Warum die Deutschen? Warum die Juden?...Wer aus dem Mord an den europäischen Juden lernen will,...

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Götz Aly Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800 –1933

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bpb »Götz Aly – Warum die Deutschen? Warum die Juden?« · 140 x 215 mm Rücken 26 mm · Stand 08.11.2011

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Warum die Deutschen? Warum die Juden?

Das Warum des Holocaust ist die wohl drängendste Frage der deutschen

Geschichte. Wie konnte es zu dem Massenmord an den deutschen und

europäischen Juden, geplant und begangen von Deutschen, kommen?

Götz Aly verortet die Motive in einer von Sozialneid und Angst bestimmten

antijüdischen Haltung vieler Deutscher seit dem 19. Jahrhundert. Auf den

gesellschaftlichen und ökonomischen Aufstieg der Juden, ihren Bildungs-

hunger und ihre führende Stellung etwa in Wissenschaft und Kunst hätten

Deutsche, so Aly, mit Abwehr und Missgunst reagiert. Während die Juden

in der Moderne angekommen seien, hätten Deutsche auf hergebrachte

Normen und Privilegien gepocht. All dies, so der Autor, habe unter Hitler in

Verbindung mit nationalistischen Affekten auf entsetzliche Weise ein Ventil

gefunden. Die Debatte um die Ursachen des Holocaust, so zeigen nicht zu-

letzt die kritischen Reaktionen auf die Thesen Alys, ist noch nicht beendet.

Götz AlyWarum die Deutschen?

Warum die Juden?Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800 –1933

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Götz Aly

Warum die Deutschen? Warum die Juden?

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Schriftenreihe Band 1199

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Götz Aly

Warum die Deutschen? Warum die Juden?

Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800 –1933

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Diese Publikation stellt keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. Für die inhaltlichen Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.

Bonn 2011Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische BildungAdenauerallee 86, 53113 Bonn© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011Umschlaggestaltung: Michael Rechl, KasselUmschlagmotiv: © akg-images /Bildarchiv Pisarek. 16. Juni 1826:

Per Telegramm gratuliert König Friedrich Wilhelm III. von Preußen einer jüdischen Sozialeinrichtung zu deren 100-jährigen Bestehen.

Lektorat: Walter H. PehleSatz: Dörlemann Satz, LemfördeDruck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-8389-0199-2www.bpb.de

Götz Aly, 1947 in Heidelberg geboren, studierte Politische Wissenschaftenund Geschichte. Er arbeitete für die „tageszeitung“, die „Berliner Zeitung“und als Gastprofessor.

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Unverkäufliche Leseprobe des S. Fischer Verlages

Götz Aly Warum die Deutschen?

Warum die Juden?

Preis € (D) 22,95 | € (A) 23,60 | SFR 34,90 ISBN: 978-3-10-000426-0 Sachbuch, 352 Seiten, gebunden S. Fischer Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011

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Inhalt

Die Frage aller FragenWarum die Deutschen? Warum die Juden? 7Gleichheitssucht und Freiheitsangst 13Bemerkungen zur Arbeitsweise 15

1800 – 1870: Judenfreunde, JudenfeindeHalbherzige Emanzipation von oben 24Gute Deutsche, schlechte Deutsche? 30Selbstemanzipation kraft Bildung 37Der Kredit anstelle des Lehnrechts 48Nationaldemokratischer Fremdenhass 55Juden zwischen Revolution und Reaktion 64

1880: Antisemitismus als soziale FrageZurückgeworfen und ohne Mitte 73Träge Christen, rege Juden 82Vom Sozialneid zum Antisemitismus 93Fortschritt, Krise, Antiliberalismus 99

Volkskollektivismus im VormarschBitte, etwas mehr Gleichheit! 109Rassenkunde, eine neue Wissenschaft 119Sozialdemokratie und Judenfrage 125Naumanns nationaler Sozialismus 136

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Krieg, Niedergang und Judenhass1916: Das Menetekel der Judenzählung 144Kriegssozialismus, Niederlage, Chaos 150Vom Waffenstillstand zum Friedensdiktat 155Rassenkrieg statt Klassenkampf 164

Schwache Masse, starke RasseKrankhafte Ohnmacht der Dümmeren 174Prognosen: Moskau, Wien, München 189Bürger: »Juden bleiben uns innerlich fremd« 204Aufsteiger: Mein Opa und die Gauleiter 211Junge Leute: Vom Ich zum nationalen Wir 223

Die Nationalsozialistische VolksparteiBeseelender Fanatismus für die Arbeiter 2331930: Kräftige Krisengewinne der NSDAP 243Dumpfer, fast sprachloser Volkshass 258Eine neue Moral für Raub und Mord 262

Eine Geschichte ohne EndeDie Schwachen sind die Gefährlichen 277Terror der Gleichheit, Gift des Neides 288

Anmerkungen 302Literatur 325Register 347

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Warum die Deutschen? Warum die Juden?

