Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS

18

Transcript of Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS

Page 1: Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS
Page 2: Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS

Was ist eigentlich Gentrifizierung –und was kann man dagegen tun? DerAutor beschreibt die unterschiedlichenAnsätze all jener, die derzeit um dieNutzung der Städte streiten: City-Mar-keting und kreatives Prekariat, kom-munale Stadtentwicklung und Men-schen aus verschiedensten Bereichen,die »von unten« für eine Stadt für allekämpfen. Angriffslustig und im bestenSinne parteilich führt das Buch in dieaktuellen Aktivitäten und Alternativenein.

Christoph Twickel, Jahrgang 1966,Journalist und Buchautor, hat die Ham-burger »Recht auf Stadt«-Bewegungals Journalist begleitet und ist als Mit-initiator und Sprecher von »Not InOur Name, Marke Hamburg« zu ei-nem ihrer Protagonisten geworden. BeiEdition Nautilus sind von ihm folgen-de Bücher erschienen: Hugo Chávez –Eine Biografie sowie Läden, Schup-pen, Kaschemmen – eine HamburgerPopkulturgeschichte.

Page 3: Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS

Christoph Twickel

Gentrifidingsbumsoder eine stadt für alle

Edition Nautilus

Page 4: Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS

EDITION NAUTILUS Verlag Lutz Schulenburg | Schützenstraße 49a |D-22761 Hamburg | www.edition-nautilus.de | Alle Rechte vorbehalten |© Edition Nautilus 2010 | Autorenfoto Seite 2: Dirk Pudwell | Umschlag-gestaltung: Maja Bechert, www.majabechert.de | Originalveröffentlichung |Erstausgabe August 2010 | Druck & Bindung: Fuldaer Verlagsanstalt | 1. Auf-lage | ISBN 978-3-89401-726-2

Mein Dank gilt den Aktivistinnen und Aktivisten von Komm in die Gänge,No BNQ, Einen Gang zulegen, Schreberspacken, Local Organized Multitude(LOMU), Es regnet Kaviar, der Roten Flora, des Centro Sociale, dem Ein-wohnerverein St.Georg und den anderen Initiativen des Hamburger »Recht aufStadt«-Netzwerks, dem Schwabinggrad Ballett, dem Euromayday, dem Butt-club, den Machern der Dokumentation »Empire St. Pauli«, der Redaktion von»Unter Geiern«, dem Ehrenfelder-Magazin aus Köln, dem Freiräume-in-Be-wegung-Netzwerk aus Düsseldorf, der LAG Soziokultur NRW, Hannah Ko-walski, Marion Walter, Christine Ebeling, Florian Tampe, Ted Gaier, Katha-rina Köhler, Torsten Seif, Rocko Schamoni, Peter Lohmeyer, Melissa Logan,Susie Reinhardt, Armin Chodzinski, Norbert Hackbusch, Siri Keil, Robert Ja-rowoy, Sacha Essayie, Gerald Wolf, Michalis Pichler, Sven Stillich, ChristophSchäfer, Rolf Weilert, Marc Meyer, Chara Ganotis, Tino Hanekamp und TinaPetersen.

Page 5: Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS

Vorwort

Gentrifi... was? Das Dingsbums geht nicht leicht über die Lip-pen. Aber es ist da. Es fällt dir auf, wenn du dich eines Sonn-tagmorgens fragst: Wann bin ich eigentlich zum letzten Malwach geworden, weil jemand einen Nachbarn mit der Huperausgeklingelt hat? Heute ist nur noch das Raspeln von Roll-koffern auf dem Pflaster zu hören. Du bemerkst es, wenn aufdem Spielplatz keiner mehr nach »Kevin« oder »Cem« ruft.Wenn auf dem Bauschild vor dem Apartment-Rohbau steht:»Der Kiez freut sich auf Sie!« Wenn nachts um halb zwei im-mer noch Leute mit Laptop in der Bar sitzen. Wenn das Flei-scherei-Fachgeschäft einem Adidas-Flagship-Store weicht unddu dich kaum mehr daran erinnerst: Wann war das noch mal,als die Fixerstube dicht gemacht und dort dieses freundlicheCafé eröffnet hat? Da sitzt du nun, bestellst die hausgemach-te Zitronen-Tarte und liest von den hässlichen Seiten der Stadtin der Zeitung: Das Kleinkind, das in einer Großsiedlung anUnterernährung stirbt. Die alkoholisierten jungen Männer ost-europäischer Herkunft, die sich in einem »Problemstadtteil«eine Schlägerei mit der Polizei liefern. Gut, dass man da nichtwohnt! Sondern halt in den »üblichen Vierteln«, wie es auf denkopierten Zetteln mit den abreißbaren Telefonnummern heißt,die an den Ampeln kleben: »Wir (w 28, m 33), Akademiker,solvent, suchen Altbauwohnung in den üblichen Vierteln.«Yuppisierung, Schickimickisierung, Lattemacchiatisierung.

