Was ist eigentlich schön? Die Herkunft des Schönen. Grundzüge der evolutionären Ästhetik. Von...

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3 76 Das Phanomen Leben ,,Die siclitbarstc Barricrc", dic sich bci dcn gcgcnwirtigcn Dis- kussioncn uin den Darwinismus aufhaut, sieht dcr Innsbruckcr Zoologe Wolfgang Wicscr ,,zwischcn Gen uiid Organismus, zwischcn Genotyp und Phano- typ". Wihrciid die ciiicn im C>rganismus lcdiglich cin ,,Vchiltcl Jcr Gcnc" sclicn, clas ,,zuin Zwcck ihrcr cigcncn Vcrmchrung konstruicrt" wur- clc, iragcn sic11 dic andcrcn mit Iicclit, wic die viclcn ,,egoisti- schcn Gcnc" sich ini Viclzcller sowcit untcrzuordncn vcrmii- gcn, dai3 die ,,Ftiriktionalitat dcs individucllcn Organismus" rcsulticrt. Wolfgang Wicscr lint sich rnit scincm ncucstcn Buch das Ziel gcsctzt, ,,das Vcrhiiltnis zwischcn Genotyp und Phiinotyp ncu zu liintcrfragcn", ohnc dabci den bcwahrtcn und solidcn Bodcn dcs konsequcntcn Darwinisinus %u vcrlasscn. Es sind in crstcr I i i i c zwci Problcmkrcise, dic im Mittclpunkt dcr Bctrachtungcn stchcn: 1. Der Ubcrgang von cincr gcn- 7.u cincr gcnom7,en- tricrtcn Genctilc uiid Entwiclr- lungsbiologic. 2. Lkr EinfluiS des Phanotyps auf dic Evolution dcs Gcnotyps. Die partiellc Unah- hingigkcit des Phanotyps vom Gcnotyp, die ,,Emanzipation" dcs Phanotyps von den Anwci- sungcn dcs Gcmtyps iin Zusam- nicnhang rnit dcr zunclimcndcn Koinplcxitat dcs Bauplans, fur die der Autor einc IYillc von Belcgcn anfuhrt, war cs, die ihn xu dern itn 'I'itcl forinulicrtcn Ausdruck von den ,,zwci Gcsicli- tern dcr Evolution" gcfuhrt hat. Die zunehmcndc Unabhangig- lrcit dcs Phiinotyps voin Geno- typ vcrsctzt, so dic bcreclitigtc Grundthesc dcs Autors, das Individuuin in die Lagc, ,,neben dcr Keimbahn cbenfalls cine tragendc Rolle auf dcr Buhnc dcr Evolution" (S. 238) zu spielcn. Sie fuhrtc letztlich dazu, dafl mit dcrn Menschen cin Iiidividuum cntstanden ist, das imstandc ist, sich selbst Nornicn zu sctzen, ,,die cs in dcr biologischcn Evo lution his dahin nicht gcgchcn hat" (S. 558). ,,Die Gcschichte dcr Biologic ist", so stcllt dcr Autor mit Rccht fest, ,,cinc Gcschichtc wundcrba- rcr Entdeclcungcn, sic gleicht aber auch cinem Museum dcr Lcbcnsrnodellc, von dcncn jedes den jewciligcn Wissensstand uhcr eincn Aspckt dcr biologischcn Organisation prascnticrt." Dicscs Museum hat auch in unscrcn Tagcii scinc Pforten kcincswcgs gcschlossen. lhni sind neue Ex- ponatc in Forin dcr ,,Selbstorga- iiisation dissipativcr Strukturcn" (Prigoginc) iind ,,syncrgetisclicr Effcktc" (Halten) liinzugcfugt worden. Diesc oft schr uber- schwanglich als ,,Grundstruktu- rcn aller lebcndcn Systcme uiid