Was können Kinder im Religionsunter- richt lernen?k$C3$B6nnen+Sie+lerne… · 1 Was können Kinder...

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1 Was können Kinder im Religionsunter- richt lernen? Seminar zur Unterrichtsplanung L1 1. Die Lehrkraft und ihre elementare Wahrheit; die Unterrichtsidee 2. Die Kinder und ihre elementaren Erfahrungen und Fragen 3. Der Stoff und seine elementare Struktur 4. Die Punkte 1 bis 3 im Unterricht – elementare Zugänge 5. Elementare Wege zur Anbahnung und Förde- rung des Lernens bezügl. 1 bis 4 6. Was können die Kinder anschließend besser, als sie es vorher konnten? 2012 Dr. Martina Steinkühler Wissenschaftliche Mitarbeitende am Lehrstuhl „Praktische Theologie“ Goethe Universität Frankfurt

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1

Was können Kinder

im Religionsunter-

richt lernen? Seminar zur Unterrichtsplanung L1

1. Die Lehrkraft und ihre elementare Wahrheit; die Unterrichtsidee 2.

Die Kinder und ihre elementaren Erfahrungen und Fragen 3. Der Stoff

und seine elementare Struktur 4. Die Punkte 1 bis 3 im Unterricht –

elementare Zugänge 5. Elementare Wege zur Anbahnung und Förde-

rung des Lernens bezügl. 1 bis 4 6. Was können die Kinder anschließend

besser, als sie es vorher konnten?

2012

Dr. Martina Steinkühler

Wissenschaftliche Mitarbeitende am Lehrstuhl „Praktische Theologie“

Goethe Universität Frankfurt

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Inhalt Inhalt Inhalt Inhalt

Aufbau eines Unterrichtsentwurfs (Übersicht)Aufbau eines Unterrichtsentwurfs (Übersicht)Aufbau eines Unterrichtsentwurfs (Übersicht)Aufbau eines Unterrichtsentwurfs (Übersicht)

1 1 1 1 Strukturen und Ziele des RUStrukturen und Ziele des RUStrukturen und Ziele des RUStrukturen und Ziele des RU

• Jahresfestekreis (Schema)

• Kommunikation im RU (9 Forderungen nach R. Oberthür)

• Was ReligionslehrerInnen heute für ihre SchülerInnen wollen …

(Präambel des Curriculums)

• Bedürfnisse, Inhalte, Ziel (Schema)

2222aaaa Die Kinder Die Kinder Die Kinder Die Kinder

• Kinder und RU (C. Grethlein)

• Kinder und religiöse Entwicklung (2 Beispiele)

• Stufenmodelle der Entwicklung (Piaget, Oser, Fowler, Erikson)

• Beispiele aus der Praxis

• Reden von Gott im Unterricht (P. Freudenberger-Lötz)

• Kinder und Jugendliche und die Frage nach Gott (K.-E. Nipkow)

2b Die Vorgaben: Dimensionen, Kompetenzen, Standards 2b Die Vorgaben: Dimensionen, Kompetenzen, Standards 2b Die Vorgaben: Dimensionen, Kompetenzen, Standards 2b Die Vorgaben: Dimensionen, Kompetenzen, Standards

• Religiöse Kompetenz (hess. Curriculum)

• Inhaltsfelder (hess. Curriculum)

• Standards nach Klasse 4 (hess. Curriculum)

• Inhalte nach Klasse 4 (hess. Curriculum)

3 Die Inhalte3 Die Inhalte3 Die Inhalte3 Die Inhalte

• Zum Beispiel: Die Bibel (M. Steinkühler)

• Zum Beispiel: Jesus Christus (U. Hahn)

3

4 Von der Idee zum 4 Von der Idee zum 4 Von der Idee zum 4 Von der Idee zum UnterrichtseUnterrichtseUnterrichtseUnterrichtsentwurf ntwurf ntwurf ntwurf

• Schema

• Einen Unterrichtsentwurf schreiben (Gliederung)

• Ein Beispiel: Nächstenliebe (Klasse 3)

5 Methoden 5 Methoden 5 Methoden 5 Methoden

• Beispiel 1: Ingo Baldermann und die existenzielle Bibellektüre

• Beispiel 2: Hans Freudenberg und die Symboldidaktik

• Beispiel3: Elisabeth Buck und der Bewegte RU

• Beispiel 4: Karlo Meyer und der interreligiöse Dialog

Literatur Literatur Literatur Literatur

4

Aufbau eines Unterrichtsentwurfs – grob

1 Einleitung1 Einleitung1 Einleitung1 Einleitung

Das Thema und ich – meine Zugänge / Erfahrungen /

was mir daran wichtig ist

ELEMENTARE WAHRHEIT

2 Kontext2 Kontext2 Kontext2 Kontext

a. Die Lerngruppe – die Lernumgebung – die

Lerngruppe im RU / b. Die Einheit und das

Curriculum / die Einheit und die Einzelstun-

de(n)

ELEMENTARE ERFAHRUNGEN UND FRAGEN

3 Sachanalyse3 Sachanalyse3 Sachanalyse3 Sachanalyse

Die fachwissenschaftliche

Einordnung / theologische

Interpretation des Unterrichtsge-

genstands

ELEMENTARE STRUKTUREN

4444 Didaktische Analyse Didaktische Analyse Didaktische Analyse Didaktische Analyse

Das Thema und die Kinder / Zugänge, Schwerpunkte und Erträge

ELEMENTARE ZUGÄNGE

5 5 5 5 DidaktischDidaktischDidaktischDidaktisch----mmmmethodische Strukturierungethodische Strukturierungethodische Strukturierungethodische Strukturierung

a. Diskussion der Möglichkeiten / b. Echt-Planung

6 Kompetenzen6 Kompetenzen6 Kompetenzen6 Kompetenzen

Was können die Kinder (nachweisbar!) nach der Stunde (besser), was sie vorher noch nicht (so gut)

konnten? / Welche Inhalte können sie wiedergeben, deuten, in ihren Erfahrungsschatz integrieren? /

Wo sind Fortschritte, z.B. in Methoden-, Ich-, Sozial-, Kommunikations-, Urteilskompetenz ange-

bahnt / belegbar?

7 V7 V7 V7 Verlaufsplanerlaufsplanerlaufsplanerlaufsplan

8888 Anhang Anhang Anhang Anhang: : : : Literatur, Arbeitsmaterial, Tafelbilder, Sonstiges

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1 Strukturen und Ziele des RU Der Jahresfestekreis – eine erste Orientierung für

LehrerInnen und SchülerInnen

Die Feste, als öffentlich sichtbarste Form von Religion, sind im RU der Grundschule unbedingt zu

begehen. Kinder lernen Teilhabe an Religion und Kult, religiöse Praxis. Sie bringen Vorerfahrungen

mit Festen ein (Familie, Umwelt, Medien) und erhalten einen (neuen) Deuterahmen).

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Kommunikation im RU

Die Kinder machen eigene Erfahrungen und finden eigene Deutungswege. Die Aufgaben der

Lehrkraft sind dabei folgende:

1. Hinhören und sich einfühlen – Kinder verstehen (Inhalte des Religionsunterrichts

sind aus den Lebenserfahrungen der Schüler abgeleitet!)

2. Authentisch sein – Kindern glaubwürdig begegnen („persönliche Rechenschaft vom

Unterrichtenden als jemandem, der in der christlichen Religion verwurzelt und zu-

gleich in Fragen des Glaubens auf dem Weg ist“)

3. Mit Kindern Gott »in Frage« stellen (die »Fragwürdigkeit Gottes« zum Thema ma-

chen)

4. Mit Kindern fragen und verstehen (zum Fragen anregen und vorläufige Antworten su-

chen)

5. Zeit lassen – Kinder entdecken lassen (exemplarisches, selbstständiges Lernen)

6. Sich mit Kindern in der Bibel entdecken (sich wiederfinden in Erfahrungen von bibli-

schen Personen; Sprache für Gefühle entdecken)

7. Mit Kindern heute leben (unmittelbare Erfahrungen möglich machen, Gemeinschaft

anbieten, Hoffnungsperspektiven aufzeigen)

8. Mit Kindern Religion bedenken (Religion und Religionsunterricht selbst zum Thema

machen)

9. Mit Kindern Kind sein (kindliches Staunen, Einfühlungsvermögen u.ä. bewahren)

Vgl. Rainer Oberthür, München 1993, S.288-294 / kommentiert in: Examensarbeit von Claudia Brugger, Wein-

garten 2001: Kinderfragen im RU der Grundschule; http://www.theo-web.de/online-reihe/Kinderfragen.pdf

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Was ReligionslehrerInnen heute für ihre SchülerInnen wollen …

(aus der Präambel des Curriculums für den Grundschul-RU in Hessen)

Religion ist durch einen eigenen Modus der Weltbegegnung und des Weltverständnisses gekennzeich-

net. Durch diese spezifische Perspektive unterscheidet sich das Fach Religion von anderen Fächern:

Die Welt wird wahrgenommen in der Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz. Die christli-

che Religion sieht Transzendenz im Medium des Endlichen erschlossen: In Jesus Christus ist Gott

Mensch geworden; so eröffnet sich die Möglichkeit einer Gottesbeziehung, in der sich Menschen als

Ebenbild Gottes und damit als Person erfahren können. Ihnen wird eine unbedingte Würde unabhän-

gig von ihren Eigenschaften und Leistungen zugesprochen. Dieser Zuspruch mündet in ein verant-

wortliches Handeln des Einzelnen dem Mitmenschen und der Welt als Schöpfung gegenüber.

Auf der Grundlage dieses Welt- und Menschenbildes stärkt das Fach Evangelische Religion die Per-

sönlichkeit, trägt zur Identitätsfindung bei und ermöglicht gesellschaftliche, kulturelle und religiöse

Orientierung. Es eröffnet Wege, Grundfragen des Menschseins zu stellen, erste Antworten zu finden,

mit anderen darüber in Austausch zu treten und eigene Ausdrucks- und Handlungsmöglichkeiten zu

entdecken. Das Fach Evangelische Religion fördert die Fähigkeit zu Empathie und zu verantwortli-

chem Handeln im Rahmen einer demokratischen Teilhabe.

In unserer Gesellschaft leben Menschen unterschiedlicher Herkunft und Sozialisation zusammen. Im

Hinblick darauf nimmt das Fach Evangelische Religion unterschiedliche Voraussetzungen der Ler-

nenden auf, unterstützt die Entwicklung von Toleranz und fördert den offenen Dialog. Dies bereitet

die Lernenden auf ein gelingendes und bereicherndes Zusammenleben von Menschen verschiedener

Herkunft, Kulturen und Religionen vor.

Christliche Religion lässt sich nur in konkreter Gestalt, d h. in konfessionell geprägten Formen wahr-

nehmen. Im Fach Evangelische Religion werden die Lernenden mit der eigenen Konfession vertraut

und geben Auskunft über den christlichen Glauben in evangelischer Ausprägung. Konfessionelle Iden-

tität und Offenheit gegenüber der Ökumene bilden dabei ein produktives Spannungsfeld.

Christliche Religion kann für die Lernenden als befreiende und Hoffnung stiftende Lebensmöglichkeit

bedeutsam werden. Der Glaube selbst jedoch ist Gabe Gottes. Als individuelle Gewissheit, zu der sich

Gottvertrauen und Selbstvertrauen verbinden, bleibt er didaktisch unverfügbar und entzieht sich der

Überprüfbarkeit.

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Bedürfnisse, Inhalte und Ziele (Eigenmodell Stk)

Es ist dir gesagt, Mensch, Von allen Seiten umgibst was gut ist und was der Herr von dir fordert: du mich, Herr … (Ps 139) nämlich Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott (Micha)

STAUNEN / FRAGEN

SINN / HALT ORIENTIERUNG

SEHNSUCHT (NACH FREIHEIT, NACH GEBORGENHEIT)

Bei Gott sind alle Dinge Das geknickte Rohr möglich (Jesus) wird er nicht abbrechen (Matthäus)

Barmherzig, geduldig Der Herr ist mein Hirte und gnädig ist Gott (Jona) (Psalm)

Resilienz Empathie

Demut Toleranz

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2a Die Kinder 2a Die Kinder 2a Die Kinder 2a Die Kinder Kinder und RU

Grethlein / Lück, Religion in der Grundschule: Aus 1.2. Religion – ein für Grundschülerinnen

und Grundschüler wichtiges Unterrichtsfach

Religionsunterricht ist bei Grundschulkindern nicht nur beliebt, sondern wird von ihnen mehrheitlich

auch als „beglückend und als wichtig“ für ihr eigenes Leben eingestuft.1 Zugleich schreiben sie dem

Fach hohe Lerneffekte zu – speziell bei theologisch zentralen Inhalten. Entgegen dem verbreiteten

Vorurteil, im Religionsunterricht werde nur Lebenskunde betrieben, sagen die allermeisten Schülerin-

nen und Schüler, sie hätten in Religion „viel“ über Jesus (89%) und Gott (85%) gelernt.

Aufgrund des Rückgangs einer explizit christlich-religiösen Sozialisation in den Familien ist der Reli-

gionsunterricht an Grundschulen für immer mehr Kinder Ort der Erstbegegnung mit christlicher Reli-

gion. Von daher verwundert es nicht, dass diese an ihm größtenteils fragend-neugierig und sehr wiss-

begierig teilnehmen.

