Wandlerin zwischen den Welten; Wanderer between worlds;

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1 3 ORIGINALARBEIT Zusammenfassung Anneliese Schnurmann gehörte zur ersten Generation der Mit- arbeiterinnen um Anna Freud in den „War Nurseries“ und der „psycho-analytical child experts“, wie die kinderanalytische Fortbildung genannt wurde, die von Anna Freud aufgebaut worden war. Obwohl Anneliese Schnurmann später auch noch die Ausbildung zur Erwachsenenpsychoanalytikerin am British Psycho-Analytical Ins- titute absolvierte, stand sie zeitlebens in ihrem Denken Anna Freud nahe. Dies mag auch darin mitbegründet sein, dass sie, wie viele der Emigrantinnen aus Deutsch- land und Österreich in dem Kreis um Anna Freud eine Ersatzheimat gefunden hatte. Noch in ihrer Berliner Zeit hatte Anneliese Schnurmann, die mit der Bonhoeffer- Familie befreundet war, zusammen mit Dietrich Bonhoeffer die „Jugendstube Char- lottenburg“ für arbeitslose Jugendliche aufgebaut. Wanderer between worlds Anneliese Schnurmann (1908−2006) Abstract Anneliese Schnurmann belongs to the first generation of Anna Freud’s coworkers in the war nurseries and psycho-analytical child experts, as pediatric analytical training was called, which were established by Anna Freud. Although Anneliese Schnurmann later completed a training at the British Psychoanalyti- cal Institute as an adult psychoanalyst, she remained a lifelong follower of Anna Freud’s concept. This might be due the fact that she had found a replacement home- land as had many emigrants from Germany and Austria in the circle around Anna Freud. Even during her time in Berlin, Anneliese Schnurmann, who was befriended Forum Psychoanal (2013) 29:343–355 DOI 10.1007/s00451-013-0154-z Wandlerin zwischen den Welten Anneliese Schnurmann (1908−2006) Christiane Ludwig-Körner Prof. Dr. phil. habil. C. Ludwig-Körner () International Psychoanalytic University, Stromstraße 3, 10555 Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] Online publiziert: 17. August 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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Originalarbeit

Zusammenfassung anneliese Schnurmann gehörte zur ersten generation der Mit-arbeiterinnen um anna Freud in den „War nurseries“ und der „psycho-analytical child experts“, wie die kinderanalytische Fortbildung genannt wurde, die von anna Freud aufgebaut worden war. Obwohl anneliese Schnurmann später auch noch die ausbildung zur erwachsenenpsychoanalytikerin am british Psycho-analytical ins-titute absolvierte, stand sie zeitlebens in ihrem Denken anna Freud nahe. Dies mag auch darin mitbegründet sein, dass sie, wie viele der emigrantinnen aus Deutsch-land und Österreich in dem Kreis um anna Freud eine ersatzheimat gefunden hatte. noch in ihrer berliner Zeit hatte anneliese Schnurmann, die mit der bonhoeffer-Familie befreundet war, zusammen mit Dietrich bonhoeffer die „Jugendstube Char-lottenburg“ für arbeitslose Jugendliche aufgebaut.

Wanderer between worlds Anneliese Schnurmann (1908−2006)

Abstract Anneliese Schnurmann belongs to the first generation of Anna Freud’s coworkers in the war nurseries and psycho-analytical child experts, as pediatric analytical training was called, which were established by anna Freud. although anneliese Schnurmann later completed a training at the british Psychoanalyti-cal institute as an adult psychoanalyst, she remained a lifelong follower of anna Freud’s concept. This might be due the fact that she had found a replacement home-land as had many emigrants from germany and austria in the circle around anna Freud. even during her time in berlin, anneliese Schnurmann, who was befriended

Forum Psychoanal (2013) 29:343–355DOI 10.1007/s00451-013-0154-z

Wandlerin zwischen den WeltenAnneliese Schnurmann (1908−2006)

Christiane Ludwig-Körner

Prof. Dr. phil. habil. C. ludwig-Körner ()International Psychoanalytic University, Stromstraße 3,10555 Berlin, DeutschlandE-Mail: [email protected]

Online publiziert: 17. August 2013© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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with the bonhoeffer family, established the “Jugendstube Charlottenburg” (Youth Home Charlottenburg) for unemployed youth, together with Dietrich Bonhoeffer.

Anneliese Schnurmanns Leben in Karlsruhe und Berlin

als ich anneliese Schnurmann (abb. 1) im Juni 1996 das erste Mal besuchte, öffnete mir eine kleine, zierliche Frau, die mich mit ihren flinken braunen Augen freundlich anschaute. Obwohl sie damals bereits 86 Jahre alt war, ging von ihr immer noch eine mädchenhaft anmutende ausstrahlung aus.

Anneliese Schnurmann wurde am 31.01.1908 in Karlsruhe in eine wohlhabende jüdische Familie geboren.

Die wollten mich anne-elisabeth nennen und einschreiben als anne-elisabeth, aber mich dann anneliese rufen, und mein Vater, in seiner aufregung bis zum Weg zum Standesamt, hat er das vergessen und hat mich für anneliese eingeschrieben. (inter-view 08.06.1997)

ihr Vater, Jacob Schnurmann, besitzer einer Papierfabrik, verstarb drei Monate nach der geburt seiner tochter anneliese an den Folgen eines reitunfalls. es ist anzuneh-men, dass die trauer ihrer Mutter, alice Schnurmann, geb. auerbach, die frühe Kind-heit von anneliese überschattete. ihre Mutter stammte aus Stuttgart. als assimilierte Juden hatte ihre Familie zwei generationen zuvor schon das Weihnachtsfest gefeiert, während der Vater von anneliese Schnurmann „etwas strenger religiös war“. bereits bevor anneliese geboren worden war, zeigten ihre eltern großes soziales engage-ment. Anneliese Schnurmann erzählte über ihren Vater (Interview vom 26.04.1997):

Und da hatte er viele Frauen als angestellte. Und die Frauen hatten Kinder, eheliche und uneheliche. Und dann hat er gefunden, die dürfe man nicht den Müttern weg-nehmen. Und so errichtete er ein Kinderhaus …, da waren nonnen, und die haben eben für diese Kinder gesorgt.