Wie auch immer man das Dingsbums nennen mag: Es ist eineMaschinerie, die die Teilhabe an der Stadt über Geld und Her-kunft regelt. An ihren Schalthebeln mögen die politische Klas-se, die Bauwirtschaft, Immobilienfonds, Banken und Investo-ren sitzen. Doch sie macht eben auch Leute zu Rädchen derökonomischenAufwertung, die das gar nicht im Sinn haben undihr am Ende selbst nicht standhalten. Dass die Pioniere – dieStudierenden, die Künstler, die Bohemiens und die Alternativ-kultur – ihr Schmiermittel sind, erklärt die Ratlosigkeit, die dasGentrifidingsbums in diesen Kreisen oft umweht: Wie soll manetwas bekämpfen, das man doch selbst produziert?

5

Page 6: Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS

Eine Antwort auf diese Fragen suchte das Manifest »Not InOur Name, Marke Hamburg«, das wir – eine Handvoll Musi-ker, Künstler, Autoren, Club- und Labelmacher – im Herbst2009 veröffentlicht haben. Unser Ausgangspunkt war jene Auf-fassung von Kulturproduktion und städtischer Aneignung, diemit dem Begriff der »kreativen Klasse« des US-ÖkonomenRichard Florida zum Mainstream urbaner Standortpolitik avan-ciert ist: Dass sich Metropolen mit »kreativen Milieus« schmü-cken müssen, um ein investitionsfreundliches Image zu produ-zieren. Dagegen haben wir eine kollektive Haltung formuliert,wie sie sich etwa in der Parole der französischen »Coordina-tion des Intermittents et Précaires« ausdrückt: »Keine Kulturohne soziale Rechte!« Das Manifest gab einem UnbehagenAusdruck, das offensichtlich nicht nur in Hamburg um sichgreift. Der Text verbreitete sich von Blog zu Blog, fand sichnachgedruckt in diversen Zeitungen und wurde zur Blaupausefür ähnliche Initiativen in anderen Städten.Eine andere Antwort haben die Besetzer des Hamburger

Gängeviertels gefunden: Mitten in einer innerstädtischen Pre-mium-Lage haben sie die Überbleibsel des historischen Hafen-arbeiter-Ghettos besetzt und gegen die Verwandlung des Arealsin ein weiteres Büro- undApartment-Quartier protestiert. Es ge-lang ihnen nicht nur, bundesweit eine Debatte um Stadtpolitikanzustoßen – sie setzten auch per »kultureller Bespielung« einehandfeste Hausbesetzung durch und schließlich den Rückkaufder Häuser durch die Stadt.Die »Komm in die Gänge«-Gruppe ist nur die bekanntes-

te unter vielen Initiativen, die sich in Hamburg zum »Rechtauf Stadt«-Netzwerk zusammengeschlossen haben. Das Spek-trum reicht von Schrebergärtnern über Mieterinitiativen, Park-schützer und Eltern behinderter Kinder bis zur linksautono-men Roten Flora. Auf St. Pauli mobilisiert die Initiative »NoBNQ« gegen die Errichtung des Eigentumswohnungs-Komple-xes Bernhard-Nocht-Quartier. In St. Georg sammeln AnwohnerUnterschriften »gegen die Zerstörung der sozialen Strukturen«.In Altona halten Künstler und Stadtteilaktivisten wochenlangden Siebziger-Jahre-Einkaufskomplex Frappant besetzt, um dieAnsiedlung eines Ikea-Möbelhauses zu verhindern. Hundertevon Großplakaten mit dem Slogan »Ikea bringt die Autobahn

6

Page 7: Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS

quer durch Altona« zwingen die Lokalpolitik zu aufgescheuch-ten Dementis. Eine gefakte Ausgabe der Imagebroschüre»Hamburg: Magazin aus der Metropole« flutet die Hansestadt.Anwohner, Baumschützer und Umweltorganisationen stem-men sich erfolgreich gegen den Bau einer Fernwärmetrasse mit-ten durch den Grünzug eines Sozialwohnungsgebiets zwischenSt. Pauli und Altona. Mit »Fette Mieten Partys« bei Woh-nungsbesichtigungen oder einer Leerstandskampagne bringenAktivisten die Spekulationspraxis von Vermietern in die Öf-fentlichkeit. Anlässlich einer Managertagung der Immobilien-wirtschaft taucht vor einem Luxushotel auf St. Pauli eine oran-ge gewandete Sekte auf, die mit einem psychokinetischenRitual das Gebäude ins Weltall zu schicken versucht. Mitglie-der des Aktionsnetzwerkes gegen Gentrifizierung »Es regnetKaviar« überkleben Klingelschilder mit nichtdeutschen Na-men, um darauf hinzuweisen, dass das städtische Wohnungs-unternehmen migrantische Bewohner aus den »üblichen Vier-teln« hinausdrängt.Eine unübersichtliche Multitude, die neue Strategien erprobt