darnit auch von uns Mcnschcn" (Capra) gefeicrtcn Erscheinungen liefern uiis jcdoch ein schr man- gclhaftcs Bild biologischcr Struk- turbildung, das die wcscntlichcn Aspcktc lebendigcr Systcmc init ihrer Autonomic, ihrcii zweck- mafiigeri Ihistruktioncn und zielgerichteten Ercignisscn nicht adaquat widcrspiegeln. Biologi- schc Systeinc bcdurfcn, wie es Manfred Eigcn hcrausgcarbcitct hat, ,,konservativcr" Strukturen in Forin stcucrndcr und infornia- tionsvcrarbeitcndcr Zcntren, mit dercn Ililfc sic sich erst iin Spicl dissipativcr Kriftc und chaoti- schcr Fluktuationcn bchauptcn kiinnen. D a m gchiirt auch cine wohldcfinicrtc Abgrcnz,ung dcs Systems durch das System von seiner Umgcbung. Der Autor untcrscheidet drci ,,Ebcncn dcr Organisation" lcbendigcr Systcnic: I. Die Ebcnc des Gcnoms (Programni), 2. die dcs Phanotyps (Gestalt) uiid 3. die dcs Vcrhaltcns. Sic wcrdcn als ,,drei initeinandcr vcrltnupftc, partiell a~itoiioine Netzc" bc- trachtct. I)er Ixscr wird nachein- aiidcr mit den Strukturen und Funktionen, die an der Erhaltung dcs gcnotypischen Programins beteiligt sind (inncrcs Netz), dcn Strukturcn und Funktionen, dic fur die Ubersetzung dcs geneti- schen Programms in den Phano- typ crforderlicli sind (mittlcres Netz) und schlictilich mit dcn Verhaltcnsweisen, ubcr die der Phanotyp mit scincr Umwelt verknupft ist (aufleres Nctz), vcrtraiit gemacht. Mit d en Bcispiclcn aus dcr jiingercn und jungsten Geschich- te dcr Biowissenschaftcn wird in ubcrzeugender Weisc dargclegt, dafi dic biologischc Evolution cine Evolution von Systemen is,, die ,,ah cin komplcxer, viel- schichtigcr und inultikausalcr ProzeiS" verstandcn wcrdcn mug. Es ist cin Buch, das jedern cmp- fohlcn werden kann, dcr sich um das Plianoincn dcs Ixbendigcn in unscrcr Welt tiefergehcndc Gc- daiikcn macht. Es wirbt nicht mit aufwiindigcr Illustration, ist ehcr in seiner Aufmachung bcschci- dcn. Beiin Ixscr wcrdcn gcwissc I<enntnissc in dcn physilcalisch- chcmischcn Grundlagcn sowic insbcsondere in dcr Biologie vorausgcsetzt. Es ist kcinc ,,lcichtc" Lckturc und vcrincidet ~ciflcrischc" Formulicrungcn, wic sie andernorts schr bcliebt sind. Es ist vielinehr cin anspruchsvollcs Buch, das sich durch wisscnschaftliche Strenge und hohc Zuvcrlassigkeit in dcr Aussagc auszeichnet. Dcr Lcscr wird mit den vielfaltigcn Aspek- ten der ,,vcriictxtcn" Systcmc spczifischcr Organisation, die wir als lebendig bczcichncn, vertraut gcmacht. Dem Autor ist cs gc- lungcn, dem vcrbrcitctcn und verstandliclicn Bestrcben viclcr, die biologische Evolution odcr - noch allgcmcincr - das Phino- nicn ,,Lcben" auf ein singulares, alles erklarcndcs Prinzip zuruck- fuhrcn