Nach dem Urteil von Religionslehrkräften interessieren sich Grundschülerinnen und Schüler „sehr für

die biblischen Geschichten im Religionsunterricht (spannend!)“.2 Viele „genießen“ es in den Religi-

onsstunden „mit ihren Ängsten, Nöten, mit ihrem Kummer, aber auch ihren Freuden nicht allein ge-

lassen zu werden und in Geschichten des Neuen Testaments ‚Hilfen‘ zu finden.“ Insbesondere „Fragen

von Kindern, die bewusst nichtreligiös aufwachsen, fördern häufig die Intensität des Nachdenkens

über Bilder, Texte, Lieder.“ Diese Lehrervoten schließen natürlich nicht aus, dass manche Kinder am

Religionsunterricht auch gelangweilt, inaktiv-indifferent oder kritisch-ablehnend teilnehmen.

Für andere hingegen ist das Fach die erste Chance mit religiös kompetenten Gesprächspartnern über

ihre eigenen „großen“ religiösen Fragen und Vorstellungen zu kommunizieren. Denn in zahlreichen

Familien werden die religiösen Fragen von Kindern zum Verschwinden gebracht. Ein nachdenklich

machendes Beispiel hierfür ist das vom Tübinger Religionspädagogen Friedrich Schweitzer wiederge-

gebene Gespräch eines Vaters mit seinem Kind:

„Du stelltest Fragen über die Tiere, manche davon richtig schwierig, und diese Fragen waren eine will-

kommene Abwechslung … . Als du gerade den Adler gesehen hattest, fragtest du mich, scheinbar aus

blauem Himmel: ‚Woher kommen die Menschen?‘ Ich war mir nicht sicher, ob du die Vögel und Bie-

nen meintest oder die Arche oder was auch immer. Beide Richtungen waren damals aber zu viel für

mich … . Immer wieder hast du deine Frage wiederholt, und so gab ich dir eine ausweichende Antwort

von der Art, wie sie Eltern nicht geben sollen. Ich sagte dir einfach, daß die Menschen ‚von irgendwo

im Osten‘ kommen …“3

1 Vgl. Bucher: Religionsunterricht, 52f. 2 Die hier und im Folgenden zitierten Lehrervoten entstammen einer Briefumfrage unter 104 westfälischen Religionslehrkräften (vgl. Lück: Religionsunterricht, 252ff.).

3 Schweitzer: Lebenszyklus, 53.

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Kinder und religiöse EntwicklungKinder und religiöse EntwicklungKinder und religiöse EntwicklungKinder und religiöse Entwicklung

Eine religiöse Biografie Eine religiöse Biografie Eine religiöse Biografie Eine religiöse Biografie

Früher als Kind, oder besser bis zu meinem 13. Lebensjahr glaubte ich noch an Gott, wie halt

Kinder an Gott glauben. Je älter ich wurde und je mehr ich darüber nachdachte, verschwand

mehr und mehr dieser Glaube. Wahrscheinlich machte ich einen Fehler. Ich wägte das Für

und Wider ganz genau ab, und zwar realistisch. Da gab es Wunder, die nicht zu erklären wa-

ren, wiederum gab es Widersprüchliches gegen die Kirche. Wie ich schon gesagt habe, dieses

Thema ist nicht realistisch zu bearbeiten. An Gott glauben muss von innen her miteinander

abgemacht werden. Sie (die Religion) ist ein guter Rückhalt, ein Nichtaufgeben, ein Glauben

an das Bessere, für Menschen, denen es schlecht geht und die dann Gott ansprechen. Wenn

jemand in Gefahr ist, Hilfe braucht, jemandem helfen will und nicht kann, er bittet Gott dar-

um. Viele hätten schon den Mut verloren, wenn es ihn nicht gäbe.

Komisch ist, dass, obwohl viele Menschen Gott um etwas gebeten haben, es aber doch nicht

geklappt hat, und doch wenn es wieder Schwierigkeiten gibt, wieder sich Gott anvertrauen,

wenn sie in einer schwierigen Lage sind. Zum Schluss noch bemerkt.

Wenn Menschen in einer schwierigen Lage sind, Gott um Hilfe bitten und sie durch irgendei-

ne Weise Hilfe bekommen, egal, welcher Art, werden sich die wenigsten bei Gott auch mal

bedanken. Das ist halt der Egoist Mensch. (Berufsschüler, Aus: Schuster 1984, s. 55, in:

Schweitzer, Lebensgeschichte und Religion)

Zwei GötterZwei GötterZwei GötterZwei Götter

Ich erinnere mich, dass es zwei Götter gab: den lieben Gott meiner Mutter und den lieben Gott

von Schwester Lioba, der auch der von Vikar Wittkamp war. Der liebe Gott Schwester Liobas

war der Vater des nickenden Negerkindes aus Gips. Für einen Groschen zehnmal nicken. Der

liebe Gott Schwester Liobas war stets darauf bedacht, alles zu sehen, alles zu wissen und alles

zu bestrafen. Der liebe Gott Schwester Liobas hatte ewiges Leben und war mächtig und böse.

Der liebe Gott meiner Mutter war der Vater der Schutzengel. Der liebe Gott meiner Mutter

war ein freundlicher alter Herr, dem die Himmelsschlüssel aus der Hand gefallen waren und

jetzt als Blumen am Sielbach wuchsen. Der liebe Gott meiner Mutter war im Sommer ein lei-

denschaftlicher Gärtner und ab September arbeitete er aushilfsweise in der himmlischen Bä-

ckerei, zusammen mit den pausbäckigen Engeln, deren Schicht mir dem Abendrot begann.

Meine Mutter kannte alle Sorten der Plätzchen, die dort für Weihnachten gebacken wurden,

und konnte sie mir aufzählen. Der liebe Gott meiner Mutter wäre niemals auf den Gedanken

gekommen, hinter Kindern herzuspionieren, er machte lieber beide Augen zu und schickte

den Schutzengel an die rechte Seite meines Bettes, wo er die ganze Nacht Wache hielt. Ich

konnte seinen Engelsatem spüren. Der liebe Gott meiner Mutter hatte nur einen Fehler: Er

starb, als ich fünf wurde und Schwester Lioba sagte: Seinen einzigen Sohn opferte Gott für die

Sünden der Menschen, auch für deine Sünden – und mich dabei ansah. (Jutta Richter 1985, S.

17f. in: Schweitzer, Lebensgeschichte und Religion)

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Stufenmodelle der Entwicklung (Erikson: Persönlichkeit; Oser. Religiöses Urteil; Fowler: Glauben / Symbolbildung

Jean Piaget: Stufen der kognitiven Struktur

Fritz Oser: Stufen des religiösen Urteils

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Erik Erikson: Stufen der Persönlichkeitsentwicklung

J. W. Fowler: Stufen des Glaubens

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Stufen des religiösen Urteils nach Oser/GmünderStufen des religiösen Urteils nach Oser/GmünderStufen des religiösen Urteils nach Oser/GmünderStufen des religiösen Urteils nach Oser/Gmünder Stufen der Glaubensentwicklung nach FowlerStufen der Glaubensentwicklung nach FowlerStufen der Glaubensentwicklung nach FowlerStufen der Glaubensentwicklung nach Fowler

Stufe 0: Vorreligiöse Haltung Stufe 0: Erster Glaube vorsprachliches Vertrauen

Stufe 1: Deus ex machina (8–10 Jahre)

Absolute Heteronomie: Gott handelt, der Mensch kann nur reagie-ren. Abhängigkeit von Gott, der unvermittelt in die Welt eingreift, straft und belohnt.

Typische Antwort: „Paul muss das Versprechen halten, sonst macht Gott, dass er Bauchweh kriegt.“

Stufe 1: Intuitiv-projektiver Glaube (ca. 3–7 Jahre)

Phantasie und Vorstellungskraft werden noch nicht durch Gesetze der Logik eingegrenzt und hinterfragt.

Präoperationales, magisch-animistisches und egozentrisches Den-ken.

Stufe 2: Do ut des (8–18 Jahre)

Gott und Mensch im fairen Austausch: Beeinflussbarkeit Gottes durch Gebete, Riten und rechtes Verhalten

Erste Subjektivität (relative Autonomie).

„Gott hat dem Paul geholfen, jetzt soll der auch etwas Gutes tun.“

Stufe 2: Mythisch-wörtlicher Glaube (ca. 7–12 Jahre)

Interesse an Geschichten, Mythen und Symbolen, die wortwörtlich verstanden und noch nicht als symbolische Sprache dechiffriert wer-den.

Anthropomorphes, artifizialistisches Gottesbild.

Stufe 3: Deismus (ab 11/12 Jahre)

Absolute Autonomie des Menschen durch Verdrängung des Göttli-chen aus der Welt.

„Paul muss sich selber entscheiden … Mit Gott hat das nichts zu tun.“

Stufe 3: Synthetisch-konventioneller Glaube (ab frühem Jugendalter)

Orientierung an der jeweiligen Bezugsgruppe (konventionell), eine kritische Reflexion der eigenen Glaubensüberzeugung ist noch selten (synthetisch).

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Beispiele aus der Praxis

Gottesbild / Stufen der religiösen Entwicklung

„Wie findet ihr das eigentlich“, fragt die Lehrerin (sinngemäß) ihre vierte Klasse, „dass Gott die Sint-

flut schickt?“ Sie bekommt drei Typen von Antworten:

• Der war auch ein wenig beleidigt …

• Er ist ein ganz böser Gott!

• Der macht doch so was nicht!

Eine Trotzgeschichte?

„Der Weg auf den Berg ist nicht weit. Das, was wir zu sehen bekommen, wird euch gefallen.“ So mein

Mann und ich zu unseren Kindern, zu Beginn einer Wanderung mit Besichtigung. Monemvasia stand

auf der Tagesordnung, eine mittelalterlich Festung und Wohnanlage in Griechenland.

Die Kinder fanden bald, dass die Ansage mit ihrer Wahrnehmung nicht übereinstimmte. Für sie war

der Weg weit. Für sie war der Ort langweilig. Und so begann eine denkwürdige Szene: Die drei began-

nen zu murren.

Phase 1: „Mir ist heiß.“ – „Mir ist langweilig.“ – „Ich will da gar nicht rauf.“ – „Immer müssen wir …“

– „Das stimmt ja gar nicht, dass das hier sich lohnt.“ – „Und überhaupt: Das stimmt doch nie! Wenn

Mama sagt, es ist kurz, dann ist es lang …“

Phase 2: „Immer nur besichtigen …“ – „Immer alte kaputte Häuser.“ – „Und überhaupt: Das stimmt ja

gar nicht, dass die alt sind. Die hat da jemand absichtlich kaputtgemacht, damit wir denken, sie sind

alt.“ – „Damit wir sie besichtigen müssen. Nur deshalb!“ – „Genau! Das stimmt alles gar nicht!“

Phase 3: „Und es stimmt auch nicht, was Mama und Papa sonst so erzählen: Das mit dem Weih-

nachtsmann und dem Osterhasen. Stimmt alles nicht.“ – „Genau!“ – „Und ich glaub auch nicht dran!“

– „Das ist vorbei!“ – „Wir glauben gar nichts mehr!“ (Das alles so gesprochen, dass mein Mann und

ich es natürlich mithören mussten!)

Kleines Finale: Der jüngste Sohn holt mich ein und kommt an meine Hand. „Mama?“ Und dann: „Das

mit dem Weihnachtsmann, das glaub ich aber trotzdem.“

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Reden von Gott im UnterrichtReden von Gott im UnterrichtReden von Gott im UnterrichtReden von Gott im Unterricht

L: Gott hat zu Jona gesprochen und zu ihm gesagt, er soll nach Ninive gehen. ( … ) Was denkt ihr, wie

fühlt er sich, wenn Gott so was zu ihm sagt? Wie fühlt man sich da, wenn man so was machen soll?

Christoph: Ängstlich.

L: Ängstlich, genau.

Sibylle: Ich wusste gar nicht, dass Gott sprechen kann.

Kian: Gott kann doch nicht sprechen, oder?

Mehrere: Doch, doch!

L: Er hat zu Jona gesprochen.

Young-Kwang: Denkst du, Gott hat keinen Mund?

Sibylle: Kann des sein, dass er ne Wolke ist?

L: Genau, des stellt sich jeder ein bisschen anders vor.

Richard: Meine Schwester stellt sich Gott als … äh … wie ein Licht vor.

L: Wie ein Licht, hmm … Der Jona wusste vielleicht auch nicht, dass Gott zu ihm sprechen kann, und

dann spricht er plötzlich, und dann sagt er auch noch so was! Wie ist des für ihn?

Ruben: Komisch.

Hannelore: Merkwürdig.

Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern, Stuttgart 2007, 15

Die Lehrerin hat während der Beobachtung der Arbeit in den Gruppen wahrgenommen, dass eine

Frage die Kinder besonders bewegte. Es war die Frage: „Gibt es Gott?“. Allerdings war die Unterrichts-

stunde auch schon fast an ihrem Ende angelangt. Dennoch wollte die Lehrerin verstehen, wie die Kin-

der diese Frage für sich klären und ob sie weitere Hilfestellungen benötigen. Sie wollte wahrnehmen,

was die Kinder zu dieser Frage denken, um darauf aufbauend weitere Lerngelegenheiten anbieten zu

können. So schrieb sie die Frage auf ein DIN-A4-Blatt und legte sie beim Abschlussgespräch in die

Mitte des Sitzkreises. Gleich meldete sich Manuel.

Manuel: Ich habe mich vorhin gefragt, ob es Gott gibt. Und dann habe ich die Frage auch laut gesagt.

L: Ging es den anderen auch schon einmal so?

Steffi: Ich hab mir dir Frage vor ein paar Tagen gestellt. Sie ist mir einfach eingefallen.

Jenny: Als ich mal krank wurde, habe ich mir die Frage gestellt. Da wollten wir nach Spanien.