und neue politische Spielräume jenseits von kulissenhafter An-wohnerbeteiligung und linksradikalem Puritanismus eröffnet:Bewegungen für das Recht auf Stadt müssen Tools erfinden, umSchneisen in die unternehmerische Stadt zu schlagen.Auch die-ses Buch will ein solches Werkzeug sein. Es ist der Versuch,den Hype um die globale und nationale Standortkonkurrenz zudechiffrieren, der Städte heute zur Beute von Anlagekapitalmacht und die Gemeinwesen zu Geiseln von Imagepolitik. Esgibt viele kluge und dicke Bücher, die dies allgemeingültiger,wissenschaftlicher, detailreicher analysieren. Auch diese mögeman bitte lesen. Ein Vorteil der folgenden Ausführungen liegtvielleicht darin, dass sie aus einer und für eine Grassroots-Perspektive geschrieben sind. Weniger für Stadtplaner, Archi-tekten, Architekturkritiker, Stadtentwicklungspolitiker oder Ur-banismusforscher also. Eher für Leute, die sich in eine Polemiküber den Wandel ihrer Stadt einmischen möchten. Die das Gen-trifidingsbums nicht mit einem Achselzucken quittieren oderfür den Lauf der Dinge halten wollen – weil sie die Stadt alsihr Lebensmittel und als das ihrer Nachbarn begreifen.Hamburg ist häufig das Exempel. Manches findet anderswo

7

Page 8: Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS

8

ähnlich statt, anderes nicht. In ostdeutschen Städten etwa mussdie Sorge weniger dringlich sein, dass subkulturell zwischen-genutzte Gründerzeitviertel morgen zum Reservat einer Bio-nade-Bourgeoisie werden. Dort mag eher die Privatisierung vonkommunalenWohnungsbeständen das Desaster sein. Und wennhoch verschuldete Ruhrgebiets-Kommunen von Dinslaken bisOberhausen »Kreativquartiere« ausrufen, entstehen womöglichnur hochsubventionierte, halb leerstehende Enklaven. Biswei-len ist das Gentrifidingsbums nämlich nicht mehr als eine teu-re Chimäre, die eine Armada von Projektentwicklern, Archi-tekten, Baufirmen, Event- und PR-Agenturen unterhält. Oderwie es kürzlich in einer E-Mail von Aktivisten aus Dortmundstand: »Anders als in Hamburg (Gentrification) lautet die Fra-gestellung im Ruhrpott: Was passiert, wenn nichts passiert?«Den Titel des Buches verdanke ich einem Plakat, mit dem

Aktivisten rund um den ehemaligen Bauwagenplatz »Bam-bule« in Hamburg zu einer Demonstration aufgerufen hatten.»Gegen Gentrifidingsbums« lautete der Slogan. Auch das istein Etappensieg der jungen »Recht auf Stadt«-Bewegungen inHamburg und anderen Städten: Aus einem akademischen Fach-terminus ist ein politischer Kampfbegriff geworden.

Page 9: Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS

Kapitel 1Inés oder Profit Center in der Problemzone

Eines Tages stand Inés aus Santiago de Cuba vor der Tür un-serer Zweier-WG. Mein Mitbewohner hatte sie bei einer seinerzahlreichen Radtouren über die Karibikinsel kennengelernt.Inés war 32 Jahre alt, Mutter eines sechsjährigen Jungen. InSantiago, ein bei Touristen beliebtes Kolonialstädtchen im ku-banischen Oriente, arbeitete sie gelegentlich als Fremdenführe-rin, weil sie ein wenig Deutsch konnte. In den Achtzigernhatte sie vier Jahre lang im Rahmen der sozialistischen Völ-kerfreundschaft in einem volkseigenen Betrieb der KleinstadtSchmalkalden in Thüringen gearbeitet. An diese goldene Zeitfühlte sie sich offensichtlich erinnert, als sie auf Kuba meinenMitbewohner traf. So gerne würde sie ihre alten Freunde in derehemaligen DDR wiedersehen, hatte Inés versichert. Zurück-gekehrt nach Deutschland, verfasste er ihr ein Einladungs-schreiben, ohne welches sie kein Touristenvisum bekommenhätte. Um die Reise bezahlen zu können, hatte sie sich 700Dollar von einem Onkel geliehen, der in Santiago beste Bezie-hungen zur staatlichen Treibstoffvergabestelle pflegte und denKeller seines Hauses als informelle Tankstelle nutzte. Das Geld

