zusammen, siehe Kapitel 6.Die eigentliche Gestalt topologischer Räume oder solcher verallgemei-nerten Räume ist in vielen Kontexten nicht sehr wesentlich, sonderneher die Äquivalenzklasse, die man erhält, wenn man kleine stetigeDeformationen, auch Homotopien genannt, zulässt. Deren Äquiva-lenzklassen werden Homotopietypen genannt.Was ist eine Homotopie? Stetige Abbildungen kann man dazu be-nutzen, Raumformen unter Parametern zu deformieren, d.h. stetigdurch eine sogenannte Homotopie zu „verbiegen”. Zwei Räume, diedurch eine Homotopie auseinander hervorgehen, nennt man homoto-pieäquivalent. Beides lässt sich leicht mit Hilfe des Intervalls I = [0, 1]mathematisch definieren.69 Es gibt auch den etwas allgemeineren Be-griff der schwachen Homotopieäquivalenz zwischen zwei Räumen, derdadurch definiert ist, dass sich darunter die Homotopiegruppen nichtändern. Solche Arten von schwachen Äquivalenzen werden in diesemBuch noch eine wichtige Rolle spielen.Beliebte geometrische Körper wie Sphären lassen sich bis auf Homoto-pieäquivalenz in kombinatorischer Weise leicht aus Simplices oder Hy-perwürfeln zusammenbauen. So entsteht zum Beispiel die n-SphäreSn aus zwei Kopien von ∆n, die entlang einer Kopie von ∆n−1 verklebt

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sind, denn die obere und die untere Hemisphäre sind jeweils homöo-morph zu ∆n. (Schwache) Homotopieäquivalenzen erhalten wesentli-che Charakteristika und Invarianten von topologischen Räumen.

Natürliche Zahlen und Primzahlen

Zahlentheorie, auch Arithmetik genannt, ist ein Gebiet der Mathe-matik, das sich mit verschiedenen Arten von Zahlen und ihren Ei-genschaften beschäftigt. Dazu gehören insbesondere die natürlichenZahlen, die ganzen Zahlen und die sogenannten algebraischen Zahlen.Die Zahlentheorie als Wissenschaft existierte bereits in der Antike.Die Bücher von Euklid und Diophant sind hier zu nennen.Die Werke von Diophant enthalten eine faszinierende Aufgabenstel-lung der Arithmetik, die in der Suche nach Lösungen von Diophanti-schen Gleichungen besteht. Dies sind Polynomgleichungen von denenLösungen in ganzen Zahlen gesucht werden. Besonders berühmt wur-de viele Jahrhunderte später die Fermatsche Gleichung

xn + yn = zn.

Sie hat nach einem Satz von Andrew Wiles aus dem Jahre 1993 nurpositive ganzzahlige Lösungen hat, wenn n = 1 oder 2 ist, wie es Pi-erre de Fermat vermutet hatte. Man hat Papyrusrollen entdeckt, aufdenen sich Lösungen für den Fall n = 2 finden. Anwendungen von Po-lynomgleichungen in den Naturwissenschaften finden sich zuhauf, daalgebraische Nullstellengebilde und ihre Perioden sehr häufig in derMathematik und auch in der mathematischen Physik vorkommen.70

Von Euklid stammt der euklidische Algorithmus, einer der am häu-figsten benutzten zahlentheoretischen Algorithmen. Er stellt vermut-lich die Mutter der rekursiven Denkweise dar. Als Student lernte ichin einem Workshop für experimentelle Musik den Komponisten Kla-renz Barlow kennen, der schon in den 80er Jahren Computermusikkomponierte. In seinen Algorithmen, die auf den damaligen langsa-men Computern erstaunlich gut funktionierten, kam auch das Pro-blem des größten gemeinsamen Teilers (kurz ggT) zweier ganzer Zah-len a und b vor. Aufgrund meines mathematischen Wissens konnte

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ich damals einen Beitrag leisten, damit der größte gemeinsame Teilerin seinem Computerprogramm nicht mit Hilfe der Primfaktorisierungvon a und b berechnet werden musste, was einen erheblich höherenAufwand bedeutet hätte.Der euklidische Algorithmus beruht darauf, dass man zwei natürlicheZahlen a und b (mit b 6= 0) als

a = qb+ r mit 0 ≤ r < b

darstellen kann. Dabei ist r der Rest von a „modulo” b wie Mathe-matiker es ausdrücken. Dies funktioniert auch wenn b größer als aist, denn dann ist r einfach gleich a und q = 0. Ist aber a größerals b, so ist dies jedem vertraut und qb ist das maximale Vielfachevon b, das noch kleiner oder gleich a ist. Der euklidische Algorithmusberuht nun darauf, dass man so lange das Paar (a, b) durch das Paar(b, r) ersetzt bis r = 0 wird. In jedem Schritt muss als die Zahl q garnicht berechnet werden, sondern nur der Rest r. Diesen Rest kannman am schnellsten erhalten, indem man so oft b von a abzieht, biseine Zahl kleiner als b herauskommt. Diese Variante verzichtet aufdie Berechnung von q, hat aber einige Zwischenschritte mehr. Mannennt das den schnellen euklidischen Algorithmus. Der Algorithmusbricht in beiden Varianten ab, sobald der Rest r das erste Mal Nullwird. Die letzte Zahl b 6= 0 in diesem Verfahren ist dann der gesuchtegrößte gemeinsame Teiler von a und b. In jeder gängigen Program-miersprache lässt sich dieser Algorithmus sehr zügig programmierenund ausführen.71

Die unendliche Folge der natürlichen Zahlen

0, 1, 2, 3, 4, 5, . . .

ist ein menschliches Gedankengebilde und hat keine Entsprechung inder realen Welt. Die Mathematiker bezeichnen die Gesamtheit allernatürlichen Zahlen mit N und betrachten die 0 oft als die kleinstenatürliche Zahl. Das „Weiterzählen” in den natürlichen Zahlen wirddurch die Nachfolgerabildung S gegeben, die jede Zahl n auf ihrenNachfolger

S(n) = n+ 1

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abbildet. Es gilt also1 = S(0)2 = S(S(0))...

Wenn wir hiern+ 1

schreiben, dann suggeriert das eine Additionsabbildung. Die natürli-chen Zahlen besitzen in der Tat eine Addition

1 + 1 = 2

und eine Multiplikation2 · 3 = 6.

Wir werden später sehen, wie man diese Operationen präzise definie-ren kann. Man kann enorm große Zahlen in der Mathematik leichthinschreiben, wie zum Beispiel durch Verwendung von Zehnerpoten-zen

102 = 100103 = 1000106 = 1000000, eine Million

...10100 = 1 000 . . .000

︸ ︷︷ ︸

100 Nullen

, ein „Googol”

...

Die Folge aller natürlichen Zahlen hat jedoch kein direktes Pendantin der realen Welt. Dies kann man leicht einsehen, wenn man sichüberlegt, wie groß die Anzahl aller Teilchen im Universum ist. Nacheinigermaßen realistischen Schätzungen, die auf gegenwärtigen Mo-dellen des Universums aufbauen, ist diese Zahl durch etwa 1081 (eineEins mit 81 Nullen) beschränkt.

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Die Folge immer größerer Zahlen bildet aber für sich genommen nochkein Geheimnis. Erst wenn man einen Begriff wie Teilbarkeit betrach-tet, entfaltet sich aus den natürlichen Zahlen die Welt der Primzah-len:

2, 3, 5, 7, 11, 13, . . .

die alle natürlichen Zahlen sind, die nur durch 1 und sich selbst teilbarsind. Es gibt unendlich viele Primzahlen und jede natürliche Zahl läßtsich eindeutig als Produkt von Primzahlen schreiben. Einen rechtbekannten Beweis für die Unendlichkeit aller Primzahlen hat bereitsEuklid gegeben.72 Ein wunderbarer anderer Beweis betrachtet diesogenannten Fermatschen Primzahlen der Form

Fm := 22m

+ 1

für m = 0, 1, 2, . . .. Es gilt also

F0 = 3F1 = 5F2 = 17F3 = 257F4 = 65537.

Die Zahl F5 = 641 · 6700417 ist keine Primzahl. Wir behaupten aber,dass all diese Zahlen zueinander teilerfremd sind, d.h. keinen gemein-samen Teiler besitzen. Daraus folgt die Unendlichkeit der Primzahlen,denn die Primfaktoren in allen Zahlen Fn sind dann alle voneinanderverschieden. Für die Behauptung zeigt man zuerst die Formel73

Fm = F0F1 · · ·Fm−1 + 2.

Wenn dann Fk und Fm mit k < m einen gemeinsamen Teiler p hätten,dann würde p auch die 2 teilen. Dies ist aber ein Widerspruch, dennalle Fm und damit auch p sind ungerade.Computer können heute mit Zahlen der Größenordnung von etwa10300 sehr gut umgehen und mit hohem Aufwand rechnen, d.h. dieFaktorisierung solcher Zahlen in Primfaktoren untersuchen. Das Pro-blem, die Faktorisierung einer Zahl zu finden ist vermutlich wesentlich

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schwerer, als zu überprüfen, ob eine gegebene Zahl prim ist, denn da-für gibt es Primzahltests, die in Polynomzeit, d.h. mit beschränkterKomplexität ablaufen.Ein Beispiel einer Primzahl mit 50 Stellen ist die Zahl

p = 53542885039615245271174355315623704334284773568199.

Primzahlen mit noch viel mehr Stellen kann man mit Hilfe von Mer-senneschen Primzahlen konstruieren, z.B.

p = 282589933 − 1.

Sie hat mehr als 24 Millionen viele Stellen (siehe www.mersenne.org).

Mengenlehre

Mengenlehre ist die verbreiteste Form aller möglichen Grundlagen derMathematik, von denen wir noch zwei andere in diesem Text kennen-lernen werden. Bernhard Bolzano hat 1851 als Erster den Mengen-begriff in seinem Buch „Paradoxien des Unendlichen”74 explizit ein-geführt, obwohl dieser Begriff sicherlich vielen seiner Vorgänger undZeitgenossen geläufig war. Zwischen 1872 und 1882 schrieben sichGeorg Cantor und Richard Dedekind viele Briefe. Darin unterhiel-ten sie sich über Probleme der Mengenlehre. Beide hatte unabhängigvoneinander die Grundbegriffe der Mengenlehre entwickelt. Cantorbenötigte Mengenlehre bereits in seinen Untersuchungen zu trigono-metrischen Reihen. Dedekind entwickelte die Mengenlehre für seineUntersuchungen zu den natürlichen Zahlen in seinem Buch „Was sindund was sollen die Zahlen?”75. Dabei benutzen beide wie auch Bolza-no einen naiven Mengenbegriff, bei dem Mengen als Ansammlungenvon Objekten gedacht wurden. Diese Vorstellung wird heute oft als„materielle” Mengenlehre bezeichnet, weil man sich dabei Mengen sovorstellt, dass man immer genau alle Elemente x ∈ M einer MengeM kennt und für jedes Element x überprüfen kann, ob x Elementvon M oder Element einer irgendeiner anderen Menge ist. Eine wich-tige Eigenschaft dieser Vorstellung ist gerade die Tatsache, dass einElement x in mehreren Mengen vorkommen kann.

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Eine naive Menge kann von der Form

A = Jans Hund, Heikes Katzesein. Die Mengenlehre besitzt diverse Operationen, wie die Abbildun-gen

f : A −→ B

zwischen Mengen, oder die Schnitt- und Vereinigungsmenge

A ∩B, A ∪ B

und die Potenzmenge

P (A) = die Menge aller Teilmengen von A.

Die Mengenlehre hat einen Nachteil, die für uns später noch bedeut-sam sein wird: Ersetzt man in der Menge A oben „Jans Hund” durch„Eriks Hund”, bildet die Menge

A′ = Eriks Hund, Heikes Katzeund bildet dann den Durchschnitt mit einer anderen Menge B, wiez.B.

B = Jans Haustiere,so sind A ∩ B und A′ ∩ B nicht gleich, obwohl die Mengen A undA′ isomorph sind, weil sie „nur” durch den Austausch eines Elementsineinander übergegangen sind. Mit anderen Worten: Die Schnittbil-dung ist eine diffizile Operation. Man sagt, dass sie intensional ist,da der Schnitt von den jeweiligen Mengen abhängt.Die Existenz unendlicher Mengen spielte von Anfang an eine großeRolle in diesen Untersuchungen. Dedekind war sogar der Meinung,dass er die Existenz einer unendlichen Menge mit Hilfe der Gesamt-heit aller einem Menschen möglichen Gedanken beweisen könne. Die-ser Beweis gilt aber natürlich nicht als streng mathematisch und da-her nicht als korrekt. Dedekind benutzte die Existenz unendlicherMengen zur Konstruktion von unendlichen Ketten

0, S(0), S(S(0)), . . .

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von Elementen in einer unendlichen Menge mit einem Anfangsele-ment 0 und einer Abbildung S der Menge in sich selbst, die manauch Nachfolgerabbildung nennt. Wenn man annimmt, dass S diePunkte der Menge hinreichend trennt (d.h. S injektiv ist), dann sindall diese Elemente verschieden voneinander und bilden ein Modell dernatürlichen Zahlen, das man üblicherweise mit N bezeichnet.Sowohl Dedekind als auch Cantor haben die Ansammlung aller na-türlicher Zahlen in einem solchen Modell N als ein einzelnes neues(und existentes) Objekt der Mathematik gesehen, wie die meistenMathematiker dies auch tun. Man nennt dies ein „aktual unendli-ches” Objekt. Für Dedekind war klar, dass es viele unterschiedlicheModelle der natürlichen Zahlen gibt. Also bewies er einen Satz, derbesagt, dass alle Modelle isomorph zueinander sind. Diese Situationist wieder ein Beispiel dafür, dass mathematische Objekte verschie-den sein können, man sie aber trotzdem identifizieren will. ÄhnlicheEindeutigkeitssätze kann man auch für die reellen Zahlen bewiesen.Im Nachlass von Dedekind hat man Papiere gefunden, die zeigen,dass er Konstruktionen kannte, mit denen man aus den natürlichenZahlen heraus die ganzen Zahlen und die rationalen Zahlen als Men-gen konstruieren kann.76 Die reellen Zahlen hat Dedekind in seinemBuch „Stetigkeit und Irrationalzahlen”77 aus den rationalen Zahlenheraus mit Hilfe der Dedekindschen Schnitte konstruiert.Georg Cantor hat in seinen Arbeiten noch größere Zahlen innerhalbder Mengenlehre definiert, die Ordinal– und Kardinalzahlen. Ordinal-zahlen sind wohlgeordnete Mengen, d.h. total geordnete Mengen, sodass jede nichtleere Teilmenge ein kleinstes Element besitzt. Das Aus-wahlaxiom impliziert, dass jede Menge wohlgeordnet werden kann.Kardinalzahlen sind gewisse Ordinalzahlen, die am kleinsten unterallen Ordinalzahlen sind, die die gleiche Mächtigkeit besitzen.Die kleinste unendliche Ordinalzahl ist ω, die Zahl, die der gewöhn-lichen Anordnung

0 < 1 < 2 < 3 < · · ·

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der natürlichen Zahlen entspricht. Hinter der Ordinalzahl ω kann man„weiterzählen”:

ω < ω+1 < ω+2 < · · · < 2ω < · · · < ω2 < · · · < ωω < · · · < ε0 < · · ·Dabei ist ε0 der kleinste Fixpunkt, der durch die Gleichung

ωε0 = ε0

definiert ist. Daher ist ε0 eine unfassbar große Potenz:

ε0 = ωω . ..ω

︸ ︷︷ ︸

ω Mal

.

Ordinalzahlen kann man mit (unendlichen) Bäumen in Verbindungbringen. Ein Baum mit einer Wurzel besitzt eine ausgezeichnete Ecke(die Wurzel) und endlich viele Kanten (oder Äste), die von jeder Eckeausgehen und dabei keine Schleifen erzeugen (siehe Figur).

Wurzel

Ein Baum mit Wurzel.

Bäume mit endlich vielen Ästen an jedem Knoten kann man lexiko-graphisch ordnen, indem man die Äste, die von der Wurzel wegzeigen,an jedem Knoten durchnummeriert. Auf diese Weise bekommt maneine Wohlordnung auf der Menge aller solchen Bäume mit Wurzel.Diese Menge mit der lexikographischen Wohlordnung entspricht derOrdinalzahl ε0.Die natürlichen Zahlen kann man in einer Darstellung von John vonNeumann als Mengen der jeweiligen Vorgänger definieren:

0 := ∅, 1 := 0, 2 := 0, 1, . . . , n+ 1 := 0, 1, . . . , n, . . .

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John von Neumann erfand eine Variante dieses Konstruktion unddefinierte um 1928 die sogenannte kumulative Hierarchie von Mengen

V0 =∅,Vα+1 =P (Vα),

Vλ =⋃

α<λ

Vα,

die auf der leeren Menge aufbaut. Dabei ist α eine Ordinalzahl und λeine sogenannte Limesordinalzahl. Für sogenannte (stark) unerreich-bare Kardinalzahlen λ heißen die Mengen Vλ Grothendieck–Universenund sind potentiell Modelle für die Zermelo–Fraenkel Axiome. DieExistenz solcher Universen würde die Konsistenz der Zermelo–FraenkelAxiome beweisen, wie wir in Kapitel 1 gesehen haben. Wegen desGödelschen Unvollständigkeitssatzes (siehe Kapitel 8) ist die Exis-tenz (stark) unerreichbarer Kardinalzahlen unbeweisbar in der Men-genlehre und stellt daher ein neues Axiom dar. Also folgt aus denZermelo–Fraenkel Axiomen weder die Konsistenz der Mengenlehrenoch die Existenz eines Modells.

Kontinuumshypothese und Forcing

Nach dem Aufkommen der Russellschen Antinomie um 1902 gerietdie naive Mengenlehre von Cantor und Dedekind in eine gewaltigeKrise. Erst Ernst Zermelo gelang es 1907, ein Axiomensystem für dieMengenlehre zu formulieren, das auch optional das Auswahlaxiomenthielt, das er 1904 gefunden hatte. Dieses Axiomensystem wurdeum 1921 von Abraham Fraenkel erweitert und nach den ErfindernZermelo–Fraenkel Axiomensystem oder kurz ZF genannt, bzw. ZFC,wenn man das Auswahlaxiom hinzufügt. Der Buchstabe C steht dabeifür die englische Übersetzung „axiom of choice”. Es ist bekannt, dassZermelo die Russellsche Antinomie bereits vor Russell entdeckt hatte.Dies geht aus einem Brief von David Hilbert an Frege von 1903 hervor.Georg Cantor hat eine mehrteilige Reihe von Arbeiten mit dem Ti-tel „Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten” geschrieben.78

Wie David Hilbert einmal sagte, hatte Cantor mit der Mengenlehre

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und der unendlichen Hierarchie von Mengen ein „Paradies” innerhalbder Mathematik geschaffen. In diesem „Paradies” hatte Cantor auchdie Kontinuumshypothese formuliert.Die Kontinuumshypothese besagt, dass es keine Menge gibt, derenMächtigkeit zwischen der Mächtigkeit ℵ0 der natürlichen Zahlen undder Mächtigkeit 2ℵ0 der reellen Zahlen liegt. Diese Vermutung kannman nicht beweisen, denn es gibt Modelle der Mengenlehre, die dieKontinuumshypothese erfüllen, wie Kurt Gödel mit Hilfe der kumula-tiven Hierarchie gezeigt hat und andere Modelle, die sie nicht erfüllen.Letzteres hat Paul Cohen mit Hilfe der Forcingmethode gezeigt.79

Die Forcingmethode baut auf vielen Ergebnissen der Mengenlehreauf, die bis zur Entdeckung durch Cohen bekannt waren. Darunterfallen der Vollständigkeitssatzes von Skolem und Gödel und der Satzvon Löwenheim–Skolem. Skolem hatte die Idee, die der Forcingme-thode zugrundeliegt bereits 1922 angedeutet. Auf diese Sätze undden Zusammenhang mit der Semantik gehen wir in Kapitel 8 undKapitel 9 ein.80

Freie Objekte und Adjunktion

Die Forcingmethode konstruiert „neue” Mengen aus einem gegebenenund hinreichend kleinen abzählbaren Modell der Mengenlehre mitHilfe eines raffinierten Tricks. Wir wollen die Forcingmethode nichtvollständig erläutern, aber der dabei verwendete Trick ist sehr ähnlichzu einem Konstruktionsprinzip der Mathematik, das man Adjunktionnennt und ganz gut wie folgt erklären kann.Die Methode der Adjunktion ist in der Mathematik sehr gebräuch-lich und besteht im Grunde darin, zu einer gegebenen Struktur neueunabhängige Elemente als Erzeuger hinzuzufügen, so dass gewisseEigenschaften erhalten bleiben, aber die neuen Elemente auf kontrol-lierte Weise die gewünschten Eigenschaften bekommen.Die Adjunktionsmethode besteht aus zwei Schritten. Im ersten Schrittwird ein „generisches” neues Element hinzugefügt, das unabhängigvon den Elementen der Ausgangssituation ist. So entsteht gewisser-maßen eine „freie” Struktur. Im zweiten Schritt werden den neuen

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Elementen Bedingungen (Relationen) auferlegt, so dass die Rechen-regeln der alten Elemente erhalten bleiben und das neu konstruierteObjekt die gewünschten Regeln erfüllt.Ein schönes Beispiel für ein freies Objekt sind die natürlichen ZahlenN. Man kann sie sich als freies Objekt über einem einzigen Erzeuger1 vorstellen, denn jede natürliche Zahl ist Summe von Werten derZahl 1:

5 = 1 + 1 + 1 + 1 + 1.

Die Zahl 0 fällt auch unter diese Definition, denn sie entsteht wennman die Zahl 1 Null mal aufsummiert. Man nennt N auch ein freiesMonoid über einem Erzeuger.Man kann ebenso freie Monoide über mehr als einem Element kon-struieren. Das freie Monoid über zwei Elementen besteht aus endli-chen Wörtern in den Buchstaben a und b. Solche Wörter kann mangraphisch sehr gut als Knoten in einem binären Baum visualisieren:

leeres Wort

a

aa ab

b

ba bb

Binärer Baum zu Wörtern in zwei Buchstaben.

Ebenso kann man „freie Gruppen” über einem oder mehreren Er-zeugern konstruieren. Die freie Gruppe über einem Erzeuger ist dieMenge der ganzen Zahlen Z. Freie Gruppen mit mehr als zwei Er-zeugern sind nicht mehr kommutativ wie die ganzen Zahlen und manschreibt sie deshalb als multiplikative Gruppen.Die freie Gruppe F2 über zwei Erzeugern a und b besteht aus beliebi-gen endlichen Wörtern in den beiden Buchstaben und ihren Inversena−1 und b−1, wie zum Beispiel dem Wort

w = a3b2a−3ba.

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Man kann sich diese freie Gruppe F2 sehr anschaulich vorstellen alsdie Menge aller geschlossenen Wege, die man auf einer geometrischenFigur, die man manchmal auch „liegende Acht” nennt, ausgehend vomMittelpunkt zurücklegen kann (siehe Figur).

Die „liegende Acht”81.

Freie Objekte besitzen immer eine sogenannte universelle Eigenschaft.Das bedeutet, dass es für jede Gruppe G mit zwei Erzeugern, ob kom-mutativ oder nicht, eine Abbildung

F2 −→ G

gibt, welche die zwei Erzeuger von F2 auf die beiden Erzeuger von Gabbildet. Dies Abbildung ist surjektiv, d.h. die erreicht jedes Elementvon G, aber sie ist im Allgemeinen nicht injektiv, es sei denn G istselbst eine freie Gruppe. Eine ähnliche universelle Eigenschaft gilt fürfreie Monoide.Mit diesem Wissen wollen wir nun ein konkretes Beispiel zur Adjunk-tionsmethode ansehen und nehmen ein Objekt R, in dem man ad-dieren und multiplizieren kann. Ein solches Objekt nennt man einenRing, wenn die Addition kommutativ ist, d.h. wenn für alle Ringele-mente a, b

a+ b = b+ a

gilt. Der Leser sollte sich die ganzen Zahlen Z als wichtigstes Beispielfür einen Ring vorstellen.Gegeben einen Ring R, gibt es die Möglichkeit, ein neues Element Tzum Objekt R hinzuzufügen, und das „freie” Objekt

R[T ]

zu bilden, auch „Polynomring” über R genannt. Die Elemente in R[T ]sind Polynome, d.h. endliche Summen

f = adTd + · · ·+ a2T

2 + a1T + a0,

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wobei die Koeffizienten ai Elemente von R sind und die PotenzenT i neue Ausdrücke sind. Alle Potenzen bilden unendlich viele neueElemente und die endlichen Summen solcher Ausdrücke bilden erstrecht eine unendlich große Menge. Der Polynomring R[T ] ist also einwesentlich größeres Objekt als R selbst. Das Symbol T nennt manüblicherweise Unbekannte oder Variable. Die Addition und Multipli-kation in diesem neuen Objekt R[T ] wird auf offensichtliche Weiseerklärt.Man nennt das Objekt R[T ] eine freie Struktur, weil der Variablen Tnoch keine Bedingungen auferlegt wurden und die Potenzen T i eineKopie der natürlichen Zahlen bilden, denn die Hochzahl i kann genaudie natürlichen Zahlen durchlaufen.Im zweiten Schritt der Adjunktion wird mit Gewalt eine Relationf = 0 auferlegt. Dadurch konstruiert man ein neues Objekt, das manmit

S = R[T ]/(f)

bezeichnet. In S werden zwei Polynome von R[T ] identifiziert, wennihre Differenz ein Vielfaches von f ist. Mit anderen Worten: Wirerzwingen mit Gewalt die Gleichung f = 0.Als Beispiel nehmen wir das Polynom f = T 2 − 2 und bilden dasObjekt

S = R[T ]/(T 2 − 2).

Was entspricht dem Element T in diesem Konstrukt? Da wir mitGewalt die Gleichung

T 2 − 2 = 0

erzwungen haben, gilt für die Variable T , dass T 2 = 2 ist, d.h., dassT eine Quadratwurzel aus 2 ist:

T =√2.

Wir haben also durch zwei Schritte aus dem Ring R einen neuenRing S konstruiert, in dem das Element 2 eine Quadratwurzel besitzt,obwohl es in R vorher nicht unbedingt eine Quadratwurzel hatte. Mankann dann auch schreiben

S = R[√2].

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Der Ring S ist von R verschieden genau dann, wenn√2 in R nicht

existiert hat. Im Fall R = Z ist das offensichtlich so gewesen.Ein anderes Beispiel wird durch das Polynom f = T 2 selbst gegeben.Dann ist

S = R[T ]/(T 2)

der Ring der von Leibniz in seinem Infinitesimalkalkül benutzt wurde,denn das Element T in diesem Ring kann als infinitesimale Größeinterpretiert werden.

Homologiegruppen und Homotopiegruppen

Eigenschaften äquivalenter Objekte in der Mathematik, die allen Re-präsentanten gemein sind, nennt man auch Invarianten. In der Ma-thematik und auch in der Physik gibt es viele Invarianten, die ent-scheidende Informationen über die betrachteten Objekte tragen. Indiesem Text werden topologische Invarianten eine besondere Rollespielen, insbesondere die Invarianten topologischer Räume, die unterHomöomorphie oder unter allgemeineren Operationen wie der Homo-topieäquivalenz erhalten bleiben.Die Mathematikerin Emmy Noether hat in entscheidender Weise dazubeigetragen, dass Invarianten algebraischer, topologischer und phy-sikalischer Natur ihre angemessene Bedeutung zugewiesen bekamen.Sie hat als Erste homologische Invarianten von abstrakten algebrai-schen Kettenkomplexen definiert und damit die Algebraisierung derTopologie eingeleitet.Wie funktioniert das? Jedem topologischen Raum oder jeder diffe-renzierbaren Mannigfaltigkeit kann man eine natürliche simplizialeMenge und damit einen natürlichen singulären Kettenkomplex zu-ordnen. Dazu betrachtet man einfach alle stetigen Abbildungen derSimplices ∆n nach X und macht daraus eine Menge:

Singn(X) = f : ∆n −→ X stetig.Dies definiert eine kanonische simpliziale Menge, die mit

Sing•(X)

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bezeichnet wird. Dazu gehören auch Randabildungen

∂n : Singn(X) −→ Singn−1(X),

die durch Einschränkung auf die Ränder ∂∆n der Simplices gegebenwerden. Die Elemente von Singn(X) werden n–Simplices genannt, ge-nauso wie die Objekte ∆n selbst. Man beachte, dass die n–Simplicesdegenerieren, wenn n größer ist als die Dimension von X. Man kannsie für vielerlei Zwecke weglassen, aber nicht immer, denn der RaumSing•(X) enthält wertvolle sogenannte homotopietheoretische Infor-mation über X, die dann verloren geht.Jeder simplizialen Menge S• – und daher jedem topologischen RaumX durch seinen singulären Komplex ZSing•(X) – lassen sich Homo-logiegruppen zuordnen, wie Emmy Noether es ganz allgemein ein-geführt hatte. Bei dieser Sichtweise betrachtet man den singulärenKettenkomplex von abelschen Gruppen, der der simplizialen MengeS• zugrunde liegt

ZS• : · · · −→ ZSn −→ ZSn−1 −→ · · · −→ ZS1 −→ ZS0

und bildet an jeder Stelle die Homologiegruppen Hn(S•) als die Quo-tienten

Hn(S•) =Ker(ZSn −→ ZSn−1)

Bild(ZSn+1 −→ ZSn).

Die n–te Bettizahl bn wird dann als der Rang von Hn(S•) definiert.Die nullte Bettizahl b0 gibt dabei gerade die Anzahl der Zusam-menhangskomponenten von S• an, die erste Bettizahl b1 die An-zahl der Schleifen. Die n–te Bettizahl gibt sozusagen an, ob einen–dimensionale Raumform in Form eines n–dimensionalen „Lochs”existiert. Statt einer formalen algebraischen Definition wollen wir diesnur anhand einer einfachen geometrischen Figur, der sogenannten„liegenden Acht” skizzieren, bei der offenbar zwei Schleifen auftreten.

Die „liegende Acht” hat zwei „Löcher”, also ist b1 = 2.

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Die Homotopiegruppen πn(X) sind als Homotopieklassen von ste-tigen Abbildungen f : Sn −→ X definiert (mit einer geeignetenVerknüpfung, um eine Gruppe zu bekommen). Diese Gruppen sindabelsch (kommutativ), falls n ≥ 2. Die wichtigste dieser Gruppen istdie Fundamentalgruppe π1(X, ∗), wobei ∗ ein Basispunkt in X ist.Wie wird π1(X, ∗) definiert? In einem topologischen Raum X gibt esden Begriff eines Pfades. Ein solcher Pfad p ist gegeben durch einestetige Abbildung

f = fp : [0, 1] −→ X,

wobei [0, 1] das reelle Einheitsintervall ist. Dabei ist f(0) = a derAnfangspunkt und f(1) = b der Endpunkt des Pfades.

a

b

p

q

Zwei Pfade p, q von a nach b.

Pfade kann man auf natürliche Weise miteinander verknüpfen, wennder Endpunkt des einen Pfades mit dem Anfangspunkt eines anderenübereinstimmt.Der inverse Pfad p−1 zu einem Pfad p von a nach b ist ein Pfad vonb nach a und wird dadurch gegeben, dass man die Durchlaufrich-tung des Pfades p umdreht, d.h. er ist gegeben durch die Funktiong(t) = f(1 − t), wobei t die Koordinate im Intervall [0, 1] ist. ZweiPfade p, q sind zueinander homotop, in Zeichen p ≃ q, wenn es eine

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a

b

p

q

c

Verknüpfung q p von Pfaden.

Homotopie zwischen ihnen gibt. Ein solche definiert man durch ei-ne stetige Abbildung H : [0, 1] × [0, 1] −→ X, so dass H(0,−) undH(1,−) die beiden Pfade definieren.

a b

p

q

Eine Homotopie zwischen zwei Pfaden p und q von a nach b.

Es gelten die folgenden Rechenregeln für diese Operationen bis aufHomotopie:

p−1 p ≃ 1a,

p p−1 ≃ 1b,

(p q) r ≃ p (q r).Hierbei sind 1a und 1b die konstanten Pfade bei a bzw. b. Die Ho-motopie von Pfaden in diesen Formeln ist im Wesentlichen eine Re-parametrisierung der Pfade als Abbildungen vom Einheitsintervallnach X. Die Formeln werden falsch, wenn man das Zeichen ≃ durch

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die Gleichheit ersetzt, denn bereits die erste Formel gilt nur bis aufHomotopie.Die Fundamentalgruppe π1(X, ∗) ist die Gruppe der Homotopieklas-sen aller Pfade in X mit festem Anfangs– und Endpunkt ∗, demBasispunkt. Sie ist in der Regel nicht kommutativ, wie man am Bei-spiel der „liegenden Acht” sieht, deren Fundamentalgruppe die freieGruppe über zwei Erzeugern ist, die den möglichen Wegen auf der„Acht” entsprechen.Die Fundamentalgruppe verschleiert dennoch viele Eigenschaften vonPfaden in X und die Abhängigkeit vom Basispunkt ist unnatürlich.Es ist daher besser, Verallgemeinerungen der Fundamentalgruppe zubetrachten, die aus der Gruppe eine Gruppoid oder sogar ein höheres∞–Gruppoid machen, die man auch Fundamentalgruppoid nennt. Indiesem Fall werden Pfade zwischen allen Punktn und nicht notwendignur deren Homotopieklassen betrachtet und die obigen Rechenregelngelten nur bis auf gewisse Äquivalenzen, d.h. Homotopien und hö-here Verallgemeinerungen davon. Wir werden darauf noch genauereingehen.Die Homotopiegruppen bilden Invarianten mit überraschenden Ei-genschaften. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die 2–Sphäre S2, fürdie es die Hopf–Faserung

S3 −→ S2

gibt, die genau die entscheidende Information über die dritte Homo-topiegruppe π3(S

2) ∼= Z enthält.