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Mutter kümmerte sich um sogenannte gefallene Mädchen. eigentlich interessierte sie sich für Musik und Malerei, aber die Mädchen taten ihr leid, weil sie sich so dumm benahmen.

anneliese Schnurmann erinnert sich, wie ihre Mutter, die ein grammofon besaß, mit ihr Wagneropern hörte, die anneliese Schnurmann zwar später nicht besonders liebte, aber die spezielle Zuwendung seitens der Mutter, vor allem wenn sie ihr gedichte vorlas. besonders im Krieg waren das für sie sehr schöne erinnerungen, an denen sie sich erfreuen konnte und die sie stützten.

ihre Mutter erkrankte an tuberkulose, und die Fünfjährige lebte dann über ein Jahr mit ihrer elfeinhalb Jahre älteren Schwester Leonore (1896–1989) bei Verwandten in Marseille. ein Jahr später, während die Mutter in einem Sanatorium in bonn weilte, kamen sie für drei Monate zu einer tante mütterlicherseits nach Spanien. nach dem Tod der Mutter 1915 wurde ein Vormund (ein Stabsarzt) eingesetzt, der die beiden Mädchen in seine Familie aufnehmen wollte, wogegen sie sich heftig wehrten. es gelang ihnen, im elterlichen Haus, zusammen mit den vertrauten angestellten, unter der „Obhut“ des ungeliebten Vormunds weiterzuleben. Die ersten Schuljahre ging anneliese Schnurmann noch in Karlsruhe zur Schule.

als in ihrem vierzehnten lebensjahr ihre Schwester Moritz Straus1 (1882–1959) heiratete, den geschäftsführer der argus-Motoren-gesellschaft und Horch-Werke, und nach Berlin zog (Humboldt-Straße 12), nahm das junge Ehepaar Anneliese Schnurmann bei sich auf. Ihre beiden Nichten Hannah (1922) und Julia (1926–1984) erlebte sie wie jüngere geschwister. Die beschäftigung mit ihnen weckte ihr lebens-langes interesse an der entwicklung von Kindern. Sie blieb bis zum lebensende in enger Verbindung mit ihnen und ihren nachkommen. aber obwohl sie sich mit ihren nichten sehr gut verstand, fühlte sie sich in der Familie ihrer Schwester „nicht ganz wohl, da die Schwester halt nicht meine Mutter sein konnte“ (Interview 24.06.1996). Umso wichtiger wurde für sie die Freundschaft zu Susanne bonhoeffer, der Jüngsten von acht Kindern von Karl bonhoeffer, Professor für neurologie und Psychiatrie in berlin, als diese in der Untertertia in ihre Klasse kam. (anneliese Schnurmann war bereits 1921 in die Quarta des Bismarck-Gymnasiums, in der Siemensstraße in Berlin-Grunewald gekommen.) „… Das war eine sehr lange, gute Freundschaft mit der ganzen Familie.“ Sie wohnten nur fünf Minuten voneinander entfernt und entwi-ckelten eine sehr enge beziehung zueinander. Die Familie bonhoeffer wurde eine art ersatzfamilie für anneliese Schnurmann, ähnlich wie es später der Kreis um anna Freud für sie wurde (Interview 24.11.1996). Sie litt sehr unter der Ermordung von Dietrich Bonhoeffer, den sie über alles schätzte. Im Jahr 2000 setzte sich Anneliese Schnurmann noch von der Schweiz aus, wo sie inzwischen lebte, für die aufnahme

1 Bereits 1916 hatte Straus die Geschäftsleitung der Argus-Motoren-Gesellschaft übernommen und stellte, nachdem er 1920 die Aktienmehrheit des Automobilwerks Horch übernommen hatte, Paul Daimler als Motorenkonstrukteur zur Weiterentwicklung von automobil- und Flugmotoren ein. Unter der leitung von Straus wurde das Horch-Werk einer der angesehensten Fahrzeughersteller der Welt, zumal es 1932 Teil der Auto-Union (Audi) wurde. Im Jahr 1938 wurde Straus durch die Nationalsozialisten gezwungen, das Unternehmen zu verkaufen, und emigrierte in die Schweiz. Seine tochter Hannah gründete 1999 die gemeinnützige Moritz-Straus-Stiftung in basel, mit dem Ziel der Förderung von Wissenschaft und lehre an der Universität basel.

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von Dietrich bonhoeffer in das Holocaust Museum Yad Vashem in Jerusalem ein.2 Bei allen unseren Interviews leuchteten ihre Augen, wenn sein Name fiel. Anneliese Schnurmann hatte nie geheiratet, und ich gewann den eindruck, dass er ihre stille Liebe war, auf den sich diese Aussage bezog:

Das ist so eine alte geschichte, die man haben will, kriegt man nicht, und die einen wollen, die will man nicht! Kann man nichts machen … Ja, aus Kindern habe ich mir immer sehr viel gemacht … da ist Kontakt. … Und dann habe ich mich eben hier wohl gefühlt. Mit den Kindern, das ist mir eigentlich fast wohler als am Schreibtisch. (Interview 24.11.1996)

Sie erzählte, dass sie „von klein auf“ gerne Kinder gehabt hätte. Dies sei ihr aber ver-sagt geblieben, was sie sehr bedauerte. in einem gemeinsam mit Manna Friedmann (28.06.1998) geführten Gespräch einigten sich beide darauf, dass sie jetzt sozusagen diejenigen seien, die die Mütter für ihre ersatzkinder bis hin in die dritte generation darstellen.