r,u wollcn, einc fachlich bcgrundete, klarc Absagc zu erteilen. Das Lcbcndigc und dic Evolution werden zu Kccht als koinplexe Lcistuiig cines Systems mit intcrncr ,,Organisation" vcrstanden. Heinz Penzlin, Jena Was ist eigentlich schon? In dieser Zeitschrift war bereits 1984 (BIUZ 14/6, S. 169) cine ,,cvolutionare Asthctik" als sinn- voll-notwcndigc Erganzung zu der dainals bereits etablicrtcn cvolutionarcn Erkcnntnislehre und dcr gcradc in dcr Machc bcfindlichc cvolutionarcn Ethik postuliert wordcn. Jctzt licgt cin erstcr groll angclcgtcr Vcrsucli vor, dicscrn l'ostulat Gestalt zu verleihcn. Klaus Kichtcr, Zoologe an dcr Fricdrich-Schillcr-Univcr- sitat in Jcna, hat scit viclcn Jahrcn cinschlagigcs Material gcsammclt und gesichtet und stcllt dcn un- vcrincidlichcrwcisc schr hctcro- gcncii Rcstand in cinern schiin ausgestattctcn Buch dcr Offcnt- lichlccit vor. Das klar gcschricbc- nc und gut lcsbarc Wcrk bcginnt nach cincr ausfuhrlichcn Einlci- rung (,,Annahcruiig an das Thc- ma") rnit cincm kurzcn Bcricht ubcr Versuchc dcr Philosophic zuin Thcma Schiinbcit, von Sokratcs bis Adorno. Hicr (und auch sonst) wird dankcnswcrtcr- wcise vie1 wiirtlich ziticrt, und rnit dcn Narnen sind iniiner auch die Lebcnsdatcn angcfuhrt. NLII~ gcht cs zuin cigcntlichcn Tbcma: ,,Dcr biologischc Ansatz". Die folgenden I<apitcliibcrschriftcn niachcn dcutlicli, wic wcit dcr Rahnien gcspannt ist: Ausliiscr- prin~ip, der inciischlichc Korpcr (und noch gcsondcrt Antlitz und Kindclictisclicnia), Landscliafts- schijnlieit, Ordnuiigsprinzipicn (u. a. niit Abschi$tten ubcr Syn- metrien, Rhythmcn und Frak- talc), Asthctik dcr Farben uiid dcr Sprachc, Urclcincntc asthc- tischcn Gcstaltcns, schlicillich auch das IlafSlichc. Dcn Schlut3 bildcn Bctrachtungcn ubcr Asthctilt bci Ticren, die ncuro- p h y siologischcri Grundlagc ti asthetischcr Wahrnehmuiig und cin Epilog ubcr ,,Umwcltasthc- tik". Am Endc dcs Buchcs wcr- den in gcnau zwcihundert An- mcrkungen spczicllc Erliutcrun- gen trnd Qucllcn gcbotcn. Zu- lctzt folgcn noch ciii ausfuhr- lichcs Litcraturverzcichnis, cin Pcrsoncnregister und cin frcilich recht knapp gchaltcncs, nur zwciscitigcs Sachrcgistcr. Dic Hauptfragc cincr cvolii- tionaren Asthctik ist, wclchcn selektivcn Vortcil dcnn ein Schonhcitscrnpfindcii fur scincn Trager etwa habcn kann. Der Autor fatit seine Vorstellungcn zu dieser Frage vor allcrn im Kapitel ubcr den biologischcn Ansatz zusamnicn, kornmt abcr auch in den spatcrcn Abschnittcn immcr wieder darauf zuruck. 1)abei gcht cs cinmal um Aus- sagen ubcr konltrete Strukturcn, dic (z. B.) als Ausliiscr fur scxu- Biologie in unserer Zezt / 29. Jahrg. 1999 / Nr. 6