9

Page 10: Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS

hatte allerdings nur für den Flug gereicht, weshalb Inés bei ih-rer Ankunft neben ihrer Reisetasche gerade mal zehn Euro da-bei hatte, die sie sich von einem Mitreisenden am Flughafenhatte spendieren lassen. Nicht genug Bares, um die Reise nachSchmalkalden anzutreten. Ohnehin stand ihr der Sinn keines-wegs mehr nach einem Besuch in der beschaulichen Fach-werkstadt am Rande des thüringischen Waldes.Nein, Inés hatte größere Pläne. Plan A war, ihr dreimonati-

ges Visum dafür zu nutzen, eine Ehe mit einem deutschenStaatsangehörigen zu schließen. Selbstverständlich, so versi-cherte sie uns, habe sie keine Liebesheirat im Sinn. Die Ehehabe einzig und allein den Zweck, ihren Aufenthalt zu verste-tigen und es ihr zu ermöglichen, den Rest ihrer Kleinfamilienachzuholen. Sie rechnete sich einerseits bei den deutschenEingeborenen gute Chancen aus. Wie sie nämlich schon nachwenigen Tagen festgestellt hatte, waren die deutschen Frauenzwar gutaussehend und oft auch blond, hatten aber »keineFigur«. Andererseits musste sie nach dem Besuch mehrererSalsa-Veranstaltungen feststellen, dass die deutschen Männer»sehr zurückhaltend« seien. Nichtsdestotrotz erkundigten wiruns nach den Voraussetzungen für eine binationale Ehe-schließung und trafen auf ein Bollwerk von behördlichen Hür-den: Ehebefähigungs- beziehungsweise Ledigkeitsbescheini-gung, Geburtsurkunde und mancher Stolperstein mehr brachtenInés schließlich zu der Überzeugung, dass ihre Heiratspläne ei-nen längeren Atem brauchten und dass nunmehr Plan B zu ver-folgen sei.Plan B bestand darin, nichts unversucht zu lassen, um dem

dreimonatigen Aufenthalt monetären Nutzwert abzuringen.Schließlich musste sie ihrem Onkel seine Dollars zurückzahlen.Und überhaupt wollte sie keinesfalls mit leeren Händen in ihrekaribische Heimat zurückkehren. Hamburg, das »Tor zurWelt«,wie die alte Hansestadt seit der Eröffnung des Freihafens 1889heißt, sollte ihr Profit Center werden. Zwar erklärten wir ihrwortreich, dass bezahlte Arbeit im Kapitalismus ein knappesGut ist, aber das war für Inés nur graue Theorie. Im kubani-schen Realsozialismus, so ihre Erfahrung, musste man sichnicht anstrengen, umArbeit zu finden. Und anstrengend war dieArbeit oft auch nicht. Umgekehrt konnte man mit den so er-

10

Page 11: Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS

worbenen Pesos auch wenig kaufen. Ergo, so folgerte sie, müs-se man sich im Kapitalismus eben einfach ein wenig mehr an-strengen, was sie gerne auf sich nehmen wollte. Schließlich warsie nach Deutschland gekommen, um zu »triumphieren«, wiesie sagte.Nach zwei Wochen erfolgloser Jobsuche als freiberufliche

Putzkraft kamen wir zu dem Schluss, dass es an der Zeit wäre,das Konzept zu ändern. Wir schenkten Inés zwei Umzugskistenmit alten Schallplatten und organisierten ein paar Säcke abge-legter Klamotten aus den Speichern befreundeter Wohnge-meinschaften. Samstags und sonntags fuhren wir frühmorgensmit der Ware und einem Tapeziertisch zu einem der zahlreichenFlohmärkte im Hamburger Stadtgebiet. Diese Form der Schat-tenwirtschaft klappte besser. Die seichten Chachacha-LPs un-ter unseren Schallplatten gingen zu guten Preisen über den Ta-peziertisch. Die Platten-Spürnasen glaubten nämlich, dass essich um gesuchte Sammlerstücke handele, von einer authenti-schen Kubanerin ahnungslos auf den deutschen Markt gewor-fen. Und beim Kleidungsverkauf entpuppte sich Inés als Be-ratungstalent. Unermüdlich nutzte sie die ihr zur Verfügungstehenden hundert Worte Deutsch, damit die Kopftuchträgerin-nen, die sich an ihrem Wühltisch zu schaffen machten, diesennicht ohne ein passendes Teil verließen. Mit einer Gruppe vonEcuadorianern, die sie auf den Flohmärkten kennenlernte, ent-wickelte sich ein reger Austausch. Sie sprachen kaum Deutsch,lebten ohneAufenthaltserlaubnis in Deutschland und verhieltensich dementsprechend vorsichtig und verschüchtert. Inés mitihrer resoluten kubanischen Art und ihren etwas besserenSprachkenntnissen mauserte sich zum beliebten Alphatier derFlohmarkt-Connection. Die Ecuadorianer gaben ihr wertvolleTipps, wie man sich möglichst preisgünstig durch die Stadtschlägt.Um ihr die Schamlosigkeit der kapitalistischen Konsumwelt