Lukas: Ich habe mich schon oft gefragt, ob es Gott wirklich gibt oder ob das nur ein alter Glaube ist.

L: Das war schon sehr viel, was ihr gesagt habt. Ihr stellt euch also die Frage in ganz unterschiedlichen

Situationen, z.B. wenn ihr im Religionsunterricht seid oder wenn etwas Trauriges passiert, manchmal

kommt die Frage auch aus heiterem Himmel. Und Lukas hat richtig beobachtet, dass manche Men-

schen denken, der Glaube an Gott wäre etwas Altes und gar nicht mehr aktuell. Und jetzt stehen wir

mit dieser Frage da. Wie können wir eine Antwort finden? (lange Pause)

Sebastian: Gott kann man nicht sehen. Also ist es ganz schwer, eine Antwort zu finden.

L: Da hast du etwas ganz Wichtiges gesagt, Sebastian. Können wir eine Antwort finden, auch wenn es

schwer ist?

Lukas: Manchmal brauche ich Mut, wenn mein Freund sagt, Reli ist doch doof.

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L: Wie kommst du jetzt gerade darauf?

Lukas: Ja, weil man Gott nicht beweisen kann, findet er Reli doof. Und ich stehe auch blöd da, weil ich

keine Antwort habe. Dann frage ich mich eben, ob er Recht hat und der Glaube veraltet ist.

L: Ah, jetzt verstehe ich. Dann ist unser Gespräch für dich auch sehr wichtig? (Lukas nickt.) Also, wie

finden wir eine Antwort, die wir begründen können und hinter der wir stehen, auch wenn es andere

vielleicht ganz anders sehen?

Kinder: schweigen

L: Helft mir zum Beispiel einmal, über die Bibelgeschichten nachzudenken, ob sie uns eine Antwort

zeigen. Gibt es da Geschichten von Menschen, die geglaubt haben, dass Gott wirklich da ist?

Manuel: Alle eigentlich.

Lukas: Nein nicht alle.

L: Könnt ihr das noch genauer sagen?

Manuel: Ja, z.B. Abraham hat es geglaubt.

L: Die Geschichte haben wir im 1. Schuljahr besprochen. Da müssen wir mal zusammen nachdenken.

Steffi: Der ist ausgezogen aus seiner Heimat und hat eine Stimme gehört. Er hat wahrscheinlich ganz

fest geglaubt, dass es Gott war. Und das war auch so.

L: Glaubst du? Und warum?

Steffi: Ich weiß nicht, vielleicht, weil sich alles erfüllt hat. Und er hat daran geglaubt.

Jenny: Oder Mose, wie er seine Leute befreit hat.

Manuel: Daniel in der Löwengrube, das war krass. Oder David und Goliat.

L: Gibt es Gott wirklich, Lukas?

Lukas: Ich denke schon.

L: Was sagst du deinem Freund? Hast du schon eine Idee bekommen?

Lukas: Das muss ich mir noch überlegen. Ich kann ihm sagen, dass ich Reli gut finde und dass die Ge-

schichten der Bibel gut sind.

L: Haben die anderen noch eine Idee? Was könnte Lukas noch sagen?

Manuel: Das ist echt schwer. Es ist ein bisschen eine Gefühlssache. Also ob man glaubt oder nicht. Und

wenn man die Geschichten liest, kriegt man Mut. Da kann man glauben. Und wenn einer so dumm

kommt, dann zweifelt man.

Jenny: Ja, das stimmt. Wenn ich Geschichten aus der Bibel höre, wird das Gefühl stärker.

L: Ich denke, wir sind schon weit gekommen in dieser Stunde. Wir haben gesagt, dass die Frage nach

Gott eine Glaubensfrage ist. Und wir haben festgestellt, dass die Bibel viele Geschichten von Menschen

erzählt, die auf Gott vertraut haben. Das Vertrauen ist stärker als das Misstrauen. Vertrauen und

Glaube hängen eng zusammen. Das kann man auch schön bei Noah sehen, wisst ihr noch? Dass er die

Arche baut, obwohl ihn andere für verrückt erklären. Der Gedanke mit dem Gefühl bringt uns auch

weiter. Glauben kann man nicht nur durch Nachdenken. Sondern der Glaube hat mit dem Gefühl zu

tun. Und solche Angriffe von anderen, die verunsichern uns, das sehe ich auch so. Ich werde mir eini-

ge Gedanken machen, wie wir noch weiter kommen können, und werde das Thema dann in der gan-

zen nächsten Stunde mit euch besprechen. Unser Ziel ist, dass wir eine Antwort finden, die wir ganz

persönlich vertreten können.

Lukas: Ich sage, dass ich von Gott überzeugt bin. Und lasse ihn reden.

Petra Freudenberger-Lötz, Und was denkst du? Theologische Gespräche mit Kindern, in: Andrea Braner,

Hinterm Bibeltor geht’s los, Göttingen 2011

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Kinder und Jugendliche und die Frage nach Gott (Karl Ernst Nipkow)

Schon Mitte der 80er Jahre schob sich mir ein empirischer Befund herausfordernd in den Vorder-

grund. Bei der Interpretation von über 1200 Texten von Berufsschul-Jugendlichen im Alter von 16 bis

über 20 aus Württemberg (1987) wurde sichtbar: Selbst wenn die Kirche und ihre Lehrtradition – was

ist die Kirche, was bedeuten Jesu Kreuzestod und Auferstehung, was meinen Sünde und Gnade? – die

Jugendlichen längst nicht mehr erreichen, bleibt die Frage nach Gott ein Thema. Als ein kleiner Rest?

Vielleicht, man kann aber nach den Befunden auch sagen, als der Kern von allem anderen.

„Gott“ ist ein Name für jemanden, den man im Gebet anrufen kann, ein „Du“ sondergleichen. Junge

Menschen beten mehr, als wir denken; sie haben Probleme, und als Kind ist ihnen Gott als „der liebe

Gott“ nahegebracht worden: Ist er vielleicht doch der große Helfer? Dies bleibt die unausgesprochene

Erwartung, Gott als große, geheime Vermutung, wobei Jungen weniger ihre Gefühle zeigen als Mäd-

chen. Wenn Gott in den Äußerungen selten mit christlichen Glaubenslehren assoziiert wird, womit

aber dann? Es ließen sich seinerzeit besonders drei existenzielle Fragenkreise identifizieren, die auch in

neueren Untersuchungen wiederkehren und sich zu dem empirisch gut abgesicherten Gesamtbefund

fügen, dass es trotz der Abnahme kirchlicher Bindungen nicht zu einem Schwund religiöser Sinnsuche

gekommen ist.

Die Probleme haben mit dem zu tun, was auf der Zeitachse des eigenen Lebens und insgesamt hin-

sichtlich der Geschichte von Menschheit und Sein als Rätsel irritiert und belastet:

■ Was war am Anfang? Ist die Welt von Gott geschaffen? Ist damit dem Weltprozess ein Sinn ein-

gestiftet?

■ Was wird am Ende sein? Gibt es ein Weiterleben nach dem Tod bei Gott? Oder kommen wir aus

dem Nichts und fallen ins Nichts?

■ Warum gibt es so viel unverschuldetes Leid in der Welt zwischen Anfang und Ende? Warum lässt

Gott es zu? Darf und kann ich glauben, dass mein Leben auch im Leiden ein Leben mit Gott ist?

Gott ist zu Recht als Schlüsselthema des Religionsunterrichts zu bezeichnen, weil er auch heute noch

aus der Erwartung von Schülern und Schülerinnen der Schlüssel für die Sinnhaftigkeit des Lebens sein

könnte und ein Helfer in der Not, Gott als „die Tür“. Diese Position im Lehrplan kommt der Gottes-

thematik auch darum zu, weil jene drei Grundfragen geradewegs zur gründlichen Behandlung der drei

entsprechenden Hauptkomplexe des christlichen Glaubens veranlassen, des Sinns der Rede

■ von einer „Schöpfung“: Ist sie die Antwort auf das letzte Geheimnis des Anfangs?

■ von der „Auferstehung der Toten“ und dem „ewigen Leben“: Umschreiben sie das Mysterium des

Endes?

■ und vom „Leiden und Sterben Jesu“: Trägt Gott am Kreuz unser Leiden mit?

Die Lebensschwere lässt nach Glaubensantworten Ausschau halten. M. a. W.: Mit dem Thema „Gott“

befindet sich der christliche Religionsunterricht nicht nur bei den jungen Menschen, sondern auch

ganz in der Mitte seiner Sache. Alle Unterrichtsinhalte sind auf diese Mitte zu beziehen.

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Durch das Gottesthema wird das Fach eindeutig als Religionsunterricht profiliert. Ich bin in den letzten

Jahren nicht müde geworden, zu unterstreichen und zu erläutern, warum der Religionsunterricht kei-

ne Dublette des Ethikunterrichts ist. Er ist nicht nur (wenngleich selbstverständlich auch) ein Unter-

richt über „Werte und Normen“, sondern primär über Religion. Und wenn er von moralisch-

ethischen Themen handelt, dann eben im Lichte des Willens des biblischen Gottes im Zeichen der

Zehn Gebote, der Botschaft der Propheten von Gerechtigkeit und Frieden, des Doppelgebots der Got-

tes- und Nächstenliebe sowie der Feindesliebe. Im Religionsunterricht wird gezeigt, dass das Leben

und Handeln von Christen in ein umfassendes Ganzes eingebettet ist, in die im Glauben erschlossene

Deutung der Wirklichkeit insgesamt und in eine letzte tragende Beziehung, eben in den Glauben an

Gott, wie er in Jesus Christus erfahren worden ist und erfahren wird.

( … ) Ein Religionsunterricht, der die conditio humana, die Verfassung des Menschen, in letzten Hin-

sichten bedenkt, vertieft durch die Auslegung biblischer, kirchengeschichtlicher und gegenwärtiger

Glaubenszeugnisse und durch eine offene Reflexion im Kontext von konkurrierenden Lebensdeutun-

gen in den Kindern und Jugendlichen die Haltung der Nachdenklichkeit. Wer spürt nicht, wie sehr wir

in unserer Weltgesellschaft über das Wohl und Wehe besorgt nachzudenken haben und hierbei

Grundfragen letzter Vergewisserung aufbrechen! In einer Fächergruppe von miteinander kooperie-

renden Unterrichtsfächern vermag ein solcher Religionsunterricht zugleich seine mehrseitige

Verständigungsfähigkeit zu bewähren. Unter dieser Perspektive erhält er eine neue wichtige Funktion

in einer pluralen Welt.

Gott in der Öffentlichkeit und privatissime

Dem Staat ist gleichgültig, ob und wie seine Bürger an Gott glauben, solange es nicht den öffentlichen

Frieden stört. Positiv formuliert, hat er Interesse an dem gesellschaftlichen Nutzen von Religion. Die

religiösen Bindungen lassen erstens Gefühle der Verpflichtung wachsen, die helfen können, auch staat-

liche Vorschriften und Gesetze eher zu befolgen und die Lebens- und Berufsmotivationen zu vertiefen

Die Religion verleiht ferner weltlichen Institutionen und Unternehmungen (bis hin zu Kriegen!) eine

höhere Weihe. Drittens kann einem Gemeinwesen aber auch daran gelegen sein, durch die Anrufung

Gottes zu verhindern, dass sich die eigene Staatsmoral absolut setzt.

Unter dem ersten Gesichtspunkt des Integrationsinteresses konstruierte schon Jean Jacques Rousseau

im „Gesellschaftsvertrag“ seine „staatsbürgerliche Religion“. Bei Staatsakten Kirchenglocken läuten zu

lassen, ist ein Beispiel für den zweiten Zweck. Die invocatio Dei (Anrufung Gottes) in der Präambel

des Grundgesetzes verfolgt ausdrücklich den dritten Zweck. Nie soll sich wiederholen, wie sich im sog.

„Dritten Reich“ eine menschenverachtende staatliche Ideologie Köpfe, Herzen und Gewissen gefügig

gemacht hat. Für den gesellschaftlichen Gebrauch hat der amerikanische Soziologe Robert N. Bellah

den Begriff der „civil religion“ geprägt, der „Zivilreligion“, nicht zu verwechseln mit der „Zivil- bzw.

Bürgergesellschaft“. Es ist legitim, wenn sich Schulpolitiker in einem zivilreligiösen Sinn vom Religi-

onsunterricht in der „Werteerziehung“ Unterstützung erhoffen.

Die Kirchen vertreten Werte, die wie der Schutz allen Lebens, das Wohl der Familie, das Recht der

Kinder, das Eintreten für Gerechtigkeit, Frieden und die natürlichen Lebensgrundlagen der Gesell-

schaft zugute kommen. Wenn der Religionsunterricht in dieser Hinsicht den Glauben an Gott zum

Thema macht, gerät er allerdings in eine Spannung. Er hat mit den Schülerinnen und Schülern Gottes

Forderungen und Verheißungen so zu bedenken, wie es theologisch sachgemäß und nicht wie es ge-

sellschaftlich gefällig ist.

19

In der Neuzeit hat sich der Glaube an Gott schrittweise individualisiert; die Menschen glauben in un-

terschiedlicher Weise. Die christliche Botschaft eröffnet Spielräume für eigene Auslegungen der Bibel

und eigene Wege des Christseins. Welche Aufgabe hat der Religionsunterricht nach dieser Richtung?