Neue Raum– und Zahlbegriffe

Wir haben topologische Räume anhand einiger Beispiele kennenge-lernt. Mannigfaltigkeiten sind spezielle Fälle von topologischen Räu-men, bei denen man von differenzierbaren Funktionen auf offenenTeilmengen sprechen kann. Ist ein solcher Raum X gegeben undU ⊂ X eine (offene) Teilmenge, so kann man die kommutative Alge-bra A(U) der stetigen bzw. differenzierbaren reellwertigen Funktio-nen auf U betrachten. Die Zuordnung U 7→ A(U) bildet eine Garbe

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von Funktionen, die man mit OX bezeichnet. Aus der Garbe OX

lässt sich der Raum X wieder rekonstruieren, indem man maximaleIdeale in A(U) betrachtet. Diese entsprechen den Funktionen auf U ,die in einem Punkt verschwinden und X stimmt mit der Menge al-ler maximalen Ideale überein. Die Korrespondenz zwischen Räumenund Funktionenalgebren ist eine sehr wichtige Dualität, die in vielenSituationen vorhanden ist.82

Auch im algebraischen Fall kann man aus Algebren A sogenannteaffine Varietäten X = Spec(A) definieren, die aus allen Primidealenin A bestehen. Maximale Ideale sind auch Primideale. Die RäumeX tragen immer eine sehr grobe Topologie, die man Zariskitopologienennt. Die Garbe OX der Funktionen auf X hat dann die Eigen-schaft, dass OX(X) = A ist. Die Bezeichnung Spec stammt aus der –Spektraltheorie, angelehnt an den Satz von Gelfand–Neumark. Durch„Verkleben” solcher Spektra erhält man den Begriff des Schemas vonAlexander Grothendieck oder – noch allgemeiner – der Begriff desalgebraischen Stacks von Grothendieck und Michael Artin. Bei denStacks werden Methoden der Kategorientheorie benutzt, siehe dasStacks Project. Aus unserer Sicht ist dies jedoch problematisch,denn Stacks sollten primitive Objekte sein, wobei man höchstensderen Modelle durch (gefaserte) Kategorien beschreiben sollte undnicht die Objekte selbst. Diese Denkweise erscheint uns als unzu-lässige Vermischung von Grundlagen. In analoger Weise sollte manUnendlichkategorien nicht als Quasikategorien einführen, denn diesvermischt ebenfalls Objekte mit ihren Modellen. Unsere grundlegen-de Sichtweisen ist es, stets zwischen (primitiven) Objekten und ihrekategorischen oder mengentheoretischen Modellen zu unterscheiden.Statt der Zariskitopologie kann man auch andere Topoi wie die éta-le Topologie und andere Varianten betrachten, bei denen die offe-nen Mengen nicht notwendig Teilmengen von X sind, sondern PfeileU −→ X, die gewisse Axiome erfüllen. Algebraische Varianten vonRäumen in der nichtarchimedischen Geometrie sind die sogenanntenrigid–analytischen Räume von John Tate und die ganz neuen perfek-toiden Räume von Peter Scholze.

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Diese Beispiel zeigen, dass man zahlreiche Räume als topologischeRäume zusammen mit einer Garbe von kommutativen Algebren be-trachten kann. Diese Situation kann man auf vielerlei Weise verall-gemeinern. Eine Option ist es, Räume durch Kategorien oder dieStrukturgarben durch Komplexe zu verallgemeinern. Hat man ande-rerseits keinen unterliegenden Raum X zur Verfügung, so kann manalleine eine Strukturgarbe O betrachten.Die nichtkommutative Geometrie betrachtet nur nichtkommutativeAlgebren von Funktionen, sogenannte C∗–Algebren. Ein unterliegen-der geometrischer Raum ist nicht wirklich vorhanden. Nichtkommu-tative Geometrie liegt vielen Theorien der Physik zugrunde, beispiels-weise der Schleifenquantengravitation, die Gravitation und Quan-tenmechanik vereinigt. Dort gibt es in der Tat einen unterliegendenRaum, der aber ganz anders geartet ist und aus sogenannten Spin-netzwerken besteht, also eine rein kombinatorische graphtheoretischeStruktur ist, und zuerst von Roger Penrose erdacht wurde. Sie erin-nert an Ideen aus der Habilitationsschrift von Bernhard Riemann.Eine weitere Verallgemeinerung topologischer Räume ist die Theo-rie der Spektra. Ein Spektrum ist eine Sequenz von topologischenRäumen

· · · −→ Xn+1 −→ Xn −→ Xn−1 −→ · · ·zusammen mit Pfeilen

σn : ΣXn+1 = S1 ∧Xn+1 −→ Xn.

Ein Beispiel ist das Sphärenspektrum S, bei dem Xn die n–SphäreSn ist.Ganz allgemein kann man also algebraische Objekte wie Ringe undAlgebren (oder Varietäten wie Spec(A)) durch Spektra, Stacks odernoch allgemeiner (höhere) Kategorien verallgemeinern. Dabei wirdzum Beispiel das Sphärenspektrum S eine Verallgemeinerung der gan-zen Zahlen Z als ein Ringspektrum mit „Multiplikationsabbildungen”

Sm ∧ Sn −→ Sm+n.

Verallgemeinerte Räume der verschiedensten Arten, die wir hier be-schrieben haben, können trotz ihres hohen Abstraktionsgrades viel

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flexibler als klassische Räume behandelt werden und erlauben vielfäl-tige mathematische Konstruktionen, was sie enorm nützlich macht.Bei diesen Arten von verallgemeinerten Räumen ist noch sehr vielweitere Forschung zu erwarten. Insbesondere erwartet man, dass hierhomotopietheoretische Methoden und die Typentheorie beim Ver-ständnis helfen.Ein Forschungsprojekt sei noch zum Schluss genannt. Alexander Gro-thendieck lag immer sehr die Algebraische Geometrie am Herzen.Durch seine Arbeiten über mehr als zwanzig Jahre hat er sie stärkerweiterentwickelt als jeder andere Mathematiker. Er wäre auch daraninteressiert gewesen, die Homotopietheorie der algebraischen Varie-täten (oder der Schemata) noch besser zu verstehen, nicht zuletztauch deshalb, weil viele von deren Eigenschaften (wie Perioden undMotive, denn Grothendieck war auch der Erfinder der Theorie derMotive83) homotopischer Natur sind. Es gibt eine algebraische Ver-sion der Homotopietheorie, die sogenannte A

1–Homotopietheorie. Eswäre interessant zu wissen, ob es auch eine algebraische Variante der(∞, 1)–Kategorie der Homotopietypen aller algebraischen Schematagibt und ob sie gut beschreibbar ist.

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KAPITEL 4

Mathematik in unserer Kultur

Wir haben bereits gelernt, dass sich Mathematik mit einer eigenen,aber auf der untersten Ebene ziemlich elementaren Formelspracheformulieren lässt. Aus dieser Syntax entfalten sich die Teile der Ma-thematik auf wunderbare Weise.Die Mathematik beschäftigt sich insbesondere mit Arithmetik undGeometrie. Sie setzen sich systematisch mit Zahlen bzw. geometri-schen Gebilden auseinander.84 In der Mitte des 19. Jahrhunderts ha-ben sich die Arithmetik und die Geometrie in die Moderne hineingeöffnet.Wir wollen anhand von mehreren unterschiedlichen Beispielen mo-derner Anwendung von Mathematik, nämlich der Kryptographie, denBlockchains, den Quantencomputern, den neuronalen Netzen, der to-pologischen Datenanalyse in der Bioinformatik und der Kovarianz inder Mathematischen Physik, erklären, wie man zu der dahinter lie-genden Mathematik einen leichten Zugang finden kann.

Kryptographie oder die Kunst der Verschlüsselung

Verschlüsselungsverfahren wie RSA, ElGamal oder Shamirs Three–Pass–Protokoll benutzen Primzahlen und den euklidischen Algorith-mus. Bei diesen Protokollen rechnet man in Restklassen modulo einergroßen Zahl N , d.h. mit den Zahlen

0, 1, 2, 3, . . . , N − 1und addiert und multipliziert diese Restklassen auf die übliche Weise,wobei Vielfache von N eventuell abgezogen werden, wenn das Ergeb-nis größer als N wird. Dies ist den meisten Menschen vertraut, wenn

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N = 7 ist, denn die sieben Wochentage

Mo, Di, Mi, Do, Fr, Sa, So

bilden Restklassen modulo N = 7. Im Fall der RSA ist N = pqdas Produkt zweier verschiedener großer Primzahlen mit mehr alshundert Stellen und bei ElGamal oder Shamirs Three–Pass–Protokollist N = p selbst eine große Primzahl.In der Kryptographie oder bei der Eingabe von Passwörtern in Com-putersystem werden Einwegfunktionen benutzt, die man auch Hash-funktionen nennt. Mit diesen ist es möglich, die Geheimhaltung oderdie Verifizierung der Wahrheit von Aussagen – wie bei der Authen-tifizierung eines Benutzers – zu überprüfen, ohne die Sicherheit unddie Anonymität eines Benutzers zu gefährden. Mit mathematischenMethoden kann man sehr viele solcher Funktionen generieren und Ge-heimhaltungsprotokolle technologisch realisieren und sicher machen.Darin liegt der eigentliche Wert der Zahlentheorie in der Kryptogra-phie.Hashfunktionen sind Funktionen mit der Eigenschaft, dass man auseinem Funktionswert f(x) nur sehr schwer das Argument x berechnenkann. Sie werden manchmal auch Einwegfunktionen genannt, wenndie entsprechende Funktion f injektiv ist, d.h. wenn unterschiedli-che Argumente auch unterschiedliche Funktionswerte besitzen. Sol-che Funktionen könnte man auch „Fingerabdrücke” nennen, denn –klassische oder genetische – Fingerabdrücke haben ähnliche Eigen-schaften.Das folgende Beispiel einer mathematischen Einwegfunktion wird beidiversen Protokollen benutzt. Es ist die Potenzabbildung

f(m) = gm mod N für m und N teilerfremd,

wobei N eine sehr große Zahl ist. Die Umkehrfunktion zu dieser Funk-tion wird diskreter Logarithmus genannt und ist eine notorisch schwerzu berechnende Funktion. Ebenso schwierig ist es, aus dem Wissenvon f(m) die Basis g zu bestimmen, selbst wenn m bekannt ist. Esgibt jedoch eine einfache Methode g zu bestimmen, wenn N = p einePrimzahl ist. Dazu wählt man ein m′ mit mm′ ≡ 1 mod p − 1 und

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der kleine Satz von Fermat85 garantiert einem dann, dass

(gm)m′ ≡ gmm′ ≡ g mod N.

Die Entschlüsslung erfolgt also ebenfalls mit einer einfachen Expo-nentialfunktion. Dies ist offenbar keine besonders sichere Methode,denn die Zahl m′ ist leicht zu berechnen mit Hilfe des EuklidischenAlgorithmus. Im N = p prim gibt es also eine einfache Entschlüsse-lungsmethode, die man auch Backdoor (Hintertür) nennt.Diese Methode funktioniert aber mit einer kleinen, entscheidendenModifikation auch immer, wenn N keine Primzahl ist. Bei der RSA–Kryptographie ist N = pq das Produkt zweier großer voneinan-der verschiedener Primzahlen. Die Verschlüsselung f(m) verläuft wieeben erklärt, d.h. durch eine einfache Exponentialfunktion. Die Ent-schlüsselung, und damit eine Backdoor, erhält man ebenfalls durchexponentieren mit einem geeigneten m′, wenn die Faktorisierung vonN bekannt ist. Diesmal ist m′ aber nicht so einfach zu ermitteln.Der Satz von Euler, der den kleinen Satz von Fermat verallgemeinert,lautet

xϕ(N) ≡ 1 mod N,

wobei ϕ(N) die Eulersche ϕ–Funktion86 von N ist. Die Entschlüsse-lung (oder Backdoor) ist dann gegeben durch ein m′ mit mm′ ≡ 1mod ϕ(N). Ist N = pq, wobei p, q voneinander verschiedene Primzah-len sind, so ist der Wert ϕ(N) gegeben durch ϕ(N) = (p− 1)(q− 1).Mit dem Euklidischen Algorithmus lässt sich m′ einfach berechnen,aber eben nur, wenn ϕ(N) gegeben ist.Diese Backdoor ist nicht so simpel wie im Fall N = p. Man vermutet,dass es genauso schwierig ist, eine große Zahl N der Form N = pq zufaktorisieren, wie es schwierig ist, ϕ(N) zu berechnen. Das bedeutet,dass ein Angreifer, selbst wenn er N kennt, aus dem Wissen vonf(m) nur mit unvertretbarem Zeit– oder Rechenaufwand die Zahlenm oder g berechnen kann. Man kann entweder m oder g dabei als einGeheimnis betrachten.Im Allgemeinen ist das Problem, eine natürliche Zahl zu faktorisierenviel aufwendiger, als nachzuprüfen, ob eine Zahl prim ist oder nicht.

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Um Zahlen zu faktorisieren gibt es Algorithmen wie das quadrati-sche Sieb oder das Zahlkörpersieb. Diese haben keine polynomielleKomplexität, sondern sind subexponentiell vom Aufwand.Andererseits konnte man 2002 zeigen, dass man Primzahltests in Po-lynomzeit erledigen kann und dafür wurde der Ausdruck „PRIMESis in P” geprägt. Es wird jedoch vermutet, dass ein digitaler Compu-ter das Problem der Faktorisierung, auch FACTOR genannt, nichtin Polynomzeit lösen kann. Peter Shor hat 1994 bewiesen, dass einQuantencomputer dies in Polynomzeit schaffen würde, sofern manihn bauen könnte.Wie funktionieren mit solchen zahlentheoretischen Methoden kryp-tographische Protokolle? Bei Shamirs Three–Pass Protokoll möchtenzwei Personen ein Geheimnis austauschen, ohne dass ein Angreifer esaufdecken könnte. Man kann dafür eine sehr praktische Vorgehens-weise angeben: Zwei Personen, in der Kryptographie meist Alice undBob genannt, wollen ein Geheimnis über einen gewöhnlichen, ver-schließbaren Koffer verschicken, an denen beide Schlösser mit eige-nen Schlüsseln anbringen können. Alice steckt das Geheimnis in denKoffer und verschließt ihn mit ihrem eignen Schlüssel, den niemandanderer besitzt, nicht einmal Bob und schon gar nicht irgendein An-greifer. Sie gibt den Koffer zu Bob, der seinerseits den Koffer nochmalverschließt und an Alice zurückgibt. Jetzt hat Alice die Möglichkeitihr eigenes Schloss zu öffnen, ohne dass der Koffer geöffnet werdenkann, denn Bobs Schloss hängt ja noch dran. Schließlich gibt sie denKoffer wieder Bob, der ihn nun aufschließen kann und das Geheim-nis mit Alice teilt. Kein Angreifer hat jemals die Gelegenheit gehabt,einen unverschlossenen Koffer vorzufinden, der unterwegs war.Wenn man die Schlösser von Alice und Bob mit natürlichen Zahlenrealisiert, so wählt Alice Zahlen m und m′ mit mm′ ≡ 1 mod pund Bob n und n′ mit ebenfalls nn′ ≡ 1 mod p. Dann kann mandas Protokoll dadurch realisieren, dass zuerst Alice an Bob die Zahlgm schickt, dann Bob die Potenz (gm)n = gmn bildet und an Alicezurücksendet, die wiederum die m′–te Potenz bildet:

(gmn)m′

= gmm′n ≡ gn mod p.

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Schließlich potenziert Bob diese Zahl nochmals mit der n′–ten Potenzund erhält

(gn)n′

= gnn′ ≡ g mod p.

Alice hat also erfolgreich das „Geheimnis” g an Bob geschickt. Unter-wegs tauchten die Zahlen gm, gmn und gn auf, aus denen man aber gnicht ohne großen Aufwand (Durchprobieren) erhalten kann.Mit ähnlichen Methoden kann man auch digitale Signaturen realisie-ren und die Wahrheit von Aussagen und die Echtheit von Signaturenkontrollieren, ohne die Inhalte zu sehen.

Blockchains

Die faszinierende neue Technologie von Blockchains basiert ebenfallsauf Hashfunktionen. Dabei werden kommerzielle Hashfunktionen wieSHA–256 oder dgl. benutzt, die sich allerdings sehr von den obenbetrachteten Hashfunktionen unterscheiden.Blockchains wurden von Satoshi Nakamoto erfunden. Diese Name istjedoch ein Pseudonym und man weiß nicht, wer sich dahinter verbirgt.In der Arbeit schreibt der Autor selbst:

A purely peer-to-peer version of electronic cash wouldallow online payments to be sent directly from oneparty to another without going through a financi-al institution. Digital signatures provide part of thesolution, but the main benefits are lost if a thirdparty is still required to prevent double-spending.We propose a solution to the double-spending pro-blem using a peer-to-peer network. The network ti-mestamps transactions by hashing them into an on-going chain of hash-based proof-of-work, forming arecord that cannot be changed without redoing theproof-of-work.87

Eine Blockchain ist eine lange Liste von Einträgen, die finanzielleTransaktionen beschreiben. Der Witz dabei ist, dass jede Transak-tion mit den vergangenen Ereignissen verbunden ist, d.h. die Daten

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vorangegangener Transaktionen und die Identität der Geschäftspart-ner sind in jedem Schritt in Form von Werten von Hashfunktionenerhalten. Es gibt keine Organisation wie eine Bank, die auf die Kor-rektheit der Geschäfte und die Abwehr von Angriffen achtet. DiesRolle übernimmt ein „Proof of Work” oder „Proof of Stake” Konzept.Blockchains finden in Communities von Rechnern statt, die einemgemeinsamen Netz beitreten und jeweils eigene Identitäten in Formvon public keys haben.

TransactionOwner 1’s public key

Hash

Owner 0’s signature

Owner 1’s private key

TransactionOwner 2’s public key

Hash

Owner 1’s signature

Owner 2’s private key

TransactionOwner 3’s public key

Hash

Owner 2’s signature

Owner 3’s private key

Verify

Sign

Verify

Sign

Typisches Blockchain Ablaufschema

Wenn ein Teilnehmer eine Transaktion durchführen will, dann er-fahren dies auch alle anderen Teilnehmer und sie können durch eineRechnung am eigenen Computer eine Rechenaufgabe lösen, die auseinem Durchprobieren einer Art von Hashfunktion besteht. Der Teil-nehmer, der zuerst die Aufgabe löst, bekommt einen Anteil an derTransaktionsgebühr ab, zum Beispiel eine Kryptowährungen wie Bit-coins. Diese Leistung wird „Schürfen”, oder auch „Mining” genannt.Im Lauf der Zeit entsteht immer mehr von der Kryptowährung unddie Rechenaufgabe wird immer schwerer. Bis zum Jahr 2140 dürfenbzw. können nach bisherigen Festlegungen nur 21 Millionen Bitcoinshergestellt werden. Der gegenwärtige Kurswert eines Bitcoins liegt inder Nähe von 10.000 Euro (Stand April 2020).Oft bekommt man die Frage gestellt, was der Gegenwert von Bitcoinsund anderen Kryptowährungen ist, da sie letztlich nur als Daten vor-liegen und der Energieeinsatz bei der Herstellung in Form von Wärme

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verloren ging. Nun, die Antwort ist wie beim Bargeld. Vielleicht ent-sprach bei einer historischen Münze der Ausgabewert noch ungefährdem Metallwert. Spätestens die Geldscheine haben aber diese Tradi-tion abgelöst und der Wert eines sorgfältig hergestellten und schwerzu fälschenden Scheins besteht darin, dass man mit ihm andere Dingeproblemlos kaufen kann. Mit anderen Worten, der Wert des Geldesenspricht am Ende nur dem Vertrauen, das man damit verbindet.Genauso ist es mit den Bitcoins oder anderen Kryptowährungen.

Faktorisierung und Quantencomputer

Klassische digitale Computer rechnen mit Bits, das sind Elementeder Menge 0, 1, eine Idee, die letztlich auf Leibniz zurückgeht. Sieberechnen Funktionen, die Vektoren auf m Bits auf Vektoren aus nBits abbilden:

f : 0, 1m −→ 0, 1n.Solche Funktionen können praktisch beliebig sein. Jedoch mit die Be-rechnung durch Verwendung weniger, normierter sogenannter Gatterrealisiert, die logische Operationen nachbilden. Die AND–, OR– undNOT–Gatter bilden dabei eine Erzeugendenmenge, aus denen jedeandere Funktion f erzeugt werden kann. Alleine das NAND–Gatterreicht allerdings auch schon aus.Quantencomputer rechnen mit sogenannten q–bits und benutzen dieRegeln der Quantenmechanik. Physikalische Zustände in der Quan-tenmechanik sind Elemente (Vektoren) in einem Hilbertraum end-licher oder unendlicher Dimension. Die zeitliche Dynamik von Pro-zessen der Quantenmechanik wird durch die Schrödingergleichungbeschrieben. Aus der Theorie der Quantenmechanik folgt, dass diephysikalisch zulässigen Operationen f , die zwischen solchen Hilber-täumen erfolgen können, entweder Projektionsabbildungen sind oderunitäre Operatoren. Projektionen entsprechen dabei Messungen imquantenmechanischen System.Ein einzelnes q–Bit ist ein Element eines ganz speziellen zweidimen-sionalen Hilbertraums, den wir mit H bezeichnen wollen. Die Basis

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von H wird in der Physik gerne mit

|0〉, |1〉bezeichnet. Ein Vektor in H wird durch eine Linearkombination

α|0〉+ β|1〉gegeben, wobei α und β komplexe Zahlen sind. Wenn man n sol-cher q–bits gemeinsam betrachten will, dann ist der geeignete Hilber-traum, der die Gesamtsituation beschreibt, das n–fache Tensorpro-dukt

H⊗n = H ⊗H ⊗ · · · ⊗H︸ ︷︷ ︸

n Mal

.

Diese Raum hat die Dimension 2n und eine Basis wird durch dieVektoren

|00 . . . 0〉, . . . , |11 . . . 1〉gegeben, die als Einträge binäre Strings der Länge n haben. Diesegroße Dimension ist der eigentliche Grund, warum Quantencomputerso leistungsfähig sein können. Die Zustände eines Quantencomputers,der mit n q–bits rechnet ist sind also Linearkombinationen der Form

v = λ00...0|00 . . . 0〉+ · · ·+ λ11...1|11 . . . 1〉.Ein Zustand v heisst „verschränkt”, falls er nicht als Tensorproduktvon Vektoren geschrieben werden kann, sondern eine Linearkombina-tion mit mindestens zwei Summanden notwendig ist. Verschränkungvon Teilchen (wie Photonen, Ionen oder Elektronen) führ zu inter-essanten Phänomenen, die in der Quanteninformationstheorie ausge-nutzt werden, um zum Beispiel abhörsichere Übertragungskanäle zuschaffenund kryptographische Protokolle zu realisieren.Quantengatter sind die nötigen Gatter, die man in dem Kontext vonQuantencomputern braucht. Anders als bei digitalen Computern sinddabei Gatter notwendig, die unitäre Operationen induzieren. Beispie-le für solche Gatter sind das Hadamardgatter und das CNOT–Gatter

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(Controlled NOT):

1√2

(1 11 −1

)

,

1 0 0 00 1 0 00 0 0 10 0 1 0

.

Peter Shor hat 1994 einen Algorithmus für Quantencomputer ge-funden, der die Leistungsfähigkeit besonders hervorhebt, den Shor–Algorithmus. Dieser ist in der Lage, natürliche Zahlen in Primfak-toren zu zerlegen, sofern ein Quantencomputer weitgehend fehlerfreimit einer hinreichend großen Zahl von q–bits rechnen kann. Shorhat diese Aufgabe gelöst, indem er die sogenannte Diskrete Fourier-transformation als Quantenalgorithmus umgesetzt hat und das Aus-lesen der Informationen, d.h. Koeffizienten in der Basisdarstellung inH⊗n, im Endzustand des Systems durch eine geschickte Mischungvon quantenmechanischer Messung und Postprocessing mit Hilfe ele-mentarer Zahlentheorie realisierte.

Mathematische Physik

Bernhard Riemann hat ein vergleichsweise kleines Oevre. Umso ein-flussreicher waren seine Arbeiten. Darunter ist die Formulierung derRiemannschen Vermutung in einer unveröffentlichten Arbeit mit we-niger als sieben Seiten. Die Riemannsche Vermutung ist eine Aussageüber die komplexwertige Riemannsche ζ–Funktion

ζ(s) =∞∑

n=1

n−s, s eine komplexe Zahl

und besagt, dass ihre Nullstellen neben den „trivialen” Nullstellenbei den negativen geraden Zahlen n = −2,−4,−6, . . . auf der Ge-rade mit Realteil Re(s) = 1

2liegen. Diese Vermutung ist noch nicht

bewiesen worden, obwohl es sehr viel Evidenz dafür gibt. Die Lagedieser „nichttrivialen” Nullstellen auf Re(s) = 1

2zu vermuten, war

eine große Einsicht von Riemann. In der erwähnten kurzen Arbeitbewies er einen Zusammenhang der Lage der Nullstellen von ζ(s)

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mit der Verteilung aller Primzahlen, indem er die Methode der Fou-rieranalyse auf die ζ–Funktion anwandte. Dies resultierte in eineranalytischen Formel für die Anzahl π(x) aller Primzahlen unter einerSchranke x, die mit Hilfe der „nichttrivialen” Nullstellen ausgedrücktwerden kann. Im Nachlass von Riemann hat man erst 1932 weitereAufzeichnungen gefunden, unter anderem die Riemann–Siegel For-mel, mit der man Nullstellen der ζ–Funktion sehr genau berechnenkann.In seiner Habilschrift hat Riemann die mathematische Theorie derMannigfaltigkeiten und ihrer differenzialgeometrischen Struktur ent-wickelt. Diese Theorie war enorm erfolgreich in der Folge und hat ins-besondere in der Allgemeinen Relativitätstheorie zur Entdeckung derEinsteinschen Feldgleichungen beigetragen. Mannigfaltigkeiten sind –bildlich gesprochen – geometrische Räume mit guten Glattheitseigen-schaften. Insbesondere kann man in jedem Basispunkt einen Tangen-tialraum definieren.In der mathematische Physik wird der Begriff der Raum–Zeit auf sol-chen Mannigfaltigkeiten modelliert. Es ist üblich, dort eine Mannig-faltigkeit und ihre differentialgeometrische Struktur mit Hilfe von Ko-ordinaten zu beschreiben. Natürlich hängt die gesamte Physik, die be-schrieben werden soll, nicht von den konkret gewählten Koordinatenab. In der Physik heißt diese Eigenschaft „Kovarianz”. Noch genaueroperiert auf jeder Mannigfaltigkeit Σ eine Gruppe von sogenanntenDiffeomorphismen, die in der Physik manchmal auch Eichtransfor-mationen genannt werden. Die Kovarianz ist daher ein weiteres Bei-spiel dafür, dass mathematische Objekte nur bis auf Isomorphie bzw.Äquivalenz interessant sind.Die Idee der Kovarianz geht offenbar auf Leibniz zurück, der in sei-nem Briefwechsel mit Samuel Clarke aus den Jahren 1715–1716 dieStruktur des physikalischen Raumes diskutiert hatte. Leibniz schriebin einem Brief vom 25. Februar 1716:

Was mich anbetrifft, so habe ich mehr als einmalbetont, dass ich den Raum ebenso wie die Zeit füretwas rein Relatives gehalten, für eine Ordnung des

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Miteinanders der Existenzen, so wie die Zeit eineOrdnung ihres Nacheinanders ist ... Ich habe meh-rere Beweise, mit denen ich die Einbildung dererwiderlegen kann, die den Raum für eine Substanzoder zumindest für ein absolut Seiendes halten.88

Im selben Brief erwog Leibniz die Möglichkeit einer Vertauschung derHimmelsrichtungen Osten und Westen im Raum und schrieb dannweiter:

Aber wenn der Raum nichts anderes als diese Ord-nung oder Beziehung ist und wenn er ohne die Kör-per nichts als die Möglichkeit, sie zu plazieren, ist,dann sind diese beiden Zustände, nämlich der eine,so wie er wirklich ist, und der andere, der ganz um-gekehrt angenommene, in nichts voneinander ver-schieden.

Leibniz hat also seinen Raumbegriff mit dem Begriff der Identitätbzw. Isomorphie in Verbindung gebracht. Albert Einstein hat dasPrinzip der Kovarianz folgendermaßen formuliert:

Die allgemeinen Naturgesetze sind durch Gleichun-gen auszudrücken, die für alle Koordinatensystemegelten, d.h. die beliebigen Substitutionen gegenüberkovariant (allgemein kovariant) sind.89

Die Einsteinschen Feldgleichungen beschreiben die allgemeine Relati-vitätstheorie. Eine entscheidende Gleichung darunter beschreibt denZusammenhang der Krümmungstensoren mit den Massenverhältnis-sen im Raum und lautet:

Rµν −1

2gµνR + Λgµν =

8πG

c4Tµν .

Die Relativitätstheorie hat in der gegenwärtigen GPS–Navigation ei-ne Anwendung gefunden, die etwa 150 Jahre nach den Entdeckungenvon Riemann liegt. Die Entfernungsberechnungen mit Hilfe der Funk-signale mehrerer Satelliten wären signifikant unpräzise, wenn man die

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Gesetze der Relativitätstheorie bei der Ortsbestimmung nicht berück-sichtigen würde.Ein paar weitere Bemerkungen aus der Habilschrift von Riemann sinderwähnenswert. Im letzten Abschnitt schrieb er:

Die Frage über die Gültigkeit der Voraussetzungender Geometrie im Unendlichkleinen hängt zusam-men mit der Frage nach dem innern Grunde derMassenverhältnisse im Raum. Bei dieser Frage, wel-che wohl noch zur Lehre vom Raume gerechnet wer-den darf, kommt die obige Bemerkung zur Anwen-dung, dass bei einer discreten Mannigfaltigkeit dasPrinzip der Massenverhältnisse schon in dem Be-griffe dieser Mannigfaltigkeit einhalten ist, bei ei-ner stetigen aber anders woher hinzukommen muss.Es muss also entweder das dem Raume zu Grun-de liegende Wirkliche eine discrete Mannigfaltigkeitbilden, oder der Grund der Massenverhältnisse aus-serhalb, in darauf wirkenden bindenden Kräften, ge-sucht werden.90

Diese bemerkenswerten Sätze zeigen tiefe Einsichten in Bezug aufdie mathematische Modellierung von Physik. Bis heute sind diskreteRaum–Zeit Modelle nicht in abschließender Weise gefunden wordenund die stetige (d.h. differenzierbare) Raum–Zeit ist immer noch diedominierende Vorstellung, obwohl offenbar damit im Unendlichklei-nen Schwierigkeiten verbunden sind, wie Riemann bemerkte. Nur Ro-ger Penrose hat mit seiner Erfindung der Spinnetzwerke eine Grundla-ge dafür gelegt.91 Ein weiteres und eventuell damit zusammenhängen-des Desiderat in der mathematischen Physik ist die mathematischeGrundlage der Quantenfeldtheorie, die bis heute nicht vollständig ge-klärt ist. Die Quantenfeldtheorie ist eine enorm erfolgreiche Theorie.

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Das Standardmodell der Teilchenphysik, zusammen mit dem Higgs–Teilchen, ist experimentell höchst präzise verifiziert worden. Die Be-rechnungen der Feynmanamplituden, die zu Graphen des Standards-modells gehören, können dazu dienen, Wirkungsquerschnitte in Expe-rimenten zu berechnen und sind mit Hilfe von Methoden der Analy-sis und der algebraischen Geometrie erfolgreich berechenbar. Jedochist die Genese dieser Feynmanamplituden aus den Grundlagen derQuantenfeldtheorie noch mysteriös.

Künstliche neuronale Netze und Deep Learning

Künstliche Intelligenz ist ein Oberbegriff für viele Arten von Algo-rithmen, die ein menschenähnliches Verhalten simulieren oder Men-schen unterstützen und in vielen Fällen auch ersetzen können. DieserOberbegriff ist nicht ganz wohldefiniert und man kann sowohl Ma-schinen, wie zum Beispiel Roboter, als auch geeignete mathematischeAlgorithmen dazu zählen. Nach den Anfängen der Künstlichen Intelli-genz in den Zeiten von Alan Turing und Norbert Wiener hat es überviele Jahrzehnte zwar viele Ideen gegeben, aber es gab kaum Ent-wicklungen wirklich intelligenter Systeme. Jedoch sind in dieser Zeitviele nützliche Konzepte und Algorithmen entworfen worden. Darun-ter fallen statistische Lernalgorithmen wie der PAC–Lernalgorithmusvon Leslie Valiant, Optimierungsalgorithmen diverser Art, genetischeund evolutionäre Algorithmen und viele andere. Etwa seit dem Jahr2006 sind enorme Durchbrüche in einem Bereich erzielt worden, denman heute Deep Learning oder etwas allgemeiner Maschinelles Ler-nen nennt. Das Deep Learning bezieht sich dabei ganz explizit aufdas Trainieren von künstlichen neuronalen Netzen.92

Graphartige funktionale Netze kommen in der Natur vor. Bereits im19. Jahrhundert konnte man Teile des Gehirns so genau sezieren,dass man verbundene Strukturen von Neuronen (Nervenzellen) undGliazellen entdeckte, wobei sich die Neuronen über Synapsen austau-schen und elektrische Aktivierung aufweisen können. Um 1943 wurdeeine vereinfachtes mathematisches Modell dieses Systems in der Form

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eines künstlichen neuronalen Netzes von Warren McCulloch und Wal-ter Pitts entworfen.93

Wie kann man damit rechnen? Ein künstliches neuronales Netz be-steht aus einem endlichen gerichteten Graphen, der EingabeknotenE•, Ausgabeknoten A•, Knoten von verborgenen Schichten V• undalle ihre Verbindungskanten symbolisiert.

...

......

E1

E2

E3

E100

V1

VN

A1

A26

Schematisches Modell eines künstlichen neuronalen Netzes.

Im folgenden Bild haben wir ein Beispiel illustriert, das die Buchsta-benerkennung beschreiben soll.Man kann ein solches Netz sehr gut darauf trainieren, in einem digi-talen quadratischen Bild mit 10×10 Pixeln mit Grauwerten zwischen0 (weiß) und 1 (schwarz) einen Buchstaben (hier ein Y) zu erkennen.Die Eingaben bestehen aus den Grauwerten der 100 Pixel des Bildes,so dass der auf dem dargestellte Buchstabe an der Eingabe Ei einenWert ei zwischen 0 (weiß) und 1 (schwarz) liefert. Die verborgenenSchichten des Netzes werden durch die Knoten V1, . . . , VN symbo-lisiert, wobei N eine Anzahl ist, die man beim Design des Netzeswählen muss. Es kann mehr als eine verborgene Schicht geben. DieAusgabewerte sind Vektoren mit 26 Komponenten, die den Buchsta-ben des Alphabets entsprechen.Wichtig ist die folgende „Feedforward” Struktur im Netz. Die Über-gänge zwischen den Knoten E1, . . . , E100 und der nächsten Schicht

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10× 10 Array von Grauwertpixeln.