vor Augen zu führen, besuchten wir auch die Topadressen derHamburger Innenstadt, den Neuen Wall etwa, mit seinen Flag-ship-Stores und seinen exklusiven Einrichtungshäusern. Dochdie astronomischen Preise riefen bei ihr höchstens Belustigunghervor: Wer wäre wohl so umnachtet, sich Prada-Turnschuhefür mehrere hundert Euro zu kaufen, wenn es ein paar S-Bahn-

11

Page 12: Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS

Haltestellen weiter brauchbare und modisch designte Exempla-re für ein Zehntel des Preises gibt? Ihren lebensweltlichen Mit-telpunkt fand sie in der Großen Bergstraße im Hamburger Stadt-teil Altona-Altstadt. Hier gab es das billigste Internet-Café, diegünstigsten Hähnchenbeine und vor allem jede Menge preis-werte Wühltisch-Ware. Für den westeuropäischen Mittelständ-ler billiger Tand, aus der Perspektive der kubanischen Mangel-wirtschaft gesuchter Stoff. Allen unseren Tiraden über Neolibe-ralismus zum Trotz schmiedete sich Inés ihre eigene Theorieüber die Marktwirtschaft. Im Kapitalismus, pflegte sie zu sa-gen, gibt es zwar sehr teure Geschäfte, aber eben auch sehr bil-lige. Die Woolworth-Filiale mit ihren zahlreichen Wühltischen,der Asia-Elektronik-Shop oder die Sonderposten-Etage amGoetheplatz bildeten die Grundlage des Import-Geschäftes, dassie zu planen begann. Sie investierte die Einnahmen aus denFlohmarktverkäufen in modische Slips, Sonnenbrillen, HotPants und T-Shirts zu Preisen ab 1 Euro. In Santiago de Cuba,versicherte sie glaubwürdig, könne man diese Ware für einVielfaches des Einkaufspreises losschlagen. Auch jenseits derSchnäppchenpreise hatte die angejahrte Einkaufsmeile in Al-tona für unsere kubanische Kleinunternehmerin eine MengeStandortvorteile. Sie konnte sie in zehn Minuten zu Fuß errei-chen, hatte von dort aus beste Bus- und S-Bahnverbindungenin die anderen Teile der Stadt. Und nicht zuletzt fungierten derCallshop, der Gemüsetürke und die Stoffstände auf dem Wo-chenmarkt wie ein Jobcenter, was ihr zuguterletzt doch nochden ein oder anderen Putzjob einbrachte.Hätte man Inés in eine Runde von Stadtplanern und Lokal-

politikern gesetzt, ihre Liebe zur Großen Bergstraße wäre aufUnverständnis gestoßen. Denn aus offizieller politischer Sichtbefindet sich die älteste Fußgängerzone der Stadt in einerAbwärtsspirale. Ein von der Stadtentwicklungsbehörde beauf-tragtes Forschungsinstitut lässt kaum ein gutes Haar an ihr.Den vorhandenen »Grün- und Freiflächen« fehle es an »Auf-enthaltsqualität«. Hier kommen den Gutachtern Bereiche »un-belebt und ungastlich« vor, dort wirkt »die Bebauung ungeord-net und wenig attraktiv«, und so geht es in einem fort. SchlechteNoten bekommt insbesondere der sogenannte Frappant-Kom-plex, bis 2003 unter anderem Standort eines Karstadt-Kauf-