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Die Frage aller Fragen

Warum die Deutschen? Warum die Juden?

Warum ermordeten Deutsche sechs Millionen Männer, Frauenund Kinder, und das aus einem einzigen Grund: weil sie Judenwaren? Wie war das möglich? Wie konnte ein zivilisiertes und kul-turell so vielschichtiges und produktives Volk derart verbreche-rische Energien freisetzen? Das bleibt die Frage aller Fragen, dieDeutsche beantworten müssen, wenn sie ihre Geschichte verste-hen wollen, wenn sie versuchen, die darin eingebundenen Ge-schichten ihrer Familien sich und ihren Kindern zu erklären.

Juden, die im 19. Jahrhundert aus den östlichen Nachbarstaatenzuwanderten, waren froh, wenn sie die deutsche Grenze über-schritten hatten. Sie schätzten die Rechtssicherheit, die wirtschaft-liche Freiheit und die Bildungschancen für ihre Kinder, die ih-nen Preußen seit 1812 und später das Kaiserreich boten. Pogrome,wie sie bis ins 20. Jahrhundert hinein in den Ländern Ost- undSüdosteuropas verbreitet waren, kannte man in Deutschlandnicht mehr. Jenseits aller Hemmnisse hatten Juden hier, zumal inPreußen, gute Möglichkeiten, ihre Selbstemanzipation schwung-voll voranzutreiben. Paradox, aber das vergleichsweise hohe Maßan Freiheit, das den Juden gewährt wurde, schürte einen speziellenAntisemitismus.

Im Jahr 1910 wohnten in Deutschland mehr als doppelt so vieleJuden wie in England, fünf Mal so viele wie in Frankreich. AlsDeutschland die Provinz Posen 1919 an das neu erstandene Polen

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Die Frage aller Fragen

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abtreten musste, flohen die dortigen jüdischen Deutschen »in ge-radezu pathologischer Angst vor den neuen polnischen Herrendes Landes Hals über Kopf« in Richtung Berlin.1 Einer, der zeit-lebens über seine Existenz als Deutscher und Jude nachdachte, warSiegfried Lichtenstaedter, seines Zeichens 1932 pensionierter hö-herer bayerischer Beamter und nebenberuflich Schriftsteller. Erbemerkte 1937: Wer um 1900 in Deutschland vorhergesagt hätte,»dass vom Jahre 1933 ab Tausende von uns nach Palästina fliehenwürden, um nicht unterzugehen, wäre zweifellos als reif für dasIrrenhaus betrachtet worden«.2 Solche Tatsachen verbieten einfa-che Antworten auf die beunruhigende, geschichtlich zu beantwor-tende Doppelfrage: Warum die Deutschen? Warum die Juden?

Im heutigen Deutschland rücken wir die Opfer in den Mittel-punkt unserer Betrachtungen und ermuntern zur Identifikation.Das demonstrieren die vielen Denkmäler, Museen, Forschungen,literarischen und pädagogischen Anstrengungen eindrucksvoll.Parallel dazu stilisieren wir die Täter zu schier außerirdischenExekutoren. Mit einer Distanziertheit, die oft die eigene Fami-liengeschichte ignoriert, bezeichnen wir sie vorzugsweise als »dieNationalsozialisten«, »die Nazi-Schergen«, das »NS-Regime«, »fa-natische Rassenideologen« oder wir sprechen vom »paranoidenWeltbild der Rassenantisemiten« und von der »völkischen Bewe-gung«. Mit solchen Terminologien ist wenig Einsicht zu gewinnen.Ich versuche auf den folgenden Seiten zu zeigen, was geschichtlichhinter solchen Begriffen stand.