V1, . . . , VN werden für jedes i zwischen 1 und N durch Formeln

vi = σ(Li − bi)

realisiert, wobei Li eine geeignete Funktion ist. Im einfachsten Fallkann Li eine lineare Funktion

Li = Li(e1, . . . , e100) = wi1e1 + · · ·+ wi100e100

sein, wobei die Koeffizienten wij positive oder negative rationale Zah-len sind, bi ein ein (rationaler) Schwellwert und σ eine nichtlineareAbschneidefunktionen der Form

σ(x) = max(x, 0) =

0 für x ≤ 0,

x für x ≥ 0.

Es gibt aber davon abweichende nichtlineare Wahlmöglichkeiten fürLi, die in gewissen Fällen besser sein können. Neben diesem einfa-chen Fall gibt es auch sogenannte „rekurrente Netze”, bei denen auchKanten rückwärts Informationen weitergeben.Analoge Formeln gelten für die Übergänge in den verborgenen Schich-ten und beim letzten Schritt zu A1, . . . , A26. Es gibt Netze, bei denenzwischen den Schichten ausnahmslos alle Übergänge betrachtet wer-den, aber auch solche, bei denen auf kluge Art und Weise „Filter”in manchen Schichten beutzt werden. Diese letzteren Netze werden

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ConvNets (Convolutional Neural Nets) genannt. Besonders bei derBildverarbeitung sind sie sehr effektiv, denn es werden dort kleinereBildausschnitte in gewissen Schichten einzeln betrachtet und dannin weiteren Schichten wieder zusammengefasst und mit anderen Tei-len der Bilder verglichen, wie es bei beweglichen Objekten, wie beiTieren und dgl., natürlich sehr sinnvoll ist. Solche Filter können fle-xibel durch das Training erzeugt werden aufgrund von vorhandenenFarben oder Kanten im Bild.Am Anfang des Trainings werden die Gewichte und die Schwellwertemehr oder weniger zufällig festgelegt. Das Netz, in Form der Ge-wichte und Schwellwerte, wird dann durch Eingabedaten „trainiert”,indem für jedes eingegebene Bild eine „Kostenfunktion” K(w, b) inAbhängigkeit der Gewichte und Schwellwerte berechnet wird, die imeinfachsten Fall aus der Summe der Quadrate der Abweichungen derAusgabewerte (a1, . . . , a26) von dem Wert, der durch den tatsächli-chen Buchstaben auf dem Bild repräsentiert wird, besteht. Die suk-zessive Anpassung der Gewichte wi auf den Verbindungsstrecken undder Schwellwerte b erfolgt dadurch, dass die Kostenfunktion K(w, b)langsam minimiert wird. Diese Methode nennt man Rückwärtspro-pagation. Mathematisch gesehen besteht dieser Vorgang aus einem(negativen) Gradientenabstieg, ähnlich der Art und Weise, wie manmöglichst schnell von einem Berg absteigt, indem man immer ent-gegen der Richtung der stärksten Steigung hinuntergeht. Auf dieseWeise gelangt man zu einem lokalen Minimum der Kostenfunktionund kann hoffen, dass man damit dem Ziel näher ist. Damit manbei dieser Methode nicht in unsinnigen und realitätsfernen lokalenMinima der Kostenfunktion gefangen wird, die der Lösung des Pro-blems nicht nahekommen, wird der Gradientenabstieg meist stochas-tisch gemacht, d.h. der Gradient wird aus einer endlichen Anzahl vonStichproben gemittelt. Alternativ gibt es auch die Methode der ge-netischen Algorithmen, mit der man unsinnige lokale Minima durch„evolutionäre” Sprünge in den Parametern vermeidet.Durch die Eingabe großer Datenmengen kann das Netz so lange an-gepasst werden, bis es die Gewichte und Schwellwerte so abgeändert

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hat, dass es aus beliebigen neuen Daten mit sehr großer Wahrschein-lichkeit diejenigen Eigenschaften ablesen kann, die das System dannzur Erkennung von strukturellen Mustern befähigen. Damit wird dasSystem zu einem guten Prädiktor für gewisse Probleme. Im Grundebesteht die Methode des Deep Learning also darin, aus einem sehrhochdimensionalen Problem eine Reduktion (bzw. ein Fitting) aufwenige „essentielle” Parameter zu machen, wobei die „richtige” Re-duktion durch das Training mittels Approximation gefunden wird.Man weiß nicht genau, warum diese Methode so erfolgreich ist, wiesie in vielen Fällen ist. Dafür fehlt noch ein echter mathematischerBeweis.

Weiterentwicklungen der künstlichen Intelligenz

Es gibt einige grundsätzliche Probleme und Fehlerquellen der künstli-chen Intelligenz, die zuweilen übersehen werden. Dazu gehört erstensdas Problem des sogenannten „Overfitting”. Dies tritt zum Beispielauf, wenn man dem System zu wenige Daten gibt, was leider in vielenAnwendungssituationen passiert. In diesem Fall passt sich der Algo-rithmus aufgrund der vielen möglichen Freiheitsgrade so optimal andie gegebenen wenigen Fälle an, dass er in den vorgegebenen Fällenperfekt entscheiden kann, aber unter Umständen in vielen anderenFällen völlig falsche Ergebnisse produziert. Das Problem des Over-fitting tritt beim Deep Learning seltsamerweise nicht oft auf. DieAbsenz dieses Phänomens sind noch recht unverstanden und könnengenausowenig wie der Erfolg des Deep Learning mit mathematischenMethoden noch nicht gut erklärt werden. Ein zweites Problem ist,dass Teile des Algorithmus stochastisch sind und sehr von den Einga-bedaten abhängen und außerdem die Ergebnisse wenig Rückschlüssezulassen auf das eigentliche Problem. Man bekommt also Lösungen(sogenannte Prädiktoren), die einen unerwünschten Bias aufweisen,schlichtweg falsche Lösungen oder solche, für die man keine vernünf-tige Erklärung besitzt und die somit unter Umständen zu wenig Ak-zeptanz finden bei betroffenen Personen. Die Forschung zu diesemProblem ist allerdings sehr aktiv und sollte am Ende zu gewissen

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Konfidenzbereichen für „gute” Lösungen führen. Ein drittes Problemist, dass es auch für das Deep Learning unentscheidbare Problemegibt, ebenso wie für gewöhnliche Turingmaschinen.94

Kritik an der künstlichen Intelligenz wird nicht nur bezüglich ihrerinnermathematischen Struktur geübt. Die größte Gefahr geht ver-mutlich von falschen Anwendungen aus, die durch Unkenntnis derFallstricke der Methoden entstehen.Aus diesen Gründen ist es notwendig, die künstliche Intelligenz wei-terzuentwickeln. Ein wichtiger Aspekt davon ist die Erforschung desLernens an und für sich. Lernen steht hier als Oberbegriff für dieErkundung von Strukturen. Zum Beispiel ist das Deep Learning nureine Form der Strukturerkennung. Ganz allgemein sind Lernen undStrukturerkennung auf gewisse Weise identische Begriffe, denn werlernt erfasst Strukturen und wer Strukturen erkennt, der lernt. DieseFrage ist viel allgemeiner als die Methode des Deep Learning und um-fasst viele weitere bereits entdeckte Algorithmen. Auf diesem Gebietist aber noch viel Potenzial für neue Entdeckungen.Ist künstliche Intelligenz wirklich eine Form der Intelligenz? Dies isteine schwierige Frage. Einerseits ist künstliche Intelligenz zumindestin der Form des Deep Learning eine Methode, die aus sehr kom-plexen Problemen und großen Datenvorkommen Schlussfolgerungenziehen kann, d.h. eine Reduktion der Komplexität und ein Verständ-nis in Form von Prädiktoren erzielen kann. Besonders in den Anfän-gen des Deep Learning hat man herausgefunden, dass die Systemeauch ziemlich idiotische Prädiktoren lernen. Zum Beispiel haben Bil-derkennungsmethoden beim Erkunden von selbstfahrenden Autos oftden Strassenrand nur erkannt, wenn er grün war, wie in den meis-ten Beispielbildern oder bestimmte Automarken wurden nur durchden Schnee auf dem Bild erkannt, weil die Werbung der Marke oftdamit spielte. Diese Beispiele sind natürlich extrem, aber unsere For-schung kann bis dato noch schlecht beurteilen, wann Vorhersagendes Deep Learning „intelligent” sind und wann nicht. Die menschli-che Intelligenz ist sicherlich auch in der Lage, sich in sehr komplexen

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Situationen zurechtzufinden und gute Entscheidungen zu treffen. Je-doch scheint unsere Intelligenz noch mehr Eigenschaften zu besitzenals nur die Fähigkeit zur Reduktion von Komplexitäten in besonderskomplizierten Situationen. Viele Sätze der Mathematik oder andereEntdeckungen in den Wissenschaften sind ebenfalls Leistungen dermenschlichen Intelligenz, die damit jedenfalls nicht erklärbar sind.Damit will ich aber nicht sagen, dass all diese Lücken nicht geschlos-sen werden kann. Wir wissen es alle noch nicht. Es bleibt also nochviel zu tun in diesem Gebiet der künstlichen Intelligenz, damit ers-tens die Methoden weiter verbessert werden und auch zum Wohl desMenschen genutzt werden können und nicht mehr Schaden als Nut-zen anrichten. Das muss man als Mathematiker besonders deutlichsagen.

Topologische Datenanalyse in der Bioinformatik

Die Lebenswissenschaften wenden zunehmend Methoden aus der Ma-thematik und Informatik an. Dabei ist die Fülle von Daten, die ausGensequenzen von Organismen, aus molekularen Daten, aus Bildda-ten bei hochauflösenden Bildgebungsverfahren, aus Konfigurationenvon neuronalen Netzen in Modellorganismen oder aus anderen Ver-fahren entstehen können, enorm und nur mit raffinierten Methodenin den Griff zu bekommen. Wir wollen hier auf das Problem der Da-tenanalyse eingehen, dass man mit mathematischen Methoden ausder algebraischen Topologie angehen kann.Mathematisch gesehen geht es dabei darum, aus einer großen Men-ge von diskreten Datenpunkten in einem hochdimensionalen Raumein „geometrisches Muster” zu erkennen. Nun sind topologische Räu-me und ihre Invarianten gerade die Objekte, die man erkennen will.In diesen Anwendungen sind große Ansammlungen von Datenpunk-ten mit einem gegebenen Abstandsbegriff relevant, der auch Metrikgenannt wird. Ein solcher Abstandsbegriff kann in unterschiedlichen

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Problemen der Lebenswissenschaften jeweils verschieden sein. Bei ge-netischen Daten könnte dies der Hamming-Abstand zwischen kombi-natorischen genetischen Sequenzen sein, bei neuronalen Netzen ergibtder Kehrwert der Stärke der synaptischen Verbindungen eine Metrik.Es gibt neuartige Methoden, um aus Datenpunktwolken topologischeInformationen zu gewinnen. Sie wird persistente Homologie oder to-pologische Datenanalyse genannt. Dazu verwendet man die metrischeStruktur auf dem Raum der Daten, um einen Kettenkomplex zu de-finieren. Es gibt zwei populäre Methoden, erstens den sogenanntenVietoris–Rips Komplex und zweitens den Čech–Komplex.Wir betrachten zuerst den Vietoris–Rips Komplex. Wenn man allePunkte betrachtet, die „nahe” an einem festen Datenpunkt P sind,so erhält man metrische Kugeln U = UP,ε mit Radius ε > 0 um denPunkt P . Man kann nun zwei Punkte P und Q durch eine Kanteverbinden, wenn ihr Abstand echt kleiner als ε ist, d.h. wenn Q inUP,ε enthalten ist. Gegeben drei Punkte P , Q und R, so definiertman im Vietoris–Rips Fall einen 2–Simplex, falls die drei Punkte alleuntereinander einen Abstand kleiner als ε besitzen, d.h. wenn jederPunkt in der ε–Kugel der beiden anderen liegt.Im Fall des Čech–Komplex definiert man einen k–Simplex für k + 1paarweise verschiedene Punkte P1, . . . , Pk+1, falls der Durchschnitt

UP1,ε ∩ · · · ∩ UPk+1,ε 6= ∅nicht die leere Menge ist.Auf beide Weisen bekommt man für jedes ε eine simpliziale MengeV (ε)•, d.h. eine Kollektion von abelschen Gruppen V (ε)n für jedesn ∈ N und jedes ε > 0. Der zugeordnete Komplex abelscher GruppenZV (ε)• nennt man den Vietoris–Rips Komplex oder Čech–Komplex.Die persistente Homologie entsteht, wenn man die Homologie derKomplexe ZV (ε)• berechnet und untersucht, welche Homologiegrup-pen bzw. Bettizahlen diese Komplexe haben, wenn man ε variiert.Diese Bettizahlen bn = bn(ε) können durch Methoden der linearenAlgebra berechnet werden. Man trägt diese Bettizahlen in Abhängig-keit von ε gerne in einer Tabelle auf, was man aus offensichtlichenGründen auch „Barcodes” nennt. Die persistente Homologie ist dann

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ε..

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...

Persistente Simplices bei wachsendem ε für eine kreis-förmige Punktwolke. Die Bettizahlen b0 und b1 stabili-sieren sich ab dem dritten Bild zu 1.

das Ergebnis aller „Barcodes”, die über längere Strecken auftreten(siehe Figur). Man kann auch diese „Barcodes” effizient berechnen,auch wenn der Aufwand stark anwächst.Wenn man über diese Methode etwas reflektiert, dann sieht man, dasshier die Homologie von filtrierten Komplexen berechnet wird, die überden Parameter ε filtriert sind. Dies ist eine neuartige mathematischeTheorie, die auch innermathematisch interessante Entwicklungen ver-spricht. Die topologische Datenanalyse hat bereits viele interessanteAnwendungen in den Lebenswissenschaften gezeigt, zum Beispiel inder Onkologie, jedoch bleibt abzuwarten, wie erfolgreich sie ist.

Herausforderungen für die Mathematik

Moderne Wissenschaften werden immer interdisziplinärer. Das ist kei-ne Modeerscheinung, sondern entsteht aus der Notwendigkeit, im-mer komplexere Systeme und Phänomene zu erforschen. Das gilt inden Natur– und Lebenswissenschaften, aber auch in den Geistes–,Kultur– und Sozialwissenschaften. Warum ist das so?Die reinen Disziplinen in den Wissenschaften erzeugen historisch be-dingt sehr fundamentale Annahmen und ihre Ergebnisse sind häufigstark auf die Theorien bezogen. Wenn es an Anwendungen geht, dannsind die einzelnen Disziplinen bei komplexen Fragestellungen nichtmehr alleine kompetent. Man muss sich immer öfter zusammentun,um gewisse Fragen anzugehen und dazu Methoden zu finden. Eingutes Beispiel sind komplexe Systeme, wie sie dem Leben zugrunde-liegen. Es reicht nicht die biologischen und chemischen Grundlagen

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der Zellen und Gene zu verstehen, sondern das Zusammenspiel dieserGrundlagen aus den beiden Naturwissenschaften muss durch Metho-den der Mathematik, Informatik und Physik ergänzt werden. Manbraucht dazu Forscher, die von sich aus interdisziplinär forschen wol-len und die Umgangssprache mehrerer Fachdisziplinen beherrschen.Nur wenige Gebiete wie die Mathematik und die Physik werden inTeilen noch viele Jahre grundlagenorientiert arbeiten können. Gleich-zeitig spielen aber die Physik und die Mathematik, zusammen mit derInformatik, bei fast allen interdisziplinären Forschungsprojekten ei-ne wichtige Rolle. Für die Mathematik bildet dies eine spannendeHerausforderung, die aber auch neue Impulse mit sich bringt.Ein besonderer Aspekt komplexer Systeme ist, dass an räumlichenund zeitlichen Schnittstellen unterschiedliche Phänomene aufeinan-dertreffen. Das können physikalische Grenzflächen sein, an denen Ma-terialien unterschiedlicher Qualität zusammenstoßen. Ein gutes Bei-spiel dafür sind Luftschichten in der Meteorologie. Auch wenn manin jeder Schicht die vorkommenden Differentialgleichungen gut lösenkann und man damit die Dynamik versteht, dann muss man nochden Grenzübergang verstehen und modellieren. Man spricht dabeivon Multiskalenmethoden. Herausforderungen dabei sind die enor-me Komplexität der Rechnungen, bei denen sogar High PerformanceComputer überfordert sind und man auf Tricks wie das „Coarse Grai-ning” zurückgreifen muss.Eine weitere große Herausforderung besteht in der Anwendung vonTechnologien in verteilten Systemen. Man denke dabei an Transaktio-nen und Kommunikation im Bereich Mobilität, Energie und Gesund-heit. Dabei sind Anforderungen wie Transparenz, Sicherheit und Pri-vatheit gleichzeitig zu erfüllen. Mit geeigneten mathematischen Pro-tokollen lässt sich dies realisieren. Die Optimierung der Möglichkeitensolcher Anwendungen ist noch nicht abgeschlossen. Kryptowährungenaus Blockchains zum Beispiel sind aufgrund des Rechenaufwands unddes damit verbundenen Verbrauchs von Energie nicht mehr zeitge-mäß. Nachfolger sind bereits auf dem Weg in Form besser geeigneterDistributed Ledger Techniken, die Blockchains verallgemeinern und

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die entsprechenden Kryptowährungen bzw. andere dezentrale Kon-sensprotokolle. Häufig werden bei diesen Techniken die Bäume ausden Blockchains durch gerichtete Graphen ersetzt. Jede Transaktionbeinhaltet eine Bestätigung von anderen Transaktionen im Netzwerkim Verlauf des Transaktionsprotokolls, wodurch der Konsens herge-stellt wird.Komplexe und verteilte Systeme sind nur zwei bedeutende Beispiele.Es gibt viele andere. Mathematik ist heute eine der wichtigsten Wis-senschaften geworden, da sie die grundlegende Sprache der meistenWissenschaften darstellt und mit Hilfe der Informatik in allen inter-disziplinären Projekten abstrakte Modelle für Systeme liefern undberechnen kann.Um dieser Rolle gerecht zu werden, müssen die Mathematiker be-greifen, dass ihre Wissenschaft sich zu einer fundamentalen „Wis-senschaft der Systeme” entwickelt, die universelle Modelle entwickeltund im Mittelpunkt vieler Forschungen steht.95 Es ist ein Irrtum zuglauben, dass viele moderne Phänomene wie der Klimawandel oderdie vermeintliche Unberechenbarkeit von seltenen Ereignissen in derNatur oder an der Börse, mathematisch nicht mehr greifbar sind.Dies erfordert auch, bessere und leichtere Zugänge zur Mathematikzu finden und die Verbreitung damit zu unterstützen. Das falscheVorurteil, dass Mathematik nur quantitatives Verständnis aufzeigenkann, ist vielleicht die größte Obstruktion bei diesem Prozess derWissenschaftskommunikation.

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KAPITEL 5

Berechenbarkeit und Entscheidbarkeit

In diesem Kapitel kommen wir zum Begriff der Berechenbarkeit. Ma-thematisch gesehen kann man sich dabei auf Funktionen von N nachN beschränken. Ein Beispiel für eine berechenbare Funktion ist einerekursiv definierte Funktion wie die Fakultätsfunktion.Die Idee der Rekursion ist sehr alt und es stellt sich heraus, dass bere-chenbare Funktionen im Wesentlichen mittels Rekursion und einemSuchoperator aus elementaren Funktionen konstruiert werden kön-nen. In den 1930er Jahren wurden verschiedene Berechenbarkeitsmo-delle entwickelt, die sich alle als gleichwertig herausstellten. Darausleitete sich die Churchsche These ab, also die Frage, ob jeder Bere-chenbarkeitsbegriff mit den bereits gefundenen übereinstimmt, oderob es darüber hinaus stärkere Berechenbarkeitsmodelle gibt, die manphysikalisch realisieren kann. Bis heute sind alle solchen Versuche,die gerne als Hypercomputing bezeichnet werden, fehlgeschlagen.

Die Methode der Rekursion

Richard Dedekind hat mit seinen Büchern „Stetigkeit und Irrational-zahlen”96 und „Was sind und was sollen die Zahlen?” den Aufbau desZahlsystems in der Mathematik auf ein solides Fundament gestellt.Insbesondere hat er Axiome für die natürlichen Zahlen aufgestelltund die ganzen, rationalen und reellen Zahlen daraus definiert. Fürdie natürlichen Zahlen hat er den Rekursionssatz bewiesen. DieserSatz besagt, dass man jede Abbildung f von der Menge der natürli-chen Zahlen in eine beliebige andere Menge konstruieren kann, indemman das Bild von 0 festlegt und eine Vorschrift, wie man für jedesn > 0 den Wert von f(n) aus f(m) für ein m < n gewinnen kann.

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Wir haben die Methode der Rekursion im Grunde bereits in Form deseuklidischen Algorithmus gesehen, bei dem im entscheidenden Schrittdieses Algorithmus das Problem auf kleiner werdende Zahlen zurück-geführt wird. Ein anderes schönes Beispiel dafür ist die Berechnungder Fakultätsfunktion, die durch die Formel

f(n) = n! := 1 · 2 · · · (n− 1) · ndefiniert ist. Bei dieser Funktion gilt offenbar f(1) = 1 und

f(n) = n · f(n− 1).

Die Berechnung der Funktion f am Argument n benutzt also einfachdas Produkt von n mit dem Wert der Funktion am Argument n− 1.Ein solcher Aufruf eines Funktionswertes an einem kleineren Argu-ment wird rekursive Definition genannt. In den meisten Program-miersprachen kann man rekursive Programme schreiben, so dass dieDefinition der Fakultätsfunktion im Wesentlichen die Zeile

return n ∗ f(n− 1)

enthält, d.h. die Funktion f ruft sich selbst im Programmiercode auf.Zur besseren Illustration des Prinzips der Rekursion wollen wir auchnoch das ganz anschauliche und auf den ersten Blick unmathemati-sche Beispiel der Türme von Hanoi geben. Es sind drei Stäbe und ngelochte Scheiben gegeben, die am ersten Stab aufeinander liegen. DieAufgabe besteht darin, dass man die Scheiben des Turms nacheinan-der auf einem der beiden anderen Stäbe stapelt, so dass niemals einegrößere Scheibe auf einer kleineren liegt. Der dritte Stab darf als Hilfebenutzt werden. Wir nennen die Lösung L = L(n) für n Scheiben.Die Lösungsstrategie L(n) besteht darin, die obersten n−1 Scheibenauf dem Hilfsstapel mit Hilfe der Lösungsstrategie L(n − 1) abzu-legen, dann die größte Scheibe auf den dritten Stab abzulegen unddann nochmals die Lösungsstrategie L(n − 1) anzuwenden, um dieScheiben auf dem Hilfsstab zum dritten Stab zu transportieren. DieAbbildung illustriert den Fall n = 4.Bei der Lösung für n Scheiben wird also zweimal die Lösung für n−1angewandt und die größte Scheibe bewegt. Zur vollständigen Lösung

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Rekursive Lösung im Fall n = 4.

müssen somit

1 + 2(1 + 2(1 + ...)...) = 1 + 2 + 4 + 8 + · · ·+ 2n−1 = 2n − 1

Scheiben bewegt werden und man kann sogar zeigen, dass es mitweniger Bewegungen nicht funktioniert.Dedekind zeigte mit dem Rekursionssatz, dass die natürlichen Zahleneindeutig bis auf Isomorphie sind. Er verwendete jedoch Quantorenüber alle Teilmengen der natürlichen Zahlen, so dass er in modernerSicht die Prädikatenlogik zweiter Stufe in seinen Beweisen zugrunde-legte. Thoralf Skolem hat später gezeigt, dass in der Prädikatenlogikerster Stufe (viele) sogenannte Nichtstandardmodelle der natürlichenZahlen existieren, die ganz andere Eigenschaften haben als wir üb-licherweise annehmen. Die Skolemsche ausschließliche Verwendungvon Logik erster Stufe wurde nach einiger Zeit ein vorherrschenderStandard.Dedekinds Herangehensweise an die Mathematik kann man als denBeginn des Strukturalismus sehen, einer mathematik–philosophischenSichtweise. Er benutzte den Abbildungsbegriff in einem modernen

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Sinne und nahm damit die Entstehung der Kategorientheorie im 20.Jahrhundert voraus, die die Struktureigenschaften der mathemati-schen Objekte mehr betont als die Objekte selbst, die austauschbarsind. Darauf werden wir noch ausführlich eingehen.Rekursive Berechnungen und Beweise mit vollständiger Induktionsind bereits vor Dedekind bekannt gewesen, zum Beispiel bei Fran-ziskus Maurolicus, Blaise Pascal und Jakob Bernoulli. In Englandhatte Charles Babbage zusammen mit Lady Ada Lovelace den Baueiner Rechenmaschine geplant und dazu rekursive Berechnungen vonBernoullizahlen als den ersten darauf zu realisierenden Algorithmusvorgesehen. Auch Herbert Grassmann, Charles S. Peirce und Giusep-pe Peano haben die Axiome der natürlichen Zahlen betrachtet, oh-ne aber den Rekursionssatz ganz zur Verfügung zu haben. Zwischen1900 und 1930 wurde die von Dedekind streng begründete Rekursi-onstheorie langsam weiterentwickelt und es entstand eine Theorie derprimitiv rekursiven Funktionen, die man in den Arbeiten von DavidHilbert, Thoralf Skolem, Rósza Péter und anderen finden kann.Primitiv rekursive Funktionen entstehen aus elementaren Funktionen(wie Konstanten und Projektion) durch Anwendung der Rekursions-regel

f(0, y) = g(y),

f(x+ 1, y) = h(f(x, y), x, y),

wobei g und h ebenfalls primitiv rekursive Funktionen sind.97 Mitanderen Worten sind die primitiv rekursiven Funktionen die kleinsteKlasse, die elementare Funktionen enthält und unter der Rekursions-regel abgeschlossen ist.Man kann leicht einsehen, dass sehr viele elementare Funktionen pri-mitiv rekursiv sind. Erstaunlicherweise ist auch die Funktion

f(n) = pn (die n-te Primzahl)

eine primitiv rekursive Funktion.Am Beispiel der Rekursionstheorie und in den Anfängen der beweis-theoretischen Arbeiten von Hilbert sieht man sehr gut, wie eng Be-weistheorie und Berechenbarkeitstheorie zusammenhängen.

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Wilhelm Ackermann und Rósza Péter haben sich mit Funktionen aus-einandergesetzt, die berechenbar aber nicht primitiv rekursiv sind.Dazu gehört die Ackermann–Péter Funktion A(m,n), die in der Dar-stellung von Péter von 1935 gegeben ist durch

A(0, n) = n+ 1

A(m+ 1, 0) = A(m, 1)

A(m+ 1, n+ 1) = A(m,A(m+ 1, n)).

Diese Funktion ist nicht primitiv rekursiv, weil ihr Wachstum stärkerist als jeder primitiv rekursive Funktion. Man kann grundsätzlich be-rechenbare Funktionen durch Ordinalzahlen mittels der Löb–WainerHierarchie klassifizieren, die ihr Wachstum messen. Dabei wird dieAckermann–Péter Funktion A durch die Ordinalzahl ω charakteri-siert. Die Entdeckung sehr stark wachsender Funktionen geht bereitsauf Hardy zurück. Gödel hat diese Art der Charakterisierung in sei-nem berühmten System T benutzt, um die Widerspruchsfreiheit derDedekind–Peano Arithmetik zu studieren.

Die Theorie der Berechenbarkeit

Die ersten genuin mathematisch–theoretischen Modelle für den Leib-nizschen Berechenbarkeitsbegriff wurden um 1910 von Axel Thue er-funden und werden heute Thuesysteme98 genannt. Thues Standpunktwar, dass jede Form der Berechnung oder des Beweises als Folge vonTermersetzungen entsteht. Seine Ideen hatten später enormen Ein-fluss auch außerhalb der Mathematik und Informatik in der Linguis-tik durch Noam Chomsky und Richard Montague.Nachdem Kurt Gödel und Jaques Herbrand sich bereits vor 1931 inihrem Briefwechsel mit einer Verallgemeinerung der primitiv rekursi-ven Funktionen beschäftigt hatten, brachte das Annus Mirabilis 1936eine bemerkenswerte Situation, in die mehrere Personen verwickeltwaren: Zum einen wurde das Konzept der Turingmaschine und da-mit der Begriff der Turingberechenbarkeit von Alan Turing erfunden.In der Figur wird die Funktionsweise einer Turingmaschine skizziert.Die mit „Programm” beschriftete Einheit enthält alle Vorschriften,

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Band. . . . . .

Lese–/Schreibkopf

Programm

wie aus den Zuständen und den Beschriftungen des Bandes mit einemAlphabet weiterverfahren wird, d.h. wie das Band beschriftet wirdund wie sich der Lese–/Schreibkopf weiterbewegt.Turing erkannte auch, dass universelle Turingmaschinen existieren,die jede andere Turingmaschine simulieren können. Damit war zu-mindest theoretisch das Konzept eines programmierbaren Computersgeboren.Emil Post, der Thues Arbeiten kannte, erfand ebenfalls eine mathe-matische Theorie von Automaten, die den Thuesystemen und denTuringmaschinen ähneln.Alonzo Church begründete den λ–Kalkül – eine dritte alternativeBerechenbarkeitstheorie und heute die Grundlage funktionaler Pro-grammiersprachen – und erfand eine Typentheorie, die „Simple Theo-ry of Types” genannt wird.Schließlich definierte Stephen C. Kleene die rekursiven Funktionen(alias µ–rekursive Funktionen) als Erweiterung der primitiv rekursi-ven Funktionen und zeigte die Äquivalenz all dieser vier Definitio-nen.99 Dazu benutzte er den µ–Operator

µ(k <∞, f(k) = 0),

auch unbeschränkter Suchoperator genannt, der die kleinste Nullstel-le k der (rekursiven) Funktion f(k) sucht. Diesen Operator kann manin Programmiersprachen mit Hilfe von WHILE–Schleifen schreiben.Auch Nullstellen von Ausdrücken in mehreren Variablen, zum Bei-spiel von diophantischen Gleichungen wie

x2 − y3 = 1,

kann man durch verschachtelte Anwendung des µ– bzw. WHILE–Operators berechnen. In diesem Beispiel sucht man am besten auf

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allen Geraden der Form x + y = n, wobei n alle natürlichen Zahlendurchläuft. Es gibt nur die Lösung (x, y) = (3, 2), wenn man sich aufpositive ganze Zahlen x, y beschränkt.Die sogenannte Churchsche These, die auf Alonzo Church zurück-geht, besagt, dass alle überhaupt möglichen realistischen Berechen-barkeitsmodelle immer zu jeder von diesen vier Modellen von Church,Kleene, Post und Turing äquivalent sind. Diese These wurde vielfachbestätigt, gilt jedoch als unbeweisbar.Man sollte die Begriffe Algorithmus und Berechenbarkeitsmodell un-terscheiden. Alle Berechenbarkeitsmodelle können in deterministi-scher oder in nichtdeterministischer Form auftreten. Klassische Bere-chenbarkeitsmodelle sind die theoretischen Turingmaschinen, die sichin praktischer Form als digitale Computer manifestieren. Meist wirddies durch die von Neumann Architektur realisiert, mittels der diemeisten modernen Computer gebaut sind. Varianten der Turingma-schinen sind Automaten, die auf Emil Post zurückgehen, oder Ter-mersetzungsmodelle nach Axel Thue sowie die Registermaschinen.Daneben gibt es aber weitere Berechenbarkeitsmodelle. Künstlicheneuronale Netze, ebenso wie die bislang noch fiktiven Quantencom-puter, sind gegenwärtig sehr populäre Berechenbarkeitsmodelle. Bei-de Modelle erfüllen die Churchsche These, denn Quantencomputerund neuronale Netze können immer durch Turingmaschinen simu-liert werden, wobei bei Quantencomputern ein exponentieller Over-head zu bezahlen ist. Künstliche neuronale Netze erfüllen die Church-sche These zumindest, falls die Synapsengewichte rationale oder be-rechenbare Zahlen sind. Eine Widerlegung der Churchschen Thesewäre nur durch neue und leistungsfähigere Berechenbarkeitsmodellemöglich. Auf solche alternativen Berechenbarkeitsmodelle werden wirnoch eingehen.Die zu Berechenbarkeitsmodellen gehörenden Algorithmen werden oftin einer Weise klassifiziert, die teilweise an die Berechenbarkeitsmo-delle erinnern. Man spricht von deterministischen, nichtdeterministi-schen, stochastischen und quantenmechanischen Algorithmen.

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Beispiel von stochastischen Algorithmen – auch randomisierte oderprobabilistische Algorithmen genannt – sind Las–Vegas Algorithmenund Monte–Carlo Algorithmen. Ein Beispiel dafür ist die Monte–Carlo Integration, bei der hochdimensionale Integrale durch zufäl-lige Wahl von Stützstellen näherungsweise ausgewertet werden. DieAuswahl der Stützstellen spielt dabei eine besondere Rolle, denn siebestimmt das Konvergenzverhalten der Näherung. Stochastische Al-gorithmen sind oft effizienter als deterministische Algorithmen. EinBeispiel dafür sind Primzahltests. So ist der AKS Primzahltest eindeterministischer Test, der beweisbar in Polynomzeit abläuft. Jedochsind probabilistische Primzahltests wie der Miller–Rabin Test oderder Solovay–Strassen Test in der Praxis viel schneller als der AKSTest, obwohl sie nicht beweisbar in Polynomzeit ablaufen.Beispiele für quantenmechanische Algorithmen sind der Shor Algo-rithmus von Peter Shor für die Faktorisierung von natürlichen Zahlen,der Deutsch–Jozsa Algorithmus und der Groversche Suchalgorithmus.Nichtdeterministische Algorithmen werden durch nichtdeterministi-sche Turingmaschinen in der Theorie repräsentiert, was der Existenzeines Orakels im Konzept der Turingmaschine entspricht.Man kann Algorithmen auch nach Verfahren oder Zielsetzungen klas-sifizieren. So gibt es Optimierungsalgorithmen, evolutionäre Algorith-men und probabilistische Algorithmen. Ganz konkrete Ziele werdendurch Sortier– und Suchalgorithmen realisiert. Bekannte Sortieralgo-rithmen sind Quicksort und Bubblesort.Eine weitere Klasse von Algorithmen sind kryptographische Algorith-men und kryptographische Protokolle, wie die symmetrischen Proto-kolle AES und DES oder die asymmetrischen Public–Key Protokollewie RSA, ECC und ElGamal.Es gibt unzählige weitere Algorithmen, die jeweils an die Situationangepasste Lösungen liefern. Zur Steigerung der Leistungsfähigekitvon Algorithmen bietet sich die Parallelisierung von Algorithmen an,die Teile des Ablaufs so aufteilt, dass sie parallel ausgeführt werdenkännen. Nicht jeder Algorithmus eignet sich jedoch zur Parallelisie-rung.