Während des Jahres 1924 besuchte Anneliese Schnurmann eine neusprachliche Schule in einem Schweizer Mädchenpensionat in Fetan, graubünden, in der nähe des engadins. im anschluss daran lebte sie drei Monate bei ihren Verwandten in Spanien, um sich dann an einer Haushaltsschule in Deutschland zu bewerben. Der Direktor legte ihr jedoch wegen ihrer jüdischen religion nahe, sich lieber an einer anderen Schule vorzustellen, da er nicht garantieren könne, dass die Mädchen sie in ruhe ließen.

Und dann habe ich mich an der Schweizer Haushaltungsschule billingen am tuner See beworben. Das war längst nicht so systematisch. Das war mit landwirtschaft und Viehzucht, glaub ich … Und das hat morgens um sechs angefangen, wo ich Kaffee kochen sollte und keine ahnung hatte, wie man das macht. Und um zwei Uhr waren wir fertig, da sind wir schwimmen gegangen und boot gefahren, aus-flüge machen und ähnliche nette Sachen zum Vergnügen. Und wir hatten eine Rota, immer zwei zusammen, die mussten einmal den Hauptgang, einmal den nach-tisch zubereiten usw. Wann immer ich am Hauptgang dran war, gab’s Lungenha-schee, und wann immer ich das Dessert hatte, gab’s Himbeertörtchen. (Interview 26.04.1997).

2 „I presently am in Berne, Switzerland. I am 92 years old. Since, at age of 14, I met in school and made friends with Susanne Bonhoeffer, Dietrich’s youngest sister, the Bonhoeffer house became my second home, with Dietrich as a friend. With advancing adolescence and adulthood, Dietrich and i had many good talks about religion, politics, and other things. i am Jewish, not baptized and never intended to change my religion, nor did Dietrich try to persuade me to. i know that one of the main reasons why Dietrich opposed the nazis was their persecution of the Jews. His main preoccupation was the fate of the Jews. as regards his involvement in the conspiracy to assassinate Hitler, he once said to me: ‚If someone in a car is racing down a hill, running over and killing people (he was thinking mainly of Jews) he has got to be stopped by any means, if necessary by killing him.‘ On numbers of occasions after that he and i discussed related matters, and it was consistently clear that he had totally renounced the antisemitism and anti-Judaism of Martin luther and all others, most particularly the nazis. While it is now well over sixty years since i had these conversations with Dietrich, I recall them quite distinctly for two reasons: First, since I am a Jew and heard them as including me during those terrible times, his concern affected me greatly. Second, since i am a psychiatrist and trained to recall statements of importance, they are graven in my mind. bonhoeffer was a great man and a true friend of Jews in distress, and he should be recognized at Yad Vashem“ (http://www.thefreelibrary.com/Bigotry+against+Bonhoeffer+in+Jerusalem.-a0205746295 vom 16.6.2013).

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Im Jahr 1927 kehrte sie nach Berlin zurück und besuchte zusammen mit Susanne bonhoeffer Haushaltungskurse im Pestalozzi-Fröbel-Haus, das Herta von gierke lei-tete. in diesem Kurs wurde z. b. für die Volksküche gekocht. anna von gierke, ihre Schwester, leitete das Jugendheim in Charlottenburg. lachend erinnert sich anne-liese Schnurmann, wie sie dort durch das „Bügelexamen“ fiel; im Kochen sei sie jedoch gut gewesen.

Die necken mich alle noch und sagen, ich hab’ nen Bügelkomplex. Manna (Fried-mann) kommt und bügelt meine Blusen. (Interview 24.11.1996)

Manna Friedmann kannte anneliese Schnurmann aus der arbeit in den „War nur-series“. Sie befreundeten sich, als eine Wohnung über der des ehepaars Friedmann frei wurde. Oskar Friedmann hatte seine Frau gebeten, nach einer Psychoanalytikerin ausschau zu halten, die in die frei werdende Wohnung über ihnen ziehen könne. er wünschte sich einen ruhigeren Mieter, da ihn das lärmen der Kinder der dort zuvor lebenden Familie in seiner psychoanalytischen arbeit sehr gestört hatte. So zog anneliese Schnurmann ein, die zu der Zeit eine Wohnung suchte. nach dem plötz-lichen Tod von Oskar Friedmann 1958 überlegten beide Frauen, ob sie gemeinsam ein Haus mieten/kaufen könnten, in dem jede ihre eigene Wohnung hätte, was jedoch nicht zu realisieren war. trotz ihres unterschiedlichen familiären Hintergrunds wur-den anneliese Schnurmann und Manna Friedmann enge Freundinnen. So habe anne-liese Schnurmann z. b. alles, was sie jetzt vom Judentum wisse, von Manna erlernt (Interview vom 28.06.1998).

Da anneliese Schnurmann in den augen von Manna Friedmann eine art Hass-liebe zur Ordnung hatte, wohingegen Manna Friedmann Ordnung liebte und diese auch gern für andere herstellte, kam sie öfter in den Haushalt von ihrer Freundin, um „klar Schiff“ zu machen (Interview vom 28.06.1998).

Jugendstube Berlin-Charlottenburg

als anneliese Schnurmann sich entschloss, ihr abitur nachzuholen, wandte sie sich an den Direktor des bismarck-lyzeums. er riet ihr, nachhilfestunden zu nehmen und direkt in die Oberprima einzusteigen, sodass sie 1929 mit einundzwanzig Jahren ihr abitur ablegte.