Auch verschiedene Theorien über Faschismus, Diktaturen imAllgemeinen oder die Logik von Inklusion und Exklusion dienenmeines Erachtens dazu, der Nachwelt den Holocaust in sorgfältigeinhegender Weise auf Distanz zu halten. Letztlich blasse Begriff-lichkeiten vernebeln den Rassenmord hinter marxistischen Ge-setzmäßigkeiten oder verharmlosen ihn zum Rückfall in vorzivi-lisatorische Barbarei oder schieben die Last der Verantwortungauf einen deutschen Sonderweg oder auf eine bestimmte, an-geblich genau einzugrenzende Generation von Tätern, auf eine

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Warum die Deutschen? Warum die Juden?

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spezielle Ideologie oder einen allgemein verbreiteten Hang zurtotalitären Staatsform. So logisch solche Gedankenspiele in sichaufgebaut sein mögen, so wenig erklären sie den Verlauf der deut-schen Geschichte, der am Ende zum Massenmord führte. Auf sol-che, nur scheinbar erklärenden Ansätze darf getrost mit Goetheentgegnet werden, dass die Theoretikerzunft »die Phänomene gernlos sein möchte und an ihrer Stelle deswegen Bilder, Begriffe, ja oftnur Worte einschiebt«.3 Ein neues Wort erschließt nicht unbe-dingt eine neue Wahrheit.

Wer aus dem Mord an den europäischen Juden lernen will,sollte als Erstes damit aufhören, die Vorgeschichte mit Hilfe einesbipolaren Schemas in »gute« und »böse« Entwicklungslinien auf-zuspalten. Geschichtsoptimisten mögen solche Konstruktionen.Sie sehen ihre Gegenwart an der Spitze der Zivilität und wärmendas Publikum an der Illusion, dass alles, was uns Heutigen richtigoder falsch erscheint, in der Vergangenheit ebenso richtig oderfalsch gewesen sei. Analytisch führt solches Geschichtsdenken indie Irre. Es schafft Abstand und erklärt nichts.

Ziel dieses Buches ist es, einige Sichtblenden wegzuschieben,die den Blick auf die Vorgeschichte derart verengen, dass der Na-tionalsozialismus zum Fremdkörper, zum im Grunde unbegreif-lichen Fehltritt im Gang deutscher Geschichte wird. Deswegennehme ich auch Männer in den Blick, die zwar als Reformer undVorkämpfer freiheitlicher Ideen berechtigtes Ansehen verdienen,aber als Judengegner, ja Judenhasser hervortraten: zum BeispielKarl vom Stein, Ernst Moritz Arndt oder Friedrich Ludwig Jahn,Peter Christian Beuth, Friedrich List oder Franz Mehring –darunter nicht wenige schwarz-rot-goldene Demokraten, auf diesich die heutige Bundesrepublik beruft. Ferner erscheint mir fürdas Verständnis des deutschen Antisemitismus wichtig zu sein,die von verschiedenen Seiten gespeisten antiliberalen Strömun-gen in Deutschland in Betracht zu ziehen: die von Konservativengestützte antiliberale Wende Bismarcks; das kollektivistische,schließlich volkskollektivistische Denken deutscher Sozialisten;

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Die Frage aller Fragen

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die Selbstzerstörung des Liberalismus unter der Ägide von Fried-rich Naumann.

Im Jahr 1933 versuchte Siegfried Lichtenstaedter die künftigenAussichten der deutschen Juden zu analysieren. Seit Jahren schonstudierte er den Völkischen Beobachter aufmerksam – ein »viel-gelesenes Blatt, Organ der ›Nationalsozialistischen DeutschenArbeiterpartei‹«, wie er bereits 1922 bemerkt hatte.4 Lichten-staedter fragte sich: Warum die Juden? Einerseits, so meinte er,stehen sie dem Verhalten, dem Aussehen und der Religion nachden europäischen Mehrheitsgesellschaften nahe, andererseits seiihr »kollektives Ich« deutlich unterscheidbar. Im Gegensatz zurAntisemiten-Bewegung müsse eine Antilinkshänder-Bewegungscheitern, weil die verbindenden Eigenschaften der Linkshänderzu schwach sind, um ein kollektives Linkshänder-Ich zu begrün-den. Ist das Einigende – wie im Fall der Juden – hinreichend stark,ergibt sich das kompakte Bild einer Gruppe, dem weitere Merk-male zugeschrieben werden können.5