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Komplexitätstheorie

Selbst wenn für ein gegebenes Problem ein Algorithmus existiert,kommt es sehr darauf an, wie schnell der Algorithmus arbeitet undwieviel Speicherplatz er benötigt. Eine sinnvolle Methode kann es oftsein, Algorithmen zu parallelisieren und dadurch zu beschleunigen.Der Aufwand, den ein Algorithmus benötigt, wird in der Komple-xitätstheorie betrachtet, die ein eigenes Forschungsgebiet mit sehraktuellen offenen Fragen darstellt. Man kann berechenbare Funktio-nen danach messen, welches Wachstum sie haben oder in sogenannteKomplexitätsklassen einteilen. Die erste Einteilung nach Größe wirddurch die Grzegorczykhierarchie geleistet. Die untersten Stufen dieserHierarchie sind sogenannte elementar berechenbare Funktionen undsind für die meisten Probleme relevant. Komplexitätsklassen messen- grob gesprochen - den Aufwand, den ein Algorithmus verursacht.Eine sehr bekannte Komplexitätsklasse ist P, die Klasse der Poly-nomzeitalgorithmen. Diese sind dadurch definiert, dass die Laufzeit(und damit auch der Speicherbedarf) polynomiell im Aufwand derEingabedaten sind.100 Man beachte, dass die Eingabe einer natürli-chen Zahl n in eine berechenbare Funktion (oder eine Turingmaschi-ne) einen Aufwand von O(log(n)) Eingabedaten bedeutet, denn dieAnzahl der Ziffern von n ist proportional zu log(n).Eine weitere berühmte Komplexitätsklasse ist NP, die Klasse dernichtdeterministischen Turingmaschinen, die in Polynomzeit laufen.Alternativ kann man diese auch definieren als die Klasse derjenigenAlgorithmen, deren Lösung in Polynomzeit verifizierbar ist. Eines derMilleniumsprobleme der Clay Foundation fragt, ob

P = NP?

Bemerkenswert an dieser Frage ist, dass es Probleme gibt, die in NPliegen und die NP–vollständig sind. Dies bedeutet, dass wenn einesdieser Probleme in P liegt, die Vermutung schon für alle Problemeerfüllt ist. Man muss also die P=NP Vermutung nur an einem Pro-blem testen und einen Algorithmus dafür suchen, der in P liegt, oder

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dessen Existenz widerlegen. Darunter sind die folgenden Probleme:SAT, das Problem des Handlungsreisenden, das Cliquenproblem usw.Das SAT–Problem, auch Erfüllbarkeitsproblem der Aussagenlogik ge-nannt, besteht darin, für jede Formel der Aussagenlogik zu entschei-den, ob es Wahrheitswerte (WAHR oder FALSCH) der Variablengibt, so dass die ganze Formel nach Einsetzen dieser Werte auchWAHR wird. Offenbar ist jede Lösung dieses Problems in Polynom-zeit verifizierbar. Stephen Cook und Leonid Levin haben unabhängigvoneinander gezeigt, dass SAT NP–vollständig ist.Man kann zeigen, dass Quantencomputer, die mit q–bits arbeiten,die Churchsche These erfüllen. Die Komplexitätsklasse von Quanten-computern wird mit BQP bezeichnet und liegt in PSPACE, d.h.den berechenbaren Funktionen mit polynomiellem Speicheraufwand.Sie sind jedoch potenziell viel leistungsfähiger als digitale klassischeComputer (Turingmaschinen). In den letzten Jahren wurden Quan-tencomputer mit etwa 50 q–bits gebaut, die bestimmte Rechnungenwesentlich schneller ausführen können als klassische Computer. Ver-mutungsweise gibt es algorithmische Probleme, die mit klassischenComputern immer einen exponentiell grösseren Aufwand benötigen.Diese gegenwärtig sehr populäre Vermutung verfeinert die Church-sche These und wird „Supremacy” von Quantencomputern genannt.

Unentscheidbare Probleme

Überraschenderweise gibt es sogar Probleme, die man algorithmischgar nicht lösen kann und die man unentscheidbar nennt.David Hilbert und Wilhelm Ackermann formulierten 1928 das Ent-scheidungsproblem. Es fragt, ob man für jede Aussage in einer for-malen Sprache (innerhalb der Logik erster Stufe) entscheiden kann,ob sie universell erfüllbar ist oder nicht, also wegen Gödels Vollstän-digkeitssatz, ob sie beweisbar ist oder nicht. Alan Turing und AlonzoChurch101 zeigten 1936 unabhängig voneinander, dass das Entschei-dungsproblem nicht lösbar ist: Es gibt keine Turingmaschine, die mitder Ausgabe 1 anhält, wenn die Aussage erfüllbar ist und mit derAusgabe 0, wenn sie nicht erfüllbar ist.

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Es gibt viele weitere bedeutende Probleme in der Mathematik, fürdie kein allgemeiner Lösungsalgorithmus existiert. Darunter sind dasHalteproblem für Turingmaschinen, das 10. Hilbertsche Problem unddas Wortproblem für Halbgruppen und Gruppen besonders hervor-zuheben.Das Halteproblem ist eng verwandt mit dem Entscheidungsproblemund fragt danach, ob es einen Algorithmus gibt, der für einen ge-gebene (Gödel)Nummerierung Tn von Turingmaschinen, die partielldefinierte Funktionen f = fn : N → N berechnen, entscheidet, obdie Funktion fn am Argument n definiert ist. Der Beweis für dieUnentscheidbarkeit des Halteproblems, den Alan Turing ebenfalls inseiner Arbeit von 1936 gab, benutzt im Wesentlichen eine Variantedes Cantorschen Diagonalverfahrens.Hilbert formulierte das 10. Hilbertsche Problem, welches nach derExistenz eines Algorithmus fragt, der für jede diophantische Glei-chung (mit einem ganzzahligen Polynom F )

F (x1, ..., xn) = 0

entscheidet, ob die Gleichung eine ganzzahlige Lösung besitzt odernicht. Nach Vorarbeiten von Martin Davis, Julia Robinson und HilaryPutnam hat Yuri Matiyasevich 1970 gezeigt, dass das 10. Problemunentscheidbar ist, d.h. es gibt keinen solchen Algorithmus. Der naiveSuchalgorithmus, den wir in Kapitel 5 betrachtet haben, besitzt zumBeispiel keine Abbruchbedingung, weil es keine a priori Abschätzungfür die Größe der Lösungen gibt. Somit ist der Suchalgorithmus auchnicht geeignet.Von heutiger Warte aus gesehen, folgt die negative Lösung des 10.Hilbertschen Problems aus einem Satz von Davis, Matiyasevich, Ro-binson und Putnam, der besagt, dass jede rekursiv aufzählbare Men-ge durch eine diophantische Gleichung gegeben ist. Die Umkehrungdieses Satzes gilt trivialerweise, denn jedes Polynom ist eine bere-chenbare Funktion.Davis, Putnam und Robinson haben im Wesentlichen bewiesen, dassman zum Beweis dieses Satzes zeigen muss, dass gewisse exponentielle

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Gleichungen, wie z.B. die Gleichung

xy = z

im (x, y, z)–Raum, diophantisch sind, obwohl das in diesem Beispielauf den ersten Blick nicht so aussieht. Julia Robinson hatte die Idee,dazu die klassische Pellsche Gleichung

x2 − dy2 = ±1im Fall von d = a2−1 zu verwenden, deren unendlich vielen Lösungengeeignetes Wachstumsverhalten haben. Der Beweis von Matiyasevichverlief etwas anders, denn er benutzte eine Gleichung der Form

x = F2y,

im (x, y)–Raum wobei Fm die Fibonaccizahlen durchläuft, also dieFolge

1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, . . .

die durch Fm+2 = Fm+Fm+1 definiert wird. Moderne Beweise benut-zen oft die Pellsche Gleichung wie bei Julia Robinson.102

Das Wortproblem für endlich präsentierte Gruppen oder Halbgrup-pen

G = a1, . . . , as | r1, . . . , rt,die durch endlich viele Erzeuger a1, . . . , as und Relationen103 r1, . . . , rtgegeben sind, besteht darin, zu entscheiden, ob ein beliebiges Wortw in G gleich einem vorgegebenen Wort w0 ist:

w = w0.

Mit anderen Worten sucht man einen Algorithmus, der endlich vieleRelationen findet, so dass das Wort w nach Anwendung dieser Rela-tionen (als Termersetzungen) in das Wort w0 übergeht.Das Wortproblem wurde zum ersten Mal von Axel Thue in seinenbereits erwähnten Arbeiten zur Berechenbarkeit formuliert und Thueerkannte auch die Schwierigkeit dieses Problems. Max Dehn, der alseiner der ersten eines der Hilbertschen Probleme gelöst hatte, hatdas Wortproblem ebenfalls kurze Zeit später unabhängig von Thueaufgestellt. Die Präsentation von Halbgruppen und Gruppen hat sehr

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viel mit dem Berechenbarkeitsmodell der Thuesysteme durch Termer-setzung zu tun, die wir ebenfalls schon besprochen haben, denn dieRelationen rj kann man als Termersetzungen verstehen.Der Beweis für die Unentscheidbarkeit des Wortproblems für Halb-gruppen wurde von Emil Post und Andrei Markov unabhängig von-einander 1947 erbracht. In der Tat kann man den Zusammenhangmit Berechnungsmodellen benutzen, um die Unentscheidbarkeit zuzeigen.104 Pyotr S. Novikov und William Boone lösten einige Jahrespäter auch das Wortproblem für Gruppen. Es gibt viele wichtigeKlassen von Halbgruppen und Gruppen für die das Wortproblemlösbar ist, aber man kann auch ganz konkrete endlich präsentierteGruppen hinschreiben, für die das Problem keine Lösung hat. Einschönes Beispiel hat Gregory Tseytin gefunden. Für die Halbgruppe

G = 〈a, b, c, d, e | ac = ca, ad = da, bc = cb, bd = db, ce = eca,

de = edb, cdca = cdcae, caaa = aaa, daaa = aaa〉ist das Problem unentscheidbar, ob ein beliebiges Wort mit w = aaaübereinstimmt.

Künstliche Intelligenz und Hypercomputing

Wir haben uns mit der (platonischen) Welt der Gedanken und ihremZusammenhang mit abstrakten Begriffen und der Wahrheit beschäf-tigt. All dieses Nachdenken darüber findet in unserem Kopf statt. Esist eine sehr interessante ungelöste Frage, ob die menschliche Intelli-genz einem Computer überlegen ist. Gödel war überzeugt, dass dasder Fall ist. Sein Argument werden wir in Kapitel 8 besprechen. Esbenutzt Ideen rund um seinen eigenen Unvollständigkeitssatz. DasLucas–Penrose Argument und John Searles Gedankenexperimente,auf die wir ebenfalls eingehen werden, gehen in die gleiche Richtung.Alan Turing hat in einem Artikel105 einen damit verwandten Testvorgeschlagen, den man heute Turingtest nennt. Dabei geht es imGrunde darum, ob man nur durch ein Frage- und Antwortspiel einenMenschen von einem Computer unterscheiden kann. Die Antwort warzu Turings Zeiten nicht ganz offensichtlich, heute ist sie ziemlich

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sicher mit einem klaren Nein zu beantworten. Die Geschwindigkeitdes Gehirns und auch seine Fehlerhaftigkeit machen es den heutigenComputern in vielerlei Hinsicht deutlich unterlegen. Der Test berück-sichtigt jedoch nicht Fragen zum Bewusstsein des Menschen, dessenVorhandensein ihn sicherlich von einer Maschine unterscheidet.In den letzten Jahren hat sich die sogenannte Künstliche Intelligenzsehr weiterentwickelt. Ein Prophet auf diesem Gebiet war der vonLeibniz inspirierte Mathematiker Norbert Wiener, der bereits in den1950er Jahren entscheidende Ideen für künstliche Intelligenz entwi-ckelte und gleichzeitig einen kritischen, vorausschauenden Blick aufdie Zukunft richtete.106 Erst in den letzten Jahren hat es entscheiden-de Durchbrüche in der Umsetzung gegeben. Die heutige Technologieberuht in erster Linie auf dem Trainieren von künstlichen neuronalenNetzen mit Hilfe großer Datenmengen als Eingabe. In vielen Berei-chen, beispielsweise in der Bilderkennung, hat diese Methode jedenanderen Ansatz wesentlich überholt. In Kapitel 4 haben wir die Me-thode am Beispiel der Buchstabenerkennung erläutert.Es ist umstritten, ob es neben dem digitalen Computer, den Quanten-computern oder den künstlichen neuronalen Netzen andere analogeBerechenbarkeitsmodelle gibt, die entweder die Funktion des Gehirnsbesser simulieren oder strikt leistungsfähiger sind als digitale Com-puter. Solche Modelle werden als Neuromorphic Computing bzw. alsHypercomputing bezeichnet. Hypercomputing wurde bis heute nochnicht realisiert und es ist sehr zweifelhaft, ob es überhaupt möglichist. Neuromorphic Computing dagegen erscheint vielversprechender.

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KAPITEL 6

Kategorientheorie

Richard Dedekind war der erste Vorläufer der Strömung des Struk-turalismus. Seine mathematischen Arbeiten basieren zwar noch aufeiner naiven, materiellen Mengenlehre, die elementorientiert ist. Erhat aber als Erster gesehen, dass mathematische Objekte, wie zumBeispiel die Zahlen, viele isomorphe Mengenrealisierungen besitzenkönnen. Es sind nur ihre Operationen und strukturellen Eigenschaf-ten, denen eine Eindeutigkeit zukommt. Dedekind hat beispielsweisedie natürlichen Zahlen in seinem Buch „Was sind und was sollen dieZahlen” als Ketten axiomatisch charakterisiert und ihre Eindeutigkeitbis auf Isomorphie mit dem Rekursionssatz bewiesen.107

Emmy Noether hat viel dazu beigetragen, diese Ideen von Dedekindin die Grundlagen der modernen Algebra und auch in der Topologieeinzuführen, wo sie besonders fruchtbar sind. In Form der Kategori-entheorie als Grundlage der Mathematik wurde der Strukturalismusvon Saunders MacLane und Samuel Eilenberg ab etwa 1945 entwickeltund hielt dann Einzug in die Arbeiten von Alexander Grothendieck,Daniel Kan, William Lawvere, Myles Tierney, Peter Freyd und vielenanderen.108

Eine der wichtigsten Kategorien ist die Kategorie der Mengen, be-zeichnet mit Set. Wir werden aber viele weitere Beispiele von Katego-rien erläutern und auch Varianten davon, die man höhere Kategoriennennt.Dieses Kapitel ist abstrakter als die vorangegangenen und damit we-sentlich schwerer zu lesen. Der Leser sollte versuchen, soviel als mög-lich davon verstehen, denn heute ist die Kategorientheorie eine der

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drei möglichen Grundlagen der Mathematik. Sie ist besonders wert-voll für ein strukturelles Denken und für die Begründung der Seman-tik innerhalb der Mathematik.

Kategorien

Eine Kategorie besteht aus einer Kollektion von Objekten und einerKollektion von strukturerhaltenden Pfeilen

A −→ B

zwischen jeweils zwei Objekten A und B, die auch Morphismen ge-nannt werden. Weder die Kollektionen von Objekten noch die derMorphismen müssen dabei Mengen bilden. Wenn das der Fall ist,nennt man eine Kategorie „klein”. Kategorientheorie ist also eineTheorie der strukturerhaltenden Morphismen zwischen Objekten, diedurch Pfeile repräsentiert werden. Veröffentlichungen in diesem Teilder Mathematik sind daher voll mit Diagrammen, die aus lauter Pfei-len bestehen. Die Pfeile erfüllen weitere Rechenregeln. So kann manMorphismen durch Komposition verketten:

A B Cf g

g f

Komposition von Morphismen.

Dafür gilt – ähnlich wie bei der Multiplikation – das Assoziativgesetz

h (g f) = (h g) f.In manchen Fällen kann man Pfeile auf verschiedene Art miteinanderverknüpfen. Eine bekannte Situation ist ein kommutatives Diagrammfür das

δ γ = β αgilt, d.h bei dem es egal ist auf welchem Weg man das (viereckige)Diagramm durchläuft. Dies resultiert dann in einem eindeutigen neu-en Pfeil, der gestrichelt als Diagonale eingezeichnet ist (siehe Figur).

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A B

C D

γ

α

δ

β

Kommutatives Diagramm.

Es gibt viele unterschiedliche Kategorien in der Mathematik. Wichti-ge Beispiele sind die Kategorie der Mengen Set und die Kategorie dertopologischen Räume Top. In Set sind die Objekte Mengen und dieMorphismen die mengentheoretischen Abbildungen. In Top sind dieObjekte die topologischen Räume und die Morphismen die stetigenAbbildungen. Eine spezielle Kategorie ist jedem topologischen RaumX zugeordnet, nämlich die Kategorie Off(X) der offenen Mengenauf X. Die Objekte darin sind die offenen Mengen U ⊂ X und dieMorphismen die Inklusionen V ⊂ U .Eine andere wichtige Kategorie ist die Kategorien von Kettenkomple-xen abelscher Gruppen, die mit Ch bezeichnet wird und Objekte wiedie singulären Kettenkomplexe zu der simplizialen Menge Sing•(X)eines topologischen Raums X enthält.Man kann in einer gegebenen Kategorie C alle Pfeile „umdrehen” undbekommt dadurch die sogenannte entgegengesetzte Kategorie, die mitCop bezeichnet wird.

Gruppoide

Eine sehr einfache Kategorie ist jeder Gruppe G zugeordnet. Sie hatnur ein Objekt ∗ und für jedes g ∈ G einen Pfeil, der auch mit gbezeichnet wird:

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g

hhg

g−1

Kategorie einer Gruppe.

Diese Kategorie ist ein sogenanntes Gruppoid, denn jeder Morphis-mus ist invertierbar. Der Begriff eines Gruppoids bezeichnet viel all-gemeiner eine Kategorie, in der jeder Homomorphismus p ein Isomor-phismus ist, dessen Inverses mit p−1 bezeichnet wird. Ein Gruppoidist daher eine weitreichende Verallgemeinerung einer Gruppe.Ein interessantes Gruppoid, das nicht von einer Gruppe in dieserForm kommt, ist das Fundamentalgruppoid π≤1(X) für einen topo-logischen Raum X. Es ist definiert als die Kategorie, deren Objektedie Punkte von X sind und deren Morphismen zwischen a und b dieHomotopieklassen der Wege von a nach b sind. Aus diesem Funda-mentalgruppoid π≤1(X) kann sowohl die Menge π0(X) der Zusam-menhangskomponenten von X als auch für jeden Basispunkt ∗ dieFundamentalgruppe π1(X, ∗) leicht rekonstruiert werden.Dieses Gruppoid enthält alle Homotopieklassen von allen Wegen inX und damit schon mehr Information als die Fundamentalgruppeπ1(X, ∗). Um von Homotopieklassen von Pfaden zu allen Pfadenüberzugehen, ist noch ein weiterer Abstraktionsschritt notwendig, deruns aus dem Reich der Kategorien in die Unendlichkategorien führenwird.

Funktoren

Kategorien können miteinander verglichen werden. Dazu benutzt manFunktoren. Ein kovarianter Funktor zwischen zwei Kategorien A undB ist ein Pfeil

F : A −→ B,

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der Objekte A in A zu Objekten B = F (A) in B schickt und Mor-phismen f : A1 → A2 auf Morphismen F (f) : F (A1) → F (A2).Ein kontravarianter Funktor dreht die Pfeile um, d.h. es gilt F (f) :F (A2)→ F (A1).Ein Beispiel ist der (kovariante) Funktor F : Top → Set, der einentopologischen Raum auf die unterliegende Menge und stetige Ab-bildungen auf die unterliegende Abbildung schickt, d.h. die Stetig-keit ignoriert. Andere Beispiele sind die (kovarianten) Funktoren derHomologie– und Homotopiegruppen, die Funktoren Top → Gr indie Kategorie der Gruppen darstellen. Betrachtet man lieber denunterliegenden Kettenkomplex abelscher Gruppen, so wie es EmmyNoether getan hat, so kann man den Funktor Top → Ch betrach-ten, der jedem topologischen Raum X den singulären KettenkomplexZSing•(X) zuordnet.Durch geeignete Funktoren kann man Äquivalenzen von zwei Katego-rien C und D definieren, die in gewisser Weise durch zwei FunktorenF : C → D und G : D → C ununterscheidbar sind. Also gibt es auchbei Kategorien die Grundfrage nach der Gleichheit bzw. Identität.Funktoren kann man miteinander vergleichen. Eine natürliche Trans-formation T zwischen zwei Funktoren F und G ordnet jedem ObjektA von A einen Morphismus TA : F (A) → G(A) zu, so dass dasentsprechende Diagramm kommutiert (siehe Figur).

F (A) F (B)

G(A) G(B)

TA

F (f)

G(f)

TB

Natürliche Transformation.

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Garben

Mit Hilfe von Funktoren kann man Garben und Prägarben als neueObjekte auf topologischen Räumen definieren. Solche Objekte sindwichtig als Strukturgarben auf topologischen Räumen und als Ko-effizienten für Kohomologietheorien. In der Entwicklungsgeschichteder Mathematik sind sie innerhalb der komplexen Analysis in Formvon Garben von holomorphen Funktionen auf analytischen Räumendurch Henri Cartan und Kiyoshi Oka um das Jahr 1950 eingeführtworden.Eine Prägarbe F ist dabei ein kontravarianter Funktor von der Ka-tegorie der offenen Mengen Off(X) auf einem topologischen RaumX mit Werten in der Kategorie Set. Dies bedeutet, dass es für zweioffene Mengen V ⊂ U eine Einschränkungsabbildung

F(U)→ F(V )

gibt, die gewisse Rechenregeln erfüllen, die aus der Funktoreigen-schaft folgen: Die triviale Inklusion U ⊂ U induziert als Einschrän-kungsabbildung die Identität id : F(U) → F(U) und für drei offeneMengen W ⊂ V ⊂ U gilt die Kompositionsregel, d.h. die Einschrän-kungsabbildungen kommutieren:

F(U) F(V ) F(W )

Funktoreigenschaft der Einschränkungsabbildungen.

Garben sind spezielle Prägarben, die eine zusätzliche Eigenschaft er-füllen.109 Garben auf X definieren eine neue Kategorie, die mit Sh(X)bezeichnet wird (vom englischen Begriff „sheaf” für Garbe). Eine Gar-be ist – vereinfacht gesprochen – eine Familie von Mengen über demtopologischen Raum X, denn für jeden Punkt x ∈ X kann man densogenannten Halm Fx der Garbe als Menge definieren.110

112

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Mit Hilfe von Prägarben und Garben kann man zwei für uns sehrinteressante Kategorien definieren. Das erste Beispiel ist die Funk-torkategorie aller Funktoren C = SetC

op

mit Werten in Set auf einergegebenen Kategorie C. Nimmt man für C die Kategorie ∆• der end-lichen geordneten Mengen ∆n = 0 < 1 < · · · < n mit monotonenAbbildungen, so erhält man als Funktorkategorie ∆• die Kategorieder simplizialen Mengen SSet. Ein zweites Beispiel ist die Kategorievon Garben von Mengen Sh(X) auf einem topologischen Raum X,oder allgemeiner auf einem Situs.

Topoi

William Lawvere in den 1960er Jahren und viel später Jeremy Avigadund andere haben die Kategorie der Mengen axiomatisch gefasst undden Begriff des Elementartopoi geprägt. Damit haben sie die struktu-relle Mengenlehre axiomatisch definiert, die nicht in der selben Weiseelementorientiert ist wie die naive, materielle Mengenlehre.111 Dafürgibt es zwei Kandidaten, ETCS (von Lawvere) und SEAR (von Avi-gad). ETCS steht dabei für „Elementary theory of the category ofsets” und SEAR für „Sets, elements and relations”. Ein Statementder Form x ∈M wird in ETCS ersetzt durch einen Pfeil

1 −→M

von einem kanonischen 1–elementigen Objekt 1 nach M . In SEARwird die Elementrelation wie in der Typentheorie behandelt, d.h. einStatement der Form x ∈ M macht nur Sinn bei gegebenem M . InSEAR kann eine Menge nicht Element einer anderen Menge sein, d.h.Elemente sind von einem anderen Typ als Mengen.112

Ein Elementartopos ist definiert als eine Kategorie C mit mehrerenEigenschaften. Die erste Gruppe von Eigenschaften besagt, dass Ceine kartesisch abgeschlossene Kategorie ist. Das bedeutet zunächst,dass für je zwei Objekte A, B in C das Produkt A×B existiert. Etwasallgemeiner fordert man die Existenz von Pullbackobjekten A×X Bfür je zwei Pfeile A→ X und B → X (siehe Diagramm).

113

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A×X B B

A Xf

g

Pullbackdiagramm.

Ferner gibt es ein sogenanntes Exponentialobjekt CA in C, dass die„Funktionen” von A nach C repräsentiert. Dafür gilt, dass der natür-liche Pfeil

HomC(A× B,C) −→ HomC(A,CB)

eine Identifikation ist. Weiterhin soll ein terminales Objekt 1 existie-ren mit Abbildungen A→ 1 für alle A in C.Ein Elementartopos ist eine kartesisch abgeschlossene Kategorie, diezusätzlich noch einen sogenannten Subobject Classifier Ω und ein Ob-jekt N natürlicher Zahlen113 zusammen mit Pfeilen (Null und Nach-folgerabbildung) besitzt:

1 −→ N, S : N −→ N.

Der Subobject Classifier Ω dient dazu, Unterobjekte B ⊂ A als ein-deutige Pullbacks zu charakterisieren. Dies bedeutet, dass der Pfeil1→ Ω eine universelle Einbettung ist (siehe Diagramm).

B 1

A Ω

true

Subobject Classifier.

114

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Die Idee hierbei ist, dass Ω eine Ansammlung von Wahrheitswertenist mit einem ausgezeichneten Element 1, dass dem Wert „wahr” ent-spricht. Im Beispiel des Topos Set gilt Ω = 0, 1 mit den üblichenklassischen Wahrheitswerten. In den Beispielen SetC

op

und Sh(X)besteht Ω aus einer viel größeren Menge von bestimmten Garben.114

Das Objekt Ω besitzt interessante Eigenschaften, insbesondere bildetes eine sogenannte Heyting Algebra.Es gibt zwei wichtige Beispiele für Elementartopoi, die wir bereitskennengelernt haben, nämlich die Funktorkategorien C = SetC

op

unddie Kategorie von Garben Sh(X) auf einem topologischen Raum X.Diese beiden Arten von Elementartopoi werden auch Grothendieck-topoi genannt.115 Dieser Begriff wurde bereits früher erfunden undgeht auf Alexander Grothendieck zurück. Die Kategorie Set selbstinsbesondere ist auch ein Grothendiecktopos.

Höhere Kategorien

Höhere Kategorien, ∞–Kategorien und ∞–Gruppoide sind Verall-gemeinerungen von Kategorien und von Gruppoiden, die auf zweiverschiedene Arten entstehen.Die erste Spezies von höheren Kategorien erlaubt Morphismen höhe-rer Ordnung, d.h. Pfeile zwischen Pfeilen (siehe Figur).

A B

f

g

α

Höherer Morphismus α zwischen zwei Morphismen f, g.

Die Komposition von Pfeilen verallgemeinern sich ebenfalls in ge-eigneter Weise. Traditionelle Kategorien sind in dieser Terminologie1–Kategorien. Allgemeiner gibt es 2–, 3–Kategorien usw., die manallgemein n–Kategorien nennt. Alle diese Varianten werden wir alsstrikte höhere Kategorien bezeichnen oder als ∞–Kategorien bzw.

115

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Unendlichkategorien, was dem Grenzfall n → ∞ entspricht und wirkein konkretes n angeben wollen oder können.Diese Variante ist aber eigentlich ein Spezialfall von gewöhnlichenKategorien, die auch 2–Morphismen und höhere Morphismen zulässt.Interessanter ist die zweite Version von sogenannten schwachen hö-heren Kategorien, bei denen die Rechenregeln von Kategorien abge-schwächt werden. Zum Beispiel dürfen Diagramme der Form

A B

C D

γ

α

δ

β

Kommutatives Diagramm bis auf Homotopie.

in (schwachen) höheren Kategorien nur bis auf einen 2–Morphismuskommutativ sein, d.h. es gibt einen (invertierbaren) 2–Morphismus

β α⇒ δ γ,oder – mit anderen Worten – eine Äquivalenz zwischen δγ und βα.Der doppelte gestrichelte Pfeil im Diagramm ist also in der Tat nichteindeutig, sondern entspricht einem invertierbaren 2–Morphismus

A D

β α

δ γ

Höherer Morphismus zwischen zwei Kompositionen.

Höhere Morphismen werden auch oft in einer geometrischen Art undWeise beschrieben, die an simpliziale Strukturen erinnert. Zum Bei-spiel besitzen 2–Kategorien und ihre höheren Verallgemeinerungen

116

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A

B

C

f g

h

2–dimensionale Objekte, die man auch „Füllungen” nennt. Solche 2–dimensionalen Objekte entsprechen Kompositionen (siehe Figur).Die Komposition g f von zwei Morphismen f und g existiert dabei,wenn man ein 2–dimensionales Objekt als „Füllung” findet, dessendritte Seite die Komposition h = g f repräsentiert. Da die Füllungnicht eindeutig sein muss, ist die Komposition in einer solchen Un-endlichkategorie in der Regel nicht eindeutig definiert, sondern nurbis auf eine Art von Äquivalenz, wie man durch „Füllungen” mit 3–dimensionalen Objekten beweisen kann.Das Dreieck in der Figur bestimmt also ein 2–dimensionales Objektder höheren Kategorie. Rekursiv erhält man n–Kategorien, wenn manneue n–dimensionale Objekte postuliert, die die Kommutativität inDiagrammen zwischen gewissen (n− 1)–dimensionalen Objekten be-schreiben. Auch die höherdimensionalen Objekte können durch Pfeileverbunden werden, was Relationen zwischen diesen Objekten ent-spricht.

B

A

C

D

g

hg

f

gf

hgf

h

Tetraeder zum Assoziativgesetz

117

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Die Assoziativität der Komposition gilt in höheren Kategorien mög-licherweise nur modulo „höherer” Ausdrücke. Dies kann man gra-phisch durch eine 2–dimensionale Figur darstellen, die mehreren 2–dimensionalen und einer 3–dimensionalen „Füllung” entspricht (sieheFigur).Der Tetraeder hat vier Seiten, die jeweils 2–Morphismen von Kom-positionen entsprechen. Der ganze Tetraeder entspricht einem inver-tierbaren 3–Morphimus

(h g) f ⇒ h (g f),der – auch wenn das Assoziativgesetz nicht in Form einer Gleichheitgilt – einen expliziten Pfeil darstellt, durch den die Assoziativitätersetzt wird. Höhere Morphismen in höheren Kategorien kann mansomit als kombinatorische Daten sehen, die ganz präzise Äquivalen-zen beschreiben, die nicht per se, d.h. in Form einer Gleichheit oderIdentität gelten. Dies ist eine wichtige Eigenschaft, die höhere Kate-gorien zusammen mit ihrer flexibleren Behandlung von Rechenregelnwertvoll für die Mathematik und gewisse Anwendungen macht.

Beispiel höherer Kategorien

Höhere Kategorien entstehen auf natürliche Weise, wenn man Kate-gorien miteinander vergleicht. Als Beispiel dafür kann man die Ka-tegorie CAT aller Kategorien betrachten. Das Objekt CAT kann ineinem gewissen Sinne mathematisch präzise definiert werden und isteine 2–Kategorie mit Funktoren zwischen Kategorien als Morphismenund den natürlichen Transformationen als 2–Morphismen.Ein gutes Beispiel für eine 2–Kategorie ist die Kategorie der GruppenGrp, wobei die Morphismen die Gruppenhomomorphismen f, f ′ :G→ H sind und die 2–Morphismen zwischen f und f ′ die Konjuga-tionen mit Elementen der Gruppe:

f ⇒ f ′, wobei f ′(g) = hf(g)h−1, mit h ∈ H.

118

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Ein anderes – und vielleicht das wichtigste – Beispiel für eine „nor-male” Kategorie, die auch eine höhere Struktur aufweist, ist die Ka-tegorie Top. Neben den üblichen Objekten und Morphismen der Ka-tegorie Top hat man die Homotopien H zwischen zwei stetigen Ab-bildungen f, g : X → Y , die durch eine stetige Abbildung

H : I ×X −→ Y

definiert sind als 2–Morphismen. Weiter gibt es Homotopien zwischenHomotopien usw., so dass man ganz natürlich eine Unendlichkatego-rie erhält.Ein weiteres sehr wichtiges Beispiel einer Unendlichkategorie ist dieVerallgemeinerung des Fundamentalgruppoids π≤1(X), das sogenann-te∞–Fundamentalgruppoid Π(X). Dieses Objekt ist eine höhere Ka-tegorie, deren Objekte aus den Punkten eines topologischen Raums Xbestehen und die Morphismen aus den Pfaden. Die 2–dimensionalenhöheren Objekte (oder 2–Morphismen) sind Daten, die die Homoto-pien zwischen den Pfaden kodieren, die für die Rechenregeln benutztwerden, d.h. die Regeln für den inversen Pfad p−1, sowie für die Kom-position von Pfaden mit dem Assoziativgesetz

(p q) r = p (q r),die alle nur bis auf Homotopie gelten. Die 3– und höherdimensionalenObjekte werden erzeugt durch die Homotopien zwischen den Homo-topien usw.. Alle Homotopien sind invertierbar, daher ist Π(X) tat-sächlich ein Unendlichgruppoid, auch als (∞, 0)–Kategorie bezeich-net, wobei der zweite Index 0 ausdrücken soll, dass alle (auch diehöheren) Morphismen invertierbar sind.116

Als Modell für die Unendlichkategorie Π(X) wird häufig die simplizia-le Menge Sing•(X) benutzt. Dazu muss man erklären, dass Sing•(X)zwar durch stetige Abbildungen ∆n → X für alle n entsteht, dassaber beispielsweise Homotopien zwischen Pfaden eigentlich durch ste-tige Abbildungen I × I → X gebildet werden, also durch stetigeAbbildungen eines Quadrats 2 nach X. Nun kann man aber einQuadrat mittels seiner Diagonale in zwei Dreiecke zerlegen. DieserTrick sorgt dafür, dass sich Homotopien zwischen Pfaden und deren

119

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höhere Verallgemeinerungen wieder auf stetige Abbildungen ∆n → Xzurückführen lassen.Man sollte jedoch bedenken, dass Sing•(X) streng betrachtet nur einModell von Π(X) in simplizialen Mengen ist. Emily Riehl und Do-minic Verity haben ein Projekt gestartet117, die Theorie der höherenKategorien intrinsisch zu definieren, d.h. ohne auf irgendwelche Mo-delle zu rekurrieren. Dies ist der richtige Ort, um Objekte wie Π(X)zu betrachten.Unendlichkategorien, genauer gesagt (∞, 1)–Kategorien, nennt manmanchmal auch Quasikategorien nach André Joyal oder schwacheKan–Komplexe. Kan–Komplexe sind als simpliziale Mengen dadurchdefiniert, dass die Existenz gewisser „Füllungen” von Abbildungengarantiert ist, die auf Teilmengen Λi

n definiert sind, bei denen auseinem n–Simplex die i–Seite entfernt wurde. Diese Bedingung sorgtdafür, dass alle Morphismen der Dimension n ≥ 1 invertierbar sind,so dass ein Unendlichgruppoid, d.h. eine (∞, 0)–Kategorie, vorliegt.Daher definierte Jacob Lurie eine (∞, 1)–Kategorie als eine simplizia-le Menge, die ein schwacher Kan–Komplex ist, bei dem sozusagen nur„fast alle” „Füllungen” existieren müssen, genauer gesagt betrifft dasdie Teilmengen Λi

n für 0 < i < n. Die simpliziale Menge Sing•(X) istein „echter” Kan–Komplex, weil alle „Füllungen” existieren und diehöheren Morphismen, die Homotopien darstellen, allesamt invertier-bar sind. Damit ist Sing•(X) eine (∞, 0)–Kategorie, also ein Modellfür eine Unendlichgruppoid.118

Die Unendlichkategorien, oder besser (∞,∞)–Kategorien, sind derGrenzfall einer Hierarchie von sogenannten (n, r)–Kategorien. DerBuchstabe n steht dabei für die gleiche Zählung wie bei n–Kategorienund der Buchstabe r mit 0 ≤ r ≤ n + 1 für einen weiteren Index. Ineiner (n, r)–Kategorie werden k–Morphismen trivial, falls k > n ist,und sie werden Äquivalenzen, d.h. invertierbar, falls k > r. Insbe-sondere stimmen die obigen n–Kategorien mit den (n, n)–Kategorienüberein. Man kann nun n nach Unendlich gehen lassen und erhält aufdiese Weise insbesondere (∞, r)–Kategorien für alle r ≥ 0.