Aus evangelischer Sicht wird er diese Entwicklung hin zu einer „Privatreligion“ nicht sofort als indivi-

dualistische Auflösung denunzieren, da der Protestantismus grundsätzlich die Selbständigkeit des

Glaubens fordert. Allerdings ist auch jetzt wieder prüfend zu vergleichen, was christlich genannt wer-

den kann und was nicht. Der Religionsunterricht bezieht seine Aufgabe der prüfenden Vergewisserung

auch auf die kirchliche Religion. Er hat den Schülerinnen und Schülern darzustellen, was bei einer

Glaubens- oder Lebensfrage der gegebene kirchliche Konsens, was strittig und was im Wandel begrif-

fen ist.

Für den evangelischen Religionsunterricht erwachsen die Kriterien aus der biblischen Botschaft, ihrer

Wirkungsgeschichte, den Bekenntnissen der Kirche und der wissenschaftlichen Theologie als der

fachwissenschaftlichen Bezugsdisziplin des Faches. Die Unterrichtenden werden nicht dogmatisch

genötigt, ebenso wenig die Kinder und Jugendlichen.

Zusammengefasst umreißen die drei Zugänge, nämlich

■ die kirchlichen Glaubensüberlieferungen

■ die persönlichen Formen des Glaubens von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen

■ und die gesellschaftlichen Erwartungen und Interessen

ein wichtiges Lernfeld für die religiöse und ethische Urteilsbildung.

Der Religionsunterricht hat eine unersetzbare Funktion, weil er sachverständig Rede und Antwort

steht. Gegenüber einem wie immer beschaffenen Gebrauch und Missbrauch der Rede von Gott hat er

konsequent nach den Kriterien zu fragen, die den biblischen Gott Gott sein lassen und nicht zum

Spielball von Menschen herabwürdigen.

Gott im Verständnis der Kinder

Seit den 80er Jahren ist das Verhältnis von Kindern und Jugendlichen zur sog. Gottesfrage – so die

allgemeinste Fassung unseres Themas – intensiver erforscht worden. Dies hat auch mit einem Per-

spektivenwechsel zu tun, der wachsenden Erkenntnis, „Kinder als Theologen zu sehen – als Menschen,

die fähig sind, mit ihren Denkmöglichkeiten eigene Antworten auf Glaubensfragen zu finden“, so

Friedrich Schweitzer in seinem Vorwort zu John Hulls (1997) Gesprächen mit seinen eigenen kleinen

Kindern über Gott, die in aufschlussreicher Weise diese These belegen. „Jedes einzelne Kind wird zu

einem Sachverständigen“ (Coles 1992) und gibt „nicht zuletzt auch uns Erwachsenen neu zu denken“

(Schweitzer).

Vielfach lassen Unterrichtende die Kinder Gott malen, um das Gottesbild genauer zu erkennen und zu verstehen (Fischer/Schöll 2000).Anhand der äußeren Bilder lassen sich die Gottesvorstellungen als innere Bilder erkunden, die einen Einblick in das Gottesverständnis geben: Was verstehen sie, was

noch nicht? Wie erleben sie Gott? Welche Züge seines Wesens finden sie schön, merkwürdig oder

auch Angst erregend?

Andere Religionspädagogen finden den Zugang über Zeichnungen „unangemessen“ (Szagun 2000),

weil die Gottesvorstellung von Kindern in hohem Maße von konventionellen Einflüssen abhängig sei

20

und die „mystische Dimension der Frage“ nach Gott mit einem „verständnisarmen Realismus“ beant-

wortet werde (Oelkers 1994; Szagun). Sie wählen wie Anna-Katharina Szagun den Weg über Meta-

phern und lassen die Kinder Satzanfänge wie „Gott ist für mich wie …“ bildhaft zu Ende führen. Ob in

Bildern oder Metaphern: In jedem Fall ist es richtig, die persönliche Gottesbeziehung zu erkunden.

Viviane (10) malt auf meine Bitte hin Gott nur als zwei Hände, die vom oberen Bildrand sich über eine

bunte Landschaft mit Tieren erstrecken, darin eingetragen auch zwei Brote und zwei Fische, wodurch

unversehens („gar nicht so absichtlich“ – und doch unbewusst-bewusst), wie das Gespräch im An-

schluss ergab, Gott mit Jesus und seinem helfenden Wirken verbunden wird. Die Komposition ihres

Bildes ist ihr ganz eigenständig gelungen.

Der Weg zu symbolhafter Darstellung wird von Kindern selbst eingeschlagen, und der Religionsunter-

richt kann ihn unterstützen; Gott wird nicht begrifflich, sondern in Symbolen angemessen ‚angedeu-

tet’. Bettina (10) (zit. n. Arnold/Hanisch/Orth 1997) malt Gott als eine Kerze, denn er ist „wie eine

Kerze“, weil „er Licht in die Welt“ bringt“. Gefragt nach Vorstellungen von Gott im früheren Alter,

antwortet sie: „Na ja, da war ich fünf Jahre alt, und da dachte ich immer, der schwebt auf einer Wolke

oder so.“

Dies Beispiel zeigt als nächstes, dass Kinder relativ bald die Entwicklung ihrer Gottesvorstellungen und damit ihres Gottesverständnisses an sich selbst wahrnehmen. Stephanie Klein (2000) legt gemalte

Bilder ein Jahr später wieder vor, um die Weiterentwicklung zu begleiten.

Eine zentrale Herausforderung des Religionsunterrichts ist sodann, dass die Kinder darauf bestehen, es

genau begreifen zu wollen. Lea (11): „…das ist mir sehr wichtig. Wenn ich nichts verstehe, dann kann

ich auch nichts damit anfangen … Also erst begreife ich was und dann kann ich auch richtig daran

glauben. Also, die gehören schon zusammen, denke ich, Glauben und Begreifen, die gehören zueinan-

der. … Ich kann einfach nicht glauben, wenn ich nichts begreife und nichts begreifen, wenn ich nicht

glaube.“ (zit. n. Arnold u. a. 1997)

„Schon die überwältigende Mehrheit der 10jährigen beansprucht, jede/r solle selber glauben, was er/sie

für richtig halte (80%)… Bis zu den 18jährigen steigen die Quoten um gut 17% auf 98%.“ (Bucher

1996, S. 159)

Heute zählt nur der wirklich selbst gewählte Glaube an Gott. Wenn aber dann im Unterricht ein sol-

cher persönlicher Gottesglaube in Äußerungen aufblitzt, werden entweder alle vor gespannter Auf-

merksamkeit ganz still oder es bricht auch aus anderen hervor, was für sie Gott bedeutet, weil sie ihn

erlebt haben und darum etwas von ihm erhoffen oder aber auch, weil er sie enttäuscht hat.

Der Religionsunterricht ist folglich gerade in jenen späteren Jahren unersetzbar, wenn die Auseinan-

dersetzung einen existenziellen, ernsten Charakter annimmt, und es ist unverantwortlich, wenn er in

einer Schule anderen Prioritäten oder – schlimmer – rein organisatorischen Umständen geopfert

wird. Der Staat hat jetzt besonders gewissenhaft die Unterrichtsversorgung zu sichern. Das Alter von

16 bis 20 ist für die Persönlichkeitsentwicklung hochbedeutsam.

In alledem setzen sich Religionspädagogen realitätsgerechte Ziele. Schon 1974 hielt es der Beschluss

der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland in Würzburg für einen

maximalen Gewinn, „wenn die Schüler, je nach Möglichkeit, angestoßen von diesem Unterricht, zu

einer engagierten Begegnung mit der Wirklichkeit des Glaubens, einschließlich der konkreten Kirche,

bereit und fähig sind“.

21

Auf dem anderen Pol heißt es: Es ist schon ein Gewinn, wenn die Schüler beim Verlassen der Schule

Religion und Glaube zumindest nicht für überflüssig oder gar unsinnig halten“ (ebd.). Der Ausdruck

„Glaube an Gott“ ist im Verhältnis zu den Ausdrücken „Gottesbild“, „Gottesvorstellung“, „Gottesver-

ständnis“ und erst recht „Gottesfrage“ der anspruchsvollste. Für die evangelische Religionspädagogik

ist er kein direktes Bildungsziel.

Die Absicht, im Kind oder Jugendlichen den Glauben erzeugen zu wollen, indem man nur etwas „an-

bildet“, überschätzt erstens die pädagogische Reichweite des eigenen Handelns und verletzt zweitens

die ethische Achtung vor der Würde der Person. Hinzu tritt eigenständig die theologische Erkenntnis,

wonach der Glaube an Gott, der sich in dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus von Nazareth

geoffenbart hat und mein Gott ist, auf den ich mich im Leben und Sterben verlassen darf, in der Tat

nur ein Geschenk sein kann. Aus der menschlichen Vernunft folgt dieser Glaube nicht. ( … )

Der Religionsunterricht zielt den Glauben nicht unmittelbar an, nimmt aber diese letzte Dimension

der Gottesfrage sehr ernst. „Gott“ ist ein Name und keine Idee oder gar ein Ding. Darum hantiert man

nicht mit Gott, wie man es vielleicht mit anderem noch gerade darf. Das Thema Gott bewahrt den

Religionsunterricht vor einer Betriebsamkeit und Verflachung, die für seine Aufgabe tödlich ist. Es

benennt sein Herzstück, an dem Ehrfurcht und Verantwortung gelernt werden können wie sonst nir-

gendwo.

LiteraturLiteraturLiteraturLiteratur

U. Arnold/H. Hanisch/G. Orth (Hg.):Was Kinder glauben. 24 Gespräche über Gott und die Welt,

Stuttgart 1997

R. Coles: Wird Gott nass, wenn es regnet? Die religiöse Bilderwelt der Kinder, (am.:The Spiritual Life

of Children, 1990), Hamburg 1992

D. Fischer/A. Schöll (Hg.): Religiöse Vorstellungen bilden. Erkundungen zur Religion von Kindern

über Bilder, Münster 2000

S. Klein: Gottesbilder von Mädchen als Zugang zu ihrer religiösen Vorstellungswelt, in: Fischer/Schöll,

aaO., S. 97–128

K.E. Nipkow: Erwachsenwerden ohne Gott? Gotteserfahrung im Lebenslauf, Gütersloh 2000 (5.Aufl.)

Ders.: Bildung in einer pluralen Welt, Bd. 1: Moralpädagogik im Pluralismus, Bd. 2: Religionspädago-

gik im Pluralismus, Gütersloh 1998

A.-K. Szagun, Zugänge zur Gottesfrage. Anspruch – Wirklichkeit – Möglichkeiten, in: Schulfach Reli-

gion, 19. Jg., Nr. 1–2, hg. u.a. vom Institut für Religionspädagogik an der Theol. Fakultät der Universi-

tät Wien, 2000

Karl Ernst Nipkow, Kinder und Jugendliche und die Frage nach Gott, in: M. Wermke (Hg.), Aus gutem

Grund Religionsunterricht, Göttingen 2003

22

2b Die Vorgaben: Dimensionen, Kompetenzen, Standards

Religiöse Kompetenz (aus dem Hessischen Curriculum)

Religiöse Kompetenz ist die Basis für selbstverantwortete religiöse Praxis. Sie entwickelt sich in

Gesprächen über Religion und Glaube, in der Auseinandersetzung mit Widerfahrnissen des Le-

bens, im sozialen Handeln sowie in Begegnungen mit religiöser Praxis im Lebensumfeld. Dazu

werden im Folgenden sechs Kompetenzbereiche ausgewiesen.

� Wahrnehmen und beschreiben

Die Lernenden nehmen sich selbst und die Welt in ihrer Vielfalt und Einzigartigkeit mit ihren

Möglichkeiten, Grenzen und Brüchen wahr und bringen ihre Erfahrungen zum Ausdruck. Sie be-

schreiben ihr Erleben, Fühlen und Denken und stellen fest, dass es im Leben mehr gibt als das

Sichtbare und Machbare.

� Fragen und begründen

Unvoreingenommen fragend erschließen sich Kinder die Welt. Sie fragen nach dem Woher, Wozu

und Wohin des Lebens. Auf der Suche nach Antworten entwickeln und begründen sie eigene Ori-

entierungen vor dem Hintergrund des biblisch-christlichen Glaubens.

� Deuten und verstehen

Religiöse Deutung erschließt einen besonderen Zugang zur Wirklichkeit. Ebenso kann Religion an

sich nur deutend verstanden werden. Die Lernenden deuten Grundformen religiöser Sprache und

verstehen biblische Überlieferung im Kontext ihrer Entstehungsgeschichte. Sie bringen Erfahrun-

gen von Menschen in der biblisch-christlichen Tradition mit dem eigenen Leben in Verbindung.

� Kommunizieren und Anteil nehmen

Kommunikations- und Interaktionsfähigkeit sind grundlegende Kompetenzen für das Zusammen-

leben von Menschen. Diese Fähigkeit zeigt sich im Zuhören, Mitteilen, Anteil nehmen und Ver-

ständnis entwickeln. Zu einer reflexionsfähigen Religionspraxis gehört außerdem die Fähigkeit,

über Religion zu kommunizieren sowie die Fähigkeit, religiöse Sprache und Symbole zu verwen-

den.

� Ausdrücken und gestalten

Religiöse Kompetenz ist beobachtbar auf der Ebene der Performanz. Die Lernenden setzen religiö-

se Inhalte und Aussagen in vielfältigen Ausdrucksformen gestalterisch um. Sie gestalten christliche

Feste und Feiern im schulischen Leben mit.

� Handeln und teilhaben

Vor dem Hintergrund evangelischer Lebens-, Glaubens- und Handlungspraxis bedenken die Ler-

nenden das eigene Handeln, nehmen ein menschenfreundliches Miteinander in den Blick und er-

leben Formen von Gemeinschaft. Damit wird die Fähigkeit zur Entscheidung für eine aktive Teil-

habe an religiösem Leben angebahnt.