Sie war an sozialen Fragen interessiert, und die damalige not, besonders der arbeitslosen Jugendlichen, bedrückte sie. Sie wollte, soweit dies möglich war, mit ihrem Vermögen Hilfe leisten. bei der besprechung dieser Probleme in der Familie bonhoeffer schlug Paula bonhoeffer, die Mutter der zahlreichen geschwister vor, etwas für die ernährung und beschäftigung dieser jungen leute zu tun. Daraufhin gründeten Dietrich bonhoeffer und anneliese Schnurmann die „Jugendstube“, eine tagesunterkunft für arbeitslose junge leute. Zuvor hatte sich Dietrich bonhoeffer rat bei Hans brandenburg geholt, der damals Missionsinspektor bei der berliner Stadt-mission war. „Dieser leitete die ‚Freie Jugend‘ von Paul Le Seur, zu der auch sozialis-tische und kommunistische Jugendgruppen zum Diskutieren kamen. Man versuchte sich dort u. a. mit einem freiwilligen arbeitsdienst und abendkursen für erwerbs-lose“ (bethge 1994, S. 276). Am 23.10.1932 schrieb Bonhoeffer an ihn: „Eine mir

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bekannte Dame hat die Absicht, im Laufe des nächsten Winters monatlich 430 RM [reichsmark] für die errichtung einer Jugendstube für erwerbslose zur Verfügung zu stellen. es würde sich dabei um die Schaffung eines geheizten tagesraumes ver-bunden mit nützlicher, möglichst berufsvorbereitender beschäftigung handeln. lei-ter wie Unterrichtende würden vermutlich durch das Studentenwerk, die ‚akademi-sche Selbsthilfe‘ unschwer zu finden sein …. Folgende Fragen würde ich besonders gern mit ihnen besprechen. besteht eine Möglichkeit, dass von irgendwoher umsonst räume zur Verfügung gestellt würden? Muss man sich hierfür an städtische Stellen – und an welche – wenden? Welche Beschäftigungszweige würden Sie für besonders ratsam halten? Würde Material von irgendwelchen Stellen für eventuelle Werkstätten zur Verfügung gestellt werden? Was lässt sich mit 430 RM überhaupt bewerkstelli-gen? Man hat der Dame angeboten, sich bei der ‚Notgemeinschaft zur Errichtung von Heimen und Küchen für erwerbslose‘ anzuschließen. Was halten Sie davon? Da die Jugendstube interkonfessionell und unparteiisch sein soll, ist dieser anschluß wohl kaum zu empfehlen. Die Dame kann die genannte Summe für 6 Monate garantieren, darüber hinaus hat sie zwar die absicht die Sache fortzuführen, aber heute noch nicht die Möglichkeit mit gewißheit zu verfügen“ (bethge 1994, S. 276).

anneliese Schnurmann und Dietrich bonhoeffer wandten sich dann an anna von Gierke, die das Charlottenburger Jugendheim von 1928 bis zur Auflösung 1933 lei-tete. Durch sie lernte sie die acht Jahre ältere Elenore (Nore) Astfalck, Hortnerin, Jugendleiterin, Dozentin am Jugendheim Charlottenburg kennen und deren Freundin Johanna Nacken (1896–1963), eine Werklehrerin, die ebenfalls am Jugendheim Ber-lin-Charlottenburg unter anna von gierke tätig war und Jugendleiterinnen unterrich-tete (Schnurmann, Brief vom 08.02.2000).

nore astfalck wurde eine enge Freundin von anneliese Schnurmann.

Die nore, die war eine fabelhafte, tüchtige Person, die ist im alter von über 90 Jah-ren gestorben und die war bis zuletzt frisch. Wir haben noch ihren 90. geburtstag gefeiert. (Interview 24.11.1969)

Schoning (1996, S. 147) schreibt zu Nore Astfalck: „Sie unterrichtete morgens Schülerinnen, leitete nachmittags einen Kinderhort und abends, ebenso intensiv, die Jugendstube für arbeitslose Jugendliche. aus der Fülle ihrer praktischen erfahrung verfolgte sie ihre aufgaben mit Freude und ohne auf die Uhr zu schauen“.

anna von gierke half mit beim aufbau der Jugendstube, und erfahrungen von Friedrich Siegmund Schultze und dessen „Sozialer arbeitsgemeinschaft berlin-Ost“ wurden einbezogen. Im Herbst 1932 wurde mit der Arbeit in der Schloßstraße in Charlottenburg begonnen. In einem Brief vom 23.11.1932 schrieb Dietrich Bonhoef-fer an Anneliese Schnurmann:

In der Stube gab’s etwas Unruhe … Z. schien sich denn auch bei den Jungen mit A. zusammen unbeliebt gemacht zu haben. neulich gab er sich angeblich im betrun-kenen Zustand als leiter der Jugendstube aus. ich glaube, wir müssen ihn sobald als möglich an die Luft setzen. Sonst gibt’s richtig Krach. Sonst ist es weiter nett. aber wir denken an Umziehen. es wird zu eng. Was meinen Sie dazu? Zwei theo-logiestudenten arbeiten mit. Da ist auch ein Techniker, der gern im Monat 25.- Mark verdienen möchte und 3 Abende dabei sein kann … (Bethge 1994, S. 277).

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bethge (1994, S. 277) berichtet weiter:„ende november richtete man die neuen räume ein, an deren gestaltung junge

Leute der Jugendstube schon tatkräftig mithalfen.“ Am 01.12.1932 fand der Umzug statt. Am 08.12.1932 kündigte Bonhoeffer Annliese Schnurmann das Einweihungs-fest an:

„Dazu soll es Würstchen, Kuchen und Zigaretten geben. Die Jungen hatten in den letzten tagen wirklich tüchtig gearbeitet und man mußte ihnen diese Freude machen. Der Spaß kostet 20.- RM … Die Sache mit dem Techniker dachte ich so, daß er 3 Mal abends in der Woche kommt, Stenographieuntericht gibt und sonst hilft und dafür aus der Kasse der T.H. Pfarrstelle 15.- und von Ihnen 15.- RM bekommt.“

es trafen sich dort sehr verschiedene Jugendliche. anneliese Schnurmann erinnert sich an einen, „der geistig nicht ganz auf der Höhe war. er war nicht direkt schwach-sinnig, aber so einen IQ von vielleicht 70–80 …“. Manche wurden von Anna von Gierke dorthin geschickt; andere erfuhren es durch Mundpropaganda.

es war eine vollkommene Mischung. einer oder zwei waren intelligente Kommu-nisten … ich bin mit denen auch durch die Stadt gelaufen. Wir sind mal zu aschin-ger und haben da was gegessen. Und die waren hinterher noch furchtbar hungrig, und dann haben wir nochmal paar Sandwiches besorgt. (Interview, 24.11.1996)

Diese einrichtung wurde, nachdem anneliese Schnurmann in genf war, von Dieter bonhoeffer, nore astfalck und Johanna nacken weitergeleitet. nore astfalck reali-sierte, dass es gefährlich würde, die einrichtung weiterzuführen.