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Insgesamt ergibt sich folgendes Schema, in dem sich der Begriff derMenge (bzw. Klasse) und der partiell geordneten Menge (engl. Poset)verallgemeinern:

n = 0 n = 1 n = 2 . . . n =∞r=0 Menge Gruppoid 2–Gruppoid . . . (∞, 0)–Kategorier=1 Poset Kategorie (2, 1)–Kategorie . . . (∞, 1)–Kategorier=2 − 2–Poset 2–Kategorie . . . (∞, 2)–Kategorie

Man kann auch höhere (n, r)– oder (∞, r)–(Elementar–)Topoi defi-nieren. Für (∞, 1)–Kategorien ist dies zum Teil verstanden und mankann in der Tat durch eine geeignete „Komplettierung”, d.h. eine ge-eigneten Erweiterung einer (∞, 1)–Kategorie, zu einem Elementarto-pos gelangen.119

Topologische höhere Kategorien

Die Unendlichkategorie an der wir später besonders interessiert sind,ist die Kategorie aller Homotopietypen aller topologischer Räume.Für diese Frage und viele neueren Entwicklungen der Kategorien-theorie in der Mathematik ist ein fast 600–seitiges Manuskript120 vonAlexander Grothendieck ausschlaggebend, das als Anfangssegmenteinen Brief an Daniel Quillen enthält, der vom 19. Februar 1983 da-tiert ist. Durch dieses Manuskript wurde die Weiterentwicklung derHomotopietheorie und der (höheren) Kategorientheorie stark beein-flusst. In der Homotopietheorie waren die Entwicklung der Modell-kategorien durch Daniel Quillen und die etwas spezielleren Pfadkate-gorien von Kenneth Brown wichtige weitere Schritte.Ein besonderer Aspekt der Ideen von Grothendieck ist seine Vermu-tung, dass die Unendlichgruppoide genau die Homotopietypen vontopologischer Räume klassifizieren – die sogenannte „Homotopiehy-pothese”. Diese Vermutung ist zwar noch nicht ohne Zusatzannah-men bewiesen worden, aber wenn man sie mal annimmt, so ergibtsich für uns die Frage, ob wir die Kategorie aller Unendlichgruppoidebeschreiben können, offenbar eine (∞, 1)–Kategorie.

121

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Wir haben bereits gesehen, dass die Kategorie Top eine Unendlich-kategorie ist. Sie ist eigentlich eine (∞, 1)–Kategorie, da alle Homoto-pien und damit alle n–Morphismen mit n ≥ 2 invertierbar sind, undstimmt im Wesentlichen mit ∞Grpd überein, d.h. mit der Kategorieder Gruppoide, gemäß der Homotopiehypothese von Grothendieck.Top ist damit also die prototypische (∞, 1)–Kategorie, so wie Setdie prototypische Kategorie ist.Etwas allgemeiner kann man statt Top die eben erwähnten Modell-kategorien von Quillen betrachten, die für den formalen Aufbau derHomotopietheorie so nützlich sind. Bei den Modellkategorien wer-den gewisse Typen von Morphismen axiomatisch vorgegeben – dieFaserungen, Kofaserungen und schwache Äquivalenzen. Ähnlich wiebei Top entspricht jede solche Modellkategorie jeweils einer (∞, 1–Kategorie, zumindest wenn man nach den schwachen Äquivalenzeneine sogenannte Dwyer–Kan Lokalisierung vornimmt, denn schwacheÄquivalenzen sind im Gegensatz zu den Homotopieäquivalenzen nichta priori immer invertierbar.121

Später in diesem Text, wenn wir in Kapitel 9 die Typentheorie un-tersuchen, wird eine fest gewählte Typentheorie als ein „Universum”aller Typen eine ähnliche Rolle spielen und die Semantik dieser Ty-pentheorie ist dann – zumindest in jeder topologisch motivierten In-terpretation – eine (∞, 1)–Kategorie, bei der die n–Morphismen abn = 2 invertierbar sind. Wir werden uns also besonders auf (∞, 1)–Kategorien konzentrieren, denn nach allem was wir gerade bespro-chen haben, sollte das die richtige Wahl sein.

122

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KAPITEL 7

Deduktive Systeme und ihre Semantik

Nach der Wende zum 20. Jahrhundert kamen neuartige Sichtwei-sen auf die Mathematik auf, wie der Formalismus von Hilbert undder Intuitionismus.122 Hilberts Arbeiten, die er zum Teil zusammenmit Wilhelm Ackermann entwickelte, ließen eine Metasprache entste-hen, mit der man über die Mathematik reden konnte. Dies war dieGrundlage für eine Weiterentwicklung der Logik und der Beweistheo-rie durch viele andere Mathematiker, unter denen Thoralf Skolem,Kurt Gödel und Alfred Tarski besonders hervorzuheben sind.

Formale Sprachen und deduktive Systeme

In diesem Abschnitt werden wir die Hilbertsche Beweistheorie genau-er kennenlernen. Der Formalismus von Hilbert wird so genannt, weildie axiomatische Methode einen formaleren Umgang mit mathema-tischen Objekten zugrundelegte als die Mathematik vor dieser Zeit,die in der Regel nicht die formalen oder syntaktischen, sondern diesemantischen Gesichtspunkte in den Vordergrund stellte. Beispieleaxiomatischer Theorien sind die Euklidische Geometrie, die Mengen-lehre von Zermelo–Fraenkel und die Dedekind–Peano Arithmetik.Ein System, das aus einer formalen Sprache besteht, das Axiome undSchlussregeln enthält und in dem man daher Beweise in einem logi-schen Kalkül durchführen kann, nennt man ein deduktives System.Die Idee deduktiver Systeme geht offensichtlich auf den Einfluss vonLeibniz zurück und wurde auch von Bolzano in seiner „Wissenschafts-lehre” angedeutet.123 Frege war vermutlich der Erste, der diese Ideein seiner „Begriffsschrift” praktisch in die Tat umgesetzt hat. Axel

123

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Thues in Kapitel 5 beschriebenes Berechenbarkeitsmodell ist so all-gemein formuliert, dass man es auch als deduktives System inter-pretieren kann. Er hat seine Modelle bildhaft in Form von Bäumendargestellt. In der Tat werden wir gleich sehen, dass jeder Beweis eineBaumstruktur hat und eine Wurzel, die der zu beweisenden Aussageentspricht.Die mathematische Beweistheorie wurde aber erst am Anfang des 20.Jahrhunderts von David Hilbert in der heutiger Weise formalisiert.Hilbert hat sich ab etwa 1900 und verstärkt ab 1917 (mit Ackermannund Bernays) mit der Beweistheorie in axiomatischen mathemati-schen Theorien beschäftigt und u.a. den Hilbertkalkül entwickelt. Zudiesem Zweck hatte er die Beweisführung mathematisiert und erkann-te, wie Leibniz und Frege bereits wussten, dass Beweise im GrundeBerechnungen in einem speziellen Kalkül sind. Berechenbarkeit wirddabei mit der Verwendung rekursiver Funktionen in Verbindung ge-bracht.Eine formale Sprache erster Ordnung124 besteht aus einen Reservoiraus Zeichen für Konstanten, freie und gebundene Variablen, Funktio-nen und Relationen (Prädikate), sowie aus den logischen Symbolen¬, ∧, ∨,⇒, ∀ und ∃, die wir in Kapitel 2 bereits kennengelernt haben.Aus diesen Symbolen kann man Terme bilden, wobei alle Konstantenund freien Variablen Terme sind und auch die Werte von Funktionenf(t1, . . . , tn), in die man Terme t1, . . . , tn eingesetzt hat. Aus Termenkönnen Formeln gebildet werden, wobei atomare Formel durch Ein-setzen von Termen in Prädikate R entstehen als R(t1, . . . , tn). Allge-meine Formeln entstehen aus atomaren Formeln durch Verwendungder logischen Zeichen, d.h. wenn A und B Formeln sind, dann sindauch ¬A, A ∧ B etc. Formeln. Ist A eine Formel, die eine freie Va-riable a enthält (d.h. A = A(a) hängt als Formel insb. von a ab), sosind

∃x A(x) und ∀x A(x)

wieder Formeln. Schließlich ist eine logische Aussage eine Formel oh-ne freie Variablen. In einer axiomatischen mathematischen Theorie

124

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werden endlich oder unendlich viele logische Aussagen Γ = Γ1,Γ2, . . .als Axiome vorausgesetzt.Wir wollen ein Beispiel dafür geben und betrachten die formale Spra-che der Dedekind–Peano Arithmetik. Sie besteht neben den logischenZeichen ∧, ∨, ¬,⇒, ∀, ∃ aus den Zeichen 0 (Null), S (Nachfolgerabbil-dung N→ N), + (Addition), · (Multiplikation) sowie = (Gleichheit).Die Nachfolgerabbildung kann man auch als

S(n) = n+ 1

schreiben, wenn man die Addition vermöge vollständiger Induktiondefiniert hat. Also gilt:

1 := S(0), 2 := S(S(0)), usw.

Die Axiome der Dedekind–Peano Arithmetik sind von der Form

¬∃n S(n) = 0

∀m∀n S(m) = S(n)⇒ m = n,

∀n n + 0 = n

∀m∀n m+ S(n) = S(m+ n)

∀n n · 0 = 0

∀m∀n m · S(n) = m · n+m

∀y P (0, y) ∧ ∀n (P (n, y)⇒ P (S(n), y))⇒ ∀nP (n, y).

Das wichtigste Axiom ist das letzte Axiom der vollständigen Induk-tion. Es drückt für jede Eigenschaft P natürlicher Zahlen folgendeAussage aus (der Einfachheit halber ohne die Hilfsvariable y):

Falls P (0) gilt und falls aus P (n) immer P (S(n))folgt, so ist P für jede natürliche Zahl erfüllt.

125

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Beweise in deduktiven Systemen

Nach dem Hilbertkalkül hat insbesondere Gerhard Gentzen neue Kal-küle in der Beweistheorie eingeführt, den „Sequenzenkalkül” und den„Kalkül des natürlichen Schließens”.Ein Beweis in einem deduktiven System benutzt die Axiome undSchlussregeln in beliebiger Reihenfolge, bis das gewünschte Ergebniserreicht ist. Das natürliche Schließen benutzt auf intuitive Weise meh-rere Schritte, in denen aus gegebenen logischen Aussagen A1, . . . , An

eine neue Aussage A mit Hilfe gewisser Schlussregeln abgeleitet wird.Man schreibt dafür auch

A1 . . . An

A.

Die Aussagen A1, . . . , An enthalten die Axiome, bzw. sind Aussagen,die schon vorher aus den Axiomen gefolgert werden konnten. Wir be-schreiben hier nicht alle Schlussregeln des natürlichen Schließens. Zuden logischen Operationen ∧,∨,⇒, ∀, ∃ gehören „Einführungsregeln”

A B

A ∧B,

A

A ∨B,

B

A ∨ B,

B

A⇒ B,

P (t/x)

∃xP (x)

und „Eliminationsregeln”A ∧B

A,A ∧ B

B,∀xP (x)

P (t/x),A A⇒ B

B(Modus Ponens)

zusammen mit Fallunterscheidungen, wenn zum Beispiel eine Aussa-ge wie A ∨ B untersucht werden soll. Ein natürlicher Beweis einerlogischen Aussage ∆ besteht aus einem Herleitungsbaum mit einerWurzel, der am oberen Ende in den Blättern beginnt und an jederEcke eine Schlussregel benutzt (siehe Figur).Im Sequenzenkalkül von Gerhard Gentzen wird dies etwas andersgemacht. Hier werden von Anfang an Sequenzen betrachtet. Diesewerden durch Pfeile

A −→ B

dargestellt und symbolisieren zwei logische Aussagen A und B undeinen Beweis (eine Deduktion), die aus A die Aussage B folgert. Dabei

126

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A∧B C(A∧B)∧C

B∧CC

A∧(B∧C)B∧C

A BA∧B

B∧CB

A∧(B∧C)B∧C

A∧(B∧C)A

Herleitungsbaum von A ∧ (B ∧ C)⇒ (A ∧ B) ∧ C.

ist A die Voraussetzung und B die Folgerung. Eine einfache Aussageohne Voraussetzung (z.B. ein Axiom) kann auch als

−→ A

geschrieben werden. Um die Sequenz Γ −→ C zu bewiesen, wobeiΓ = Γ1 ∧ Γ2 ∧ . . ., fängt man mit den Axiomen

−→ Γi

an und wendet die Schlussregeln des Sequenzenkalküls solange an, bisdie Aussage folgt. Eine dieser Regeln ist die der Schnitteliminationmit Schnitt D

Γ −→ A ∨D D ∧B −→ ∆

Γ ∧B −→ A ∨∆.

Gerhard Gentzen benutzte die Schnitteliminationsregel, um die Kon-sistenz, d.h. die Widerspruchsfreiheit, der Dedekind–Peano Arithme-tik zu zeigen. Das Axiom der vollständigen Induktion wird zur fol-genden Schlussregel des Sequenzenkalküls:

Γ ∧ P (a)→ ∆ ∨ P (S(a))

P (0) ∧ Γ→ ∆ ∨ ∀s P (s).

127

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Wir wollen zur Illustration folgendes Theorem im Sequenzenkalkülbeweisen:

Theorem. Für jede natürliche Zahl n gilt die folgende Eigenschaft

P (n): n ist entweder gerade oder ungerade.

Dabei definieren125 wir: n ist gerade, falls eine natürliche Zahl ℓ exis-tiert mit n = 2ℓ und ungerade, falls eine natürliche Zahl ℓ existiertmit n = 2ℓ+1. Definitionen sind Abkürzungen, die der Vereinfachungdienen und sind in der Mathematik grundsätzlich sehr wichtig.Der Beweis des Theorems im Sequenzenkalkül ist dann wie folgt:Aus den Axiomen folgt sehr schnell P (0), d.h. die 0 ist gerade undwir haben somit Γ → P (0). Aus den Axiomen folgt weiterhin Γ →∀n (P (n)⇒ P (S(n))). Jetzt benutzen wir vollständige Induktion:

Γ −→ P (0), Γ −→ ∀n (P (n)⇒ P (S(n)))

Γ −→ ∀nP (n).

Die Semantik deduktiver Systeme

Die Semantik deduktiver Systeme in der Mathematik spielt sich tra-ditionell innerhalb der Mengenlehre ab. Formal gesehen bildet eineSemantik eine Möglichkeit, ein gegebenes deduktives System mengen-theoretisch zu realisieren, so dass alle Schlussregeln in der Sprache derMengen erfüllt bleiben. Man nennt dies auch eine Interpretation. Inder Regel wurde dafür in der klassischen Literatur nur die sogenanntenaive (materielle) Mengenlehre benutzt und kein axiomatisches oderkategorielles System der Mengenlehre oder dergleichen.Etwas allgemeiner kann man Interpretationen eines deduktiven Sys-tems in einem übergeordneten deduktiven System betrachten wiezum Beispiel bei der Henkinsemantik und wir nennen dies ebenfallseine Semantik. Dadurch kann kann man Interpretationen von ma-thematischen Theorien auch in der allgemeineren Kategorientheorieoder anderen deduktiven Systemen wie der Typentheorie erhaltenund die unterschiedlichen Grundlagen der Mathematik miteinandervergleichen.126

128

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Ein gutes Beispiel dafür ist die Definition der natürlichen Zahlen vonJohn von Neumann als Mengen:

0 = ∅, 1 = ∅, 2 = ∅, ∅, . . . , n+ 1 = 0, 1, . . . , n, . . .Alternativ könnte man die Definition

0 = ∅, 1 = ∅, 2 = ∅, . . . , n+ 1 = n, . . .machen. Keine dieser möglichen Definitionen ist aber vor irgendeineranderen zu bevorzugen. Dedekind hat aus dem Nichteindeutigkeits-problem den Ausweg benutzt, jede mögliche Folge von Elementen ineiner unendlichen Menge X mit einem Anfangselement ∗ und einerinjektiven Selbstabbildung

S : X −→ X

zur Definition einer Menge der natürlichen Zahlen zu machen durch

0 := ∗, 1 := S(∗), 2 := S(S(∗)), . . . ,um dann in einem Eindeutigkeitssatz zu zeigen, dass all diese „Avat-are” der natürlichen Zahlen isomorph zueinander sind.Bis heute ist die Mengenlehre die bevorzugte Grundlage mathemati-scher Untersuchungen und die meisten Mathematiker betrachten dieMengenlehre als die „Standardsemantik” der Mathematik. Darüberhinaus sehen sie die mathematischen Objekte (in einer platonischenWelt) genau dann als existent an, wenn sie in der Sprache der Men-genlehre definiert werden können. In der Geschichte gab es jedochauch Mathematiker und Philosophen, die die platonische Sichtweisezumindest für unendliche Mengen abgelehnt haben, darunter ganzprominent Aristoteles (im Gegensatz zu Platon) und Carl–FriedrichGauß oder Vertreter des Konstruktivismus oder des Intuitionismus.In Wirklichkeit ist alles etwas komplizierter und es gibt einen Stand-punkt, der den platonischen Realismus gar nicht benötigt und denwir in diesem Text einnehmen wollen.Die Mengenlehre ist eine axiomatisch gegebene Theorie, die selbstunterschiedliche Modelle besitzt, welche durch die Axiome nicht ein-deutig festgelegt sind. Es gibt andere fundamentale Strukturen inder Mathematik, wie die Kategorientheorie oder die Typentheorie,

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die nicht auf Mengenlehre aufbauen. Die Kategorie der Mengen oderjedes andere übergeordnete deduktive System kann im Prinzip alskategorielle Semantik dienen. Jedoch impliziert dies noch lange nichtdie Existenz von Mengen oder anderer Objekte in einem platoni-schen Sinne, wie für jedes andere abstrakte Konzept der Mathema-tik auch.127 Die Postulierung unendlicher Mengen wie N als abstrak-te syntaktische oder semantische Objekte ohne irgendeine materielleoder platonische Existenz stellt weder ein existentielles noch ein an-deres Problem dar, solange keine Widersprüche auftauchen, die vonder Verwendung solcher Objekte herrühren. Meiner Meinung nachberühren einige weit verbreitete Ansichten eher ein psychologischesProblem, bei dem Semantik mit Existenz gleichgesetzt wird. DiesesProblem hat dazu geführt, dass manche Mathematiker den Begriffder Semantik in der Mathematik gänzlich zugunsten reiner Syntaxablehnen, was aber eine überzogene Reaktion darstellt.In der mengentheoretischen „Standardsemantik” versteckt sich einzweites Problem, denn die Mengenlehre selbst ist auch eine axio-matische Theorie, die dann von sich selbst semantisch beschriebenwerden soll. Die Kontinuumshypothese ist ein wunderbares Beispieldafür, wie die Wahrheit einer Aussage wie

Es gibt eine Kardinalzahl κ mit ℵ0 < κ < 2ℵ0

von Axiomen abhängt, die in diesem Fall mit der Forcingkonstruktionzusammenhängen. Diese Schwierigkeiten hängen auch mit Benacer-rafs Dilemma zusammen, welches besagt, dass die Mathematik nichtzugleich eine gute Semantik und eine vernünftige Epistemiologie ha-ben kann. Benacerrafs Dilemma wird oft als Argument gegen denplatonischen Realismus verwendet.128

Benötigt die Mathematik eine Semantik?

Nach dieser Diskussion stellt sich die Frage, ob es überhaupt eine Se-mantik in der Mathematik geben muss. Es gibt drei fundierte Argu-mente, die für eine mathematische Semantik sprechen. Erstens gibtes – nach Resultaten von Löwenheim, Skolem und Gödel, auf die

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wir noch eingehen werden – rein syntaktische axiomatische dedukti-ve Systeme, die unterschiedliche mengentheoretische Modelle haben,zum Beispiel die Dedekind–Peano Arithmetik129 selbst. Also könnenrein syntaktische deduktive Systeme Nichteindeutigkeiten hervorru-fen, die erst in der Semantik aufgelöst werden können. Solche Proble-me können auch durch Hinzunahme endlich vieler weiterer Axiomenicht behoben werden. Zweitens können semantische Modelle zeigen,dass mathematische Theorien konsistent sind. Die Existenz von Mo-dellen der Mengenlehre setzt allerdings weitere Axiome über soge-nannte unerreichbare Kardinalzahlen voraus (siehe Kapitel 3). Drit-tens können Wahrheitstheorien, wie die von Alfred Tarski (siehe Ka-pitel 8), nur mit Hilfe von geeigneten semantischen Interpretationenfunktionieren.Sind diese drei Argument stichhaltig? Die Tarskische Semantik fürden Wahrheitsbegriff taugt nur begrenzt als Argument, denn eineInterpretation einer Syntax in einer Metasprache (oder einem ande-ren deduktiven System wie zum Beispiel der Kategorie der Mengen)ist nur eine relative Lösung der Situation, die die Probleme in dieMetasprache (bzw. in die Kategorientheorie) verschiebt. Ähnlichesgilt für die Konsistenzfrage. In einem bemerkenswerten Vortrag von2010 hat Vladimir Voevodsky die Konsistenz der Dedekind–PeanoArithmetik und damit der Mengenlehre in Zweifel gezogen. Dies pas-sierte etwa gleichzeitig als sein inzwischen verstorbener Kollege Ed-ward Nelson aus Princeton vergeblich einen Beweis der Inkonsistenzder Dedekind–Peano Arithmetik versucht hatte. Nelson hat übrigensauch eine mathematische Syntax entwickelt, um die Leibnizschen in-finitesimalen Zahlen rein syntaktisch zu beschreiben.Nelson war ein dezidierter Gegner des platonischen Realismus undder Semantik ganz allgemein. Er lehnte – ähnlich wie viele andere –auch die Existenz unendlicher Mengen als eigene Objekte ab. Manbeachte, dass der Konsistenzbeweis der Dedekind–Peano Arithmetikvon Gerhard Gentzen auf der Wohlordnung der Ordinalzahl ε0 be-ruht. Die Existenz solcher aktual–unendlicher Mengen führt zu inkon-struktiven Aussagen wie zum Beispiel Königs Lemma.130 Voevodsky

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bezweifelte die benötigten Eigenschaften von ε0 in seinem Vortragund damit die Konsistenz der Dedekind–Peano Arithmetik. Einenkonkreten Widerspruch hat aber bisher noch niemand gefunden.

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KAPITEL 8

Gödel und Tarski: Unvollständigkeit und Wahrheit

In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit der Suche nach demWahrhheitsbegriff und untersuchen, ob man den Begriff der Wahrheitfür die Mathematik und andere Wissenschaften formalisieren kann.Beweisbare Aussagen werden dabei wahre Aussagen sein, aber dieUmkehrung ist nicht immer erfüllt. Im Mittelpunkt werden die bei-den Unvollständigkeitssätze von Gödel und die Wahrheitstheorie vonTarski stehen. Als Konsequenzen ergeben sich, dass der Begriff derWahrheit mit dem Begriff der Semantik eng verbunden ist und Se-mantik mit Hilfe von Interpretationen von einer formalen Sprache ineine andere entsteht.

Die Suche nach der Wahrheit

Die Suche nach der Wahrheit ist sehr alt. In einem seiner Bücher131

hat Carlo Rovelli sehr anschaulich geschildert, wie die Entwicklungder Naturwissenschaften um 600 v. Chr. durch Anaximander vonMilet einen enormen Aufschwung nahm, weil er religiöse Annahmendurch naturwissenschaftliche Denkweisen ersetzte. Dies wurde beson-ders anschaulich dokumentiert in Anaximanders Betrachtungen derHimmelskörper. Seine logischen Argumente stützen die im Wesent-lichen kugelförmige Form der Erde und ihre frei schwebende Lageim Raum durch Beobachtungen und präzise Schlussfolgerungen. DieMathematik als Wissenschaft hatte sich schon vor dieser Zeit in baby-lonischen und sumerischen Kulturen zur Blüte entwickelt, aber auchin der Zeit von Anaximander und danach besonders in der einfluss-reichen Schule von Pythagoras.

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Rovellis Beispiel illustriert wunderbar die Kompliziertheit des Wahr-heitsbegriffs. Denn wenn man sagt, dass die Erde eine Kugel ist, so istdiese Aussage nicht wörtlich wahr, nicht einmal die Abschwächung,dass die Erde ein Ellipsoid sei. Die Pole der Erde sind nämlich ab-geflacht, aber auf unterschiedliche Weise. Wenn man noch genauerhinsieht, dann erkennt man, dass die Erde an der Oberfläche rechtunregelmäßig ist und auch im Inneren mit Materie gefüllt ist, diewir in ihrer innersten Struktur noch nicht vollständig verstehen undderen Zusammensetzung Lücken im Raum beinhaltet. Daher ist diebeste Form dieser Aussage nur, dass die Erde annähernd kugelförmigist.Auch wenn die Aussage, dass die Erde annähernd kugelförmig ist, et-was unpräzise erscheinen mag, so möchte ich sie dennoch eine „stabileWahrheit” nennen. Man könnte alternativ auch „Wahrheit im We-sentlichen” sagen. Anaximanders Argumente liefern einen strengenBeweis dafür. Diese Aussage schließt inbesondere alle Behauptungenklar aus, die die Erde als eine Scheibe bezeichnen.Ein anderes illustrierendes Beispiel ist die Aussage, dass die Artenauf der Erde in ihrer Vielfalt durch eine Form der Darwinschen Evo-lution entstanden sind. Dafür gibt es ebenfalls Beweise, auch wennwir den genauen Mechanismus am Anfang dieses Prozesse vielleichtnicht genau verstehen und die Darwinsche Theorie in der Folgezeithäufig modifiziert werden musste und in der Zukunft sich womöglichnoch ändern wird. Sie bildet - nach allem was wir derzeit wissen –ebenfalls eine stabile Wahrheit. Im Gegensatz zu gängigen Meinun-gen stellt diese Aussage übrigens keinen Widerspruch zur möglichenExistenz eines göttlichen Wesens dar.Stabile Wahrheiten sind dadurch definiert, dass sie absoluten Cha-rakter haben und einen Sachverhalt so treffend beschreiben, dass dieAussage auch bei kleinen Störungen der Situation oder Weiterent-wicklungen des Wissens erhalten bleibt. Die Existenz beweisbarer(stabiler) Wahrheiten ist – im Gegensatz zu unbelegten Behauptun-gen und Mythen – eine wichtige Voraussetzung für die Wissenschaft

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und für das Gelingen unseres Zusammenlebens. Neben den stabi-len Wahrheiten gibt es natürlich auch die „gewöhnlichen” absolutenWahrheiten, wozu ich insbesondere mathematische Sätze zählen wür-de, die aus gewissen Voraussetzungen, bezeichnet mit Γ, eine AussageA behaupten. In der Regel sind sie also von der Form

Γ ⊢ A.

Die Voraussetzungen in Γ können auch Axiome beinhalten.Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass nicht alle Philosophen in derGeschichte und besonders in der Gegenwart von solchen absolutenWahrheiten überzeugt sind, seien sie stabil oder nicht. Vielmehr be-hauptet die Strömung des Relativismus, bzw. Wahrheitsrelativismus,dass die Wahrheit in der Wissenschaft keine Letztbegründung hat.Damit schließt der Relativismus absolute stabile Wahrheiten explizitaus. In unseren Beispielen wäre die Position der Relativisten vermut-lich, dass zur Erklärung der Form der Erde oder des Verlaufs derEvolution noch mehr Annahmen, d.h. weitere Wahrheiten über diePhysik oder die Biologie, zugrunde liegen, auf die verwiesen werdenmüsste.In unserer Gesellschaft ist die Diskussion eines komplexen Sachver-haltes einer stabilen Wahrheit in der Regel schwer zu vermitteln unddaher gelangen die Erkenntnisse oft nicht in das Bewusstsein derGemeinschaft. In der Öffentlichkeit war es auch lange schwer zu ver-mitteln, dass der Wahrheitsbegriff in der Wissenschaft ständig hinter-fragt werden darf und muss, und wir der stabilen Wahrheit manchmalnur in vielen Einzelschritten näher kommen. Während der Coronakri-se wurde diese Einsicht jedoch durch geschickte Wissenschaftskom-munikation einzelner Personen zumindest in Deutschland positiv inden Fokus gerückt.

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Das Gegenteil von Wahrheit

Was ist eigentlich das Gegenteil von Wahrheit? Nun ja, Unwahrheit.Diese Antwort macht es sich aber etwas zu leicht, besonders in An-betracht der Wichtigkeit von Wahrheit. Natürlich sind alle falschenAussagen, d.h. das Gegenteil von wahren Aussagen, unwahr.Bereits Philosophen der Aufklärung wie zum Beispiel Leibniz, Hob-bes, Locke, Hume und Kant haben sich Gedanken über die Entste-hung von unwahren Aussagen gemacht und führten dies auf das Feh-len oder das Ignorieren von Beweisen und andere Fehler zurück. Leib-niz schrieb dazu:

Nachdem wir genugsam von allen den Mitteln, wel-che uns die Wahrheit erkennen oder ahnen lassen,gesprochen haben, wollen wir noch etwas von unse-ren Irrtümern und unrichtigen Urteilen sagen. DieMenschen müssen sich wohl oft irren, weil es so vieleMißhelligkeiten unter ihnen gibt. Die Ursachen da-von können auf folgende vier zurückgeführt werden:1) den Mangel an Beweisen, 2) die geringe Geschick-lichkeit, sich derselben zu bedienen, 3) den Mangelan gutem Willen, davon Gebrauch zu machen, 4)die falschen Wahrscheinlichkeitsregeln.132

Unter Wahrscheinlichkeitsregeln verstand Leibniz den Anteil von Ein-schätzung, den die Menschen in ihrem Urteil verwenden. In der Tat istder Mensch ein häufig irrational handelndes Wesen, dessen Einschät-zungen immer wieder durch falsche Vorurteile beeinflusst werden.133

Falsche Aussagen können durch Fehler entstehen, die letztlich Nach-lässigkeiten sind. Mit dem Fehler eng verwandt ist der Begriff desTrugschlusses, der eine fehlerhafte Implikation in Sinne der Logikmeint und bei der die handelnde Person sich im Recht fühlt.In der Umgangssprache und der dort verwendeten Logik werden oftTrugschlüsse gemacht. Besonders auffällig ist, dass die ImplikationA⇒ B in vielen Fällen grundlos „umgedreht” wird. Machen wir zweiBeispiele dazu und betrachten die Implikationen:

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Ich esse eine Suppe ⇒ Ich bin lebendigund

Mein Chef schätzt meine Leistungen nicht ⇒ MeinGehalt wird nicht erhöht.

In beiden Fällen sind die Implikationen ziemlich offensichtlich kor-rekt. Dies ist übrigens unabhängig davon, ob ich gerade eine Suppeesse oder der Chef meine Leistungen wirklich nicht schätzt, denn eineImplikation A⇒ B ist auch immer wahr, wenn die Aussage A falschist. Bei der ersten Implikation ist die Umkehrung

Ich bin lebendig ⇒ Ich esse eine Suppein der Regel unsinnig. Jedoch wird diese Art von Umkehrung bei derzweiten Implikation ständig angewandt, auch wenn es offenbar vieleandere Gründe geben kann, warum Gehälter nicht erhöht werden.Ein anderer Trugschluss ist die Verknüpfung von Korrelationen mitKausalitäten. Ein sehr berühmtes Beispiel dafür ist die Korrelationvon Geburtenrate und dem Vorkommen von Störchen in bestimmtenWohngebieten. Daraus die Kausalität zu schließen, dass Babys vonStörchen gebracht werden, ist offenbar unsinnig. Die Wahrheit ist,dass es andere Parameter gibt, die beides begünstigen oder verhin-dern, wie möglicherweise die ländliche oder städtische Lage.Ein über Fehler und Trugschlüsse hinaus gehender länger andauern-der Zustand ist der Irrtum – jedenfalls werden wir das in diesem Textso nennen. Dies ist ein Zustand in den Gedanken eines Menschen,bei dem er oder sie die Wahrheit gewisser Aussagen glaubt, weil dieSituation zur Zeit des Irrtums in den Gedanken des Menschen vielvermeintliche Evidenz aufweist.Selbst in einer so exakten Wissenschaft wie der Mathematik kommensolche Dinge nicht selten vor. Russells Antinomie, die in Freges Werkauftauchte kann als der fundamentale Irrtum der naiven Mengenlehrebetrachtet werden und ist einer der bedeutensten Irrtümer der Ma-thematik. Albert Einstein hat mit seinen bedeutenden Arbeiten imAnnus Mirabilis 1905 mit einigen Irrtümern der Physik aufgeräumt.