23

Inhaltsfelder (aus dem hessischen Curriculum)

Für das Fach Evangelische Religion sind drei Leitperspektiven grundlegend, die abbilden, wie uns Religi-

on in der Lebenswirklichkeit begegnet: „Eigene Erfahrungen und individuelle Religion“ – „Christliche

Religion in evangelischer Perpektive und christliche Traditionen“ – „Religiöse und gesellschaftlich-

kulturelle Pluralität“.

Die Leitperspektiven strukturieren die Auseinandersetzung mit den Inhaltsfeldern des Faches Evange-

lische Religion von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe. Die Inhaltsfelder orientieren sich an der

Fachwissenschaft und haben sich fachdidaktisch bewährt. Sie fokussieren die wesentlichen inhaltlichen

Aspekte des Faches Evangelische Religion und lauten wie folgt:

� Mensch und Welt

In der jüdisch-christlichen Tradition wird der Mensch als ein Geschöpf Gottes gedeutet. Im Miteinan-

der und in der Auseinandersetzung in Familie und Schule, Gesellschaft und Welt erfährt er sich selbst

in seinen Möglichkeiten und Grenzen. Er begegnet der Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit seiner

Mitmenschen. Auf seine Fragen nach dem Sinn des Lebens und der eigenen Identität kann ihm die

christliche Religion Antworten geben. Die auf der Grundlage menschlicher Erfahrungen erworbenen

Handlungskonzepte und Haltungen werden von der biblisch-christlichen Tradition her gedeutet und

sind in ihrem Sinne gestalt- und veränderbar.

� Gott

Die Frage nach Gott gehört zu den Grundfragen des Menschseins. Dieser Frage wird Raum gegeben,

damit eigene Vorstellungen von Gott zum Ausdruck gebracht und entwickelt werden können. Das

biblisch-christliche Gottesverständnis basiert auf der Beziehung Gott – Mensch, die in Jesus Christus

erschlossen wird. In biblischen Geschichten begegnen uns Menschen, die von ihren Erfahrungen mit

Gott erzählen und damit Orientierung für das eigene Leben bieten.

� Jesus Christus

Nach christlichem Glauben erschließt sich durch Jesus unsere Beziehung zu Gott. In Jesus Christus

zeigt sich uns Gott. Jesu Leben, sein Kreuzestod und seine Auferweckung werden als Gottes erlösendes

Handeln gedeutet. Die Evangelien erzählen von der vorbehaltlosen Zuwendung Gottes zu den Men-

schen durch Jesus Christus. Das Leben Jesu und seine Botschaft können Beispiel sein für eigenes Leben

und Handeln.

� Kirche

Christen leben nicht für sich allein, sondern in der Gemeinschaft mit anderen. Damit stehen sie in der

Nachfolge Jesu und leben und handeln aus dem Glauben an das Evangelium. Kirche ist auch sakraler

Raum, in dem das Wort Gottes verkündigt wird und die eigene religiöse Praxis ihren Ausdruck findet.

� Religionen

Religionen ermöglichen jeweils unterschiedliche Perspektiven, die Welt zu deuten und ihr zu begeg-

nen. Sie prägen das persönliche Leben und die jeweilige Gesellschaft und Kultur.

24

� Bibel

Die Bibel in der Einheit von Altem und Neuem Testament ist für Christen das Fundament ihres Glau-

bens. Elemente der Entstehungsgeschichte und ausgewählte Inhalte der Bibel sind die Grundlage, um

die christliche Religion und Tradition verstehen zu können.

Biblische Erzählungen sind überlieferte Erfahrungen von Menschen mit Gott aus einer anderen Zeit

und Kultur. Sie müssen auf die heutige Zeit übertragen und gedeutet werden.

Die Bibel ist auch in anderen Inhaltsfeldern zentrale Bezugsgröße.

Standards nach Klasse 4 (aus dem hessisches Curriculum)

Wahrnehmen

und beschrei-

ben

Die Lernenden

können

� eigene Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle wahrnehmen und sie zum Aus-

druck bringen,

� die Schöpfung in ihrer Vielfalt und die Einmaligkeit des Menschen mit seinen

Möglichkeiten und Grenzen wahrnehmen und beschreiben,

� Gestaltungs- und Handlungsräume für einen verantwortungsvollen Umgang

mit sich und der Welt wahrnehmen und beschreiben,

� eigene Gottesvorstellungen beschreiben.

fragen und

begründen

Die Lernenden

können

� nach Entstehung, Grund und Sinn der Welt fragen; Antworten begründen,

� nach Grunderfahrungen menschlichen Lebens fragen und Zusammenhänge

zum eigenen Leben herstellen,

� nach der eigenen Religionszugehörigkeit fragen und sie begründen.

deuten und

verstehen

Die Lernenden

können

� die Welt und den Menschen als Gottes Schöpfung deuten,

� Gottesvorstellungen der Bibel deutend beschreiben,

� Geschichten der Bibel aus Altem Testament und Neuem Testament als Erfah-

rungen von Menschen mit Gott einordnen und deuten,

� elementare Ausdrucksformen religiöser Praxis erklären und deuten.

kommunizieren

Anteil nehmen

Die Lernenden

können

� elementare religiöse Sprach- und Ausdrucksformen anwenden,

� Möglichkeiten verantwortungsvollen Umgangs miteinander kommunizieren

und Anteil nehmen am Leben der anderen,

� über die eigene Religion und andere Religionen sprechen und Mitmenschen

in Toleranz und Respekt begegnen.

ausdrücken

gestalten

� Inhalte des Faches gestalterisch zum Ausdruck bringen,

� christliche Feste und Feiern im schulischen Leben mitgestalten.

handeln und

teilhaben

� im Umgang mit der Schöpfung und dem Mitmenschen verantwortungsvoll

handeln, an religiös bedeutsamen Vorhaben des Schullebens partizipieren.

25

Inhalte nach Klasse 4 (aus dem hessischen Curriculum)

InhaltsfelderInhaltsfelderInhaltsfelderInhaltsfelder KompetenzenKompetenzenKompetenzenKompetenzen

GottGottGottGott Im Zusammenhang mit der Wahrnehmung der eigenen Identität und

der Welt stellt sich die Frage nach Gott. Dabei geht es vor allem um

die Art und Weise der Gottesbeziehung.

Sie stellt sich dar in den Erfahrungen von Menschen sowohl aus bib-

lischer Sicht als auch im eigenen Lebenskontext. Beispiele biblischer

Erzählungen von Gotteserfahrungen in AT und NT sind grundle-

gend.

Die Gottesbeziehung kann in unterschiedlichen Formen biblisch-

christlicher Glaubenspraxis ausgedrückt werden. Die Kommunikati-

on mit Hilfe von Symbolen nimmt hier einen wichtigen Raum ein.

Mensch Mensch Mensch Mensch

und Weltund Weltund Weltund Welt

Die Fragen nach dem Woher, Wozu und Wohin des Lebens sind

grundlegend bei der Suche nach Identität und der Auseinanderset-

zung mit der Welt. Vielfältige Erfahrungen, Möglichkeiten und

Grenzen, Brüche und Übergänge kennzeichnen unser Menschsein. In

biblischen Texten finden wir hierfür Beispiele.

Das christliche Menschenbild beschreibt den Menschen als von Gott

geschaffen und bedingungslos angenommen und geliebt. Aus diesem

Zuspruch erwächst ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Mit-

menschen und der Schöpfung.

BibelBibelBibelBibel Ein Grundwissen über die Entstehungsgeschichte der Bibel erschließt

ein Verständnis für Inhalte und Sprache im AT und NT. Die Begeg-

nung mit ausgewählten Psalmworten und Gleichnissen verdeutlicht

die Symbolhaftigkeit der Sprache des Glaubens und schafft ein

Grundverständnis für religiöse Kommunikation.

Die Erzählungen und Erzählzyklen des AT sind als ein Spezifikum

der jüdisch-christlichen Tradition bedeutsam. Ausgewählte Texte aus

dem NT sind grundlegend für den christlichen Glauben.

Alle benann-

ten Kompe-

tenzbereiche

können mit

den Inhalts-

feldern ver-

knüpft wer-

den.

JesusJesusJesusJesus

ChristusChristusChristusChristus

Die Lebensgeschichte Jesu erzählt von der Menschenfreundlichkeit

Gottes, die durch Jesu Handeln und Wirken sichtbar wird und Mög-

26

lichkeiten zur Identifikation und Lebensorientierung bietet.

In den Geschichten von Jesu Geburt, Wirken, Tod und Auferstehung

zeigt sich Gott als Mensch, der dem Menschen nah ist. Jesu Rede vom

Reich Gottes weist auf die befreiende und Hoffnung stiftende Per-

spektive für das Leben der Menschen – damals und heute.

Kenntnisse über die Merkmale der Zeit und Umwelt Jesu schaffen

Grundlagen und vertiefen das Verständnis für seine Person, sein Le-

ben und seine Botschaft. Dies wird auch in Lebensgeschichten von

Menschen in der Nachfolge Jesu aus Geschichte und Gegenwart deut-

lich.

KircheKircheKircheKirche Christ sein erschließt sich in der Gemeinschaft mit anderen, die durch

den gemeinsamen Glauben an Jesus Christus und durch die Taufe

miteinander verbunden sind. So wird Kirche als die Gemeinschaft

aller Christen verstanden, die sich in unterschiedlich konfessioneller

Prägung zeigt. Ebenso ist Kirche auch als sakraler Raum zu verstehen,

in dem Gottesdienste und die wichtigsten Feste des Kirchenjahres

miteinander gefeiert werden. Formen der darstellenden und bilden-

den Kunst geben Zeugnis christlichen Glaubens.

ReligionenReligionenReligionenReligionen Kenntnisse über eigene Konfessions- und Religionszugehörigkeit sind

Voraussetzung für das Verständnis Andersdenkender. Die Auseinan-

dersetzung mit der jüdischen Tradition ist notwendig, um das Ver-

ständnis für die christliche Religion anzubahnen. Ein respektvoller

Umgang mit Menschen anderer Religionszugehörigkeit im eigenen

Lebensumfeld erfordert Grundkenntnisse der jeweils anderen Kultur

und Glaubenspraxis.

27

3 Die Inhalte

Zum BeispielZum BeispielZum BeispielZum Beispiel:::: Die Bibel Die Bibel Die Bibel Die Bibel

„Kindergruppe ist leicht“, sagt Carola. „Da erzähle ich einfach eine schöne Bibelgeschichte.“

Wenn es nur so einfach wäre! Gewiss: „Noah und die Arche“, „Abraham bricht auf“, „Jakob be-

trügt Esau“, „Josef wird verkauft“, „David besiegt Goliat“ und: „Jesus ist immer lieb und gut und

heilt alle Gebrechen“ – das sind spannungsreiche Geschichten, ihre Struktur ist leicht durch-

schaubar, schon junge Kinder kommen gut mit. Wenn da nicht dieser eine Haken wäre: Es sind

Geschichten mit Gott.

Gott ist größer als alle Geschichten (vgl. auch Teil B), und wenn da erzählt wird, dass Gott han-

delt, fühlt und spricht wie ein Mensch, spiegeln sich darin geistliche Erfahrungen und individuel-

le Deutungen. Sie sind mit menschlichen Mitteln erzählt, aber symbolisch gemeint.

Religiöse Sprache

Da aber religiöse Symbolsprache heute kaum noch verstanden wird, führt sie zu Missverständnis-

sen. Ungeübte Zuhörer meinen allzu leicht, wir wollten ihnen weismachen, das sei alles fotogra-

fierbar und protokollierbar genau so geschehen. Und auch schon Kinder legen die „spannenden

Bibelgeschichten“ zur Seite, sobald sie meinen, sie seien nun „groß“ – und erklären sie für kin-

disch und unwahr.

Eine eigene Auseinandersetzung, ein Ringen um die Wahrheit hinter der spannenden Oberfläche

der Geschichte findet kaum statt. Weglegen fällt leichter – zumal, wenn die Umwelt nichts ande-

res zu erwarten scheint.

Stufen religiösen Verstehens

Idealerweise reift beim heranwachsenden Menschen die Gottesvorstellung mit seinen Verste-

hensmöglichkeiten. Entwicklungspsychologen beschreiben mehrere einander ablösende Phasen,

die mit der zunehmenden Reife im abstrakten Denken, Rechnen und Formulieren einhergehen.

Zuerst trauen Kinder Gott einfach alles zu; er ist für sie unberechenbar und handelt „aus heite-

rem Himmel“ (Stufe 1); dann nehmen sie an, dass Gott sich an Regeln hält, dass man also mit

ihm „handeln“ kann: „Ich gebe dir meine Gebete – und was gibst du mir?“ (Stufe 2). Und schließ-

lich fangen sie an, Gottes Unverfügbarkeit zu erahnen und Menschenworte von Gott symbolisch

zu verstehen (ab Stufe 3).

Von ihren intellektuellen Möglichkeiten her sind Kinder etwa am Ende der Grundschulzeit fähig,

Geschichten von Gott symbolisch zu verstehen und differenziert und existenziell über Gottesbil-

der und ihre Beziehung zu Gott nachzudenken.

Die Realität sieht anders aus: Wie viele Jugendliche und Erwachsene sind mit ihrem Gottesver-

ständnis auf Stufe 2 stehen geblieben – und sagen sich daher von Gott los. „Der soll das Wasser

28

geteilt haben? So ein Quatsch! Kindergeschichten.“ Keine Auseinandersetzung, keine Entwick-

lung. Keine Gottesbeziehung.