Und inzwischen wurde das ja hitlerisch, und viele von denen waren Kommunisten. Und dann musste man das auflösen, und die Nora hat gesagt: ‚Es ist gefährlich.‘ Wir hatten die ganzen indexkarten und alles Schriftliche über diese Jugendstube mit den leuten alles verbrannt, eh die nazis kamen, das zu untersuchen. Und dann ist denen nichts geschehen. Die sind dann irgendwo untergetaucht, irgendwo verschwunden, dank Nora. Das war wohl dann das Ende der Jugendstube. (Interview 24.11.1996)

Nach Bethge et al. (1986, S. 96) bekamen nach dem 30.01.1933 kommunistische besucher Schwierigkeiten auf der Straße, sodass bonhoeffer sie für einige Zeit in der biesenthaler baracke verschwinden ließ. bald musste die „Jugendstube“ geschlossen werden. „an die Stelle der Sorge für die aus dem arbeitsprozess ausgestoßenen tritt nun die für andere, viel radikaler gebrandmarkte, die Juden. anneliese Schnurmann, selbst davon betroffen, musste emigrieren.

Studienzeit und Emigration nach England

Im Jahr 1929 hatte Anneliese Schnurmann ihr Studium der modernen Sprachen in Heidelberg begonnen, wobei sie zuerst altfranzösisch lernen musste. Hiermit hatte sie überhaupt nicht gerechnet, und es bereitete ihr auch keinen Spaß. Daraufhin wechselte sie nach einem Semester und begann 1930 in Genf ein Ökonomiestudium. als sie auch damit nicht zufrieden war, ging sie nach Frankfurt, um Soziologie am institut für Sozialwissenschaften zu studieren.

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Und ich hab’ gedacht, da liest man interessante Bücher. Aber da fing man erst mit altfranzösisch an und entsprechendem englisch. also, das fand ich unerträglich. Bin im Neckar schwimmen gegangen. Da hab’ ich gedacht: ‚Das ist doch viel inte-ressanter, mich mal mit der Volkswirtschaft zu beschäftigen.‘ Und dann hab’ ich gedacht: ‚Nimmst du halt Ökonomie in Genf.‘ Und da hab’ ich gemerkt, jeder Pro-fessor hat seine eigene, kleine theorie, und keiner weiß eigentlich was. also das war auch nicht das Wahre. aber dann habe ich die Soziologie gemacht. Das lag mir, am Institut für Sozialwissenschaften. (Interview 24.11.1996)

Als 1933 die „Frankfurter Schule“ an der Universität Frankfurt, wo Anneliese Schnurmann unter Karl Mannheim Soziologie studierte, aufgelöst wurde, setzte sie ihr Studium in Genf fort, das sie 1935 mit dem akademischen Grad „Licence de Sciences Sociales“ abschloss. aus der Frankfurter Zeit kannte sie teddy Wiesen-grund (Theodor Adorno), Max Horkheimer und Paul Tillich.

Im Jahr 1936 unterrichtete sie für drei Monate Französisch an der Boarding School „Stoatley rough“3, in Haslemere (Surrey), das von Hilde Lion und Emmy Wolf mit Unterstützung der Quäker nach ihrer erzwungenen Emigration 1933 gegründet wor-den war. Sich aus der gemeinsamen arbeit am Jugendheim Charlottenburg kennend wandten sich nore astfalck4, die ebenfalls auf der „schwarzen liste“ der national-sozialisten stand, und Johanna nacken an Hilde lion und halfen beim aufbau dieser Schule (Brief von Anneliese Schnurmann vom 08.02.2000).

Anneliese Schnurmann kehrte dann nochmals nach Berlin zurück, das sie 1937 verließ. Dieses Datum bezeichnete sie selbst als ihre offizielle Auswanderung, da sie berlin als ihre Heimat erlebte. es folgten postgraduale Studien in Psychologie und erziehungswissenschaften an der Universität genf und basel. bei einem auf-enthalt in Basel 1939 entschloss sie sich, angesichts der drohenden Kriegsgefahr, nach england auszuwandern, und nutzte den Umstand, dass sich im Sommer alle ihre Freunde in london in den Ferien trafen. Sie hatte zwei Koffer mit den wichtigsten Sachen dabei, fest entschlossen, nicht mehr zurückzukehren. Sie meldete sich zum freiwilligen Frauendienst, der in einem Kinderspital eine Köchin für evakuierte Kin-der suchte.

also ich weiß nicht, warum ich mich da gemeldet hab, ich hab mal zuhause in abwesenheit der Köchin für acht Personen einen Monat gekocht, aber fürs ganze Institut zu kochen, war wohl’n bisschen übertrieben. Und da hat mich diese Oberin da interviewt und hat gesagt: ‚Ich möchte Sie gerne haben, aber nicht als Köchin. ich möchte Sie für die Kinder.‘ Und das war genau richtig. Und dann war ich da bis 1942. Mir haben nämlich die pädagogischen Maßnahmen der Oberschwester nicht gepasst. Die Maitres, die war richtig, die war sogar mal Pfadfinderführerin gewesen, aber sie wollte anscheinend dieser Oberschwester nicht reinreden, und die

3 Dr. Hilde Gudilla Lion (1893–1970), Volkswirtin, unterrichtete ab 1925 Pädagogik und Methodik an dem von anna von gierke gegründeten sozialpädagogischen Seminar des Vereins Jugendheim in berlin. Von 1929–1933 war sie Direktorin der Deutschen Akademie für Soziale und Pädagogische Frauenarbeit in berlin, die von alice Salomon ins leben gerufen worden war (Schoning 1996, S. 219).4 Im Jahr 1946 kehrte Nore Astfalck nach Deutschland zurück und wurde Mitarbeiterin der Odenwald-schule. Gemeinsam mit Johanna Nacken übernahm sie 1950 den (Wieder-)Aufbau und die Leitung des „Immenhofs“ in Hützel (Arbeiterwohlfahrtheim für Kinder-, Jugendliche und Mütter, Lüneburger Heide; Schoning 1996).