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Das Phanomen Leben

,,Die siclitbarstc Barricrc", dic s ich bci dcn gcgcnwirtigcn Dis- kussioncn uin den Darwinismus aufhaut, sieht dcr Innsbruckcr Zoologe Wolfgang Wicscr ,,zwischcn Gen uiid Organismus, zwischcn Genotyp und Phano- typ". Wihrciid die ciiicn im C>rganismus lcdiglich cin ,,Vchiltcl J c r Gcnc" sclicn, clas ,,zuin Zwcck ihrcr cigcncn Vcrmchrung konstruicrt" wur- clc, iragcn sic11 dic andcrcn mit Iicclit, wic die viclcn ,,egoisti- schcn Gcnc" sich ini Viclzcller sowcit untcrzuordncn vcrmii- gcn, dai3 die ,,Ftiriktionalitat dcs individucllcn Organismus" rcsulticrt.

Wolfgang Wicscr lint sich rnit scincm ncucstcn Buch das Ziel gcsctzt, ,,das Vcrhiiltnis zwischcn Genotyp und Phiinotyp ncu zu liintcrfragcn", ohnc dabci den bcwahrtcn und solidcn Bodcn dcs konsequcntcn Darwinisinus %u vcrlasscn. Es sind in crstcr I i i i c zwci Problcmkrcise, dic im Mittclpunkt dcr Bctrachtungcn stchcn: 1. Der Ubcrgang von cincr gcn- 7.u cincr gcnom7,en- tricrtcn Genctilc uiid Entwiclr- lungsbiologic. 2. Lkr EinfluiS des Phanotyps auf dic Evolution dcs Gcnotyps. Die partiellc Unah- hingigkcit des Phanotyps vom Gcnotyp, die ,,Emanzipation" dcs Phanotyps von den Anwci- sungcn dcs Gcmtyps iin Zusam- nicnhang rnit dcr zunclimcndcn Koinplcxitat dcs Bauplans, fur d i e der Autor einc IYillc von Belcgcn anfuhrt, war cs, d ie ihn x u dern itn 'I'itcl forinulicrtcn Ausdruck von den ,,zwci Gcsicli- tern dcr Evolution" gcfuhrt hat. Die zunehmcndc Unabhangig- lrcit dcs Phiinotyps voin Geno- typ vcrsctzt, so dic bcreclitigtc Grundthesc dcs Autors, das Individuuin in die Lagc, ,,neben dcr Keimbahn cbenfalls c ine tragendc Rolle auf dcr Buhnc dcr Evolution" (S. 238) zu spielcn. Sie fuhrtc letztlich dazu, dafl mit dcrn Menschen cin Iiidividuum cntstanden ist, das imstandc ist,

sich selbst Nornicn zu sctzen, ,,die cs in dcr biologischcn Evo lution his dahin nicht gcgchcn hat" (S. 558).

,,Die Gcschichte dcr Biologic ist", so stcllt dcr Autor mit Rccht fest, ,,cinc Gcschichtc wundcrba- rcr Entdeclcungcn, sic gleicht aber auch cinem Museum dcr Lcbcnsrnodellc, von dcncn jedes den jewciligcn Wissensstand uhcr eincn Aspckt dcr biologischcn Organisation prascnticrt." Dicscs Museum hat auch in unscrcn Tagcii scinc Pforten kcincswcgs gcschlossen. lhni sind neue Ex- ponatc in Forin dcr ,,Selbstorga- iiisation dissipativcr Strukturcn" (Prigoginc) iind ,,syncrgetisclicr Effcktc" (Halten) liinzugcfugt worden. Diesc oft schr uber- schwanglich als ,,Grundstruktu- rcn aller lebcndcn Systcme uiid darnit auch von uns Mcnschcn" (Capra) gefeicrtcn Erscheinungen liefern uiis jcdoch ein schr man- gclhaftcs Bild biologischcr Struk- turbildung, das die wcscntlichcn Aspcktc lebendigcr Systcmc init ihrer Autonomic, ihrcii zweck- mafiigeri Ihistruktioncn und zielgerichteten Ercignisscn nicht adaquat widcrspiegeln. Biologi- schc Systeinc bcdurfcn, wie es Manfred Eigcn hcrausgcarbcitct hat, ,,konservativcr" Strukturen in Forin stcucrndcr und infornia- tionsvcrarbeitcndcr Zcntren, mit dercn Ililfc sic sich erst iin Spicl dissipativcr Kriftc und chaoti- schcr Fluktuationcn bchauptcn kiinnen. D a m gchiirt auch cine wohldcfinicrtc Abgrcnz,ung dcs Systems durch das System von seiner Umgcbung.

Der Autor untcrscheidet drci ,,Ebcncn dcr Organisation" lcbendigcr Systcnic: I . Die Ebcnc des Gcnoms (Programni), 2. die dcs Phanotyps (Gestalt) uiid 3. die dcs Vcrhaltcns. Sic wcrdcn als ,,drei initeinandcr vcrltnupftc, partiell a~itoiioine Netzc" bc- trachtct. I)er Ixscr wird nachein- aiidcr mit den Strukturen und Funktionen, die an der Erhaltung dcs gcnotypischen Programins beteiligt sind (inncrcs Netz), dcn Strukturcn und Funktionen, dic fur die Ubersetzung dcs geneti- schen Programms in den Phano- typ crforderlicli sind (mittlcres Netz) und schlictilich mit dcn Verhaltcnsweisen, ubcr die der Phanotyp mit scincr Umwelt verknupft ist (aufleres Nctz), vcrtraiit gemacht.