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Irrtümer in der Wissenschaft führen nach ihrer Aufdeckung in derFolge oft zu neuen Erkenntnissen. Zum Beispiel hat die RussellscheAntinomie zu den Zermelo–Fraenkel Axiomen der Mengenlehre undzur Russellschen Typentheorie geführt. Letztlich hat sie dadurch dieEntwicklung der Martin–Löf Typentheorie und ihre heutigen Vari-anten ermöglicht. Einsteins Arbeiten im Jahr 1905 waren allesamtDurchbrüche der Physik.

Vollständigkeit und Modelltheorie

Zwei Mathematiker, nämlich Leopold Löwenheim und Thoralf Sko-lem, haben im 20. Jahrhundert eine mathematische Theorie der Se-mantik begründet und haben damit die Grundlage für die Modell-theorie und die Arbeiten von Tarski und Gödel gelegt. Der Satz vonLöwenheim–Skolem ist nach diesen beiden Mathematikern benanntund wurde 1915 von Löwenheim zuerst bewiesen. Um 1920 gab Sko-lem einen weiteren allgemeineren Beweis. Die Methode von Skolembeweist dabei auch gleichzeitig den Vollständigkeitssatz von Gödel,den Gödel 1929 in seiner Dissertation bewiesen hatte. Gödel verwiesin seiner Dissertation auf den Beweis von Skolem:

Ein ähnliches Verfahren hat Th. Skolem zum Be-weise des bekannten nach ihm und Löwenheim be-nannten Satzes verwendet.134

Der Vollständigkeitssatz besagt, dass jede Aussage, die in einer axio-matischen Theorie der Prädikatenlogik erster Stufe formuliert wurdegenau dann beweisbar ist, wenn sie in jedem mengentheoretischenModell erfüllt (also wahr) ist. Dabei ist es klar, dass jede beweisbareAussage auch immer in jedem Modell erfüllt ist. Nur die Umkehrungist der schwierige Teil dieses Satzes. Man nennt ein gegebenes Mo-dell auch eine Interpretation des gegebenen deduktiven Systems. DerSatz von Löwenheim–Skolem besagt, dass die Existenz eines unend-lichen Modells einer endlich oder abzählbar axiomatisierten mathe-matischen Theorie formuliert in der Prädikatenlogik erster Stufe fürjede (unendliche) Kardinalzahl κ immer ein Modell der Mächtigkeit κimpliziert. Dieser Satz, der heute meist aus dem Vollständigkeitssatz

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als Korollar hergeleitet wird, zeigt, dass deduktive Systeme immerModelle unterschiedlicher Kardinalität besitzen und somit sind Mo-delle in der Logik erster Stufe niemals eindeutig. Dies ist ein über-aus bemerkenswertes Resultat. Es zeigt, dass deduktive Systeme einmathematisches Objekt durch die Logik erster Stufe nicht eindeutigcharakterisieren können.Der Satz impliziert viele scheinbar paradoxe Aussagen, wie zum Bei-spiel die Existenz abzählbarer Nichtstandardmodelle der reellen Zah-len und abzählbare oder überabzählbare Nichtstandardmodelle dernatürlichen Zahlen. Ein Nichtstandardmodell von N kann dabei ein-fach durch eine Art von Adjunktion konstruiert werden. Man wähltdazu ein neues Element c, das von allen natürlichen Zahlen verschie-den vorausgesetzt wird und die fordert unendlich viele Bedingungen(ausdrückbar in der Prädikatenlogik erster Stufe)

c > n für jedes n ∈ N.

Der Satz von Löwenheim–Skolem ergibt dann ein neues Modell mitmindestens einer unendlich großen Zahl c. Jedes Modell von N enthältjedoch die sogenannten „Numerale”, d.h. die „gewöhnlichen” natür-lichen Zahlen der Form n = Sn(0), die durch n–fache Anwendungdes Nachfolge–Operators S entstehen. Nur das Standardmodell derNumerale ist in allen Modellen bis auf Isomorphie eindeutig.Solche Aussagen und Konstruktionen widersprechen nicht den in denLehrbüchern vorkommenden Eindeutigkeitssätze für die natürlichenund reellen Zahlen, denn diese sind stets in der Prädikatenlogik zwei-ter Stufe formuliert. So hat Dedekind die Eindeutigkeit (bis auf Iso-morphie) der natürlichen Zahlen mit Hilfe seines Rekursionssatzes ge-zeigt. Der Satz von Löwenheim–Skolem ergibt auch abzählbare Mo-delle der reellen Zahlen. Die Überabzählbarkeit der reellen Zahlenist solchen in abzählbaren Modellen eine in gewissem Sinne korrekteAussage, die auch das Skolemparadoxon135 genannt wird.Diese beiden Sätze bilden den Beginn des Gebiets der Modelltheorieinnerhalb der Mathematik. Es untersucht, welche mengentheoreti-schen Interpretationen für axiomatische mathematische Strukturen

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existieren und was man darüber aus Kenntnis der logischen Grund-lagen aussagen kann. Zu den wichtigsten Resultaten dieses Gebietsgehört neben den erwähnten Theoremen auch der Kompaktheitssatz,der von Kurt Gödel in seinem Beweis des Vollständigkeitssatzes ge-funden wurde.Alfred Tarski gilt heute neben Kurt Gödel, Leopold Löwenheim undThoralf Skolem als Mitbegründer der Modelltheorie, da er selbst Re-sultate wie den Satz von Tarski–Seidenberg über Quantorenelimina-tion erzielt hat und seine semantische Wahrheitstheorie ist natürlicheng mit der Modelltheorie verwandt.Interessanterweise gilt Skolem auch als Vorreiter der Idee der Forcing–Methode in der Mengenlehre, die von Paul Cohen gefunden wurde.Skolem schrieb in einer Arbeit von 1922:

Es würde ja auch ein weit grösseres Interesse ha-ben, wenn man beweisen könnte, dass eine neue Un-termenge Z0 adjungiert werden könnte, ohne dassWidersprüche aufträten; dies wird wohl aber sehrschwer werden.136

In diesem Text werden wir über die mengentheoretische Semantik al-lerdings weit hinausgehen. Unsere Untersuchungen zur Typentheorieab Kapitel 9 wird uns die Welt der kategoriellen Modelle nahebrin-gen, die in vielerlei Hinsicht eine natürlichere Sichtweise darstellen.Die Kategorie der Mengen ist das kanonische Beispiel für eine Katego-rie schlechthin und die Mengenlehre wird damit zu einem Spezialfalldieser neuen Sichtweise.

Der Gödelssche Unvollständigkeitssatz

Kurt Gödel hat sich in seinem Leben auch sehr intensiv mit Leibnizund der Idee der Scientia Generalis beschäftigt. Er steigerte sich der-art in die Lektüre hinein, dass er zeitweise sogar der Meinung war,dass die Editionen Leibnizscher Werke bewusst diese entscheidendenIdeen in der Veröffentlichung zurückhalten würden.

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Gödel revolutionierte die mathematische Logik um 1930 bereits in sei-ner Dissertation (unter Hans Hahn) mit dem Beweis des Vollständig-keitssatzes. Dieser besagt, dass beweisbare Aussagen in erster Stufegenau die Tautologien sind, d.h. die in allen Modellen wahren Aus-sagen. Dies ist eine Aussage zur Semantik der logischen Aussagen.Es gelang ihm wenig später, innerhalb einer (konsistenten) axiomati-schen Theorie, die mindestens so ausdrucksstark ist wie die Dedekind–Peano Arithmetik, eine selbst–referentielle, formal–sprachliche Aus-sage (Gödelaussage) Q zu bilden, die von der Form

Ich bin nicht beweisbarist und damit ähnlich zum Lügnerparadoxon ist. Dazu benutzte erseine Methode der Gödelisierung von Formeln der Dedekind–PeanoArithmetik mit Hilfe von elementarer Zahlentheorie. Es gibt viele ver-schiedene Möglichkeiten, Gödelnummern von Zeichenfolgen zu defi-nieren. So kann man zum Beispiel die Folge der Primzahlen

p1 = 2, p2 = 3, p3 = 5, . . .

benutzen und die betrachteten Zeichen mit natürlichen Zahlen kodie-ren, beispielsweise durch

A→ 1, B → 2, C → 3, . . . , H → 8, . . .

und dann ein Wort wie BACH mit der Gödelnummer

22 · 31 · 53 · 78 = 8647201500

versehen. Solche Nummerierungen von Ausdrücken in formalen Spra-chen kommen bereits bei Leibniz vor. Die Gödelnummer einer FormelA wird oft mit pQq bezeichnet.Die eindeutige Primfaktorzerlegung von ganzen Zahlen macht es dannmöglich, aus der Gödelnummer 8647201500, die Zeichenfolge BACHwieder zu rekonstruieren. Zusätzlich musste er zeigen, dass Opera-tionen im deduktiven System der Dedekind–Peano Arithmetik (wiezum Beispiel Beweise) berechenbaren Funktionen der Gödelnummernentsprechen. Diese Art von Nummerierung erlaubte es Gödel, mitHilfe eines sogenannten Diagonallemmas eine neue geschlossene For-mel Q zu bilden, die der Gödelaussage auf eine syntaktische Weise

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entspricht, im Gegensatz zum semantischen Problem des Lügnerpa-radoxons.Das Diagonallemma von Gödel besagt, dass jede Formel P = P (x)mit genau einer freien Variable x in einer axiomatischen Theorie in-nerhalb der Prädikatenlogik erster Stufe, die rekursive Funktionenbeschreiben kann, eine Aussage Q als Fixpunkt besitzt, für die diefolgende Äquivalenz beweisbar ist:

Q⇔ P (pQq).

Der Beweis des Diagonallemmas benutzt, dass die Funktion f mitder Eigenschaft

f(pϕq) = pϕ(pϕq)q

berechenbar ist und damit eine Darstellung als zweistelliges Prädikatin der Theorie besitzt.Für die Formel P benutzt man die Eigenschaft der Nichtbeweisbarkeit

P = ¬Bew,d.h. P (n) ist genau dann 1, falls n die Gödelnummer einer beweisba-ren Formel ist. Die Eigenschaft P (pQq) = 0 ist daher gleichbedeutenddamit, dass Q nicht beweisbar ist.Einen kürzeren Beweis dieses Satzes hat Raymond Smullyan gefun-den. Er konstruierte dazu ein minimale logische Sprache, in der dieselbstbezügliche Gödelformel Q formuliert werden kann.137

Mit dieser Methode zeigte Gödel die Existenz weder beweisbarer nochwiderlegbarer Aussagen in formalen Sprachen, die die Dedekind–Peano Arithmetik umfassen – der sogenannte erste Unvollständig-keitssatz.138

Soweit haben wir uns nur die syntaktischen Aspekte des Unvollstän-digkeitssatzes angesehen. Es gibt aber auch einen semantischen Blickdarauf. Wenn man ein mengentheoretisches oder kategorielles konsis-tentes Modell der betrachteten formalen Sprache benutzt, so könnendarin die natürlichen Zahlen im Standardmodell der Numerale vor-liegen oder in einem Nichtstandardmodell. Die semantische Versiondes ersten Unvollständigkeitssatzes besagt dann, dass die Formel Q

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in denjenigen Modellen wahr ist, für die natürlichen Zahlen im Stan-dardmodell vorliegen. In diesen Fällen ist Q also wahr, aber gleich-zeitig weder beweisbar noch widerlegbar.Die Aussage Q kann auch durch einen konkreten mathematischenSatz ersetzt werden. Ein schönes Beispiel dafür, welches später ge-funden wurde, ist der Satz von Goodstein, der im Standardmodellder natürlichen Zahlen gilt und mittels transfiniter Induktion bewie-sen werden kann. In den Nichtstandardmodellen sind solche Sätzeaber nicht mehr gültig wegen des Gödelschen Vollständigkeitssatzes.Die Begriffe Wahrheit und Beweisbarkeit sind also im Allgemeinenganz verschieden!Der zweite Unvollständigkeitssatz sagt aus, dass der Beweis der Kon-sistenz (d.h. der Widerspruchsfreiheit) mathematischer Theorien, diedie Dedekind–Peano Arithmetik enthalten, nicht innerhalb derselbenmöglich ist. Wir haben bereits erwähnt, dass starke Versionen desplatonischen Realismus die Existenz der mathematischen Objekte alsMengen behaupten, was die Konsistenz der Mengenlehre und damitauch der Arithmetik beweist. Wenn man dies nicht akzeptiert, dannmuss man Konsistenzbeweise mittels „höherer” Methoden durchfüh-ren, wie es Gerhard Gentzen ab 1940 mit Hilfe von transfiniter In-duktion für die Dedekind–Peano Arithmetik gemacht hat.Die Widerspruchsfreiheit der Zermelo–Fraenkel Mengenlehre ist alsoebensowenig bewiesen wie die Widerspruchsfreiheit der Dedekind–Peano Arithmetik. Auch der erste Gödelsche Unvollständigkeitssatzlässt sich auf die Mengenlehre anwenden, da man die Dedekind–PeanoArithmetik innerhalb der Mengenlehre realisieren kann.Per Martin–Löf hat die Unvollständigkeit mit den Kantschen synthe-tischen Urteilen und die Vollständigkeit mit den Kantschen analyti-schen Urteilen in Verbindung gebracht.139 Die Unvollständigkeit ent-spricht als gewissermaßen der in einem synthetischen Begriff fehlen-den Information, die analytisch nicht gewonnen werden kann. Gödelhatte eine ähnliche Einstellung: Durch Hinzunahme weiterer Axiomewird die Unvollständigkeit teilweise aufgehoben, weil neue Aussagen

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abgeleitet werden können, mit dem Preis weiterer neuer Unvollstän-digkeit.Die Unvollständigkeitssätze von Gödel kann man benutzen, um zuuntersuchen, ob das menschliche Denken einem Computer, d.h. eineruniversellen Turingmaschine überlegen ist oder nicht. Diese Fragestellte sich bereits Alan Turing, ohne allerdings eine Antwort zu fin-den. Er formulierte den Turingtest, ein hypothetisches Experiment,bei dem mit Hilfe von gezielten Fragen unterschieden werden soll, obein Gegenüber ein Mensch oder ein Computer ist.140

Mit Hilfe der Gödelschen Unvollständigkeitssätze hat John RandolphLucas 1961 ein Argument gefunden, das zeigen soll, dass das mensch-liche Denken tatsächlich jedem Computer überlegen ist. Nehmen wiran, dass dies nicht der Fall ist, d.h. das Gehirn eine universelle Tu-ringmaschine ist. Dann benutzt Lucas die formale mathematischeTheorie, die durch die Berechnungen dieser universellen Turingma-schine erzeugt wird. Offenbar umfasst diese Theorie die Arithmetik,da der Mensch rechnen kann. Man muss auch die zweifelhafte An-nahme machen, dass das menschliche Denken konsistent ist. DieserTheorie entspricht eine korrespondierende Gödelaussage, die die Tu-ringmaschine, die dem menschlichen Gehirn entspricht, nicht als wahrerkennen kann, der Mensch aber schon, weil er die Gödelsche Theoriekennt und weiß, dass die Gödelaussage wahr ist. Dieser Widerspruchbeweist die Behauptung von Lucas. Auch wenn man der universel-len Turingmaschine die Unvollständigkeitssätze zur Verfügung stellt,so dass sie diese endlich oft anwenden kann, so ist nach Lucas dasArgument immer noch gültig.141

Im Nachlass von Gödel hat man dazu passend einen unveröffentlich-ten Artikel von 1951 gefunden, in dem er schrieb:

Either mathematics is incompletable in this sense,that its evident axioms can never be comprised in afinite rule, that is to say, the human mind (even wi-thin the realm of pure mathematics) infinitely sur-passes the powers of any finite machine, or else there

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exist absolutely unsolvable diophantine problems ofthe type specified.142

Man kann an diesem Argument kritisieren, dass die Gödelaussage, diedem menschlichen Gehirn entspricht, so kompliziert ist, dass sie auchdem Menschen selbst gar nicht zur Verfügung steht. Dies zerstört imPrinzip das Argument.Roger Penrose hat Varianten des Arguments von Lucas publiziert143

und zudem behauptet, dass das menschliche Gehirn auch Quanten-physik benutzt, um das Phänomen des Bewusstseins zu erzeugen.Einige Mathematiker und auch Neurowissenschaftler haben versucht,diese Behauptungen zu widerlegen. Das Argument von Penrose un-terscheidet sich nur leicht vom Lucasschen Beweis. Auch John Searlehat mit seinem Gedankenexperiment des Chinesischen Raums ein Ar-gument gefunden, um die Überlegenheit des menschlichen Denkensgegenüber jeglichen Maschinen zu zeigen.144 Alle diese Argumentesind ziemlich umstritten und greifen die populäre neurowissenschaft-liche Theorie an, die „Computational theory of the mind” genanntwird.Die Gödelschen Unvollständigkeitssätze gelten auch in einer intui-tionistischen Version, d.h. auch der intuitionistische Wahrheitsbegriffunterscheidet sich vom Beweis– oder Berechenbarkeitsbegriff.

Die Wahrheitstheorie von Alfred Tarski

In diesem Abschnitt wollen wir den Wahrheitsbegriff weiter untersu-chen. Alfred Tarski war der erste, der eine formal korrekte Wahr-heitsdefinition geben konnte. Vom heutigen Standpunkt aus kannman sagen, dass Tarski viele neuere Wahrheitstheorien beeinflussthat, neben den Theorien von Kripke insbesondere die axiomatischen,syntaktischen, deflationären, disquotationalen oder minimalistischenWahrheitstheorien.145

Tarski wollte eine Wahrheitstheorie schaffen, die die aristotelischeKorrespondenztheorie weiterentwickelt und präzisiert. In einer be-rühmten Arbeit von 1933 schrieb er selbst:

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Vorliegende Arbeit ist fast gänzlich einem einzigenProblem gewidmet, nämlich dem der Definition derWahrheit; sein Wesen besteht darin, dass man – imHinblick auf diese oder jene Sprache – eine sachlichzutreffende und formal korrekte Definition des Ter-minus „wahre Aussage” zu konstruieren hat. DiesesProblem, welches zu den klassischen Fragen der Phi-losophie gezählt wird, verursacht bedeutende Schwie-rigkeiten. Obgleich nämlich die Bedeutung des Ter-minus „wahre Aussage” in der Umgangssprache rechtklar und verständlich zu sein scheint, sind alle Ver-suche einer genaueren Präzisierung dieser Bedeu-tung bis nun erfolglos geblieben und manche Unter-suchungen, in welchen dieser Terminus verwendetwurde und welche von scheinbar evidenten Prämis-sen ausgingen, haben oft zu Paradoxien und Anti-nomien geführt (für welche sich übrigens eine mehroder weniger befriedigende Lösung finden liess). DerBegriff der Wahrheit teilt in dieser Hinsicht das Schick-sal anderer analoger Begriffe aus dem Gebiet dersog. Semantik der Sprache.146

Tarski gelang dies im Kontext von Sprachen, die er „ärmere” Sprachennannte. Zu diesen gehören insbesondere die formalen Sprachen derLogik und der Mathematik. Er schrieb dazu:

Im weiteren Verlaufe der Abhandlung werde ich aus-schließlich die einzigen nach wissenschaftlichen Me-thoden aufgebauten in Betracht ziehen, welche heu-te bekannt sind, d.i. die formalisierten Sprachen derdeduktiven Wissenschaften; ihre Charakterisierungwird am Anfange des §2 gegeben ... In Bezug aufdie „ärmeren” Sprachen findet das Problem der De-finition der Wahrheit eine positive Lösung.147

Sein Hauptresultat formulierte Tarski in dieser Arbeit wie folgt:

146

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Für jede formalisierte Sprache endlicher Ordnungkönnen wir in der Metasprache eine formal korrek-te und sachlich zutreffende Definition der wahrenAussage konstruieren, indem wir ausschließlich Aus-drücke von allgemein–logischem Charakter verwen-den, ferner Ausdrücke der Sprache selbst, sowie Ter-mini aus dem Gebiete der Morphologie der Spra-che, d.h. die Namen der Sprachausdrücke und derzwischen ihnen bestehenden strukturellen Relatio-nen.148

In den von ihm so genannten „reicheren” Sprachen, zu denen manauch die natürlichen Sprachen zählen könnte, kann man diese Kon-struktion nicht direkt anwenden. Tarskis Methode kann man auchso interpretieren, dass er für bestimmte „ärmere” Sprachen eine Se-mantik mittels einer Metasprache konstruierte, die die Wahrheit vonAussagen beschreibt. Bei den formalen Sprachen der Mathematik, dieauf der Logik aufbauen, ist die Metasprache meist durch die „Stan-dardsemantik” der Mengenlehre gegeben.Ganz konkret verwendete Tarski für seine Wahrheitstheorie eine for-male Sprache L1 (eine „ärmere” Sprache) und eine zweite sogenannteMetasprache L2, die L1 enthält. Er benutzte für seine neue Theorieein Wahrheitsprädikat T (das T steht für True oder für Tarski), mitdem die Wahrheit von Aussagen aus L1 innerhalb von L2 überprüftwerden kann. Es gibt dafür das berühmte Beispiel von Tarski für seinWahrheitskriterium:

Der Satz „Schnee ist weiß” ist wahr ⇔ Schnee istweiß.

Diese Äquivalenz wird in der Literatur auch Tarskisches Bikonditio-nal genannt. Hierbei ist der linke Satz in Anführungsstrichen eineatomare Aussage der formalen Sprache L1 und sie ist genau dannwahr, wenn dies innerhalb der Metasprache L2 nachgewiesen werdenkann, d.h. wenn jemand z.B. mit einem physikalischen Argument wieeiner Spektralanalyse argumentiert und damit nachweisen kann, dassdie Farbe des Schnees tatsächlich weiß ist.

147

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Die Wahrheit nichtatomarer Aussagen, die durch logische Zeichenwie UND oder ODER verknüpft sind, wird bei Tarski mittels Induk-tion über die Länge der Komposition der darin enthaltenen atomarenAussagen festgestellt. Eine Schwierigkeit ergab sich aber bei Aussa-gen der Form

∃x P (x) oder ∀x P (x),

denn diese Art von Aussagen lassen sich nicht weiter zerlegen in Teile,bei denen man Wahrheit überprüfen kann, da die Formel P (x) miteiner Variablen x für sich genommen weder wahr noch falsch ist.Tarski hat daher mit dem Begriff der Erfüllbarkeit von Aussagen stattmit dem Wahrheitsbegriff gearbeitet. Eine andere Möglichkeit, diesesProblem zu umgehen, ist die Methode der Quantorenelimination, dieebenfalls auf Tarski zurückgeht.149 Mit solchen Methoden gelang esTarski, den Begriff Wahrheit zu definieren.Wenn man mathematisch Theorien wie die Dedekind–Peano Arith-metik betrachtet und sich an die Gödelnummern erinnert, so kannman arithmetische Aussagen ϕ auch dadurch als wahr charakterisie-ren, indem man T als Funktion der Gödelnummer interpretiert:

ϕ ist wahr ⇔ T (pϕq) = 0.

Tarski betrachtete etwas allgemeiner endliche oder unendliche Hier-archien von formalen Sprachen

L1 ⊂ L2 ⊂ · · · ,so dass Li jeweils ein Wahrheitsprädikat in Li+1 besitzt. Diese Me-thode ist nützlich, um viele „etwas reichere” Sprachen zu erreichen.Ein anderer Satz von Tarski, der auch Gödel bekannt war, besagt,dass die Teilmenge der natürlichen Zahlen, die aus den Gödelnum-mern wahrer Aussagen in der formalen Sprache der Dedekind–PeanoArithmetik besteht, nicht arithmetisch ist, d.h. das Tarskische Wahr-heitsprädikat T ist innerhalb der Dedekind–Peano Arithmetik nichtdefinierbar. Insbesondere ist die Menge der wahren arithmetischenSätze nicht rekursiv aufzählbar. Diesen Satz bezeichnet man oft als„Undefinierbarkeit” der Wahrheit. Man beachte, dass dieser Satz nichtim Widerspruch zu Tarskis Wahrheitsdefinition ist, aber er besagt,

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dass man in der Tat echt reichhaltigere Sprachen benötigt, um einWahrheitsprädikat zu definieren. Um diesen Satz zu beweisen, nimmtman an, dass Wahrheitsbegriff durch eine einstellige Formel Wahr ge-geben ist und wendet das Gödelsche Diagonallemma wie im Beweisdes ersten Gödelschen Unvollständigkeitssatzes auf die Formel

¬Wahr = „Ich bin nicht wahr”

an. Der Fixpunkt ergibt dann einen Widerspruch.150

Aus dem korrekten mathematischen Beweis von Tarskis Satz folgt,dass die Menge der Gödelnummern von beweisbaren arithmetischenFormeln nicht mit der Menge der Gödelnummern von wahren Formelübereinstimmt, woraus eine Variante des ersten Gödelschen Unvoll-ständigkeitssatzes folgt.151

Wahrheitstheorie der Modallogik und der intuitionistischenLogik

Einen Begriff einer Semantik gibt es auch für die intuitionistischeLogik. Zum Beispiel hat Alfred Tarski eine Interpretation der intui-tionistischen Logik in topologischen Räumen betrachtet, so dass einelogische Aussage genau dann wahr ist, wenn die Interpretation in al-len topologischen Räumen erfüllt ist. Diese Interpretation von Tarskibenutzt die Heyting Algebra Off(X) der offenen Mengen auf einemtopologischen Raum X. Eine Heyting Algebra ist eine Verallgemei-nerung einer Booleschen Algebra, die auch die Operationen ∧,∨,⇒und ¬ besitzt, für die aber die Negation ¬ nicht den Satz vom aus-geschlossenen Dritten erfüllt.152 Im Fall der Heyting Algebra Off(X)ist der Negationsoperator ¬U angewandt auf eine offene Menge Udurch den offenen Kern (X \U) der Komplementmenge von U in Xgegeben. Daher ist in diesem Beispiel die doppelte Negation ¬¬U inder Regel nicht wieder U selbst.Noch allgemeiner als die intuitionistische Logik ist die Modallogik.Diese ist sehr alt und hängt mit der Theorie der möglichen Wel-ten von Leibniz zusammen. Die möglichen Welten bilden sogenannte

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„Possibilia”, d.h. mögliche semantische Realisierungen, die einer Theo-rie in ähnlicher Form wie Modelle zukommen können. Die zugehörigeLogik, die Modallogik war in Teilen schon vor Leibniz bekannt, zumBeispiel bei Jean Buridan, einem mittelalterlichen Philosophen.Die Modallogik enthält neben den beiden üblichen Wahrheitswertenwahr und falsch auch die möglichen und notwendigen Aussagen kennt,in Zeichen:

♦p : Es ist möglich dass p,

p : Es ist notwendig, dass p.

Ruth Barcan, verheiratete Ruth Marcus, legte in ihrer Doktorarbeitvon 1946 die Grundlagen der modalen Prädikatenlogik dar, aufbau-end auf dem modallogischen Kalkül von Clarence Irving Lewis.153

Dabei bewies (bzw. postulierte) sie Formeln, die heute als BarcanscheFormeln bekannt sind:

♦∃xFx⇒ ∃x♦Fx

und∀xFx⇒ ∀xFx,

von denen die zweite Formel etwas mehr Akzeptanz besitzt als dieerste, da die erste eine Existenzaussage in der wirklichen Welt impli-ziert für alle Objekte, auf die man die Formel anwenden kann. DerLeser möge sich selbst ein gutes Beispiel dafür überlegen.Daneben existieren auch die beiden sogenannten Buridanschen For-meln

♦∀xFx⇒ ∀x♦Fx

und∀x♦Fx⇒ ♦∀xFx.

Saul Kripke bewies im Alter von 18 Jahren einen Vollständigkeitssatzfür die Modallogik vor.154 Ihm gelang es auch, die Wahrheitsprä-dikate in Tarskischen Hierarchien von formalen Sprachen besser zuuniformisieren, so dass der Wahrheitsbegriff nicht von der Stufe derformalen Sprache in der Hierarchie abhängt, und er untersuchte denGrenzwert.155 Neben Evert Willem Beth und Andrzej Grzegorczyk

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führte er 1963 auch eine Semantik für die Modallogik ein, die die Se-mantik der klassischen und intuitionistischen Logik verallgemeinert.Diese sogenannte Kripke–Semantik verallgemeinert Tarskis Theorieder Semantik. Darin gibt es auch Aussagen, die kontingent genanntwerden, weil sie möglich, aber nicht notwendig sind. Die möglichensemantischen Realisierungen hängen – wie bereits erwähnt – mit derTheorie möglicher Welten von Leibniz zusammen.Diese beiden Arten von Interpretationen wurden später von SaulKripke, André Joyal und vielen anderen weiterentwickelt und führ-ten in der Folge zum Begriff einer kategoriellen Semantik, welchedie Typentheorie (auch Logik höherer Ordnung genannt) mit Ka-tegorientheorie in Verbindung bringt. Wir werden diese sogenannteKripke–Joyal Semantik in Kapitel 9 noch besser kennenlernen.Um Saul Kripke und Ruth Barcan gab es einen lange währenden undbis heute nicht endgültig geklärten Prioritätenstreit um die Einfüh-rung einiger Begriffe in die Philosophie, inbesondere über die Ideen,die der Namenstheorie zugrundliegen, wie sie in dem berühmten Buch„Naming and Necessity” von Saul Kripke behandelt werden.156

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KAPITEL 9

Typentheorie und ihre Semantik

Bertrand Russell hat ab 1902 nach seiner Entdeckung der Russell-schen Antinomie versucht, durch eine Typentheorie die Antinomiender naiven Mengenlehre zu vermeiden. Diese Ideen gingen in das Buch„Principia Mathematica” zusammen mit Alfred Whitehead ein. DieseTheorie war jedoch kompliziert und setzte sich zunächst nicht durch,zumal auch das Ansinnen, damit eine Begründung des Logizismus zuliefern, aus dem Grunde scheiterte, dass die unendliche Menge dernatürlichen Zahlen als existent und unendlich angenommen werdenmusste. Leon Chwistek und Frank P. Ramsey machten einen Versuch,einige dieser Probleme zu beheben und schufen die „Simple Theory ofTypes”. Jedoch machte erst ein Artikel von Alonzo Church157 diesenAnsatz wirklich populär.Die „Simple Theory of Types” wurde in den folgenden Jahrzehntenzu einer Typentheorie mit abhängigen Typen weiterentwickelt undhat dadurch den Status einer potenziellen Grundlage der Mathema-tik erreicht. Dazu hat insbesondere Per Martin–Löf beigetragen. Inder Folge wurde die Theorie von Martin–Löf noch zur HomotopyType Theory von Vladimir Voevodsky et al. erweitert, die nebenallgemeineren neuen Typkonstruktionen der Typentheorie eine to-pologische Semantik verleiht, als ob Typen topologischen Räumenentsprechen würden. Dies führt zu einer sehr anschaulichen Beschrei-bung der Typentheorie und gleichzeitig zu vielerlei Inspiration fürdie Weiterentwicklung der Typentheorie. Eine andere Konsequenzder Martin–Löfschen Typentheorie ist die Möglichkeit, maschinelleund verifizierbare Beweise mathematischer Sätze zu generieren. Dies

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eröffnet interessante Zukunftsperspektiven für die Mathematik undihre Anwendungen.

Martin–Löf Typentheorie

Per Martin–Löf hat die „Simple Theory of Types” ab etwa 1971 wei-terentwickelt und die sogenannte intuitionistische abhängige Typen-theorie als äquivalente Grundlage der Mathematik neben der Men-genlehre und der Kategorientheorie aufgebaut. Nachdem die erste im-prädikative Version von 1971 noch unter einem Paradoxon litt, dasvon Jean–Yves Girard gefunden wurde, entwickelte Martin–Löf auchprädikative 158 Versionen. Anfängliche Versionen waren extensional159

formuliert und dadurch war der Identitätsbegriff sehr eng gefasst. Dieintensionale Version mit dem philosophisch wichtigen (und nichttri-vialen) Begriff des Identitätstyps ist jedoch viel interessanter. PerMartin–Löf hat auch philosophische Arbeiten geschrieben, in denener zum Beispiel die Kantsche Theorie der synthetischen Urteile mitGödels Unvollständigkeitssätzen in Verbindung brachte.160

Wie wir bereits gesehen haben, hat die Mengenlehre einige schlech-te Eigenschaften. Insbesondere verhalten sich die drei intensionalenmengentheoretischen Beziehungen A ⊆ B, A∩B und A∪B nicht gutunter Isomorphie. Sie sind in der Typentheorie in dieser Form nichtvorhanden. Typen in der Typentheorie sind somit anders gearteteAnsammlungen von Elementen als Mengen.Wie sieht die grundlegende Notation der Typentheorie aus? Ist Aein Typ und „bewohnt” durch ein a, so schreibt man a : A und willdamit sagen, dass a dem Typ A angehört. Im Gegensatz zur Men-genlehre kann ein Bewohner a nur einem Typ angehören, d.h. jedes ahat einen festen Typ. Ähnlich wie in der Mengenlehre gibt es grund-legende Typen, wie zum Beispiel den Typ 0 (leerer Typ), der keineBewohner besitzt, oder den Typ 1 (einelementiger Typ), der aus ei-nem Bewohner besteht, sowie den Typ der klassischen Wahrheitswer-te Boolean = wahr, falsch.

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Aus gegebenen Typen kann man folgende neue Typen machen. Dagibt es zunächst (für je zwei Typen A,B) den Abbildungstyp

A −→ B,

der aus „Abbildungen” f : A −→ B besteht. Dies ist ein sogenann-ter primitiver Typ, der von der betrachteten Typentheorie abhängt.Primitive Typen kann man nicht innerhalb der Theorie definieren,sondern sind durch diese vorgegeben.Jede solche Abbildung f beinhaltet auf gewisse Weise eine Vorschrift,mit der man für gegebenes a : A ein f(a) : B erhalten kann. Inder intuitionistischen Version der Typentheorie erwartet man, dassdiese Vorschrift immer konstruktiv gegeben ist. Man kann in der Tatzeigen, dass f im Fall A = B = N eine berechenbare Funktion ist.161

Wie in der Mengenlehre hat man auch den Typ des (binären) Pro-duktes

A× B

und die (binäre) SummeA +B.