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ihrerseits, die war kranke Kinder gewöhnt und die hat die an und für sich gesunden Kinder, die nur aus ihren Quartieren geworfen wurden, wegen Hautausschlägen, bettnässen und ähnlichen Dingen, die hat sie als kranke Kinder behandelt. Die wollt sie abends um halb sechs in’s Bett tun, hat’s getan, hat sich gewundert, wenn die Kinder nachts um zwei getobt haben und hat so’n Kind von eigentlich anderthalb Jahren den ganzen tag angebunden im Wagen sitzen lassen. ich hab gesagt, ich kann mir das nicht mitansehen. Und dann hat die nora, die dort oben gearbeitet hat, gesagt: ‚Geh doch zu Anna Freud.‘ Und da bin ich dann nach London in ein Mee-ting. Da war jeden Mittwoch Besprechung. Und da war ich begeistert und dachte: ‚Genau!‘ Und dann bin ich nach dem Meeting zu ihr und hab gesagt: ‚Kann ich bei Ihnen arbeiten?‘ Sagte sie: ‚Ja‘. Und das war’s. Im November 42. (Interview vom 26.04.1996)

Mitarbeit in den „War Nurseries“ und Arbeit als Psychoanalytikerin

anneliese Schnurmann konnte sich eine ehrenamtliche Mitarbeit in den „War nurse-ries“ von anna Freud leisten, da sie zehn Prozent ihres geretteten Familienvermögens anlegen und davon leben konnte. Im November 1942 begann sie ihre Tätigkeit in der Abteilung für Säuglinge und „toddlers“ in 5 Netherhall Gardens bis zur Schließung der „War Nurseries“ 1945. Ab 1962 lebte sie in dieser Straße nur einige Häuser wei-ter in der nr. 11. all ihre mitgebrachten bücher verkaufte sie und konnte sich statt-dessen psychoanalytische Literatur anschaffen (Interview, 24.11.1996).

in der Zeit, als die bombenangriffe zunahmen und die Kinder aufs land evakuiert worden waren, half anneliese Schnurmann im büro aus. Sie tippte, kümmerte sich um die Löhne und meinte schmunzelnd: „Wenn nichts aus mir geworden wäre, hätte ich auch eine gute Sekretärin abgegeben.“ Sie erzählte, dass zu der Zeit, in der anna Freud noch lebte, sie sich „wie eine Familie“ gefühlt hätten. (Interview, 24.11.1996)

Ab 1945 ging sie zu Kate Friedländer in die Analyse bis kurz vor deren frühen Tod am 20.02.1949. Kate Friedländer, die später zusammen mit Hedwig Hoffer, Julia Mannheim und barbara lantos Seminare innerhalb der Child therapy trai-ning Course hielt, empfahl Anneliese Schnurmann, sich 1947 für diese Ausbildung zu bewerben. Sie gehörte zu der ersten gruppe, die eine analytische ausbildung in den Hampstead Child-therapy training Course erhielt, zusammen mit Joanna ben-kendorf, geb. Köhler, alice goldberger, ivy bennett gwynne-thomas, Hansi Ken-nedy, geb. engl, liliy neurath, lizzy rolnick, geb. Wallentin, Sara rosenfeld, geb. Kut (Quelle: curriculum vitae A. Schnurmann). Unglücklicherweise hatte sie gerade bei Kate Friedländer mit ihrer analyse aufgehört, um in den USa ihre Familie, die sie über zehn Jahre nicht mehr gesehen hatte, wiederzutreffen. Die Familie ihrer Schwester emigrierte zuerst nach Brasilien; erst als es ihnen gelang, an einen Teil ihres Vermögens zu kommen, gingen sie in die USa und von dort aus später zurück in die Schweiz (Interview 24.11.1996). Als Anneliese Schnurmann von dieser Reise zurückkam, war ihre analytikerin schon schwer krank. Sie konnte sie zwar noch ein-mal treffen, findet aber im Nachhinein:

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… das war keine gute Zeiteinteilung. Dass jetzt gerade das ende der analyse mit dem Wiedersehen der Familie zusammengefallen ist. (Interview 24.11.1996)

Hedwig Hoffer rief sie an, um ihr den tod von Kate Friedländer mitzuteilen.nach ihrer ausbildung als Psycho-analytical Child expert, wie die von anna

Freud ausgebildeten Kinderpsychoanalytikerinnen genannt wurden (1947–1950), erhielt sie eine anstellung als Kindertherapeutin an der east london Child guidance Clinic, wo sie von 1948–1952 arbeitete. In der Zeit von 1951–1956 wurde sie die nachfolgerin von Hansi Kennedey an der staatlichen Chicester Child guidance Cli-nic, die von Kate Friedländer gegründet worden war (brief von a. Schnurmann vom 08.02.2000). Ab 1952–1973 arbeitete sie außerdem an der Hampstead Child Therapy Clinic mit, beteiligte sich an Forschungen und engagierte sich in der lehre. Sie führte Kinderanalysen durch und half als trainingsanalytikerin und Supervisorin in der Ausbildung der Psycho-analytical child experts (Brief vom 08.02.2000). Von 1961–1965 erwarb sie auch noch die Ausbildung zur Erwachsenenanalytikerin am British Psycho-Analytical Institute als Erwachsenenanalytikerin (Abschluss 19.05.1965).

„Ich hab’s mit Anna Freud besprochen. Die hat gesagt: ‚Sie haben ganz recht. Als Kinderanalytiker sollte man eigentlich im Mutteralter sein und nicht im großmutter-alter‘“ (Interview, 24.11.1996).