Mit d e n Bcispiclcn aus dcr jiingercn und jungsten Geschich- te dcr Biowissenschaftcn wird in ubcrzeugender Weisc dargclegt, dafi dic biologischc Evolution cine Evolution von Systemen is,, die ,,ah cin komplcxer, viel- schichtigcr und inultikausalcr ProzeiS" verstandcn wcrdcn mug. Es ist cin Buch, das jedern cmp- fohlcn werden kann, dcr sich um das Plianoincn dcs Ixbendigcn in unscrcr Welt tiefergehcndc Gc- daiikcn macht. Es wirbt nicht mit aufwiindigcr Illustration, ist ehcr in seiner Aufmachung bcschci- dcn. Beiin Ixscr wcrdcn gcwissc I<enntnissc in dcn physilcalisch- chcmischcn Grundlagcn sowic insbcsondere in dcr Biologie vorausgcsetzt. Es ist kcinc ,,lcichtc" Lckturc und vcrincidet ~ciflcrischc" Formulicrungcn, wic sie andernorts schr bcliebt sind. Es ist vielinehr cin anspruchsvollcs Buch, das sich durch wisscnschaftliche Strenge und hohc Zuvcrlassigkeit in dcr Aussagc auszeichnet. Dcr Lcscr wird mit den vielfaltigcn Aspek- ten der ,,vcriictxtcn" Systcmc spczifischcr Organisation, die wir als lebendig bczcichncn, vertraut gcmacht. Dem Autor ist cs gc- lungcn, dem vcrbrcitctcn und verstandliclicn Bestrcben viclcr, die biologische Evolution odcr - noch allgcmcincr - das Phino- nicn ,,Lcben" auf ein singulares, alles erklarcndcs Prinzip zuruck- fuhrcn r,u wollcn, einc fachlich bcgrundete, klarc Absagc zu erteilen. Das Lcbcndigc und dic Evolution werden zu Kccht als koinplexe Lcistuiig cines Systems mit intcrncr ,,Organisation" vcrstanden.

Heinz Penzlin, Jena

Was ist eigentlich schon?

In dieser Zeitschrift war bereits 1984 (BIUZ 14/6, S. 169) cine ,,cvolutionare Asthctik" als sinn- voll-notwcndigc Erganzung zu der dainals bereits etablicrtcn cvolutionarcn Erkcnntnislehre

und dcr gcradc in dcr Machc bcfindlichc cvolutionarcn Ethik postuliert wordcn. Jctzt licgt cin erstcr groll angclcgtcr Vcrsucli vor, dicscrn l'ostulat Gestalt zu verleihcn. Klaus Kichtcr, Zoologe an dcr Fricdrich-Schillcr-Univcr- sitat in Jcna, hat scit viclcn Jahrcn cinschlagigcs Material gcsammclt und gesichtet und stcllt dcn un- vcrincidlichcrwcisc schr hctcro- gcncii Rcstand in cinern schiin ausgestattctcn Buch dcr Offcnt- lichlccit vor. Das klar gcschricbc- nc und gut lcsbarc Wcrk bcginnt nach cincr ausfuhrlichcn Einlci- rung (,,Annahcruiig an das Thc- ma") rnit cincm kurzcn Bcricht ubcr Versuchc dcr Philosophic zuin Thcma Schiinbcit, von Sokratcs bis Adorno. Hicr (und auch sonst) wird dankcnswcrtcr- wcise vie1 wiirtlich ziticrt, und rnit dcn Narnen sind iniiner auch die Lebcnsdatcn angcfuhrt. N L I I ~ gcht cs zuin cigcntlichcn Tbcma: ,,Dcr biologischc Ansatz". Die folgenden I<apitcliibcrschriftcn niachcn dcutlicli, wic wcit dcr Rahnien gcspannt ist: Ausliiscr- pr in~ip, der inciischlichc Korpcr (und noch gcsondcrt Antlitz und Kindclictisclicnia), Landscliafts- schijnlieit, Ordnuiigsprinzipicn (u. a. niit Abschi$tten ubcr S y n - metrien, Rhythmcn und Frak- talc), Asthctik dcr Farben uiid dcr Sprachc, Urclcincntc asthc- tischcn Gcstaltcns, schlicillich auch das IlafSlichc. Dcn Schlut3 bildcn Bctrachtungcn ubcr Asthctilt bci Ticren, die ncuro- p h y siologischcri Grundlagc t i