Lichtenstaedter betrachtete die NSDAP als Partei sozialer Auf-steiger. Daraus schloss er 1933 auf seine eigene Zukunft und dieder anderen deutschen Juden. Im Durchschnitt, so stellte er fest,bekleideten die Juden in Mittel- und Westeuropa höhere sozialeStellungen; das kreideten ihnen die hinterherhinkenden Nichtju-den zunehmend an. Deren nachholendes Aufstiegsstreben ver-schaffte den Gegnern der Juden enormen Zulauf. Nach Lichten-staedters Eindruck hielten derart motivierte Antisemiten diemosaische Religion und die jüdische Herkunft für »praktisch be-langlos«: Sie konkurrierten um »Nahrung, Ehre und Ansehen«.Seiner Meinung nach bezog der Antisemitismus seine aggressiveDynamik aus Sozialneid, Konkurrenz und Aufstiegsdrang: Wenndie Gruppe der Juden »im unverhältnismäßigen Maße anschei-nend ›glücklicher‹« als andere ist, »warum sollte dies nicht ähnlichNeid und Missgunst, Sorgen und Bekümmernis um die Zukunftim Kopfe und Herzen der anderen erregen, wie es im Verhältniszwischen Individuen nur allzu oft der Fall ist?«.6

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Warum die Deutschen? Warum die Juden?

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Lichtenstaedter unterschied das kollektive Ich der Juden, alsodie Distinktionsmerkmale, von den Motiven der Judenfeinde. Erdifferenzierte zwischen den äußeren Anknüpfungspunkten des An-tisemitismus und den Zielen der Antisemiten. Statt die National-sozialisten zu dämonisieren, analysierte er die politischen Kräfte,die ihn existentiell bedrohten – nicht nur ihn, nicht nur seineGlaubensgenossen, sondern alle, die als Angehörige der jüdischenRasse galten. Lichtenstaedter wollte seine nationalsozialistischeUmwelt verstehen. Ihm lag an Vorhersagen und daraus abzulei-tenden Verhaltensregeln. Er stellte in Rechnung, dass Hitler dasJudentum als »ein Volk mit besonderen Wesenseigenheiten« an-sah, die es »von allen sonst auf der Erde lebenden Völkern schei-den« würde.7 Doch speiste sich der deutsche Antisemitismus nachseinem Eindruck nicht aus einer speziell ausgedachten Ideologie,sondern aus materiellen Spannungen und Interessen – letztlichaus derjenigen unter den sieben Todsünden, die anders als Wol-lust, Völlerei, Hoffart, Habgier, Zorn oder Faulheit überhauptkeinen Spaß macht: dem Neid.

Neid zersetzt das soziale Miteinander. Er zerstört Vertrauen,macht aggressiv, führt zur Herrschaft des Verdachts, verleitetMenschen dazu, ihr Selbstwertgefühl zu erhöhen, indem sie an-dere erniedrigen. Der tückische, scheele Blick auf den Rivalen,die üble Nachrede und der Rufmord gelten dem Erfolgreichen,erst recht dem Außenseiter. Dabei vergiften sich die Neider selbst,werden immer unzufriedener und noch gehässiger. Sie wissen dasnur zu gut. Deshalb verstecken sie diesen Charakterzug schamhafthinter allerlei vorgeschobenen Argumenten – zum Beispiel hintereiner Rassentheorie. Neider brandmarken die Klügeren als zwarschlau, aber nicht tiefsinnig; sie zernagt der Erfolg der anderen, sieschmähen die Beneideten als geldgierig, unmoralisch, egoistischund daher verachtenswert. Sich selbst erheben sie zu anständigen,moralisch superioren Wesen. Sie bemänteln das eigene Versagenals Bescheidenheit und werfen dem Beneideten vor, er spiele sichlärmend in den Vordergrund.

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Der Neider strebt nicht unbedingt danach, es dem Beneidetengleichzutun. Nicht selten lehnt er dies lauthals ab. Er richtet seineEnergie »auf Zerstörung des Glücks anderer«, wie Immanuel Kantbeobachtete. Büßen diese anderen ihre Vorzüge und Vorteile ein,geht es ihnen an den Kragen, bereitet das dem Neider stillesVergnügen, er genießt Häme und Schadenfreude. Verdienen dieBeneideten dann Mitleid oder gar Beistand? Nein! Sie wusstendoch stets alles besser! Hatten immer die Nase vorne! Mögen siesich selber verteidigen! So beruhigt der Neider seine moralischenRestskrupel, steckt die Hände in die Tasche und gibt die verfolgteUnschuld. Wenn andere den Beneideten drangsalieren, sagt sichder kleine Neider: »Was geht mich das an!« Sein Gewissen bleibtruhig. Er ist es nicht gewesen.