In dieser Aussage schwang ihr Loyalitätskonflikt mit, denn auf der einen Seite war sie ein „treue anhängerin“ von anna Freud, auf der anderen Seite aber wurde die von anna Freud aufgebaute kinderanalytische ausbildung von der international Psychoanalytic Association (IPA) nicht anerkannt.

Sie ging nochmals zu Konrad gomperts5 in die lehranalyse und besuchte Semi-nare bzw. erhielt Supervision bei folgenden Psychoanalytikern: Margarete Ruben6, Joseph Sandler, Paula Heimann, Dorothy burlingham, liselotte Frankl, anna Freud, ilse Hellmann-noach, Hedwig Hoffer, barbara lantos, Hedwig Schwarz, Julie Mannheim, ruth thomas und edith gyömröi-ludowyk. Sie erinnert sich, wie edith gyömröi-ludowyk die technisch-kasuistischen Seminare bei sich zu Hause durch-führte und deren Mann ihnen „immer einen ausgezeichneten ceylonesischen tee kre-denzte“ (Interview, 23.11.1997).

Mit Paula Heimann sei sie in den Supervisionen überhaupt nicht zurechtgekommen und habe von daher die Kontrollanalyse bei ihr abgebrochen. Während Josef Sandlers „eher nicht aggressiver behandlungsstil“ anneliese Schnurmann, die sich selbst als „aggressiv-gehemmt“ bezeichnet, erheblich näher lag, konnte sie mit der durch Melanie Klein geprägten Haltung Paula Heimanns wenig anfangen (Interview vom 23.11.1997), zumal sie durch ihre enge arbeit mit anna Freud die theoretische auffassung von anna Freud verinnerlicht hatte. Sie betonte, dass sie, die keinen ihrer Fälle bei anna Freud supervidieren lassen hatte, sich dennoch jederzeit mit Fragen an sie wenden konnte.

ich hatte mal Probleme mit einem lehranalysanden. Und da bin ich zu anna Freud. ich wusste nicht recht, was macht man da? Da hat sie mir einen guten rat gegeben.

5 Konrad Gomperts war zuerst Berufsmusiker (Geiger) und hatte, nachdem er berufsunfähig wurde, noch eine psychoanalytische Ausbildung begonnen (Interview vom 24.11.1996).6 Sie hatte in „früheren Zeiten“ Margarete ruben bei einer „Winterfrische“ in der Schweiz kennengelernt und sie dann in London wiedergetroffen (Interview 23.11.1997).

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Wandlerin zwischen den Welten

Und bei jemand anderem, einer Studentin, deren Fall ich supervidiert hatte … Und da bin ich auch zu anna Freud und hab gesagt, so und so liegt der Fall. Und sie sagte, das ist einer von den Fällen, wo alles, was man macht, falsch ist. beruhigen Sie sich, da kann man nichts machen. Ja, na, eben, wenn’s Anna Freud gesagt hat, braucht ich mir ja keine weiteren Vorwürfe machen. Wenn die anna Freud es auch nicht weiß, was man da macht, da kann man halt nicht. (Interview, 24.11.1996)

liselotte Frankl, die sich über die sehr guten reports von anneliese Schnurmann freute, riet ihr: „Machen Sie doch nicht so schöne Reports für uns in der Klinik. Da schreiben Sie lieber ihre Doktorarbeit.“ anneliese Schnurmann wandte sich dar-aufhin an Karl Mannheim, den sie noch aus ihrer Frankfurter Studienzeit kannte. anfangs hatte er eine Professur an der london School of economics, erhielt aber in der Zeit, als anneliese Schnurmann an ihrer arbeit zu einem thema über Psycho-analyse, religion und behaviorismus schrieb, eine Professur an der londoner Uni-versität in der erziehungswissenschaftlichen abteilung7.

Und da habe ich also angefangen, Material zu sammeln, und sehr viel Zeit darauf verwendet, hier in den bibliotheken rumzusitzen. Dazwischen habe ich immer noch in der East London Child Guidance Clinic gearbeitet. (Interview, 24.11.1996)

Unglücklicherweise verstarb Karl Mannheim in der Zwischenzeit, und anneliese Schnurmann wandte sich an eine andere Professorin in dieser abteilung. es war die Zeit, in der auch Kate Friedländer verstarb, und rückblickend versteht anneliese Schnurmann, wie unglücklich sie das gesamte Verfahren eingeleitet hatte. anstatt sich an einen anderen Wissenschaftler zu wenden, der sich zwar mit Karl Mannheim nicht so gut verstand, den das thema aber interessierte, blieb sie mit ihrer Disserta-tion an der erziehungswissenschaftlichen Abteilung – … „wo das Zeug nämlich gar nicht hinpasste“ –, und das Verfahren wurde abgelehnt. Es nutzte ihr wenig, dass ihre betreuerin sich bei ilse Hellmann „ausweinte“, als das Verfahren scheiterte. Sie hatte genug von diesen „wissenschaftlichen eskapaden“, zumal sie längst realisiert hatte, dass ihr die klinische Arbeit viel mehr bedeutete (Interview, 24.11.1996).

Anneliese Schnurmann arbeitete ab 1965 als Psychoanalytikerin in eigener Praxis, wobei sie hochfrequente Erwachsenenanalysen durchführte („5 time a week“ Curri-culum Vitae von Anneliese Schnurmann) und psychoanalytisch orientierte Psycho-therapien („2 and 3 time a week“). Sie war zudem Lehranalytikerin und Supervisorin an der Hampstead Clinic.

„ich habe noch ziemlich lange leute von der Clinic analysiert. Und dann kamen auch noch welche rüber zu den sogenannten ‚one year courses‘. Sie haben dann gefunden, dass sie auch Psychotherapie brauchen, bzw. die Kursteilnehmer meinten das selber. Die Kurse waren oft so aufwühlend.“ (Interview, 24.11.1996).