12

Page 13: Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS

hauses. Den Experten gilt der Betonkoloss, Anfang der Siebzi-ger von Neckermann als mondäne Einkaufs- und Gastrowelt er-baut, als »Symbol des Niedergangs«. Ein Foto zeigt die rissigeRampe zum Parkhaus des Frappant, es trägt die Bildunterschrift»unattraktives Parkplatzangebot«. Ein anderes Bild von einemüberfüllten Altpapiercontainer belegt, dass die »Vermüllung imUntersuchungsgebiet zum negativen Gesamteindruck« beiträgt.Insgesamt ergibt die Analyse, »dass das Untersuchungsgebietderzeit nicht mehr die Funktion eines Bezirkszentrums sowieeines wichtigen Zentrums für das öffentliche, wirtschaftliche,soziale und kulturelle Leben einnimmt«1.Wer an einem sonnigen Samstag in der geschmähten Fuß-

gängerzone von Altona-Altstadt flaniert, muss sich fragen, wosich die Gutachter herumgetrieben haben. Die Bänke der Bä-ckereikette in der Fußgängerzone sind voll besetzt, in den Dis-count-Läden drängeln sich die Menschen, der Wochenmarkt istgut frequentiert und in den Sonderangeboten vor Woolworthwird eifrig herumgewühlt. Vor der Eisdiele Filippi sitzen Haus-frauen beim Eiskaffee, türkische Kids spielen Fußball, undvor dem Netto-Supermarkt singen ein paar Schäferhund-Punksfröhliche Lieder.Fußgängerzonen wie diese finden sich überall in der Repu-

blik. Sie gewinnen keine Stadtgestaltungs-Wettbewerbe. Es sindtypische Stadtteil-Einkaufsstraßen, in denen der Lack von denBänken bröckelt und auch mal eine Bierflasche im Blumen-kübel landet. Wieso ist das »öffentliche, wirtschaftliche, so-ziale und kulturelle Leben« hier funktionsgestört? Was ist soschwer hinnehmbar daran, dass es im innerstädtischen Bereicheiner großen westdeutschen Metropole eine etwas grau gewor-dene Sonderposten-Einkaufsstraße gibt, in der sich Hartz-IV-Empfänger, Rentner oder Kopftuchträgerinnen noch Butterku-chen mit Kaffee satt leisten können? Um die Große Bergstraßeund den maroden Frappant-Komplex wuchert seit Jahren einöffentlicher Schandfleck-Diskurs, auf welchen von der tages-zeitung (»Letzte Hoffnung Abbruch«) bis zur Bild-Zeitung(»Altonas Große Bergstraße stirbt«) alle Hamburger Medieneingestiegen sind. Warum die Stadtplaner dem Gebiet rund umdie Große Bergstraße »Anzeichen eines problematischen Stadt-quartiers« attestieren, verschweigen sie nicht: »Insgesamt liegt

13

Page 14: Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS

im Stadtteil eine verminderte Kaufkraft vor.« Das Lamento über»Mängel in der Stadtgestalt« oder »unattraktive Wegeverbin-dungen« schnurrt sich auf ein nüchternes Fazit zusammen: »DerFunktionsverlust insbesondere der Großen Bergstraße manifes-tiert sich in einer anhaltend sinkenden Kaufkraftbindung.«2Oder anders gesagt: Es kann noch so viel auf der Straße los sein– wenn die Passanten keine Umsatzbringer sind, liegt eineStörung vor.Solche Niedergangs-Szenarien und Schandfleck-Diskurse

sind die Begleitmusik für die Erschaffung von innerstädtischenShopping-Welten – eine der zentralen Angriffspunkte des Im-mobilienmarktes. Seit 1990 haben sich die Verkaufsflächen inden Stadtzentren nahezu verdoppelt. Große Konsortien wie dieHamburger »Einkaufs-Center-Entwicklungsgesellschaft« (ECE)oder die Essener »Management für Immobilien AG« (mfi) er-richten überall in der Republik riesige Shopping-Galerien undEinkaufs-Arkaden. Wettergeschützt und vom Bodenbelag biszu den Grünpflanzen, den Springbrunnen und der unaufdring-lichen Hintergrundmusik vollständig durchgestaltet, konkurrie-ren sie als überdachte Oasen mit einem Stadtraum, den die öf-fentliche Hand nicht mehr zu gestalten bereit oder in der Lageist. Während die Shopping-Center von der grünen Wiese in dieInnenstädte wandern, verfallen öffentliche Plätze und Fußgän-gerzonen, gebaut in den wohlfahrtsstaatlichen fünfziger bis sieb-ziger Jahren – zumal an den Rändern der Städte, wo sie großesoziale Wohnungsbauprojekte rahmen. Weil sie mit den Mallsnicht konkurrieren können, suchen Grundeigentümer und Ein-zelhändler ihr Heil in der Verwandlung ihrer Einkaufsstraßen in»Business Improvement Districts« (BID) – ein Instrument zurTeilprivatisierung des öffentlichen Raumes, das Hamburg 2005als erstes Bundesland in Deutschland eingeführt hat. »Mallswithout walls« nennt man die BIDs im anglosächsischen Raumzu Recht, denn sie übertragen das Mall-Modell auf die Straße.Einkaufsstraßen bekommen ein zentrales Management, privateSecurity-Dienste und Putzkolonnen sorgen für Sicherheit undSauberkeit, eine einheitliche Straßenmöblierung schafft kon-sumfördernde »Aufenthaltsqualität« und der »Branchenmix«folgt einem »Leitbild«, sprich: Billiganbieter und Resterampensollen verschwinden. Draußen sollen damit auch alle die blei-