Aus welchen Quellen sprudelt der Neid? Aus Schwäche, Klein-mut, mangelndem Selbstvertrauen, selbstempfundener Unter-legenheit und überspanntem Ehrgeiz. »Der Deutsche sagt vonsich ganz extra, dass er deutsch sein soll«, monierte Julius Fröbel,1848/49 Parlamentarier in der Paulskirche, und erkannte darinMinderwertigkeitsgefühle: »Der deutsche Geist steht gewisser-maßen immer vor dem Spiegel und betrachtet sich selbst, und hater sich hundert Mal besehen und von seinen Vollkommenheitenüberzeugt, so treibt ihn ein geheimer Zweifel, in welchem das in-nerste Geheimnis der Eitelkeit beruht, abermals davor.«8

Ganz anders Engländer, Franzosen oder Italiener. Letztere er-richteten ihren Staat 1870 nach drei Kriegen, die sie im eigenenLand gegen die Fremdmächte Frankreich und Österreich und ge-gen den päpstlichen Kirchenstaat geführt hatten, und bestätigtendie Gründung per Volksabstimmung. Währenddessen marschierteder von Preußen geführte deutsche Staatenbund zwischen 1864und 1870 ohne plausible Gründe in Dänemark, Österreich undFrankreich ein, um den Anschein nationaler Selbstgewissheit zuerlangen. Der Historiker Heinrich von Treitschke jubelte: »DerKrieg ist die beste Arznei für ein Volk.« Das Ergebnis der mit Blutund Eisen zusammengeschmiedeten Einheit blieb brüchig, und

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Gleichheitssucht und Freiheitsangst

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1933 beobachtete der italienische Diplomat Carlo Sforza: »DieDeutschen fragen sich in jedem Augenblick, was ›Deutschtum‹ seioder nicht sei.«9

Die dem deutschen Nationalismus eigene Selbstunsicherheitführte zwischen 1800 und 1933 zu den bekannten Auswüchsen ner-vöser Prahlerei. Man denke an die Proklamation des zweiten Kai-serreichs. Sie musste 1871 auf dem Boden des Erbfeindes im Spie-gelsaal von Versailles über die Bühne gehen, weil das neue Reichüber kein allgemein anerkanntes Staatszentrum verfügte. Mandenke auch an die Ansprache, mit der Kaiser Wilhelm II. im Som-mer 1900 deutsche Marinesoldaten zur Niederschlagung einesAufstandes nach China verabschiedete: »Kommt ihr vor denFeind, so wird derselbe geschlagen!« Und zwar so, »dass es niemalswieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!«10

Zu Hitlers 44. Geburtstag 1933 ließen sich die Deutschen als »daserste Volk des Erdballs« umschmeicheln.11 Wer so redet, dem fehltdie innere Balance.

Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Neidgetriebene Menschen sprechen ausgiebig von eigener Benach-teiligung, fürchten die Freiheit und neigen zum Egalitarismus. Sie,die andere verächtlich machen, sehen sich als die Schwachen undbevorzugen den Schutz einer Gruppe Ähnlichfühlender. Freiheit,Gleichheit, Brüderlichkeit, die so ansteckende Parole der Fran-zösischen Revolution, nahmen die deutschen Vorkämpfer des de-mokratischen Fortschritts eigentümlich verdreht auf. Mit der inFrankreich an erster Stelle genannten Freiheit wussten sie deutlichweniger anzufangen als mit der Idee der Gleichheit. Später brach-ten die Deutschen die wichtigsten Theoretiker des Kommunismusund des Sozialismus hervor, sie erfanden die Systeme der Sozial-versicherungen, den nationalen Sozialismus Hitlers, die in derDDR beschworene Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik

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Die Frage aller Fragen

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und die in der Bundesrepublik gepflegte soziale Marktwirtschaft.Deutsche verstümmelten den Begriff Gesellschaft zum Synonymfür Staat und erkoren sich diesen zum »Vater Staat«.