asthetischcr Wahrnehmuiig und cin Epilog ubcr ,,Umwcltasthc- tik". Am Endc dcs Buchcs wcr- den in gcnau zwcihundert An- mcrkungen spczicllc Erliutcrun- gen trnd Qucllcn gcbotcn. Zu- lctzt folgcn noch ciii ausfuhr- lichcs Litcraturverzcichnis, cin Pcrsoncnregister und cin frcilich recht knapp gchaltcncs, nur zwciscitigcs Sachrcgistcr.

Dic Hauptfragc cincr cvolii- tionaren Asthctik ist, wclchcn selektivcn Vortcil dcnn ein Schonhcitscrnpfindcii fur scincn Trager etwa habcn kann. Der Autor fatit seine Vorstellungcn zu dieser Frage vor allcrn im Kapitel ubcr den biologischcn Ansatz zusamnicn, kornmt abcr auch in den spatcrcn Abschnittcn immcr wieder darauf zuruck. 1)abei gcht cs cinmal um Aus- sagen ubcr konltrete Strukturcn, dic (z. B.) als Ausliiscr fur scxu-

Biologie in unserer Zezt / 29. Jahrg. 1999 / Nr. 6

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ellc Aktivitatcn wirkcn kiinncn. Ilinc Zusatzfragc ist, wic sich die hcsondcrcn Formcn menschli- chcn Schiinhcitscinpfindens in clcr Evolution dcr Primatcn hcr- ausgcbildet liabcn kiimien. Auch ihr ist cin cigcncs Kapitcl gc- widmct (,,Prad!:spositioncn zur nicnschlichen Asthctik: Asthctik bci Tiercrl"; schon vorhcr sind dcr ,,hffcnmalcrci" vier Sciten gcwidmct). Schwicrigcr ist cs mit dcr allgcmcincrcn liumanspczifi- schcn I;ragc, warum iind wie so untcrschicdliche Strukturcn, wie hcstimmtc Landschaftcn, Him- ii~clsstiniinuiigcii, alxtraktc Bil- dcr, bislicr nic gcschcnc Mikro- strultturcn, viclc Tierc und Pflan- zcn, iiristalle und so uneiidlich Viclcs mchr, warum also dies allcs und lctztlich auch Melodicn, Rhythmcii odcr Architeliturcn von so viclcn Mciischcn als schiiii cmpfundcn werden, und warum cin so grolics Bcdurfnis danach bcstcht, solclics immcr wieder zu schcn, ZLI hiircn, 7,ii crlcben. I-Sier wird cs schwicrig - nicht nur die Philosophic konntc in z,wciein- hall? ]ahrtauscndcn kcinc cin- fachcn und iibcrzcugcndcn Liisungeii bictcn; auch der Autor blcibt ltlarc Antwortcn schuldig. Vermutlich gibt cs keinc, die jcdc und jcdcn bcfricdigcn kiinnte.

Und jcdcnfalls gcrictc man hier unwcigcrlich ticf in die I'sycho- logic: Man mufltc ja das Gliiclis- hcdiirfnis dcs Mcnschcn crlilaren und crlautcrn kiinnen, wic dicscs Ucdiirfnis mit dcr cinmaligcn Vorstclluiigswclt von uns Men- sclicn und unscrcr Fahigltcit zu telcologen (nicht nur teleono- incn) Handlungen zusanimen- hiingt, und was ctwa dicscm Bcdiirfnis fur cin positivcr Selek- tionswcrt cntsprcchen lionntc.