Ich meine: Es ist an Ihnen / an dir und jedem Mitarbeitenden in der Gemeinde, hier vorzubeu-

gen. Es ist heute wichtig, Bibelgeschichten anders zu erzählen. Sie von Anfang an so zu erzählen,

dass sie ihre Lebenskraft entfalten. Es ist vor allem wichtig, von Gott anders zu erzählen. Nicht so,

als hätten wir ihn – als hätten wir ihm bei der Schöpfung zugeschaut und Protokoll geführt, son-

dern so, dass wir Gott seine Freiheit lassen – und dem Zuhörer auch.

Wir müssen behutsam mit Gottes Namen umgehen. Zum Beispiel sollten wir nicht sagen: „Gott

machte …“, sondern: „Es geschah – und da sagten die Leute: „Das kommt von Gott.“

Auch sollten wir uns, bevor wir eine Geschichte erzählen, genau überlegen, welche Erfahrung mit

Gott da im Mittelpunkt steht und ob wir diese teilen – und mitteilen wollen.

Und schließlich sollten wir immer so erzählen, dass das Entscheidende offen bleibt zum Erfah-

rungsaustausch.

All dies ist Bibeldidaktik. Dem voraus geht die eigene kritische und erfahrungsbezogene Bibellek-

türe (vgl. Teil B). Das eigene (sich immer wieder ändernde und entwickelnde) Gottesbild und der

eigene biblische Kanon. Das eigene pädagogische Ziel.

„Stufe drei“

Mein pädagogisches Ziel ist schon verraten – ich untermale es mit einem Beispiel. „Stufe drei“ ist

mein Ziel – so wunderbar unabhängig und vertrauensvoll:

Eine Lehrerin fragt Kinder in einer dritten Klasse: „Was haltet ihr davon, dass Gott die Sintflut

geschickt hat?“ Einige Kinder (Stufe 1) zeigen Verständnis: „Der war auch ein bisschen beleidigt.“

Andere (Stufe 2) empfinden das Unrecht: „Das ist ein ganz böser Gott!“ oder das Recht: „Die ha-

ben es nicht besser verdient!“ Ein Kind aber (Stufe 3) trennt sein persönliches Gottesbild von der

Geschichte ab und sagt: „Das hätte Gott nie gemacht.“4

Abgesehen davon, dass die Lehrerin anders hätte fragen sollen (Was haltet ihr davon, dass die

Menschen erzählen, dass Gott die Sintflut geschickt hat?): Nur auf dieser dritten Stufe lässt sich

auf Dauer eine tragfähige Gottesbeziehung aufbauen – und so sollte es unser erstes und wichtigs-

tes Ziel sein, mit allem, was wir sagen und erzählen, eine solche Weise, von Gott zu denken, zu

fördern.

Dazu sollen die folgenden Schritte befähigen: Es geht ums eigene Bibellesen und -verstehen, um

den Anspruch des Erzählens und um praktische Tipps zum Erzählen elementarer Bibelgeschich-

ten.

4 Nachzulesen im Jahrbuch Kindertheologie, Sonderband I, Stuttgart 2004, S. 44–56: Brigitte Ertl, Susann Lojewski, Ich will da raus!“

Mit Kindern über die Sintflutgeschichte nachdenken.

29

Was dem Leben dient

Das Alte Testament ist eine Sammlung von Texten aus vielen Jahrhunderten. Daher verwundert

es nicht, dass sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Gott darin ihren Niederschlag gefunden ha-

ben. Und doch ist das Alte Testament auch eine Einheit: Denn in all den Erfahrungen hat Israel

immer den einen und einzigen Gott erkannt. Es gibt verschiedene Versuche, „rote Fäden“ zu fin-

den, „Grundbescheide“, „Elementares“. Ich schlage drei Merkmale vor, an denen ich Gott erken-

ne, die ihn mir unverwechselbar machen:

Gott sucht – Gott stört – Gott bleibt ein Geheimnis

Gott sucht Menschen auf in ihrem Leben, wählt sie aus, geht ihnen nach, begleitet sie, gibt sie

nicht verloren.

Gott stört die Selbstsicheren und allzu Selbstzufriedenen, die Selbstgerechten und die Ungerech-

ten.

Und in allem, was wir von ihm erfahren können, ist er doch immer unergründlich, unerschöpf-

lich, unverfügbar – einm Geheimnis.

Alle Geschichten des Suchens, Störens und Unverfügbar-Bleibens Gottes im Alten Testaments

münden in diese Erkenntnis: Gott liebt das Leben, Gott ist da, alle Dinge sind möglich bei Gott.

Oder, wie es pointiert im Buch Jona steht: „Barmherzig, und gnädig ist der Herr, geduldig und

von großer Güte“ (Jona 4,2; nach: Psalm 103,8).

Das schließt nicht aus, dass Menschen Gott auch als hart, fern, gar grausam und rachsüchtig er-

lebt haben. Aber es ermächtigt uns, uns auf andere, auf Leben fördernde Erfahrungen zu verlas-

sen.

Auch Jesus, der Gott-bei-den-Menschen,

sucht, stört und bleibt ein Geheimnis

Und dann ist da Jesus. Auch Jesus spricht bisweilen vom Gericht und von Strafe. Aber mehr, viel

mehr erzählt er von Gott, der das Verlorene sucht, der die Ungerechten nicht in Ruhe lässt, der

sich nicht verfügbar machen lässt. Erzählt nicht nur von diesem Gott – ist selbst dieser Gott-bei-

den-Menschen. Sucht, stört (bis sie ihn umbringen), bleibt dabei über den Tod hinaus und durch

den Tod hindurch ein Geheimnis.

In der Fremdheit liegt die Wahrheit

Diese drei roten Fäden verbinden in staunenswerter Einheit Altes und Neues Testament. Und sie

eignen sich daher als rote Fäden, weil sie eine „schwere Lesart“ sind: Sie sind so unerwartet, so

anders als alles, was „man“ gewöhnlich von Göttern erwartet – seien es die der Lebenswelt oder

der grauen Vorzeit –, dass sie einfach echt sein müssen!

Ein „gewöhnlicher“ Gott hat Macht und nutzt sie. Ein „gewöhnlicher“ Gott hat sich selbst und

braucht kein Gegenüber (allenfalls Diener). Ein „gewöhnlicher“ Gott hält sich die Welt vom Hals,

30

sonnt sich in seinem Glanz und setzt sich gern in Szene. Suchen? Stören? Im Verborgenen blei-

ben? – Doch wohl eher nicht. So ist nur einer.

Was es zu wissen gibt

Die Bibel ist klar und einfach. Jeder kann sie selbst lesen und verstehen. Das sagt Martin Luther.

Darum wollte er, dass jeder sie in seiner Sprache selbst lesen kann. Darum hat er jedem Christen

die Verantwortung für seinen Glauben selbst in die Hand gegeben.

Dennoch ist es gut, einiges über die Bibel und die Textsorten, die in ihr versammelt sind, zu wis-

sen. Das räumt Stolpersteine aus, die einer dem Leben dienlichen Gottesbeziehung im Weg ste-

hen können.

Die Bibelwissenschaft muss nicht jedes Mal miterzählt werden, wenn eine Bibelgeschichte erzählt

wird. Sie gehört aber in den Hinterkopf. Damit wir ballastfrei erzählen.

Die Urgeschichte (Genesis 1 bis 11)

Von der Erschaffung der Welt und des Menschen, vom Paradies und seinem Verlust, von den

ersten Menschen, dem ersten Mord, der großen Flut, der ersten großen Stadt wird in den ersten

Kapiteln der Bibel erzählt. Es wird mythisch erzählt.

Mythen bewahren zeitlose Weisheit und verwandeln sie in Geschichten. Mythen sind niemals so

geschehen und doch immer wahr. Um das zu verstehen, muss man auf ihren Kern schauen. My-

then erzählen, wie die Welt ist und wie der Mensch ist, und warum die Welt und der Mensch so

sind, wie sie sind. Mythen begründen dies mit dem Wirken und Willen übermenschlicher, göttli-

cher Macht.

Mythen fanden die Vorfahren Israels vor, als sie begannen, eigene Erfahrungen mit dem Über-

menschlichen zu machen. Und sie stellten fest, dass ihre Gotteserfahrungen sich von den Erfah-

rungen, die in Göttermythen aufbewahrt waren, auf eine spezifische Weise unterschieden. Die

Themen mochten die gleichen sein: Wo kommen wir her? Warum sind wir auf der Erde? Was ist

gut und böse? Wie lange wird die Erde bestehen? Was wird aus uns? Aber die Behandlung unter-

schied sich.

Israel erzählte ebenso wie seine Umwelt, dass die Welt durch göttliche Schöpfung entstanden sei

– aber nicht aus Kampf, sondern aus dem göttlichen Wunsch heraus, etwas Schönes und Gutes

zu schaffen.

Israel erzählte ebenso wie seine Umwelt, dass die Menschen in einem besonderen Verhältnis zur

göttlichen Macht standen – aber nicht als Diener, sondern als Partner.

Israel erzählte ebenso wie seine Umwelt, dass ein großer Regen beinahe alles Leben auf der Erde

vernichtet hätte, dass aber einer den Tipp bekam, ein Boot zu bauen. In den Mythen waren hier

verschiedene Götter am Werk – für Israel gab es nur einen. Und so erzählte Israel mit den Wor-

ten und Motiven des Mythos und erzählte doch anders.

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Für den, der diese Geschichten heute weitererzählt, heißt das: Er muss von einem besonderen

Gott und seinem besonderen Verhältnis zu den Menschen erzählen, von Fürsorge und Zunei-

gung. Er kann die mythischen Züge – Fremdheit, Zorn und Strafe – zurückdrängen. Die sind

nicht der Kern. Und wichtig ist: Mythos ist etwas ganz anderes als Geschichtsschreibung. Er ist

erzählte Weisheit.

Die Erzelterngeschichten (Gen 12 bis 50)

Die Geschichten von Abraham und Sara, von Isaak, von Jakob und seinen zwölf Söhnen sind Sa-

gen und Sagenkränze. Aus ursprünglich einzelnen Erzähltraditionen wurde eine Generationen-

folge zusammengestellt. So wurde erzählt, wie aus dem „umherirrenden Aramäer“ (Dtn 26,5) Ab-

raham Schritt für Schritt unter Gottes Segen ein großes Volk wurde. Diese Konstruktion erzählt

den Juden bis heute ihre Heilsgeschichte. Für Christen sind die elementaren Gotteserfahrungen,

die in den Einzelgeschichten erzählt werden, beinahe bedeutsamer: die Erfahrung, dass Abra-

hams Aufbruch von Gott gewollt und begleitet war, dass er einen Sinn und ein gutes Ziel hatte;

die Erfahrung, dass Kinder um Gottes Willen nicht geopfert werden dürfen; die Erfahrung, dass

Gott selbst auf krummen Wegen mitkommt und Acht gibt – dass Gottes Segen kein Schild gegen

Schlimmes ist, aber ein steter Quell von Zuspruch, Trost und Kraft.

Für den, der diese Geschichte heute weitererzählt, heißt das: Er schaut genau hin, welche Got-

teserfahrung er weitergeben will. Er erzählt von Menschen, die in entscheidenden Augenblicken

sagen: „Ich hoffe auf Gott“, „Oh Gott, hilf!“ oder „Das war Gott. Gott sei Dank.“

Die Mosegeschichten (von Exodus bis Deuteronomium)

Dass hebräische Nomadensippen hin und wieder nach Ägypten kamen, ist historisch greifbar.

Der große Nachbar mit seinen Nilschwellen und seinen Kornkammern war in Dürren und Hun-

gersnöten das rettende Ufer. Zu Sklavenarbeit gezwungene Hebräer lassen sich angesichts der

Prunkbauten ägyptischer Pharaonen gut vorstellen.

In so einer Situation setzt das zweite Buch Mose, Exodus, an und erzählt das Urerlebnis des Ju-

dentums: Gott selbst konnte die Unterdrückung nicht länger mit ansehen. Er offenbarte sich Mo-

se und beauftragte ihn, das „Volk Israel“ aus der Knechtschaft zu befreien und in ein Land zu

führen, wo „Milch und Honig“ fließt.

Historisch greifbar – da ist etwas geschehen. Symbolisch erzählt aber dennoch. Deutung sind

Gottes Rettungstaten, Deutung, dass er die Plagen sandte, Deutung, dass er das Meer teilte. Deu-

tung, dass die Bewahrung in der Wüste von Gott kam und auch die Leiden und die Sterbefälle.

Deutung aufgrund von Erfahrung.

Für den, der die Geschichten heute weitererzählt, heißt das: Er erzählt nicht, was Gott getan

hat. Er erzählt, was die Menschen erlebten. Er bietet Deutung an – die Deutung Israels. Und

seine eigene. Und er setzt seinen Akzent da, wo er das allgemein Lebensdienliche entdeckt:

Gott, der parteiisch ist für die Unterdrückten, Gott, der ein Herz für die Schwachen hat, Gott,

der mit diesem Mose etwas anfangen kann, obwohl der jähzornig, schwerzüngig und zaghaft ist.

Gott, der eine besondere Beziehung zu diesem Menschen eingehen kann, so dass der die Erfah-

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rung macht: Gott ist für mich wie ein Freund. Er geht vorüber und ich sehe seine Spuren.