Im Sinne von 1789 bezeichnete Egalité jedoch nicht mehr undnicht weniger als die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz. NichtAntisemiten, sondern die überwältigende Mehrheit der Deutschenreduzierten das so wertvolle Prinzip zur Unkenntlichkeit. Siemachten daraus von Staats wegen zu garantierende materielle Ge-rechtigkeit. Fortan riefen sie bei jeder Gelegenheit: »Ungerecht!Wir fordern auch unseren Platz an der Sonne!« und badeten indem Gefühl der ewig Zukurzgekommenen. Je mehr sich die soverstandene Gleichheit im allgemeinen Bewusstsein einnistete,desto ausgeprägter wurde der Differenzaffekt (Arnold Zweig), dieAbstoßung nicht gleicher Gruppen, zumal dann, wenn dieseSchnelligkeit, Witz, Klugheit und Erfolg auszeichneten. Polar er-gänzend gesellt sich zum Differenzaffekt der Zentralitätsaffekt,»die Überbetonung und Wichtigkeit der eigenen Gruppe«.12

Zur missverstandenen Gleichheit fügten deutsche National-revolutionäre seit Anbeginn ihr merkwürdig kollektivistisches Ver-ständnis von Freiheit. Schon den Krieg gegen die napoleonischeBesatzung nannten sie Freiheitskrieg. Das heißt, viele von ihnenfassten Freiheit nicht als individuelle Möglichkeit, als Ansporn fürjeden Einzelnen auf, sondern als Abgrenzungsbegriff, gerichtet ge-gen tatsächliche oder vermeintliche Feinde. Auf dieser mentalitäts-geschichtlichen Basis veröffentlichte Richard Wagner sein Pam-phlet »Das Judentum in der Musik« 1850 unter dem PseudonymK. Freigedank; 1912 benutzte der alldeutsche Antisemit HeinrichClaß das Pseudonym Daniel Frymann. Hitler bezeichnete seinpolitisches Zerstörungswerk früh als »Freiheitsbewegung« gegendie Fesseln des Versailler Friedensdiktats von 1919. Im Sommer1922 stellte der spätere Reichskanzler eine grobschlächtige anti-semitische Hetzrede unter die Überschrift »Freistaat oder Skla-ventum?«. Die Parteizeitung, die der junge Joseph Goebbels 1924im Ruhrgebiet redigierte, hieß Völkische Freiheit, Ende 1926

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Bemerkungen zur Arbeitsweise

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gründete er in Berlin den Nationalsozialistischen Freiheitsbund.13

Von derart definierter Freiheit gelangten deutsche Beamte aufdirektem Weg zu dem Verwaltungsbegriff »judenfrei«. HitlersKriegsreden erschienen unter dem Titel »Der großdeutsche Frei-heitskampf«. Die politischen Ziele hießen »Wehrfreiheit«, »Nah-rungsfreiheit« und »Raumfreiheit«, mit anderen Worten: Krieg,Massenmord, Herrschaft über die Kornkammer Ukraine undüber solche Länder, die über wichtige Rohstoffe verfügten.

Um 1880 offenbarte die erstarkende antisemitische Bewegungeinerseits das Ressentiment gegen Juden, andererseits das nochimmer nachwirkende politische Elend der Deutschen: ihre Angstvor Freiheit und eigener Courage, ihre Neigung, das eigene Versa-gen anderen anzulasten. Der Neidhammel sucht den Sündenbock.Zumal in Krisenzeiten verbanden sie mit Freiheit das Gefühl vonUnbequemlichkeit, Ungewissheit und Überforderung, währendihnen Gleichheit gemütliche Geborgenheit, Daseinsvorsorge undminimiertes individuelles Risiko bedeutete. Das verhinderte daspolitische Erwachsenwerden. Im Schatten der Gemeinschafts-werte verkümmerte die Freiheit. Die Begriffe Gleichheit, Neid undFreiheitsangst ermöglichen es, die Eigenart des deutschen Anti-semitismus zu erkennen.

Bemerkungen zur Arbeitsweise

Den größten Teil dieses Buches schrieb ich während mehrerer For-schungsaufenthalte in Jerusalem, und zwar in der Bibliothek derGedenkstätte Yad Vashem. Nirgendwo sonst stehen die einschlä-gigen Bücher so zahlreich beieinander. Das Katalogprogramm istsuperb. Die Such- und Kombinationsmöglichkeiten übertreffendie der Berliner Bibliotheken bei weitem. Regelmäßig saß Michalin der Bibliothek. Sie wurde 1921 in Tübingen als Liselotte gebo-ren. 1935 wanderte sie mit der Jugendaliah nach Palästina aus. IhreEltern starben in Auschwitz. Mit der Lupe in der Hand schreibt sie

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