So blcibt also noch vicl zu tun und nachzudcnkcn. Richters Buch bictct dafiir cine schr anre- gcncic, Icscnswcrtc, solidc Grundlagc. Bcsondcrs zu be- griiflcn ist, dafl nicht nur die Biologic, sondcrn auch die Kul- tiirwisscnschaftcn rcichlich zu Wortc kommcn. So ist das Buch auch cin Beitrag zum bcsscrcn gcgcnseitigcn Vcrstandnis zwi- schcn Sciences und Humanities. Zu befiirchtcn ist frcilich, dafl dcr hohc Prcis eine angcmcsscnc Vcrbreitung behindern wird - schadc!

Peter Sitte, Freiburg

Wissenschaft und Markt

Wenn cin Top-Manager dcr clic- mischen Industric ein Sachbuch zur Information iibcr Innovati- onsstratcgien schrcibt, so ist man sowohl intcrcssicrt wic mifl- trauisch. Der Titcl ,,l:aszination Innovation" wcckt jcdoch die Neugierdc, dcnn beide Bcgriffe sind zwar zcitgcmaik, aber auch sowohl gcbrauchtc wic mil{- brauchte Vokabcln. Gcradc aus dcm Bereich dcr chcmischen Industric beidc Begriffc so unvcr bundcn miteinandcr zu koppcln, erstaunt, dcnn vor dcr Zcit der L~c.-Scic.nce-Hez~egung in dicscr Branchc hat man zuniindest die dcutsche chcmische Tndustrie chcr init den Bcgriffen solidc und konscrvativ in Verbindung gebracht.

Um das Wichtige vorwcg zu nchmen, das Lcsen des vorgcleg- ten Buches bcrcitct zum eincn Vergniigcn, zum andcrcn infor- micrt es gleichsam in innovativcr Form. Quasi hinter dcin Register vcrsteckt, ,,Wichtiges und Wis- scnswcrtcs von A his Z", und fast helletristisch kaschicrt, lcrnt man crstaunlicli vie1 iibcr Innovati- onsstratcgien in High-tech-Un- ternchmcn. Der 1,eser ist auch dankbar, da13 Marltctingstratcgicn und BWL-Wisscn nicht nach dcutsclier Lchrbuchart vcrmittclt wcrdcn, sondcrn locker verpackt crschcincn, beispiclswcisc mit viclcn witzigcn, aher tiefgrundi- gen Zitatcn. Trotzdcin stcht die sachgereclitc und korrcktc Infor- mation immcr im Vordcrgrund. Erstaunt ninimt man cbcnso zur Kcnntnis, dafl Quadbeck-Seegcr die Biologic so sehr licbt, dafl er die Cheinic standig verteidigcn mufl.

Vicle Hochschulabganger, abcr auch crfolgreiche Angcstcllte in Handwcrk und Unternchmcn spielen rnit dcm Gcdaiilten a r cigencn unternehmcrischcn Tatigkeit. Stadt, Institutioncn und Gcscllschaft motivicrcn und finanziercn Existcnzgrundungcn bcsondcrs auf dein Gcbiet der Teleinforniation, der Biotcchno- logic und der Matcrialwissen-

schaft. Exzellentc Wissenschaftlcr sollten a h , besondcrs wenn sic cin Unternchmcn fiihrcn wollen, nicht den Fchlcr machen, sich in Abendkurscn z,u cincm mittcl- guten Betricbswirt ausbilden zu lasscn. Wichtig dagcgen ist cs, die ideen untcrnchmerischcn Han- delns vcrstehen zu lcrncn, mit Professionals diskuticrcn zu kiinncn, u m aus solchcni Han- deln cigcnc Idem zu entwickcln. Bcsondcrs fiir diese Pcrsonen- gruppe bringt das Buch von Quadbcck-Seegcr hcrvorragcnde Anregungcn bei spannender Lckture. Allgcmein kann man ,,Faszination Innovation" all jcnen cmpfchlen, die ctwas iibcr die Kombination Wissenschaft und Markt lescn miichten, die Bcgriffe nachschlagen wollcn oder schlicht gernc schmokern. Man wird cxzcllent informiert, ohne cs eigentlich zu merltcn. Dcr Erwcrb dcs Buchcs von Hcrrn Hans-Jiirgen Quadbcck- Scegcr ,,l:aszination Innovation" ist sehr zu cmpfehlen.