Die Königs- und Prophetengeschichten (1 Samuel bis 2 Könige)

In den Büchern Josua und Richter geht es weiter um das Geschick des Volkes Israel, des Volkes

Gottes. Nun siedeln sie im „gelobten Land“ in ständigem Konflikt mit den Nachbarn. Bearbeiter

haben ein starres Schuld-und-Strafe-Schema über die einzelnen Erzählungen gelegt, mit dem sie

Niederlagen und Siege deuten. Die Botschaft: Wenn ihr Gott untreu seid, straft er euch; wenn ihr

bereut und umkehrt, hilft er euch wieder. Abgesehen davon, dass dieses Schema ein verzerrtes

Gottesbild spiegelt – die Geschichten enthalten wenig Zeitloses.

Anders die Geschichten von Saul, David und Salomo, den drei ersten Königen Davids: Die Da-

vidsgeschichte vornehmlich wird als Roman entfaltet, voller Höhen und Tiefen, menschlicher

Güte und menschlicher Schwäche. Und die Geschichte von David und Goliat wird gern als Para-

bel erzählt für die Möglichkeiten des Kleinen, wider alles Erwarten dem Großen und Starken zu

trotzen.

Für den, der heute von David oder auch von Propheten wie Elia, Jesaja, Jeremia erzählen will,

heißt es: Er erzählt von Menschen, die sich von Gott an ihren Platz gestellt, mit ihrer Aufgabe

betraut wissen. In Glück und Leid, Macht und Ohnmacht fragen sie nach Gott – daran lässt sich

lernen.

Weisheitsgeschichten

Und dann ist da noch die Weisheitsliteratur. Sie ist erzähltes Nachdenken über Gott und die

Welt, Gut und Böse, Gerechtigkeit und Gnade. Von König Salomo wird erzählt, dass Gott ihm

einen Wunsch gewährte und Salomo sich Weisheit erbat. Von Salomo dem Weisen erzählt man

sich u.a. die Geschichte von zwei Frauen, die sich um ein Kind stritten (1 Kön 3,16–28). Der

Weisheitsliteratur gehören das Buch Hiob und das kleine Prophetenbuch Jona zu. Das Buch Hiob

entfaltet erzählerisch die Frage, ob es Guten immer gut geht bzw. ob Leiden eine Strafe Gottes sei,

und das Jona-Buch ist ein erzählender Hymnus auf Gottes kreative Geduld.

Für den, der heute von Hiob oder Jona erzählt, heißt es: Er erzählt von fantasievoll konstruierten

Wechselfällen und sorgsam gestalteten Figuren, an denen Grundsätzliches deutlich wird. Ebenso

wenig wie im Mythos erzählt er tatsächliche Begebenheiten.

Die Evangelien

Um von Jesus zu erzählen, erfanden die frühen Christen eigens eine neue Gattung: die Evange-

lien. Erzählt wie eine Biografie, sind sie zugleich und vor allem Bekenntnis und Predigt. Von dem

Menschen Jesus, der in Israel gelebt, gepredigt und geheilt hat, der verurteilt und gekreuzigt wur-

de, können sie nicht erzählen, ohne ihn zugleich als Messias und Gottessohn zu deuten und ver-

kündigen (vgl. Teil B).

Für den, der heute von Jesus erzählt, bedeutet das: Er erzählt „von rückwärts“. Er kennt den

Ausgang der Geschichte und seinen eigenen Standpunkt – für ihn ist Jesus lebendig – und so er-

zählt er zwar vom Menschen Jesus, aber immer auch das Besondere an ihm. Wie die Menschen

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damals über Jesus staunten und Anstoß nahmen, so staunen auch die Leser heute: Was sollen

wir nun glauben, wer er ist?

Vier Evangelien

Für den, der heute von Jesus erzählt, ist es wichtig zu wissen, dass er aus vier Versionen wählen

kann, die in unterschiedlicher Absicht und Haltung verfasst worden sind. Ganz grob kann man

unterscheiden:

Das Markus-Evangelium ist das älteste und kürzeste; es setzt mit Jesu Taufe ein und endet (ur-

sprünglich) mit der Flucht der Frauen vom leeren Grab. Markus erzählt vom Menschen Jesus, der

immer deutlicher seine Aufgabe erkennt. Aus seiner Messianität macht er ein Geheimnis, das erst

nach seinem Tod aufgedeckt wird.

Das Matthäus-Evangelium ist etwas jünger. Es ist in der Absicht verfasst, Jesus als den in den al-

ten Schriften vorausgesagten Messias kenntlich zu machen, ja: zu beweisen. Es setzt mit einem

Stammbaum ein, der von Abraham über David bis zu Josef, dem Vater Jesu reicht. Die Weih-

nachtsgeschichte des Matthäus stellt Josef in den Vordergrund. Weder Bethlehem noch Stall

noch Hirten kommen vor – jedoch die Weisen aus dem Morgenland, Herodes und die Flucht der

jungen Familie nach Ägypten.

Das Lukas-Evangelium wendet sich an die griechisch-römische Welt und zeigt ihr Jesus als ihren

Heiland und Erlöser. In seinem Auftreten ist Jesus sicher und sanft; Frauen, Kinder, Sünder, Aus-

sätzige – sie alle finden bei ihm Nähe und Gehör. Das Lukas-Evangelium beginnt mit einer dop-

pelten Engel-Botschaft: Gabriel verkündigt dem Priester Zacharias die Geburt Johannes des Täu-

fers sowie der jungen Maria die Geburt des Jesuskindes. Es folgen das Gebot des Kaisers Augus-

tus, der Weg von Nazareth nach Bethlehem, der Stall, die Hirten, die „Darstellung“ im Tempel.

Das Johannes-Evangelium ist das jüngste und inhaltlich sehr eigenständig. Es setzt mit einem phi-

losophischen Mythos ein: „Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott.“ Jesus wird

dargestellt als einer, der sich seiner besonderen Abkunft und Aufgabe jederzeit bewusst ist. Er of-

fenbart Gott, indem er sich selbst offenbart – diesen Zirkel können die einen (bedingt) nachvoll-

ziehen, viele andere aber nicht. Im Johannes-Evangelium finden sich die „Ich-bin“- Worte: Ich

bin der Weinstock; ich bin der gute Hirte; ich bin das Brot des Lebens …

Begegnungsgeschichten, Wunder, Gleichnisse

Innerhalb der Evangelien gibt es wiederum unterschiedliche Gattungen.

Es wird erzählt, wie Jesus Menschen begegnet – wie er Jünger beruft, mit Pharisäern und Schrift-

gelehrten streitet, die Kinder segnet.

Wer solche Geschichten heute erzählt, wird darauf achten, sich einen „Fluchtpunkt“ zu suchen:

Woraufhin erzähle ich? Was ist der Höhepunkt? Was ist die eine Aussage, die uns heute zum

Weiterdenken anregt?

Es wird erzählt, dass sich die Menschen über Jesus wunderten, z.B. wenn Lahme wieder gehen,

Blinde wieder sehen, Stumme wieder sprechen konnten nach der Begegnung mit Jesus.

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Wer solche Geschichten heute erzählt, wird offen lassen, was da geschehen ist. Das eine Extrem

– Zauberei – wird Jesus ebenso wenig gerecht wie eine gesucht natürliche Erklärung.

Er wird erzählt, dass Jesus übernatürliche Kräfte hat: Er wandelt über Wasser, er stillt den Sturm,

er begegnet dem Satan sowie Mose und Elia. Das sind Glaubensgeschichten, die die Gemeinde

nach Ostern sich erzählt hat, um das Besondere an Jesus zur Sprache zu bringen und für sich

selbst daraus Kraft und Mut zu schöpfen. Hier wird von Jesus so erzählt wie im Alten Testament

von Gott. Als sei es so fotografierbar und protokollierbar geschehen.

Zu diesen Verkündigungs- und Glaubensgeschichten gehören auch die Weihnachtslegenden: die

Engel über Bethlehem, die Engel bei Zacharias und Maria. Und selbstverständlich am Ende: die

Engel beim leeren Grab. Die Auferstehungsgeschichten.

Für den, der diese Geschichten heute erzählt, gilt: Vorsicht – nicht als „Nachrichten“ berichten.

Sondern ausdrücklich erzählen. Ganz subjektiv und ganz offen: Für mich bedeutet das … – und

was bedeutet das für dich …?

Jesus selbst erzählt Symbolgeschichten. Er sucht sich seine Stoffe im Alltag und erzählt sie bis zu

einem Punkt, an dem man hängen bleibt. Da ist meistens die „offene Stelle“, da kommt Gott ins

Leben. Wer solche Gleichnisse heute erzählt, tut gut daran, nicht alles mit allem vergleichen zu

wollen, sondern offen zu sein für das, was das Alltagsbild stört. Das ist in der Regel die Stelle, wo

es sich lohnt, nachzudenken und sich auseinanderzusetzen.

Wem welche Geschichte erzählt wird

Ein Gespräch zwischen der alten Bessie, die Patchworkdecken näht, einem alten Priester (Padre)

und der zwölfjährigen Zoe, die gerade erst zugezogen ist und erste Bekanntschaften schließt (Clay

Carmichael, Zoe © Carl Hanser Verlag München 2011):

Bessie sah mich an. „Der Padre kommt mit seiner Predigt nicht voran.“ „Sind Sie Prediger?“, fragte

ich ihn. „Offenbar nicht“, antwortete er. „Jedenfalls kein guter.“ „Die Gemeinde beschwert sich, er

würde jeden Sonntag dasselbe predigen“, erklärte Bessie. „Und im Grunde haben sie ja recht“, sagte

der alte Mann heiter.

„Sie sagen jede Woche dasselbe?“, fragte ich. „So ziemlich.“ Bessie stach ihre Nadel wieder in die De-

cke. „Ich sage ihm immer, er soll nicht damit aufhören, bis sie auf ihn hören.“

( … ) „Und was ist es, was Sie jeden Sonntag sagen?“, wollte ich wissen. „Dass wir Gott lieben sollen

und einander“, antwortete der Padre ganz sachlich. „Darum dreht sich alles.“ Ich fand, dass seine

Botschaft viel für sich hatte. ( … ) „Vielleicht“, schlug ich vor, „liegt es daran, wie Sie es sagen.“

Immer dasselbe – ja, diese Botschaft hat tatsächlich viel für sich: Gott lieben und den Nächsten

wie sich selbst. Jesus hat nichts anderes gesagt. Und auch wenn es bei mir ein wenig anders klingt:

Gott sucht, Gott stört, Gott bleibt ein Geheimnis – so läuft das auf Ähnliches hinaus.

Immer dasselbe – und doch immer anders. Jesus hat bald vom Samaritaner, bald vom verlorenen

Sohn, bald von den vergrabenen Funden erzählt – immer wieder dasselbe und doch immer wie-

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der anders. Und du und Sie – einmal wird von Abraham erzählt, ein anderes Mal von Mose, von

Jesu Bergpredigt oder wie er ein Kind in die Mitte stellte. Liebt Gott und liebt einander.

Dabei geht es freilich nicht nur darum, die Leute durch Abwechslung geschickt zu unterhalten. Es

geht auch darum, dass die einfache Wahrheit viele Facetten hat. Und dass jeder Hörer anders

hört – ein reicher Mann anders als ein armer, ein junger anders als ein alter, eine Frau anders als

ein Mann.

Heute sprechen wir von Zielgruppen und von Milieus. Ich erzähle eine Geschichte nicht um der

Geschichte willen (und wenn sie mir noch so gut gefällt), sondern um der Hörer willen. „Was

dem Leben dient“ heißt ganz konkret: „Was denen, die es hören, leben hilft“.

Bevor ich eine Bibelgeschichte aussuche und bevor ich mich dann entscheide, wie ich sie erzähle,

mache ich mir klar, wem ich sie erzähle. Und ich frage mich: Was müssen meine Hörer hören?

Wenn ich die Gruppe gut kenne, ist es leicht. Wenn ich nur die Altersangabe habe – nun, dann

halte ich mich an sie. Ich habe mir ein einfaches Schema zurechtgemacht, das sich aus verschie-

denen empirischen Studien und Setzungen der Entwicklungspsychologie speist.

Zielgruppen

Kinder suchen Geborgenheit und haben zugleich Sehnsucht. Sie können staunen – sie suchen ei-

nen großen Freund. Beziehungsgeschichten sind wichtig, Geschichten von Verlässlichkeit und

Vertrauen. Und wie sich Gegebenheiten verwandeln wandeln können: schwach in stark, stark in

schwach, klein in groß, ängstlich in mutig.

Thematisch gut geeignet: Begegnungsgeschichten Jesu, Erzelterngeschichten, Geschichten vom

jungen David

Jugendliche wollen aufbrechen, ihre Kräfte erproben. Sie beginnen Neues und prüfen Altes. Sie

sind kritisch, suchen ihren Standpunkt, ihre Identität, aber auch Halt und Orientierung.

Thematisch gut geeignet: Aufbruch- und Protestgeschichten: Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32),

Jakob sieht die Himmelsleiter (Gen 28), Jona, die Mosegeschichten

Junge Erwachsene sind in der „Tretmühle“: Erfolg, Status, Einkommen, Aussehen, Ansehen. Bin

ich gut genug? Wie lange werde ich so gut sein, wie ich bin? Wann wird mich ein Jüngerer über-

holen? Ach Gott – ein wenig Ruhe …

Thematisch gut geeignet: Heilungsgeschichten Jesu, Psalmen, Rut, der Mythos vom Turmbau zu

Babel zusammen mit der Pfingstgeschichte, der „Tierfrieden“ (Jes 11,6–9) und andere Prophe-

zeiungen

Eltern machen sich Sorgen – um ihre Kinder. Um die Zukunft. Um das, was sie ihren Kindern

aufbürden und hinterlassen. Und dann: Die Kinder gehen eigene Wege. Sind sie fit genug? Wa-

rum nehmen sie nicht an, was die Eltern ihnen mitgeben wollen? Warum werden sie so ganz an-

ders, als die Eltern sich das gedacht haben?