Im ersteren Fall sind die Elemente durch Paare (a, b) mit a : A undb : B gegeben, im zweiten Fall erfüllt ein Element c : A+B entwederc : A oder c : B.Binäres Produkt und binäre Summe lassen sich wesentlich verallge-meinern, was zum Begriff der abhängigen Typen führt. Das binäreProdukt verallgemeinert sich zum Produkt

x:A

B(x).

Dabei ist B(x) ein sogenannter abhängiger Typ, der von x : A ab-hängt. Dies nennt man auch eine Familie von Typen und sie ent-spricht einer Abbildung F : B −→ A mit den Typen B(x) als Fasern.Ein Element im Produkt Πx:AB(x) interpretiert man als Abbildungs, die jedem x : A ein s(x) : B(x) zuordnet. Die Abbildung s istalso ein Schnitt gegen die Abbildung F : B −→ A. Somit sind dieBewohner des Typs Πx:AB(x) die Schnitte der Abbildung F .

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Abhängiger Typ (Faser) B(x) für drei Werte von x : A.

Die binäre Summe verallgemeinert sich zur direkten Summe∑

x:A

B(x)

Elemente darin sind einzelne Paare (x, y) mit y : B(x) für ein x : A.Die binären Typen sind jeweils Spezialfälle der allgemeineren Typenim Fall von Familien über dem Booleschen Typ.Der Identitätstyp

IdA(a, b)

ist ebenfalls ein primitiver Typ wie der Abbildungstyp. Falls er von ei-nem Element p „bewohnt” wird, drückt p eine „propositionelle Gleich-heit” oder „Identität” a = b aus, im Gegensatz zur definitorischenGleichheit. Wir schreiben die Begriffe „propositionelle Gleichheit”und „Identität” dabei in Anführungszeichen, da die Bewohner die-ses Typs von der Typentheorie abhängen, also intensional sind undes mit anderen Worten keine allgemeingültige Definition für proposi-tionelle Gleichheit gibt. Man schreibt einfach a = b oder

isidA(a, b),

wenn der Typ IdA(a, b) bewohnt ist. Der Typ IdA(a, a) ist immerbewohnt. Der Identitätstyp IdA ohne vorgegebenes Paar (a, b) kann

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als abhängiger Typ

IdA =∏

(a,b):A×A

IdA(a, b) −→ A×A

aufgefasst werden und wird auch Pfadraum von A genannt. Er istein Beispiel für das Konzept eines sogenannten Polymorphismus dertheoretischen Informatik, denn dieser Typ hängt zwar vom Typ Aab, tut dies aber auf universelle Weise.Wir werden nun einige wichtige Beispiele für sogenannte „induktive”Typen geben, die in anderer Form bereits in vorangegangenen Kapi-teln vorkamen, und die gewissermaßen aus der „puren Logik” geborensind und durch ihre Rechenregeln bzw. universellen Eigenschaftendeterminiert werden. Induktive Typen werden in verallgemeinerterForm manchmal auch als W–Typen bezeichnet.Beginnen wir mit dem Typ der natürlichen Zahlen N. Dies ist einrekursiver Typ gegeben durch den Konstruktor

N :=

0 : N,

S : N −→ N (Nachfolgerabbildung).

Ähnlich wie bei Dedekind wird also bei diesem Typ nur das An-fangselement 0 und die Nachfolgerabbildung S vorgegeben und dieExistenz von N als unendliches Objekt wird dadurch postuliert. Dienatürlichen Zahlen werden dann durch die unendliche Folge

0, 1 = S(0), 2 = S(S(0)), . . .

gegeben. Ein weiteres Beispiel ist der „Kreis” S1, den man durch

S1 :=

0 : S1 (Basispunkt),loop : IdS1(0, 0) (Schleifenerzeuger),

d.h. durch Postulation eines Basispunkts und eines neuen Pfades(„Schleife”), der den Kreis definiert, einführt. Man beachte, dass die-ser „Kreis” nur einen Punkt 0 enthält. In ähnlicher Weise kann man

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das „Intervall” I definieren durch

I :=

0, 1 : I (Anfangs- und Endpunkt),path : IdI(0, 1).

Man beachte, dass man das Intervall aus der Existenz primitiver Ob-jekte wie Pfade folgert und nicht umgekehrt, wie in der Topologie,wo zuerst das Intervall da ist und Pfade als Abbildungen auf demIntervall definiert werden.Die Existenz dieser drei Typen N, S1 und I wird durch ihre Definiti-on nicht garantiert, sondern sie sind „freie” induktive Konstruktionen,deren Existenz man postuliert. Man muss dazusagen, dass der Begriffder Existenz für eine einzelne Typentheorie eigentlich gegenstandslosist. Dagegen ist die Konsistenz, d.h. die Widerspruchsfreiheit, solcherdeduktiven Systeme die entscheidende Frage. In semantischen Mo-dellen muss man die Existenz der konstruierten Typen in allen dreiFällen hingegen zeigen und stößt dort gegebenenfalls auf Bedingun-gen, wie zum Beispiel auf die Existenz unendlicher Mengen.Man beachte, dass die Konstruktoren induktiver Typen selbst eine of-fensichtliche Einfachheit und damit eine Eindeutigkeit besitzen. Bei-spielsweise stimmt der Konstruktor für N im Wesentlichen mit De-dekinds Definition der natürlichen Zahlen überein. Dies kann manals eine partielle Lösung des Nichteindeutigkeitsproblems sehen undes käme daher dem platonischen Realismus entgegen, wenn nicht dieExistenzfrage so unbedeutend wäre.

Typentheorie als deduktives System

Auch in der Typentheorie kann man Urteile fällen. Als Grundlagedient ein sogenannter Kontext Γ, der aus einer Reihe von Termen

x0 : A0, x1 : A1(x0), . . . , xn : An(x0, . . . , xn−1).

Dabei sind die Ai abhängige Typen und die xi Variablen, die für Ter-me stehen, die man einsetzen kann. Diese Sequenz bildet somit dieAusgangssituation, um das Urteil zu fällen. Die Kontexte einer Ty-pentheorie bilden eine Kategorie, die sogenannte syntaktische oder

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klassifizierende Kategorie, die einer abhängigen Typentheorie auf na-türliche Weise zugeordnet ist. Ihre Morphismen entstehen aus nahe-liegenden Zuordnungen zwischen Kontexten, die auf Pfeile zwischenTypen zurückgehen.162

Die Urteile in einer Typentheorie sind bei Verwendungen von Kon-texten von der Form

Γ ⊢A TypΓ ⊢A = B

Γ ⊢a : A

Γ ⊢a = b : A.

Typentheorie kann als deduktives System aufgefasst werden, wennman geeignete Schlussregeln zugrundelegt.163 Ein Beispiel ist die Re-gel von Martin–Löf, auch Pfadinduktion genannt, die eine Variantedes Leibnizschen Invarianzregel darstellt. Für jede Eigenschaft R(a, b)von Typen a, b : X gilt nach dieser Regel:

a = b R(x, x)

R(a, b).

Hierbei ist R eine zulässige Relation, d.h. ein von zwei Variablenabhängiger Typ, der Boolesche Werte annimmt. Die Gültigkeit vonR(a, b) bedeutet hier, dass ein Beweis für die Gültigkeit von R(a, b)existiert.164

Wir wollen eine kleine Anwendung der Leibnizschen Invarianzregelgeben, die zeigt, dass die Regel nichttriviale Implikationen hat. Sieimpliziert nämlich, dass die propositionelle Gleichheit die schwächsteGleichheitsrelation ist, die alle Strukturen in einer gegebenen Ty-pentheorie erhält. Der Beweis ist wie folgt. Angenommen a ∼ b isteine weitere Äquivalenzrelation der Gleichheit. Wir benutzen danndie Relation

R(x, y) = isidA(x, y) = (x = y).

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Nun gilt immer auch x = x, d.h. R(x, x) für alle x : A. Also impliziertdie Leibnizsche Invarianzregel für diese Relation R letztlich

a ∼ b

a = b,

woraus die Behauptung folgt.Die Typentheorie wird oft auch als Logik höherer Stufe bezeichnetund verallgemeinert damit die Logik erster, zweiter, dritter Stufe usw.In der Logik zweiter Stufe können die Quantoren im Gegensatz zurLogik erster Stufe über beliebige Teilmengen von Individuenbereichenvariieren, d.h. über Prädikatenvariablen ϕ, die solche Teilmengen Adurch die Formel

A = x | ϕ(x)beschreiben, wobei die Variable x einem Individuenbereich angehört.Die Logiken dritter und höherer Stufe verallgemeinern dies zu allge-meineren Iterationen solcher Situationen.165 Wir gehen darauf nichtim Detail ein, aber diese Art von mathematischer Logik ist in der in-tuitionistischen Variante der Typentheorie durch die Curry–HowardKorrespondenz eingebaut. Bei dieser werden logische Aussagen durchTypenkonstruktionen interpretiert.

Typen 0 1 A+B A×B A→ B∑

a:AB(a)∏

a:A B(a)Logik ⊥ ⊤ A ∨B A ∧ B A⇒ B ∃a:AB(a) ∀a:AB(a)

In der Typentheorie muss man also keine Form der Logik zugrun-delegen. Stattdessen sind die logischen Begriffe in der Typentheorieeingebaut. Logik höherer Stufe und damit die Typentheorie ist einsehr mächtiges Instrument durch diese Möglichkeiten. Die Modell-theorie bzw. Semantik unterscheidet sich aber von der Logik ersterStufe sehr stark. Insbesondere sind Nichtstandardmodelle der natür-lichen Zahlen ab der zweiten Stufe nicht mehr vorhanden, wie wirbereits an Dedekinds Eindeutigkeitssatz gesehen haben. Wir werdensehen, dass die Typentheorie dennoch eine interessante kategorielleSemantik besitzt.

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Als eine Anwendung dafür gibt es ein wichtiges Prinzip, das als „Pro-positionen sind Typen” bezeichnet wird. Es besagt, dass jeder Pro-position P auch ein Typ zugeordnet ist, der bewohnt ist, wenn eseinen konstruktiven Beweis von P gibt. Ein Beweis p : P von P wirdauch manchmal „Zeuge” (engl. „witness”) genannt. Zum Beispiel istein Identitätstyp IdA(a, b) bewohnt, wenn es einen Beweis von a = bgibt und ein solcher Beweis ist der „Bewohner”.Die intuitionistische Martin–Löf Typentheorie erlaubt es, große Tei-le der Mathematik wie in einer Programmiersprache abzubilden. Esgibt Softwaretools und Programmiersprachen wie AGDA, COQ, ISA-BELLE und andere, um die Typentheorie praktisch einzusetzen unddamit Beweise formal zu verifizieren. Deshalb heißen diese Sprachenauch oft Beweisassistenten.In diesem Buch werden wir nicht ausführlich auf solche Programmier-sprachen eingehen, weil dies dem Stil dieses Buches nicht entspricht.Die Beschäftigung mit solchen Sprachen über wenige Tage ermöglichteiner interessierten Person, ein Level zu erreichen, bei dem man vieleBeweise selbst durchführen kann. Die Softwareumgebung hilft einebei sehr einfachen Probleme durch sinnvolle Befehle, in COQ auch„Tactics” genannt. Die logische Struktur eines komplizierten Bewei-ses muss man dem System jedoch selbst beibringen, d.h. der Menschmuss den Beweis selbst in Einzelteile zerlegen. Wenn der Beweis dannvollständig verstanden und durch den Computer erfolgreich ausge-führt wurde, dann kann man sicher sein, dass der gegebene Beweisauch korrekt ist.In der (ferneren) Zukunft ergeben sich durch solche Softwareum-gebungen durchaus realistische Möglichkeiten, nachweislich korrekteBeweise für große Teile der Mathematik zur Verfügung zu haben undvielleicht werden sogar noch intelligentere Systeme entwickelt, die unsbei Beweisen noch mehr als bisher unterstützen.

Topologische Interpretation

Martin Hofmann und Thomas Streicher waren die ersten, die be-merkten, dass in der Martin–Löf Typentheorie die Identitätstypen

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eine tiefere mathematische Bedeutung aufweisen. Sie benutzen dazudie Theorie der Gruppoide. Viele Jahre später haben Steve Awodeyund Michael Warren, Vladimir Voevodsky und andere Mathemati-ker zu dieser Entwicklung der Typentheorie weiter beigetragen, diehäufig auch „Homotopy Type Theory” (HoTT) genannt wird.166

Typen A werden in der Homotopy Type Theory, anschaulich als to-pologische Räume interpretiert, in der ein a : A einen Punkt bildet.Die Homotopieäquivalenz von topologischen Räumen führt zum Be-griff der Äquivalenz von Typen, die eine entscheidende Rolle spielt. Esist aber wichtig zu verstehen, dass diese topologische Vorstellung nureine Interpretation ist und erst in topologisch orientierten semanti-schen Modellen Realität wird. Die Typentheorie kann natürlich ohnesolche Vorstellungen definiert und benutzt werden. Trotzdem ist dieVorstellung, dass alle Typen keine Mengen sondern Räume sind einwichtiger Paradigmenwechsel.Die Interpretation einer Funktion f : B −→ A zwischen zwei TypenB und A ist topologisch gesehen eine stetige Abbildung zwischen denbeiden topologischen Räumen, die den Typen entsprechen. Abhängi-ge Typen können topologisch als Faserungen B −→ A interpretiertwerden. Dies sind spezielle stetige Abbildungen, die wir noch genauerbetrachten werden.Den Identitätstyp IdA(a, b) in der Typentheorie interpretiert man inder HoTT als Raum von Pfaden zwischen a und b und den Typ

IdA =∏

(a,b):A×A

IdA(a, b)

als Pfadraum von A. Wenn man konstante Pfade betrachtet und dieAnfangs- und Endpunkte unterscheidet, so bekommt man eine Se-quenz von Pfeilen

X −→ IdA −→ A×A.

Der iterierte Identitätstyp

IdIdA(a,b)(p, q)

zwischen zwei Pfaden p, q : IdA(a, b) besteht in dieser Interpretati-on aus einer Homotopie zwischen p und q, also aus einem Pfad im

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Pfadraum. Die beiden abhängigen Typen∏

x:AB(x) und∑

x:AB(x)entsprechen topologischen Konstruktionen: Schnitten in Faserungenund Paaren, d.h. einzelne Elemente in Fasern.Der konstante Pfad, die Verknüpfung von Pfaden und der inversePfad existiert auch in der Martin–Löf Typentheorie selbst:

1 −→ IdA(a, a),

IdA(a, b)× IdA(b, c) −→ IdA(a, c),

IdA(a, b) −→ IdA(b, a).

Die Formeln

p−1 p = 1a,

p p−1 = 1b,

(p q) r = p (q r),gelten hier natürlich ebenfalls nicht, sondern nur wenn man die For-meln durch gewisse höhere Terme ausgleicht. Diese Art von höherenBedingungen kann man zur Definition einer Struktur auf den Identi-tätstypen nutzen, die man auch schwaches ∞–Gruppoid nennt.167

Schwache ∞–Gruppoide sind sehr reichhaltig an Struktur. Zum Bei-spiel trägt das (schwache) Fundamentalgruppoid Π(X) eines topo-logischen Raumes X wesentlich mehr Information als die gewöhnli-che Fundamentalgruppe π1(X). Alexander Grothendieck hat sogarvermutet, dass Π(X) die vollständige Homotopieinformation von Xträgt und damit den Homotopietyp von X beschreibt.168 Unter An-nahme dieser Vermutung von Grothendieck können wir lernen, dassdie Homotopietypen von topologischen Räumen durch die Gesamt-heit aller ∞– Gruppoide (oder alternativ aller (∞, 0)–Kategorien)gegeben sind. Diese Kategorie der ∞–Gruppoide ist gemäß unserenÜberlegungen in Kapitel 6 eine (∞, 1)–Kategorie.

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Isomorphie und Äquivalenz

Der Begriff des Isomorphismus in der Mathematik ist äußerst wichtigund omnipräsent. Zwei Objekte A und B in einer gegebenen Kate-gorie sind isomorph, wenn es Morphismen, d.h. strukturerhaltendePfeile,

f : A −→ B

undg : B −→ A

gibt, so dass die Kompositionen f g und g f mit der Identitätsab-bildung idB bzw. idA übereinstimmen. Wenn das der Fall ist, nenntman f und g dann Isomorphismen.Um ein einfaches Beispiel zu geben, betrachten wir Gruppen mit 2Elementen innerhalb der Kategorie der Gruppen. Davon gibt es bisauf Isomorphie nur eine. Es ist aber üblich, diese Gruppe entwederals additive Gruppe

Z/2Z = 0, 1 mit 1 + 1 = 0

oder als multiplikative Gruppe

µ2 = ±1 mit (−1) · (−1) = +1

zu schreiben. Der Isomorphismus

f : Z/2Z −→ µ2

wird gegeben durch die Zuordnung f(a) = (−1)a, denn es gilt (−1)0 =+1 und (−1)1 = −1.In vielen Konstruktionen der Mathematik sind mit der Existenz vonIsomorphismen jedoch Probleme verbunden. Dies gilt zum Beispielbeim Studium von Mengen, die als Quotienten entstehen. Denn dieElemente solcher Quotientenmengen sind selbst Äquivalenzklassenvon gleichartigen Objekten. Dieses Phänomen tritt bereits bei Brü-chen auf, aber weitaus unangenehmere Schwierigkeiten kommen inder aktuellen modernen Mathematik auf. Dort müssen häufig iso-morphe Objekte identifiziert werden, ohne dass die konkrete Identi-fikation bekannt oder eindeutig und dgl. ist. Ein Beispiel dafür sind

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die Probleme, die in derivierten Kategorien auftreten. Andererseitsist die zusätzliche Information, die in solchen Komplikationen stecktoft auch sehr wichtig, wie wir bei den ∞–Fundamentalgruppoidengesehen haben.Beim Studium solcher Dinge wird klar, dass der Begriff der Gleichheitbzw. der Identität eine viel weiter reichende philosophische Bedeu-tung hat. In der Martin–Löf Typentheorie drückt sich dies in ersterLinie in der Existenz der Identitätstypen aus. Vladimir Voevodskyhat aber die Bedeutung dieser Dinge wesentlich weiter vorangetrie-ben. Beim Studium von simplizialen Mengen als Modelle der Ty-pentheorie entdeckte er das Univalenzaxiom für die Typentheorie.169

Dieses Axiom gilt nicht in allen Modellen und seine Bedeutung für dieganze Theorie ist zur Zeit noch nicht ganz klar. Wir wollen dennochversuchen, dieses Axiom zu erklären.

Univalenz

Gegeben zwei Typen A,B kann man den Identitätstyp Id(A,B) be-trachten. Dies kann auf den obigen Identitätstyp zurückgeführt wer-den mittels sogenannter Universen170 U , d.h. Klassen von Typen, indenen A : U und B : U gilt. Universen wurden von Alexander Gro-thendieck eingeführt, um mengentheoretische Probleme in der Ka-tegorientheorie anzugehen. Ihre Existenz innerhalb der Mengenlehrebasiert auf der Existenz von großen Kardinalzahlen. Die Existenz vonUniversen berührt also ganz wesentlich die Grundlagen der Mathe-matik.Universen werden in einer gegebenen Typentheorie häufig aufsteigendnach Größe in einer unendlichen Folge iteriert:

U0 : U1 : U2 : · · · ,d.h. Ui ist ein Typ innerhalb des Universums Ui+1. Sind die Typen Aund B identisch in einem Universum U , so schreibt man auch

A = B

dafür. Oft wird der Typ IdU(A,B) auch mit (A = B) bezeichnet.

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Mit Hilfe iterierter Identitätstypen kann man innerhalb der Martin–Löf Typentheorie (oder in HoTT) spezielle Typen auszeichnen, dieman als „Mengen” in der Typentheorie ansehen kann. Etwas allgemei-ner hat Vladimir Voevodsky eine Hierarchie für Typen X definiert,die nach Homotopieniveaus geordnet ist.Er beginnt damit, im Level h = −2 einen Typ A als „punktförmig”zu bezeichnen, in Zeichen iscontr(A), falls

x:A

y:A

IdA(x, y) bewohnt ist.

Mit anderen Worten, es gibt ein x : A, so dass für alle y : A bereitsx = y gilt. Man kann überraschenderweise zeigen, dass dies A ≃ 1

impliziert, d.h. A ist kontrahierbar.171

x

Punktförmige Menge zentriert in x.

Damit definiert man dann im Level h = −1 die „echten Propositio-nen” A durch die Bedingung

Für alle x, y : A ist IdA(x, y) punktförmig.

Aus dieser Definition folgt, dass A ≃ 0 oder A ≃ 1 gilt.172 Topolo-gisch ist A also entweder leer oder punktförmig. Auf ähnliche Weisedefiniert man Mengen A in der Typentheorie im Niveau h = 0 durchdie Bedingung

Für alle x, y : A ist IdA(x, y) eine echte Proposition.

Mengen entsprechen also genau den Typen, deren Identitätstypen alleleer oder punktförmig sind. Diese Komponenten würde man dann dieElemente der Menge nennen.

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Als Nächstes kann man Gruppoide definieren durch die Bedingung

Für alle x, y : A ist IdA(x, y) eine Menge.

Durch Induktion kann man dann leicht die h-Niveaus für alle h ∈ N

definieren und bekommt eine h–Stratifikation auf allen Typen.Etwas allgemeiner kann man neue Typen Iso(A,B) (Isomorphietyp)bzw. Eq(A,B) (Äquivalenztyp) für gegebene Typen A,B definie-ren.173 Manchmal werden diese Typen mit (A ∼= B) bzw. (A ≃ B)bezeichnet. Der Isomorphietyp Iso(A,B) wird – wie wir es am Anfangdieses Kapitels für Kategorien gemacht haben – durch die Existenzinverser Abbildungen f : A→ B und g : B → A definiert. Die natür-liche Abbildung

Id(A,B) −→ Iso(A,B).

zwischen Identitätstyp und Isomorphietyp ist im Fall von Mengen(im Sinne der Typentheorie) ein Isomorphismus.174 Eine Äquivalenzentspricht einer schwachen Homotopieäquivalenz in der topologischenInterpretation.Für zwei Typen A,B in einem Universum U gibt es immer eine Ab-bildung175

Id(A,B) −→ Eq(A,B).

Das Univalenzaxiom besagt, dass diese Abbildung selbst eine Äqui-valenz (in einem höheren Universum) ist, d.h.

Id(A,B) ≃ Eq(A,B).

Sind A und B Mengen im Sinne der Typentheorie, so stimmt derÄquivalenzbegriff mit dem Begriff des Isomorphismus, d.h. der Bi-jektion von Mengen überein.Für jede Eigenschaft P (d.h. P ist vom Typ U → Bool) gilt dannbezüglich der Äquivalenz eine Verallgemeinerung der LeibnizschenInvarianzregel:

A ≃ B P (A)

P (B),

d.h. die Eigenschaft P bleibt bei der Ersetzung äquivalenter Typenerhalten. Dies folgt aus dem Univalenzaxiom, da die Invarianzregel

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für die Identität (wie bei Leibniz) gilt und dann unter der Abbildung

Id(A,B) −→ Eq(A,B).

weiterhin erhalten bleibt.176 Umgekehrt impliziert die Invarianzregelauch das Univalenzaxiom, indem man die Eigenschaft

P (X) = isidU(A,X)

betrachtet.Die Hierarchie der Identitäts-, Isomorphie- und Äquivalenztypen bie-tet Raum für einige offene Fragen. So ist zum Beispiel nicht klar, obdiese drei Begriffe erschöpfend sind, oder ob es nicht weitere verall-gemeinerte Äquivalenzen gibt. Eine wichtige offene Frage ist auch,wie man in einer kategoriellen semantischen Interpretation der Ty-pentheorie das Univalenzaxiom definieren kann und für welche kate-goriellen Semantiken es gilt.Das Univalenzaxiom steht auch im Zusammenhang mit dem Nichtein-deutigkeitsproblem und damit mit der Frage nach dem platonischenRealismus. Oft wird in diesem Zusammenhang gesagt, dass man mitUnivalenz isomorphe oder äquivalente Objekte der Mathematik iden-tifizieren kann, so als ob man nur noch mit Äquivalenzklassen iso-morpher oder äquivalenter abstrakter Objekte arbeiten würde, wiees Frege bei den Zahlen versucht hat.Diese Sichtweise ist nicht in Ordnung. Das Univalenzaxiom dient eherdazu, den Begriff der Äquivalenz einen logischen Charakter zu ver-leihen. Dies soll bedeuten, dass die Äquivalenzen genau die Transfor-mationen abstrakter mathematischer Objekte sind, die alle logischenWahrheiten in der Typentheorie im Sinne der Leibnizschen Regel

A ≃ B P (A)

P (B)

erhalten. Die neue Erkenntnis von Voevodsky et al. ist, dass solcheTransformationen nicht nur die Isomorphismen sind. Univalenz istsomit ein logisches Prinzip, was dem Traum vom Logizismus wiederetwas Leben einhaucht.177 Viele Probleme des Logizismus – wie die

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Existenz unendlicher Mengen – bleiben in der Typentheorie jedocherhalten.Ein offenes Problem der Typentheorie ist – ähnlich wie beim Logizis-mus – die Rolle der natürlichen Zahlen. Alle numerische Berechnun-gen, die auf eine Anzahl hinauslaufen, müssen am Ende des Tageseinen Bewohner n des Typs N liefern, den man auswerten kann. Da-zu sind unter Umständen viele Identifikationen notwendig. Es ist einoffenes und von Voevodsky selbst thematisiertes Problem, ob diesimmer möglich ist und aus dem Univalenzaxiom folgt.

Kategorientheorie als Semantik der Typentheorie

Die Kategorientheorie bildet eine dritte Alternative zur Begründungder Mathematik neben der Mengenlehre und Typentheorie. Sie istder natürliche Ort für eine Semantik der Typentheorie als Varianteder Henkinsemantik.Dafür gibt es diverse Ansätze. Die Welt der∞–Kategorien von JacobLurie oder die Pfadkategorien bzw. die Modellkategorien von KennethBrown, Denis–Charles Cisinski und Daniel Quillen, die C–Systemevon John Cartmell und Vladimir Voevodsky, die sogenannten Tribesvon André Joyal oder die Ideen von Emily Riehl und Dominic Veritybilden andere Optionen. Wir werden hier in erster Linie die Variantenvon Brown und Joyal studieren, um eine Semantik der Typentheoriezu konstruieren, denn die Theorie von Lurie ist unseres Erachtensallzusehr an das Modell SSet der simplizialen Mengen gebunden.Wir wollen nun beschreiben, wie man eine Semantik der Typentheoriein gewissen (höheren) Kategorien entwickeln kann. Semantische Mo-delle dieser Art können in der Kategorie der Mengen erzeugt werden,aber auch in anderen verfeinerten Kategorien. So hat Vladimir Voe-vodsky ein Modell der Typentheorie in simplizialen Mengen gefundenund studiert.Leon Henkin hat einen Vollständigkeitssatz für die Typentheorie, alsofür die die Semantik der Logik höherer Stufe bewiesen. Dieser Beweisschwächt die naheliegenden mengentheoretischen Modelle so ab, dassman letztlich keine Modelle in der Kategorie der Mengen, sondern

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in allgemeineren Kategorien bekommt.178 Diese Semantik nennt manHenkinsemantik.Oft wird gesagt, dass die Henkinsemantik nachteilig sei, weil die Mo-delle weniger in den Griff zu bekommen seien, und man bevorzugtaus diesem und anderen Gründen die Logik erster Stufe. Unser Aus-gangspunkt ist jedoch, dass die Henkinsemantik in Richtung einerkategoriellen Semantik geht, die wir für sehr geeignet halten, um Ma-thematik strukturalistisch zu betrachten.Um die kategorielle Semantik von Typentheorien zu erklären, folgenwir Ideen von Kenneth Brown und André Joyal. Die dabei entste-henden Kategorien nennt man nach Kenneth Brown Pfadkategorienoder – in der davon leicht abweichenden Variante von Joyal – auchTribe. Eine aktuelle Darstellung der Pfadkategorien und Tribes findetman in den Arbeiten von André Joyal, Benno van den Berg und IekeMoerdijk, denen wir im Weiteren folgen. 179

Eine Pfadkategorie ist eine Kategorie, in der zwei Arten von Morphis-men ausgezeichnet werden, die Faserungen und (schwache) Äquiva-lenzen genannt werden. Letztere kann man auch Homotopieäquiva-lenzen nennen, weil diese beiden Begriffe im Fall der Pfadkategorienzusammenfallen. Den Begriff einer Homotopieäquivalenz von topolo-gischen Räumen, also auch den einer schwachen Homotopieäquiva-lenz, haben wir bereits definiert.Ein Morphismus f : B −→ A von topologischen Räumen heisst Fa-serung, wenn er eine bestimmte Hochhebungseigenschaft von Pfadenerfüllt. Mit anderen Worten, ein Pfad γ in A kann jederzeit zu einemPfad γ in B „geliftet” werden, sofern ein Anfangspunkt γ(0) ∈ Bangegeben wird.Solche Pfadkategorien dienten ursprünglich eigentlich dazu, die Ho-motopietheorie axiomatisch zu modellieren und wurden zuerst vonKenneth Brown betrachtet, in Anlehnung an Daniel Quillen, dessenModellkategorien ein ähnliches Ziel verfolgen, aber noch eine weitereKlasse von Morphismen beinhalten. Pfadkategorien erfüllen für diesebeiden Klassen von Morphismen diverse Axiome, die wir hier nicht

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0 B

I Aγ

Hochhebungseigenschaft einer Faserung f für Pfade.

alle nennen wollen (vgl. loc. cit.). Wichtig ist aber, dass Pfadkate-gorien sogenannte Pfadobjekte besitzen sollen. Dies sind für jedesObjekt X ein Pfadobjekt Pfad(X) zusammen mit einer Kompositionvon Abbildungen

X −→ Pfad(X) −→ X ×X,

so dass die erste Abbildung eine Homotopieäquivalenz ist und diezweite Abbildung eine Faserung. Diese beiden Eigenschaften sind imFall der topologischen Räume erfüllt, denn der Pfadraum Pfada(X)der Pfade mit festem Anfangspunkt a ist kontrahierbar (durch Repa-rametrisation zum Punktweg) und daher ist die natürliche Abbildung

X −→ Pfad(X)

für jeden topologischen Raum X eine Homotopieäquivalenz. Die Pro-jektionsabbildung auf Anfangs– und Endpunkt

p : Pfad(X) −→ X ×X

ist eine Faserung, in der alle Fasern den Pfadräumen mit festemAnfangs- und Endpunkt entsprechen. Mit Hilfe von Pfadobjektenkann man den Homotopiebegriff definieren, denn zwei Abbildungenf, g : Y → X sind homotop, falls es eine Liftung h gibt wie folgt:Die syntaktische bzw. klassifizierende Kategorie einer abhängigen Ty-pentheorie ist eine Pfadkategorie. Die Faserungen entsprechen dabeispeziellen Projektionen von Kontexten. Die Pfadobjekte Pfad(A) sindgegeben durch die Kontexte

x : A, y : A, p : IdA(x, y)

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Pfad(X)

Y X ×X(f, g)

ph

Homotopie mit Pfadobjekten

und die Abbildungen

A −→ Pfad(A) −→ A× A

sind dann offensichtlich.Andere Beispiele für Pfadkategorien sind die Kategorie SSet der sim-plizialen Mengen, die Kategorie Grpd der Gruppoide, die KategorieTop der topologischen Räume oder gewisse Unterkategorien von „ge-faserten” Objekten in manchen Quillenschen Modellkategorien.Wenn man nun noch bei diesen Beispielen nach den schwachen Äqui-valenzen die Dwyer–Kan Lokalisierung bildet, so bilden solche Pfad-kategorien eine natürliche Semantik für Typentheorien in Form einer(∞, 1)–Kategorie mit einem Identitätstyp. Weiterhin trägt jeder Typauch in dieser Semantik mittels der Folge der Identitätstypen dieStruktur eines ∞–Gruppoids.Es ist möglich, mit Hilfe solcher Kategorien durch Erweiterungenauch (höhere) Elementartopoi als semantische Modelle zu finden, dieVerallgemeinerung des Begriffs des Elementartopos aus Kapitel 3 dar-stellen, wie wir es erwarten würden, wenn Typentheorie alle Homo-topietypen erfassen soll.180

Jedem höheren Elementartopos liegt eine (syntaktische) Typentheo-rie – Mitchell–Bénabou Sprache genannt – zugrunde, der unterliegen-de interne Logik überraschenderweise nicht notwendig den Satz vomausgeschlossenen Dritten erfüllen muss. Ein gutes Beispiel dafür istdie Kategorie Sh(X) der Garben auf einem topologischen Raum X,wobei X die Bedingung erfüllt, dass es offene Mengen U gibt, die

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nicht mit dem offenen Kern ihres Abschlusses übereinstimmen. Die-se Bedingung ist für die meisten topologischen Räume erfüllt, z.B.für das Intervall [0, 1] oder die reelle Gerade R. Die interne Logikist daher die intuitionistische Logik. Die Kategorie Set hingegen alsinterne Logik die klassische Logik.

x | ϕ(x) 1

U X Ω

true

Die Forcing–Relation.

Diese Beziehung zwischen Typentheorien und Elementartopoi

Typentheorien ←→ Elementartopoi

wird oft auch als Kripke–Joyal Semantik bezeichnet, da Kripke undJoyal die Semantik der intuitionistischen Logik durch Beth, Grze-gorczyk und Tarski damit wesentlich verallgemeinert haben, bis hinzu modalen Varianten, auf die wir hier aber nicht eingehen werden.Dabei ist die grundlegende Regel, dass eine Formel ϕ in der for-malen Sprache der Syntax genau dann erfüllt ist, wenn für jedenMorphismus U −→ X im Topos das in der Figur abgebildete Dia-gramm kommutiert. Damit ergibt sich die Möglichkeit Formeln (wieϕ hier) in der Logik als Unterobjekte (hier von X) einer Kategoriezu interpretieren. Ist U in diesem Fall eine offene Menge einer Gro-thendiecktopologie, so lässt sich mit diesem Diagramm ein Begriffeiner „lokalen Wahrheit” definieren, weil U als offene Menge immer„kleiner” gewählt werden kann.Forcing kann mit Hilfe dieses Zusammenhangs gut erklärt werden, wieWilliam Lawvere und Myles Tierney ab etwa 1970 erkannt hatten.181

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KAPITEL 10

Mathematik und Wahrheit

Das Ende des Buches ist fast erreicht. Die Dinge, die wir gesehenund gelernt haben, weisen in die Zukunft. Dabei sind aber noch jedeMenge Herausforderungen verbunden und es gibt noch Vieles zu ent-decken und zu beweisen. Daher wollen wir zum Schluss die Relevanzdieser neuen Theorien und mögliche Weiterentwicklungen erklären.