14

Page 15: Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS

ben – und das ist die bittere Konsequenz der Privatisierungöffentlichen Raumes –, die zum Shopping-Geschehen nichtsbeizutragen haben oder es gar störend beeinflussen könnten:Obdachlose, Bettler, Skateboardfahrer, Punks oder einfach Ju-gendliche, die in der Fußgängerzone abhängen. Überwachungs-kameras, der Austausch von Parkbänken durch Sitzschalen, aufdenen man nicht liegen kann, oder das Anbringen von soge-nannten »Skatestoppern« an Treppen, Geländern und Brunnenstellen klar, wer nicht zur Zielgruppe gehört.Auch unsere kubanische Bekannte Inés dürfte nicht zur Ziel-

gruppe eines Business Improvement Districts gehören. Zwarverhielt sie sich während ihres gesamten Hamburg-Aufenthal-tes durch und durch geschäftssinnig. Aber ihre Vorliebe galteben Billigtextilien und Made-in-China-Modeschmuck – alsoden Insignien der kaufkraftmäßigen Deklassierung einer städti-schen Einkaufszone.Als sie uns nach drei Monaten verließ, trug sie sieben Röcke

und fünf Sweatshirts übereinander und zog zwei prall gefüllteKoffer hinter sich her, deren Inhalt sie samt und sonders ausden Resterampen und 1-Euro-Shops der Großen Bergstraße be-zogen hatte. Auf dem Weg zum Flughafen fühlte sie sich wieeine Königin. Sie hatte es geschafft. Ihr Businessplan hatte sicham Ende einigermaßen zurechtgeschaukelt. Das vom Onkel ge-liehene Geld war knapp zusammengekommen. Und mit demVerkauf der Discount-Ware würde sie auf Kuba einen gutenSchnitt machen. Genug, um ihrer Familie einen Farbfernseherzu finanzieren. Ohnehin gehörte Fernsehen während ihrer frei-en Stunden zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Insbesondereeine VHS-Kassette mit der Aufschrift »Die Salsa-Prinzessin«,die sie in einer Umzugskiste entdeckt hatte, fand häufig denWeg in den Player. Die Tanzszenen konnte sie bald perfektnachtanzen. Und die Welt des »Großen TV-Romans«, eineRTL-Produktion aus dem Jahre 2000, entsprach so ziemlich ge-nau dem, wie sie sich das Leben in einer reichen, westlichenMetropole erträumt hatte: schöne, junge Menschen aus allerHerren Länder, berauscht vom Feuer afrokaribischer Rhyth-men, die sich abends in pastellfarbenen Outfits durch saubere,hell erleuchtete Aerobic-Studios tanzen und tagsüber als Kran-kenschwestern oder Verkäufer an sauberen, hell erleuchteten

15

Page 16: Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS

Arbeitsplätzen ihr Geld verdienen. Dass sie diese Traumweltdraußen vor der Tür nicht antraf, war ihr kein Grund zur Kla-ge. Schließlich sah der heimische Alltag auch nicht so aus wiedieWelt der kubanischen Telenovelas. Ihr Hamburg waren nichtdie sauber gefegten Caffè-Latte-Oasen mit Alster- oder Elb-blick, ihr Hamburg waren die informellen Zwischenzonen, indenen sich auch Stadtbewohner ohne sozialversicherungs-pflichtigen Arbeitsplatz durchschlagen können.Diese Nischen gehören seit jeher zur städtischen Realität –

in gewisser Weise begründen sie sogar die Kultur des Urbanen:dass Menschen jedweder Herkunft undAnschauung in die Stadteintauchen und in ihr untertauchen können, dass sie als »Frem-de« Teil der Stadt werden, dass die Stadt ihre Unterschiedlich-keit produktiv macht. Der US-Soziologe Louis Wirth definiert1938 die Stadt als »eine relativ große, dicht besiedelte unddauerhafte Niederlassung gesellschaftlich heterogener Indivi-duen«3. Von Georg Simmel, der 1903 mit seinem Aufsatz »DieGroßstädte und das Geistesleben« die moderne Stadtsozio-logie begründet, bis zu dem französischen Philosophen HenriLefèbvre, der 1968 den Begriff »Recht auf Stadt« prägt: Allebeziehen sich auf diese verdichtete Unterschiedlichkeit alsWesensmerkmal des Städtischen.Die postkolonialen Megacitys des globalen Südens mit ihren