Ab 1983 ging Anneliese Schnurmann in den Ruhestand, hielt aber Kontakt mit einigen der früheren „Kinder“. Mit den Zwillingen, Meggy, die von ilse Hellmann analysiert worden war, und „ellen“, deren analyse anneliese Schnurmann übernom-

7 Das thema ihrer Dissertation hatte Karl Mannheim anneliese Schnurmann vorgeschlagen, worauf Frau Hoffer, die Karl Mannheim gut kannte, ihr später sagte: „Aber das ist doch sein Problem! Da wollte er sich eine Doktorarbeit machen, die eigentlich sein Problem war. Und sein Problem war ein Konflikt zwischen Psychoanalyse und religion und behaviorism und lauter solche vergleichende Sachen, die ihm alle so durcheinander gingen und wo er eine Antwort gesucht hat“ (24.11.1996).

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C. Ludwig-Körner

men hatte, über die u. a. Dorothy burlingham in ihrem Zwillingsbuch schrieb, stand anneliese Schnurmann bis zu ihrem lebensende in Verbindung8. ein weiteres „frü-heres Kind“ ist z. b. Sandy, die sie bereits als drei Wochen altes baby in den „War nurseries“ betreut hatte.

„ich hab [auf] sie nachts gewartet, da war doch Krieg. Und die Kinder haben im Shelter geschlafen, und da hat sie mich gerufen, wenn sie aufs töpfchen wollte.“ … Später war sie bei den „junior toddlers“, und da war ich dann. Und da waren, in einer Gruppe, da war eine Sandy, da war eine Lydia – die gehörte gar nicht in meine Gruppe, sondern in eine andere –, und da war ein kleiner Junge. Und ich weiß noch, die lydia, die eigentlich gar nicht in meine gruppe gehörte, hat sich auf meine Knie gesetzt. Daraufhin kam Sandy, schupste sie runter und sagte: „Meine!“ (Interview 24.11.1996)

anna Freud hat ziemlich bald eingeführt, dass jede ihre kleine gruppe gehabt hat. Und das war wie Familien hier. Und das eine Kind aus meiner Familie, die sehe ich noch sehr oft. Das ist die Sandy, und über die hab ich auch nochmal was geschrie-ben. Ich hoffe immer, dass sie das nicht findet … Durch irgendwie Beeinflussung hat die Tochter von Sandy, einen ähnlichen Beruf ergriffen – mit Kindern und einer ausbildung. ich hab nur gedacht, um Himmels Willen, wenn die mal dieses „Psy-chology Study of the Child“ erwischt, was ich über ihre Mutter geschrieben habe. Aber glücklicherweise ist das nicht passiert. (Interview 24.11.1996)

Kontakt hielt sie auch zu einem damals siebenjährigen Jungen, den sie wegen Sprech-hemmungen behandelte. inzwischen hat er linguistik für geschäftsleute als beruf ausgewählt und besuchte sie regelmäßig in größeren abständen mit seinem Sohn.

Zu den Familien ihrer nichten und deren Kindern hatte sie bis zu ihrem lebens-ende eine sehr enge Verbindung, lebte mit zunehmendem alter einen großen teil des Jahres bei ihnen und zog am Lebensende ganz nach Bern, wo sie am 21. September 2006 verstarb.

Schlussbemerkung

als ich im rahmen meiner recherchen zu den Mitarbeiterinnen von anna Freud anneliese Schnurmann kennenlernte, war ich nicht nur von der geistigen und körper-lichen Lebendigkeit (sie fuhr z. B. bis ins hohe Alter Ski) beeindruckt, sondern auch von ihrer bescheidenheit, ihrer „persönlichen Zurücknahme“. es lag ihr fern, sich in irgendeiner Weise in den Vordergrund zu stellen. Sie erweckte fast den eindruck auf mich, als sei sie, durch den frühen tod ihrer eltern und die erzwungene emigra-tion selbst wurzellos geworden, dankbar dafür gewesen, Kindern für eine Weile eine Ersatzheimat geben zu können. Sie gehört zu jenen Frauen (und Männern), deren leben rasch in Vergessenheit gerät, zumal sie eine „Wanderin zwischen Welten“ war. Stellvertretend für viele soll an dieser Stelle an sie erinnert werden.

8 ihre Mutter hatte die Zwillinge von einem kanadischen Soldaten bekommen. Sie wurden als babys in den „War nurseries“ betreut und gingen später in Stoatly rough, Haslemere, in die Schule.

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Literatur

bethge e (1994) Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie, 8. Aufl. Kaiser, MünchenBurlingham D, Schnurmann A, Lantos B (1958) David and his mother. (unpublished)Hellmann I, Schnurmann A, Todes C (1970) Simulataneous analysis of a mother and her four-year-old

daughter. (unpublished)Ludwig-Körner C (2000) Wegbereiter der Kinderanalyse. Die Arbeit in der „Jackson Kinderkrippe“ und

den „Kriegskinderheimen“. Luzif Amor 25:78–104Sandler A, Dauton E, Schnurmann A (1957) Inconsistency in the mother as a factor in character develop-

ment. Psychoanal Study Child 5:467–478Sandler J, Kawenoka M, Neurath L, Rosenblatt B, Schnurmann A, Sigal J (1962) The classification of

superego material in the Hampstead index. Psychoanal Study Child 17:107–127Schnurmann A (1949) Observation of a phobia. Psychoanal Study Child 3/4:253–270Schoning B (Hrsg) (1996) Sophie und Hilde. Ein gemeinsames Leben in Freundschaft und Beruf. Ein

Zwillingsbuch. Reihe AnDenken 4. Edition Hentrich, Berlin.Zimmermann W-D (Hrsg) (1964) Begegnungen mit Dietrich Bonhoeffer. Kaiser, München

Prof. Dr. phil. habil. Christiane Ludwig-Körner, Dipl.-Psychologin, erziehungswissenschaftlerin, Lehranalytikerin, Supervisorin der DPG, IPA, DGPT; Professur an der International Psychoanalytic Uni-versity, Berlin. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: primäre Prävention, Eltern-Säuglings-Kleinkind-psychotherapie, Biografieforschung von Frauen in der Psychoanalyse. (Siehe zuletzt Heft 3, 2005.)