Die drei Grundlagen der Mathematik

Aus den Dingen, die wir bisher besprochen haben, geht hervor, dasses drei ganz unterschiedliche Sichtweisen auf die Grundlagen der Ma-thematik gibt, die Mengenlehre, die Typentheorie und die (höhere)Kategorientheorie.Von diesen ist die Mengenlehre die elementorientierte Methode, diedie Standardsichtweise der meisten Mathematiker darstellt. Die Ty-pentheorie ist eher die beweis– und berechenbarkeitsorientierte Me-thode und sie besteht im Wesentlichen aus Syntax, insbesondere istihre Notation für den Anfänger sehr anstrengend zu lesen. Informa-tiker sind damit sehr viel häufiger vertraut und verwenden Teile derTypentheorie in ihrer Arbeit sehr oft, weil sie wissen, dass die Elemen-trelation in der Mengenlehre nicht gut zu den Instanzen von Objektenin Programmiersprachen entsprechen. Die (höhere) Kategorientheo-rie ist eine strukturorientierte Methode, die sehr elegant ist, aber füreinen Anfänger auch sehr abstrakt und damit unzugänglich wirkenkann.Selbst dieses Bild ist noch viel zu einfach, denn es gibt nicht nur eineMengenlehre oder eine Typentheorie oder eine Kategorientheorie. So

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zeigt etwa die Unentscheidbarkeit der Kontinuumshypothese, dass ge-wisse Eigenschaften einer Mengenlehre, wie etwa die Kardinalität derreellen Zahlen, vom gewählten Modell abhängt, selbst wenn man diegleichen Axiome zugrundelegt. Die zugrundeliegenden Axiome kannman ebenfalls variieren, so dass letzlich ein ganzer Zoo unterschiedli-cher Mengenlehren vorhanden ist. Das Gleiche gilt auch für die beidenanderen Grundlagen.Funktorielle Übergänge zwischen der Mengenlehre, der Typentheo-rie und der Kategorientheorien, bei denen eine der drei Theorien ineiner der anderen Theorie interpretiert werden, sind im Prinzip be-kannt und im Grunde sehr einfach, denn Mengen, Typen und Objektein Kategorien entsprechen dabei einander ebenso wie die Pfeile, d.h.Morphismen, in allen drei Varianten. Das ist auch einleuchtend, denndie Objekte entsprechen natürlicherweise den Begriffen des menschli-chen Denkens und die Pfeile den Beziehungen zwischen den Begriffen.Die drei Varianten der Grundlagen der Mathematik sind somit nurdrei verschiedene Spielarten des Umgangs mit mathematischen Be-griffen. Verknüpft man diese funktoriellen Übergänge im Kreis, soerhält man äquivalente (aber angereicherte) Theorien.182

Die dreiteilige Struktur kann man gut mit der Beschreibung einesHauses vergleichen. Die Typentheorie entspricht dabei der Planungeines Hauses mit Bauplänen und Architektenzeichnungen. Der Men-genlehre entspricht der eigentliche Bau des Hauses mit Baumateria-lien und Arbeitsstunden. Die kategorielle Sichtweise ist unter diesemBlickwinkel das „Wohnen” im Haus, d.h. die Nutzung der Eigenschaf-ten des Hauses. Bei allen drei Sichtweisen erkennt man die Einzelteileund Eigenarten des Hauses mit einiger Mühe, aber die Sichtweise istjeweils eine andere. Um ein ganzheitliches Bild des Hauses zu bekom-men, muss man am besten alle drei Zugänge ansehen.Wenn man genauer hinsieht, dann gibt es weitere Feinheiten zu ent-decken. Wir sind intensiv auf den Zusammenhang zwischen Typen-theorie (Syntax) und Kategorientheorie (Semantik) eingegangen, eine

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Korrespondenz die letztlich zwischen gewissen Martin–Löf Typen-theorien und (∞, 1)–Kategorien vermittelt:

ML–Typentheorien←→ (∞, 1)−Kategorien

Dies steht im Gegensatz zur Mengenlehre, die ihre eigene semantischeInterpretation in sich selbst trägt.Die Forschung zu den Grundlagen der Mathematik ist noch langenicht abgeschlossen. Ein Grundproblem aller drei Zugänge zu denGrundlagen der Mathematik bildet die Rolle der Arithmetik, d.h.der Rolle der natürlichen Zahlen zusammen mit dem Rekursionssatz.Die Forderung nach solchen Objekten kommt immer einem unbe-weisbaren Axiom gleich und die vollständige Induktion wird in allenZugängen am Anfang der Theorie benötigt. Zudem, – und viel wich-tiger – ist die Konsistenz der Arithmetik, bzw. der Dedekind–PeanoArithmetik, in allen drei Theorien weiterhin unklar, was vermutlichein größeres Problem darstellt als die zweifelhafte Frage nach der pla-tonischen Existenz solcher Theorien. Unsere Überlegungen ergebenfür das Konsistenzproblem keine Fortschritte, zumal die Sätze vonGödel und Tarski in allen drei Welten gelten und eher pessimistischeAussichten bieten.Die „neue” Typentheorie löst die Probleme der Grundlagen der Ma-thematik nicht, da sie wie die Mengenlehre Universen – und da-mit Axiome für unerreichbare Kardinalzahlen – benutzt. Eine wei-tere Herausforderung ist das Verständnis des Univalenzaxioms vonVoevodsky und seine Bedeutung in allen drei Welten. Das Univa-lenzaxiom kann prinzipiell die Probleme der Mathematik mit derIdentifikation isomorpher oder äquivalenter Objekte in den Griff zubekommen. Grundsätzlich ist die semantische, d.h. die kategorielle,Seite bis auf das Univalenzaxiom etwas besser verstanden, denn ei-nige Eigenschaften (semi–)simplizialer Mengen mit unendlich vielenKohärenzbedingungen und damit einige Homotopietypen lassen sichinnerhalb der Typentheorie bisher noch nicht realisieren. Es ist nichtausgeschlossen, dass erst noch weitere Entwicklungen in Form vonErweiterungen der Typentheorie kommen müssen, bevor ein gutes

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Verständnis erreicht ist. Die Rolle der Logik, die in der axiomati-schen Mengenlehre üblich ist, manifestiert sich in den beiden anderenSichtweisen auf die Grundlagen unterschiedlich, kann aber mit der so-genannten Curry–Howard–Lambek Korrespondenz183 gut verstandenwerden. Die Modallogik und die konstruktive und die intuitionisti-sche Sichtweise können darin bei Bedarf integriert werden. Von einemmodernen Standpunkt aus ist die Mengenlehre nicht die dominanteTheorie, sondern man sollte alle drei Theorien in gewisser Weise alsverschiedene Seiten ein und derselben Sache ansehen und alle dreiSichtweisen in das eigene mathematische Repertoire integrieren.

Maschinelles Beweisen

Die Entwicklung der Typentheorie in den letzten Jahren hat dazugeführt, dass Teile der Mathematik in der Typentheorie vollständig inForm eines Programms formalisiert werden können. Auf diese Weisemanifestiert sich natürlich ein Teil der Ziele der Leibnizschen ScientiaGeneralis innerhalb der Mathematik. Es ist allerdings noch unklar,welche Art von Mathematik damit erfasst werden kann.Insbesondere kann die Typentheorie dazu dienen, mathematische Be-weise mittels Computern maschinell durch Beweisassistenten wie AG-DA, COQ, ISABELLE und andere nachweislich auf Korrektheit zuüberprüfen. Diese Möglichkeit war eine der Motivationen von Voe-vodsky, sich mit Typentheorie zu beschäftigen und ergibt völlig neueMöglichkeiten für alle Wissenschaften in der Zukunft, da die Mathe-matik Grundlage für viele alle andere Wissenschaften ist.Für einige Beweise bekannter Sätze mit komplizierten Beweisen (zumBeispiel des Vierfarbensatzes184) wurde dies schon durchgeführt. DieInterpretation der Martin–Löf Typentheorie in der Homotopietheo-rie hat viele Anwendungen in der Homotopietheorie selbst. Dies zeigtauch auf verblüffende Weise die Verbindung zwischen Homotopie-theorie und den Grundlagen der Mathematik, was eine frappierendeEinheit innerhalb der Mathematik aufzeigt.

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Beweise in der Mathematik, besonders bei schwierigeren Problemen,sind häufig Gemeinschaftsleistungen. Es ist denkbar, dass in der Zu-kunft auch das maschinelle Beweisen und die Aufarbeitung der Ma-thematik in diesem Zusammenhang ein großes „Community Projekt”werden könnte. In gewisser Weise wäre ein solches Vorgehen sogardem Bourbaki–Programm von Grothendieck ähnlich, das dies in Formvon Texten versucht hatte.Andere beliebte Community Projekte sind MathOverflow, nLab,

n–Category Café, Stacks Project und Stack Exchange. Bei die-sen Plattformen kommt die Idee sozialer Netzwerke in sinnvoller Wei-se mit den Anforderungen der Forschung in der Mathematik zusam-men.

Wahrheitsbegriff

Wir haben die Korrespondenz– und Kohärenztheorie der Wahrheitbesprochen, die beide recht weit auseinander liegen. Dabei habenwir uns durch die Behandlung der Typentheorie der Kohärenztheo-rie genähert. Die Korrespondenztheorie ist andererseits eng mit demBegriff der Semantik verwandt. Alfred Tarski hat nach eigenen Anga-ben versucht, die Korrespondenztheorie der Wahrheit mit Hilfe einerguten Semantik weiterzuentwickeln.In den neueren Forschung, die wir hier besprochen haben, ist diekategorielle Semantik – eine Variante der Henkinsemantik – die be-vorzugte Option. Semantik in der Mathematik ist auch in dieser Va-riante keine Ontologie, sondern ein Interpretationsraum mathemati-scher und anderer Strukturen und verliert damit die Anbindung andie Wirklichkeit aus den ursprünglichen Formulierungen der Korre-spondenztheorie.Diese Orientierung an der Wirklichkeit ist in der Tat ein Trugschluss.Die Natur und die physikalische Realität, d.h. die sogenannte „Wirk-lichkeit”, kommen den meisten Menschen wie ein Ort vor, der sehrweit entfernt von abstrakten Begriffen ist. Beim Studium physikali-scher Theorien stellt man jedoch fest, dass den dabei betrachteten

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Objekten, wie den elektromagnetischen Feldern, den Elementarteil-chen, den Quarks und dgl., nur eine sehr abstrakte Realität zukommt.Nur mit abstrakten mathematischen Methoden sind sie begreifbar.Hinzu kommt, dass in vielen physikalischen Theorien Äquivalenzeneine Rolle spielen, die auch in der mathematischen Forschung, die wirhier besprochen haben, wichtig sind.Bereits Kurt Gödel hat darauf hingewiesen, dass die physikalischenTheorien mit ihren Annahmen zwar potentiell experimentell nach-weisbar sind, wobei auch dies im Hochenergiebereich immer schwererwird, dass diese Theorien aber kein bisschen weniger abstrakt sind,als Axiome in mathematischen Theorien. Auch in den Lebenswis-senschaften stellt man immer wieder fest, dass ohne mathematischeHilfsmittel die kleinsten Bausteine des Lebendigen kaum begreifbarsind. Ludwig Wittgenstein hat dazu passend die berühmten Sätze inseinem „Tractatus” geprägt:

Die Welt ist alles, was der Fall ist.Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nichtder Dinge.185

Wir kommen also zum Schluss, dass es einen naiven Realitätsbegriffnicht gibt. Daher ist es auch ein Trugschluss, die Wahrheit durchVergleich der Bewusstseinsinhalte, der Gedanken oder der Aussagenunserr Gedanken mit einer „Wirklichkeit” vergleichen zu wollen. DieWirklichkeit ist – mit aller Vorsicht gesagt – gewissermaßen eine ei-gene Spielart einer Semantik.Unter dem Strich kann man sagen, dass in einem gewissen Sinnedie Korrespondenztheorie der Wahrheit eine Art semantische Versionder Kohärenztheorie ist. Ohne die Konsistenz der zugrundeliegendenMathematik ist alles jedoch wenig zufriedenstellend. Dies bleibt eingroßes und wichtiges offenes Problem.Alles war wir in diesem Text über den Relativismus der Wahrheit,den Nominalismus oder den Platonismus, sowie analytische und syn-thetische Urteile gesagt haben bleibt auch in diesem Licht bestehen.

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Anmerkungen

1. Sie baut nicht einmal auf der Philosophie auf, denn die Logik ist ein Teil derMathematik.

2. Vgl. §17 in der Leibnizschen Monadologie [Leibniz2014].

3. Wir verwenden die Bezeichnung „Begriff” – und viele weitere auch – auf etwasinformelle Weise und verweisen auf das Büchlein [Reclam2019] für tiefergehendeErklärungen zu Bezeichnungen der Philosophie und Wissenschaftstheorie.

4. Vgl. die neurowissenschaftlichen Forschungen von Stanislas Dehaene.

5. Vgl. [Frege1962].

6. Vgl. [Leibniz2000] und das Buch [Lolli2017] von Gabriele Lolli.

7. Vgl. [Heidegger1957].

8. Im Aufsatz „Of personal identity” [Hume1739].

9. Das Buch [Blom2011] von Philipp Blom beschreibt das abwechslungsreiche Le-ben und Denken in diesem Salon.

10. Der Satz besagt, dass für jede Aussage A entweder A selbst oder ihr Gegenteil¬A wahr ist. Vergleiche die historischen Bemerkungen in [LambekScott1986].Es gibt Sätze der Mathematik, wie den Satz von Thue–Siegel–Roth oder KönigsLemma, die nur indirekte Beweise besitzen.

11. Vgl. sein unveröffentlichtes Werk [Leibniz1982], sowie den Kommentar von FranzSchupp darin und die Sekundärliteratur wie [Lenzen2004]. Das Buch [Jost2019]von Jürgen Jost geht auf dies ein, wie auch auf viele andere Leistungen von Leib-niz.

12. Die Standardliteratur dazu ist [Łukasiewicz1957] und [Patzig1969].

13. Vgl. [Aristoteles2009].

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14. Vgl. [Aristoteles2009].

15. Vgl. [vonAquin1259].

16. Vgl. [Halbach1996, S. 219–221].

17. Vgl. das Buch von Michael Balaguer [Balaguer1998] und den Artikel von PierreCassou–Noguès [Cassou–Noguès2011].

18. Zum Formalismus und Nominalismus siehe auch [Linnebo2017].

19. Vgl. Band III der Gesammelten Werke [Gödel2001].

20. Vgl. [Leibniz1677].

21. Dies ist der Standpunkt von Paul Benacerraf in [Benacerraf1965].

22. Vgl. den Artikel zu Wissenschaft in [Reclam2019].

23. Vgl. [Eco1993].

24. Vgl. [Couturat1901].

25. Vgl. [Blanke1996], [Eco1993], [Krämer1992], [Lenzen2004] und[Scholz1942].

26. Vgl. [Leibniz1666].

27. Vgl. die kürzere Version „Ars Brevis” [Llull1290] der „Ars Magna” und das Werk„Logica Nova” [Llull1985].

28. Vgl. [Hobbes1655].

29. Original und Übersetzung in [Blanke1996, CouturatLeau1903]. Louis Cou-turat war ein bedeutender Leibnizforscher.

30. Historisch sind noch Johann Joachim Becher, George Dalgarno, Athanasius Kir-cher und Philippe Labbé zu erwähnen, siehe [Blanke1996, Eco1993]. Interlin-guistische Plansprachen gehen u.a. auf Johann Martin Schreyer (Volapük), Giu-seppe Peano (Latino sine flexione), Louis Couturat (Ido) und Ludwik Zamenhof(Esperanto) zurück.

31. In [Jost2019] wird der Standpunkt eingenommen, dass Leibniz zum Beispiel alseinziger von den genannten Wissenschaftlern das Konzept des Isomorphismus inseinem Kalkül zur Verfügung hatte.

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32. Die deutsche Übersetzung des Briefes findet man in [Leibniz1989, Band V,2].

33. Vgl. [Krämer2009].

34. Das erste Buch dazu ist [Leibniz1684].

35. Vgl. [Krämer2009, S. 103].

36. Vgl. [Leibniz1677].

37. Vgl. [Krämer2009, S. 105] und die Monadologie [Leibniz2014].

38. Vgl. [Krämer2009, Scholz1942].

39. Vgl. dazu auch den Artikel [Martin–Löf1994] von Per Martin–Löf.

40. Vgl. [Linnebo2017, Chap 1].

41. Vgl. [Krämer2009, S. 108].

42. Vgl. [Linnebo2017, S. 15-16].

43. Boolesche Algebren im modernen Sinn werden in [MacLaneMoerdijk1992] er-klärt. Historisch sind noch John Venn, William Stanley Jevons und insbesondereCharles S. Peirce und Ernst Schröder zu nennen. Peirce hat viele unterschiedlicheBeiträge auch zur Arithmetik und Mengenlehre geleistet. Schröder entwickelte dieBoolesche Logik in seinem Buch „Algebra der Logik” vollständig. Frege hat zu-mindest anfangs seine Vorläufer und Zeitgenossen nicht zitiert. Vgl. [Boole1847],[deMorgan1847], [Schröder1890].

44. Die Umkehrung A⇒ ¬¬A gilt immer.

45. Vgl. [Frege1983, S. 139].

46. Vgl. [Frege1879].

47. Vgl. [Frege1879].

48. Formale Sprachen erster Stufe definieren wir in Kapitel 9. Es gibt Logiken beliebi-ger höherer Ordnungen, die in der Summe auch manchmal Typentheorie genanntwerden. In der Tat gibt es eine Beziehung zwischen Logiken höherer Ordnungund der Typentheorie, mit der wir uns in Kapitel 9 auseinandersetzen werden.

49. Der Beitrag [Vossenkuhl2013] von Wilhelm Vossenkuhl zu Freges Philosophieist sehr lesenswert.

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50. Vgl. [Frege1983, S. 189].

51. Vgl. [Frege2003, S. 39].

52. Vgl. [Frege2003, S. 41].

53. Vgl. [Frege2003, S. 50].

54. Vgl. §61 in [Frege1879].

55. Vgl. [Frege1879].

56. Vgl. [Frege1893].

57. Vgl. §46 in [Frege1879].

58. Vgl. §72 in [Frege1879].

59. Vgl. §72 in [Frege1879].

60. Abgedruckt in [Frege1976].

61. Abgedruckt in [Frege1976].

62. Vgl. [Henkin1962].

63. Vgl. [Linnebo2017] für eine Diskussion dazu.

64. Vgl. [Poincaré1902, Erster Teil, Kap. 1, §VI]. Die Übersetzung stammt vonElisabeth Küssner–Lindemann aus der digital verfügbaren deutschen Ausgabevon 1904 im Teubner Verlag. Siehe auch [Skolem, S. 151].

65. Vgl. [Hardy1940].

66. Mein Kollege Michael Harris hat 2017 ein Buch mit dem Titel „Mathematicswithout Apologies” veröffentlicht, das im Titel auf Hardys Buch [Hardy1940]Bezug nimmt, siehe [Harris2017]. Er philosophiert dabei u.a. über das Wort„Kunstgriff”, das als Platzhalter für eine mathematische Technik in vielerlei Spra-chen und Kulturen vorkommt. Dies geht auf einen Hinweis von mir zurück, waser aber nicht anmerkt.

67. Aufgrund der allgemeinen Relativitätstheorie ist der Raum gekrümmt, so dassdiese Aussage nur näherungsweise richtig ist.

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68. Mathematisch gesehen wird das so definiert, dass die Urbilder offener Mengenwieder offen sind. In einem metrischen Raum wird diese Eigenschaft durch diebekannte ε-δ–Definition gegeben.

69. Zwei stetige Abbildungen f, g : X → Y heißen homotop, falls es eine stetigeAbildung h : I×X → Y gibt mit h(0,−) = f und h(1,−) = g. Zwei Räume X,Y

heißen dann homotopieäquivalent, falls es stetige Abbildungen F : X → Y undG : Y → X gibt, so dass G F bzw. F G jeweils homotop zur Identität auf Xbzw. Y sind.

70. Vgl. [Müller–Stach2013, HuberMüller–Stach2017]. Als Beispiel in der ma-thematischen Physik sei die algebraische Behandlung von Feynmanamplituden inder Quantenfeldtheorie genannt.

71. In der Programmiersprache PYTHON sieht das wie folgt aus:def ggt(a,b):

while b>0:

a,b=b,a%b;

return a.

72. Ein Widerspruchsbeweis: Angenommen man hat nur endlich viele Primzahlenp1 < p2 < · · · < pn, so betrachtet man die Zahl N := p1p2 · · · pn + 1 und zeigt,dass jeder der Primfaktoren von N nicht in der endlichen Liste auftaucht, einWiderspruch.

73. Der Beweis erfolgt, indem man Fm−2 betrachtet und die dritte binomische Formelanwendet. Damit bekommt man zuerst die Gleichung Fm−2 = Fm−1(Fm−1−2).Weiter geht es mit vollständiger Induktion.

74. Vgl. [Bolzano1851].

75. Vgl. die Gesammelten Werke [Dedekind1930].

76. Die erste Konstruktion wird Grothendieckgruppe genannt und die zweite ist dieKonstruktion des Quotientenkörpers.

77. Vgl. die Gesammelten Werke [Dedekind1930].

78. Vgl. die Gesammelten Werke [Cantor1932].

79. Ein moderner, kürzerer Beweis von Cohens Satz geht auf Bill Lawvere und MylesTierney zurück. Er findet sich in [MacLaneMoerdijk1992].

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80. Moderne Beweise für den Vollständigkeitssatz gehen in der Regel auf die Disser-tation von Leon Henkin zurück. Henkins Beweis ergibt auch eine Version diesesSatzes in der Typentheorie. Vgl.[Henkin1949, Henkin1950, Awodey2020].

81. Natürlich muss die „Acht” nicht unbedingt liegen und die Lage spielt bei derFragestellung auch keine Rolle.

82. Vgl. [Awodey2020].

83. Vgl. [HuberMüller–Stach2017].

84. Es gibt ein berühmtes Buch von Hans Rademacher und Otto Toeplitz mit demTitel „Von Zahlen und Figuren” [RademacherToeplitz1930].

85. Der kleine Satz von Fermat besagt, dass gp ≡ g mod p für p prim und alle g ist.Hieraus folgt gp−1 ≡ 1 mod p für alle g teilerfremd zu p.

86. Der Wert der Eulerschen ϕ–Funktion ϕ(N) an der Stelle N gibt die Anzahl derzu N teilerfremden Zahlen zwischen 1 und N − 1 an.

87. Die unveröffentlichte Arbeit liegt auf www.bitcoin.org.

88. Deutsche Übersetzung des Briefes in [Leibniz1989, Band V,2].

89. Vgl. [Einstein1916].

90. Vgl. Riemanns Gesammelte Werke [Riemann1990].

91. Vgl. [Penrose2006].

92. Gute Einführungen dazu findet man in [Valiant2013, Wigderson2019].

93. Vgl. [McCullochPitts1943].

94. Vgl. [Ben–David2019].

95. Vgl. [Jost2017].

96. Vgl. [Dedekind1930].

97. Die Variablen x, y sind selbst vektorwertige Ausdrücke, d.h. x = (x1, . . . , xm)usw.

98. Vgl. [Thue1977].

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99. Vgl. [Church1940, Turing1936, Post1936] für die drei Originalarbeiten unddas berühmte Buch [Kleene1952] von Kleene.

100. Es gibt auch andere Charakterisierungen von rekursiven Funktionen in P durchprädikative Rekursion, siehe [BellantoniCook1992] und die Literatur darin.

101. Vgl. die Originalartikel [Church1936, Turing1936] sowie Abdrucke weitererArtikel im Buch [Davis1965] von Martin Davis.

102. Vgl. [Manin2010, Chap. V].

103. Jede Relation r ist gegeben durch eine Gleichung u = v, wobei u und v Worte inden Erzeugern sind. Im Fall von Gruppen kann man v = 1 annehmen.

104. Vgl. [Post1947].

105. Vgl. [Turing1950].

106. Besonders in seinem zweiten Buch [Wiener1950].

107. Vgl. [Dedekind1930] und [Müller–Stach2017].

108. Zu Emmy Noether und ihren Einfluss auf die genannten Mathematiker vgl.[Müller–Stach2020].

109. Die Garbeneigenschaft bezieht sich auf Überdeckungen. Ist F eine Prägarbe,U eine offene Menge in X und f ∈ F(U) ein Element, so kann man offeneÜberdeckung U =

i Ui betrachten. Bezeichnet man mit fi die Einschränkungvon f auf Ui, dann stimmen offenbar die Einschränkungen von fi und fj auf dieTeilmenge Ui ∩ Uj überein für alle Paare von Indices i, j. Eine Prägarbe F isteine Garbe, falls man umgekehrt auch aus gegebenen Funktionen fi ∈ F(Ui) mitübereinstimmenden Einschränkungen auf Ui ∩Uj ein Schnitt f ∈ F(U) existiert,der auf jedem Ui die Funktion fi liefert. Die Garbeneigenschaft wird häufig durchdie Exaktheit der folgenden Sequenz symbolisiert:

F(U)→∏

i

F(Ui) ⇒∏

i,j

F(Ui ∩ Uj).

110. Um den Halm Fx zu definieren, muss man den Limes aller F(U) mit x ∈ U

betrachten und erhält Fx als eine Menge, die von x abhängt. Dieses Limesobjektempfängt eingehende Pfeile von allen F(U) mit x ∈ U und ist ein universel-les Objekt mit dieser Eigenschaft, d.h. für jedes andere Objekt G mit solcheneingehenden Pfeilen gibt es einen Pfeil von Fx nach G.

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111. Vgl. [Lawvere1964, LambekScott1986].

112. Letztere Eigenschaft macht es in SEAR etwas schwieriger, die Potenzmenge P (M)für eine Menge M zu definieren. Da Relationen, und damit Funktionen, in SEARaber natürliche Objekte sind, wird P (M) in SEAR durch eine Relation zwischenM und einer geeigneten, axiomatisch definierten künstlichen Potenzmenge P (M)eingeführt, ohne dass die Elemente von P (M) Teilmengen von M sind. Elementealler Mengen in SEAR haben keine interne Struktur oder Semantik, so dass einesolche Axiomatik der Potenzmenge in SEAR zwar etwas umständlich, aber ganznatürlich ist.

113. Vgl. [LambekScott1986].

114. Vgl. [MacLaneMoerdijk1992, Chap. I, §4] für solche Aussagen und eine Defi-nition von Elementartopoi, die keine Mengen benutzt, sondern ΩB axiomatisiert.

115. Vgl. [Illusie2004].

116. Vgl. [Lurie2008] für Beschreibungen solcher Beispiele.

117. Vgl. [RiehlVerity2020].

118. Vgl. [Lurie2008, Lurie2009].

119. Vgl. [vdBergMoerdijk2018].

120. Vgl. „A la poursuite des champs” [Grothendieck1983].

121. Die Dwyer-Kan Lokalisierung ist ein Operation, die eine Klasse von Morphismeninvertiert, d.h. zu Äquivalenzen im Sinne von (∞, 1–Kategorien macht, auch wennsie es a prori nicht waren. Diese Methode ist etwas allgemeiner als die Gabriel–Zisman Lokalisierung von Kategorien und hat ihren Ursprung in der Konstruktionder Brüche aus den ganzen Zahlen heraus, bei der man alle von Null verschiedenenganzen Zahlen invertiert.

122. Das Buch [Linnebo2017] erklärt all diese Strömungen.

123. Vgl. [Bolzano1837].

124. Vgl. [Takeuti2013] für alle Notationen.

125. A priori ist nicht klar, dass diese Definition in Ordnung ist, denn es könnte sein,dass es natürliche Zahlen gibt, die weder gerade noch ungerade sind oder gleich-zeitig gerade und ungerade. Das Theorem schließt Ersteres aus und mit etwas

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mehr Aufwand kann man auch Letzteres ausschließen. Im Wesentlichen mussman dafür zeigen, dass die 1 nicht gerade sein kann.

126. Vgl. [Awodey2011].

127. Vgl. dazu die Diskussion über Benacerrafs Dilemma in [Benacerraf1965] und[Linnebo2017].

128. Vgl. dazu den Originalartikel [Benacerraf1965] von Paul Benacerraf und dasBuch [Linnebo2017].

129. Letztere wird auch nach Giuseppe Peano benannt, weil dieser die Logik stärker inden Blickpunkt rückte als Dedekind. Dedekinds Arbeiten entstanden aber vieleJahre vor Peanos Publikation von 1889.

130. Königs Lemma, das keinen konstruktiven Beweis hat, besagt, dass ein Graph, beidem nur endlich viele Kanten aus jedem Knoten entspringen, genau dann unend-lich ist, wenn es in ihm einen unendlichen Pfad gibt, der sich selbst vermeidet.

131. Vgl. [Rovelli2009].

132. Vgl. [Leibniz1996].

133. Viele verblüffende Beispiele dafür finden sich in [Rosling2019].

134. Vgl. [Gödel2001, Vol. I].

135. Paradoxerweise hat Skolem die Existenz überabzählbarer Mengen abgelehnt.

136. Vgl. die Arbeit „Einige Bemerkungen zur axiomatischen Begründung der Men-genlehre” [Skolem, S. 149].

137. Diese Beweise werden in [Smullyan2013] und in [Manin2010] erläutert.

138. Vgl. [Gödel1931, LambekScott2011].

139. Vgl. [Martin–Löf1994].

140. Vgl. [Turing1950].

141. Die Originalarbeit findet sich in [Lucas1961].

142. Vgl. Gesammelte Werke [Gödel2001], Band III, Seite 310.

143. Vgl. [Penrose1989, Penrose1994].

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144. Vgl. [Searle1992].

145. Diese Weiterentwicklungen bauen in der Regel auf den Tarskischen Bikonditio-nalen auf. Eine Beschreibung solcher Theorien findet man in [Halbach1996].

146. Vgl. [Tarski1935], erschien zuerst 1933 in polnischer Sprache in [Tarski1933].

147. Vgl. [Tarski1935].

148. Vgl. [Tarski1935].

149. Vgl. [Tarski1931] und [TarskiVaught1956] sowie [Tarski1969].

150. Vgl. [Manin2010, S. 256]. Tarskis Satz wird in [Smullyan2013] bewiesen.

151. Vgl. dazu [Manin2010, Ch. II, §11].

152. Vgl. [MacLaneMoerdijk1992] und die Originalarbeit [Tarski1938].

153. Vgl. ihre Arbeiten im Journal of Symbolic Logic, beginnend mit [Barcan1946].

154. Vgl. [Kripke1959].

155. Vgl. [Kripke1975].

156. Vgl. [Kripke1980]. In diesen Streit waren viele andere Personen involviert.

157. Vgl [Church1940, LambekScott1986].

158. Vgl. [Martin–Löf1984].

159. Eine Eigenschaft eines Begriffes ist intensional, wenn der Begriffsinhalt oder derInbegriff, also die Merkmale des Begriffs eine Rolle spielen. Sie ist extensional,wenn es nur auf den Begriffsumfang ankommt.

160. Vgl. [Martin–Löf1994].

161. Vgl. [LambekScott1986].

162. Vgl. [vdBerg2018].

163. Die Schlussregeln findet man in [Voevodsky2013, Appendix A].

164. Vgl. [Awodey2015, vdBerg2018, Grayson2018].

165. Vgl. [Andrews2002, §50].

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166. Vgl. [HofmannStreicher1998], [AwodeyWarren2009] und [Voevodsky2013].

167. Ein Resultat von van den Berg und Garner, siehe [vdBergGarner2011].

168. Vgl. [Grothendieck1983, KapranovVoevodsky1991].

169. Vgl. [Voevodsky2013].

170. Offenbar eine Idee von Paul Bernays, siehe [Grayson2018].

171. Der Beweis findet sich in [Voevodsky2013, Remark 3.11.2].

172. Vgl. [Voevodsky2013, Remark 3.11.2].

173. Beide Definitionen findet man in [Voevodsky2013].

174. Vgl. [Awodey2014, §5].

175. Vgl. [Voevodsky2013, Chap. 4].

176. Für einen Beweis siehe [Awodey2014].

177. Dieses logische Prinzip hängt mit Ideen von Carnap, Tarski und Grothendieck zurInvarianz logischer Wahrheiten zusammen, vgl. [Carnap1998, Awodey2017,

Awodey2018].

178. Vgl. [Henkin1950]. Wenn Typen A,B mit Hilfe von Mengen |A| und |B| in-terpretiert werden, so wird Hom(A,B) i.A. mittels einer geeigneten Teilmengevon HomSet(|A|, |B|) interpretiert. Siehe [LambekScott1986] für einen anderenBeweis dieses Vollständigkeitsatzes neben [Henkin1950]. In solchen Verallgemei-nerungen gibt man aber andere Sätze der Logik, wie den Kompaktheitssatz undden Satz von Löwenheim–Skolem in der ursprünglichen Formulierung auf.

179. Vgl. [vdBergMoerdijk2018, vdBerg2018] und [Shulman2019b] für eine Va-riante mit Quillenschen Modellkategorien.

180. Van den Berg und Moerdijk haben eine exakte Komplettierung der syntakti-schen Kategorie untersucht, in der man ein Modell der konstruktiven Mengen-lehre CZF von Peter Aczel finden kann, was die Stärke der Konstruktion belegt.Vgl. [vdBergMoerdijk2018]. Mike Shulman hat in einem Blog vom 4. April2017 im n–Category Café (https://golem.ph.utexas.edu/category) Axiomefür (∞, 1)–Elementartopoi skizziert.

181. Vgl. Chap. VI in [MacLaneMoerdijk1992].

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182. Vgl. [Awodey2011] für einen Vergleich aller drei Theorien. Es gibt auch Ar-beiten über Vergleiche der Beweisstärke der drei Theorien. Zum Beispiel istdie Beweisstärke von ETCS mit der konstruktiven Mengenlehre CZFC bekanntund der Vergleich zwischen CZFC mit der Typentheorie von Martin-Löf, vgl.[Shulman2019] und [vdBergMoerdijk2018].

183. Dies ist eine trivalente Beziehung zwischen Typen, logischen Propositionen undObjekten in höheren Elementartopoi, die die Curry–Howard Korrespondenz ver-allgemeinert, indem sie noch die kategorielle Sichtweise hinzufügt.

184. Der Satz besagt, dass man jede Landkarte so mit 4 Farben einfärben kann, dassangrenzende Länder unterschiedliche Farben haben. Für einen Beweis mit Hilfevon COQ siehe [Gonthier2008].

185. Vgl. [Wittgenstein1989].

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