Gated Communities für die oberen Schichten und den infor-mellen Barrios, Favelas, Townships, Slums und Shantytowns,in denen die arme Bevölkerungsmehrheit lebt, die US-Groß-städte mit ihren ausufernden weißen Mittelschichts-Vorstädtenund ethnisch ghettoisierten Innenstadtgebieten: Solche Formender sozialen Segregation gelten im wohlfahrtsstaatlichen Euro-pa der Nachkriegszeit als undenkbar. Die Soziologen AndreasKapphan und Hartmut Häußermann sprechen von einem poli-tischen »Modell der europäischen Stadt«, zu dem gehört,dass »sich die vorhandenen sozialen Gegensätze nicht in einerräumlichen Fragmentierung verfestigten«4.Heute ist die Segregation der Städte das bestimmende The-

ma kritischer Stadtforschung im europäischen Kontext. Dasssich vor allem in den Großsiedlungen an den Stadträndern»räumlich eingegrenzte Milieus« von »Armen, Ausländern undArbeitslosen«5 gebildet haben, ist längst ein Gemeinplatz –

16

Page 17: Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS

und ein gängiges Medienthema. Die Meldungen, Reportagenund Dossiers über das »abgehängte Prekariat«6, über bildungs-ferne Schichten und die Tragödien verwahrloster Kinder häu-fen sich. Doch so deutlich auch der Rückzug des Wohlfahrts-staates und die räumliche Marginalisierung als zentrale Aspekteder sozialen Katastrophen benannt und erkannt sind, so we-nig ist man bereit, die fälligen Konsequenzen zu ziehen. NichtMaßnahmen zur Verbesserung der Lebens- und Wohnverhält-nisse der Prekarisierten sind angezeigt, sondern Maßnahmenzur Gentrifizierung ihrer Viertel. Statt die Teile der Stadt wie-der zugänglicher zu machen, in denen es sich gut leben lässt –durch sozialen Wohnungsbau und Mietbegrenzungsmaßnah-men –, arbeitet man daran, die »schlechten« Stadtteile aufzu-werten. So schlägt etwa das Hamburger »RahmenprogrammIntegrierte Stadtteilentwicklung« für »benachteiligte« Stadttei-le die »Ansiedlung neuer Bewohnergruppen zur Steigerung dersozialen Durchmischung in attraktiven bestandsergänzendenNeubauten«7 vor.Diese Interpretation sozialer Problemlagen steht für einen

politischen Paradigmenwechsel. Auf den Umstand, dass»Markteffekte zur sozialen Entmischung beitragen«8, sprich:dass der Immobilienmarkt die Stadt in arme, sozial abgehäng-te und wohlhabende Bereiche sortiert, reagieren städtische Po-litiker nicht mehr sozialdemokratisch, also mit Regularien undöffentlichen Baumaßnahmen, die gegensteuern. Stattdessenlautet die Diagnose, dass die Gebiete, in denen sich die Armen,die Bildungsfernen und Prekarisierten ballen, nicht marktfähiggenug sind. So wird Gentrifizierung zur Generallinie: als Er-folgsstory, die man überall dort zu implementieren versucht, wosich soziale Problemzonen gebildet haben. Nicht dieArmut, dieArmen sind in dieser Logik das Problem. Denn so unschuldigdie Forderung nach »Aufwertung« und »Belebung« auch da-herkommen mag – de facto ist sie das Bekenntnis der öffent-lichen Hand, die Initiative dem Immobilienmarkt zu überlassen.Und dessen Gesetzen folgend sind Investitionen nur erfolgver-sprechend, wenn sich die Insignien sozialer Randständigkeitzurückdrängen lassen. Die Eckkneipen mit den vergilbten Gar-dinen, die Callshops und die Dönerbuden, die Spielhallen undAsia-Elektronikhöker, die Billigflohmärkte und Billardhallen:

17

Page 18: Was ist eigentlich Gentrifizierung - EDITION NAUTILUS

Das prekäre Habitat muss verschwinden. Und mit ihm das Mi-lieu, das es besiedelt. Zonen wie die Große Bergstraße in Ham-burg-Altona müssen sich häuten, ihre informellen Bereicheabstreifen, um als möglichst lückenlos renditebringendes Port-folio wiederauferstehen zu können.

18