Hans- Giinter Gassen, Darmstadt

Machtspielchen

Dieses Buch ist etwas auflcrge- wiihnlich insofcm, als es nicht zu den mchr oder minder streng wissenschaftlichen Wcrkcn oder xu den Lehr- und Sachbiichcrn zu zahlcn ist. Es ist auch kein Roman oder Krimi, dennoch eine Art auficrst spaniicndcn Thrillers, dessen Hauptakteur - ncbcn den involvicrten Mcnschcn - ein Einzeller ist, namlich dcr Dino- flagcllat Pfisterza piscicida. Worum gcht es? Anfang der 90cr Jahre fand die an der Univcrsitat voii Raleigh, North Carolina, USA, tatigc Biologiii JoAnn Burkholdcr Evidcnzen dafur, dafl das groflrauinige Fischsterben in cinem Fluflastuar der amcrikani- schcn Ostkiiste des Staates North Carolina mit dem Auftreten eincs bislang unbekannten Dinoflagel- laten korreliert war, der a u k fur Fische offenbar auch fur Mcn- schcn schr gefahrlich ist. Sie sclbst erkrankte Iturzzcitig, ihr Laborassistent langfristig an den von Pfisteria produxicrtcn und

frcigcsctzten Toxinen mit folgen- den Auswirkungcn: allgcmcinc Schmerzcn, narkoscartigc Zu- stande, Hcrzrhrtlimusstiirungcn, Ubclkcit, Erbrcclicn, Oricntie- rungs- und Gcdichtnisverlust. Ihrc Wisscnscliaftsl~ollcgcn woll- ten dicsc Bcfundc dcr Fisch- und Menschcnpathogcnitat voii I! prsczczda zunachst nicht alrzep- ticrcn, die bctroffcncn Umwclt- bchiirden erst rccht nicht.

In I:orin cincr spanncndcn Gc- schichte wird bcriclitet, wic die Erforschung dicscs Phanomcns von dcr cincn (politisch lcidcr rclativ machtlosen) Scitc bcgci- stert vorangctricbcn, von dcr anderen (in cntsprcchcndcn poli- tischcii Grcmicn mit rclativ ho- lier Machtbcfugnis rcsidicrcndcn) Gruppc abcr vehement gcbremst wurdc. Es wird offcngelegt, wic imnicr wicdcr mit allcn Mitteln vcrsucht wurdc, die 1;orschcrin z,u diffainicrcn und ihrc wisscii- schaftlichc, abcr auch ihrc inenschlichc Intcgritat in Fragc zu stellcn. Aufgedcckt wird, wic im Zuge angcblich transparentcr und cincm hohcn Elirenkodcx folgendcr, dem Sagcn nach aus- schlid3lich auf dcr jcwciligcn wissenschaftlichcn Kompctcnz dcr Antragsstcller basicrcnden Ruswahllcritericn die Mittelzu- wcisung fur wciterc Forschung von Frau Burklioldcr grotcsk gckiirzt und das frciwcrdcndc Finanzpotential andcren, wcnigcr qualifizicrtcn Pcrsoncn und Institutioncn zugclcitct wurdc. Ein Tribut, den Dr. Burkholder dafiir zu zollcn hattc, dafl sic zu oft und z,u hcftig in unbcqueincr Wcisc bci viclcii sich bictcndcn Gelegenhcitcn in vcrschiedcncn Grcmicn - gctricben von ihrem grundsitzlichen Engagement fur die Umwelt - unmiflvcrstandlich ihrc Mcinung zu anstchendcn Problemen gcaufiert hattc, was in hiihercn Vcrwaltungskreiscn ausgcsprochcn ungern gcsehen wurdc.

Klaus Hausmann, Berlin

Biologie in umeier Zcit / 29. Jahrg. 1999 / N u . 6