Thematisch gut geeignet: die Mythen der Urgeschichte (so wie es Eltern mit ihren Kindern er-

geht, ergeht es Gott in diesen Geschichten mit seinen Geschöpfen, den Menschen!)

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Erwachsene halten bisweilen inne in ihrer Routine und fragen sich: War das schon alles? Ist da

nicht „mehr“? Wer sieht mich noch, wie ich war – und was wird aus mir? Worauf blicke ich zu-

rück? Und was war der Sinn?

Thematisch gut geeignet: Begegnungsgeschichten Jesu, wie: Die Frau am Jakobsbrunnen (Joh

4,1–26), der reiche Jüngling (Mt 19,16–26), Symbolgeschichten, wie der reiche Kornbauer (Lk

16,16–21), der Schatz im Acker und die Perle (Mt 13,44–46)

Zielgruppengenau erzählen

Nun gibt es in der Bibel für all diese Sehnsüchte und Bedürfnisse passende und weniger passende

Geschichten. Einige besonders geeignete sind oben bereits vermerkt. Wichtig ist, nachdem die

Entscheidung für eine Geschichte gefallen ist, dass sie ausdrücklich so erzählt wird, dass der Be-

rührungspunkt zwischen Geschichte und Zielgruppe deutlich wird und die Pointe der Geschichte

bildet.

So erzähle ich Abrahams Weggeschichte für Kinder aus Saras Perspektive und auf den Augen-

blick zu, da Abraham ihr sagt: „Mach dir keine Sorgen, ich weiß, dieser Aufbruch ist richtig.

Denn Gott selbst hat mir dazu den Segen gegeben.“

Oder den Aufbruch des „verlorenen Sohnes“ für Jugendliche: „Er musste es tun. Er musste fort.

Auf eigenen Füßen gehen. Sein Vater konnte ihn nicht halten. Wollte er ihn überhaupt halten?“

Oder den Schritt aus der bergenden Arche (für Kinder, aber auch für Erwachsene): Wie unsicher

die Schritte waren. Sie hatten zu lange still beieinander gehockt. Sie waren es nicht mehr ge-

wöhnt, sich zu bewegen. Und frische Luft. Fast hatten sie Angst, Angst vor der Freiheit. „So lange

hat Gott uns beschützt“, sagte Sem, Noahs Sohn. Noah schaute zum Himmel und sah den Bogen,

einen Bogen aus allen Farben der Sonne. Wie er schillerte. Ein Versprechen. „Und er wird uns

weiter beschützen“, sagte er. „Komm, Sem, bauen wir einen Altar.“

Wie zum Beispiel …

Manche Geschichten sind schon so oft missverständlich erzählt worden, dass es kaum noch an-

ders zu gehen scheint. Paradebeispiele hierfür sind die Sintflut, die Weihnachtsgeschichte, Jona

und die Paradiesgeschichte, aber auch in weniger auffälliger Weise führt das gewohnte Erzählen

häufig auf Abwege.

Die Sintflutgeschichte (Gen 5 bis 9)

Was haben wir? Der Bibeltext erzählt, dass Gott enttäuscht war von seiner Schöpfung, insbeson-

dere von seinen Lieblingsgeschöpfen, den Menschen. Was genau ihn so sehr enttäuschte, steht da

nicht – wird aber gern interpretiert: Die Menschen „stritten sich“ immer, erzählt man den Kin-

dern. Die Menschen „beuteten die Natur aus“, erzählt man den Älteren. Im Kontext der bibli-

schen Urgeschichte ist bereits Folgendes geschehen: Die Menschen haben sich von Gott entfernt,

um ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen (Paradiesgeschichte, s.u.), sie haben sich gegenein-

ander gewandt (Kain und Abel) und einander aus Missgunst Gewalt angetan. Es gibt Opfer.

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Der Bibeltext erzählt von einer Flutkatastrophe – das ist ein mythisches Motiv: Götter schicken

Wassermassen, um die „lästigen“ Menschen loszuwerden. Damit erzählten Menschen von einer

bestürzenden Grunderfahrung: Katastrophen bedrohen das Überleben; der Mensch ist machtlos,

der Fortbestand des Lebens nicht gesichert. Da ist es ein Trost: Diese Unsicherheit bedeutet nicht

das absolute Nichts. Sondern hier ist der Wille höherer Mächte am Werk.

Der Bibeltext erzählt weiter von Noah, einem Menschen, der Gott „recht“ war. Noah hat sich die

Nähe zu Gott bewahrt. Er kann ihn „hören“. Und er hört, wie er sich retten kann. Er baut eine

Arche und überlebt die Katastrophe zusammen mit seiner Familie und mit den Tieren.

Der Bibeltext erzählt weiter, dass Gott der Katastrophe Einhalt gebot, weil es ihm leid tat, seine

Schöpfung zerstört zu sehen. Dass Gott an Noah dachte und ihm den Weg aus der Arche in ein

neues Leben eröffnete. Und nun: dass er die Enttäuschung über seine Geschöpfe überwand und

erklärte, sie so, wie sie nun einmal seien, lieben und annehmen zu können.

Wie Eltern sich damit abfinden, dass ihre Kinder sich selbstständig machen und anders leben, als

sich die Eltern das je ausgemalt haben, so wird es hier von Gott erzählt: Ja, er sagt „ja“ zu uns.

Zeichen dafür: der Regenbogen!

Es ist wichtig, sich diese Elemente der Geschichte zunächst einzeln anzuschauen. Denn das Miss-

verständnis entsteht aus der Zusammenschau. Die theologische Setzung – Gott ist einer und Gott

ist allmächtig – führt zu der paradoxen Annahme, dass Gott sowohl die Flut schickt als auch vor

ihr rettet. Und weil Menschen gern kausal denken, wird daraus ein einfaches Schuld-Strafe-

Schema: Die Flut ist eine Strafe für die Bosheit der Menschen. Die Rettung ist Lohn für den einen

Guten. Am Ende sind – die Bösen tot und die Guten leben weiter?? – Nein, ausdrücklich: Das ist

falsch! Dagegen spricht, was am Ende von Gott erzählt wird: Er findet sich ab mit der Selbststän-

digkeit des Menschen und dem Risiko, dass der Mensch seine Freiheit missbraucht. Und der eine

Gute – Noah – ist am Ende doch ein Mensch wie alle Menschen auch, ein wenig gut, ein wenig

böse, eigenverantwortlich im Guten wie im Bösen.

Dann hat Gott sich geirrt und ganz sinnlos so viel Leben zerstört? Diesen Eindruck erwecken lei-

der die meisten Erzählungen der Sintflutgeschichte. Und das liegt daran, dass die Erzähler einfach

nicht deutlich machen, was sie wissen (sollten): dass hier ein Mythos erzählt wird. Die Pointe ist:

Gott nimmt uns an, so wie wir sind. Diese Pointe wird als Weg, als Geschichte erzählt, mit den

Motiven und Mitteln, die zur Verfügung standen. Katastrophen geschehen, das ist wahr. Aber

hier geht es nicht um eine bestimmte. Hier wird die Katastrophe als Mittel erzählt, um das Ver-

hältnis Gottes zu seinen Geschöpfen erzählend zu deuten. Es ist möglich, dass in alten Zeiten

Menschen weniger Anstoß daran genommen haben, dass in dieser Geschichte so viele Menschen

zu Opfern werden. Heute aber nehmen die Hörer Anstoß daran. Mit Recht.

Daher: Erzähle / erzählen Sie um Gottes Willen ganz deutlich: Das ist nicht so passiert. Das ist

eine Weisheitsgeschichte im Gewand eines Mythos! Und dann entdecke /n Sie gemeinsam mit

den Hörern, was darin über das Verhältnis von Gott und Mensch gesagt wird.

Noch ein Wort zur Zielgruppe: Vollkommen zur Geltung kann der Kern der Geschichte mit Er-

wachsenen, mit Eltern kommen, die (s.o.) ihre Kinder lieben, wie sie sind. Dennoch ist die „Ar-

che Noah“ dermaßen eine Symbolgeschichte für Kinder geworden, dass sie auch weiterhin Kin-

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dern erzählt werden wird. Dann aber ist es vernünftig, sich auf einen Teilaspekt zu beschränken:

Wie Noah seine Familie und die Tiere in der Arche rettet und wie Gott dann wiederum die Pas-

sagiere der Arche rettet und ihnen neues Leben ermöglicht – und garantiert.

Die Weihnachtsgeschichte (Lk 1 und 2, Mt 1 und 2)

Was haben wir? Lukas erzählt, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde, in einfachsten Verhältnis-

sen, und dass die ersten Zeugen seiner Geburt einfache Hirten waren. Dabei betont er, dass das

Geschehen, von unten betrachtet, ein ganz gewöhnliches war, das aber von oben her gedeutet

wurde: ein Engel bei Zacharias, ein Engel für Maria, Engel am Himmel über Bethlehem, damit

den Hirten ein Licht aufgeht.

Mit mythischen Mitteln überhöht Lukas eine irdische Geschichte. Er erzählt damit in eine Men-

schengeburt all das hinein, was er von Jesus, dem Christus, erkannt hat und glaubt.

Matthäus erzählt von Josef, einem Nachkommen Abrahams und König Davids, und von seiner

Braut, die unter ungeklärten Umständen schwanger wird. Und dass Josef gegen alle Gepflogen-

heiten bei ihr bleibt. Matthäus erzählt von dem Kind, das geboren wird, von Gratulanten und

Feinden.

Die gewöhnliche Geschichte einer anstößigen Schwangerschaft dient Matthäus vor allem dazu,

christologische Deutungen einzubringen: Dass Josef bei Maria bleibt, wird als himmlische Inter-

vention erzählt. Der Engel deutet, was geschieht. Weitere Deutungen: Weise Männer von fern bei

dem Kind – nicht nur den Juden, sondern der Welt ist der Heiland geboren. Der Hass des Herr-

schers, die Flucht – hier wird erzählt, dass Prophezeiungen wahr werden. Allein darum geht es

Matthäus mit seiner Symbolgeschichte: Jesus ist der erwartete Messias!

Was machen wir? Alle Jahre wieder, in jedem Krippenspiel geschieht es: Die Weihnachtsge-

schichten des Lukas und des Matthäus werden zusammengefügt zu einer pseudo-historischen

Idylle. Eine Wanderung mit Eselchen. Hirten und Könige gemeinsam an der Krippe. Nebenfigu-

ren werden hinzuerfunden: hartherzige Wirte, arme Hirtenjungen, ein sprechender Esel, Schild-

kröten, Schweine … Die fantasievollen Ausgestaltungen zeigen: Auch wir erzählen gern Ge-

schichten. Und: Zur besonderen Stimmung von Weihnachten tragen sie bei und sind sehr will-

kommen.

Problematisch wird es wiederum, wenn das Missverständnis genährt bzw. nicht ausgeräumt wird,

dass diese legendenhaften Züge Anspruch auf Historizität erheben.

Jesus hat gelebt! Das ist Fakt und ist wichtig. Folglich ist Jesus auch geboren worden wie jedes

Menschenkind. Die Bedeutung, die diese Geburt hatte, können wir uns dann ausmalen, immer

wieder neu. Sie soll aber nicht an märchenhafte Klischees gebunden sein – denn sie ist gültig bis

heute. Und das vor allem musst du / müssen Sie überbringen!

Jona

Was haben wir? Eine Weisheitsgeschichte, die deutlich macht, wie Gott eingreifen kann, wenn

die Dinge in der von Gott selbstständigen Menschenwelt aus dem Ruder laufen. Da wird eine

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Stadt vor Augen gemalt, in der Böses geschieht. Wie in der Sintfluterzählung wird dieses Böse

nicht genauer qualifiziert. Die Nacherzähler entfalten gern die Themen Streit und soziales Un-

recht. Sagen wir: Es gibt Opfer. Opfer, erzählt die Geschichte, mag Gott nicht, und so unter-

nimmt er etwas. Er aktiviert einen Propheten.

Jona ist einer, der weiß, dass Gott keine Opfer mag. Einer, der von Ninive gehört hat, dass es dort

Opfer gibt. Einer, der das Gefühl hat, er müsste etwas tun („Gottes Stimme“). Der sich dann aber

doch vor der Größe der Aufgabe fürchtet und lieber weit fortgeht. Der später in sich geht (in den

Fisch) und umkehrt und Gottes Willen tut.

Jona rettet Ninive: Aus Tätern und Opfern wird eine neue heile Gemeinschaft. Jona hat sich der-

weil in ein Schuld-Strafe-Schema hineingeredet und -gesteigert, das ihn daran hindert, sich über

Ninives Heilung zu freuen. Zerstörung will er sehen, nicht Rettung. Und Gott greift noch einmal

ein und ermutigt ihn (wie der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn dem älteren Sohn zuredet

und Jesus den Frommen und Pharisäern): Freu dich doch, dass das Verlorene gefunden, das Ka-

putte geheilt ist. Warum kannst du dich nicht freuen?

Ja, das ist die Weisheitsgeschichte von Jona. Aber leider wird sie immer wieder anders erzählt: Als

habe Gott strafen wollen – Jona für seine Flucht, Ninive für seine Bosheit. Als habe Gott seine

Meinung geändert. Als habe es Jona historisch wirklich gegeben, alle Stationen seines Weges und

auch protokollierbare Eingriffe Gottes.

Missverständnisse – allesamt. Und sie verstellen den Blick auf die wahre Herausforderung: So

wie Jona können auch wir Gottes Stimme hören – nämlich: wissen, was gut und was böse ist –

und können uns durchringen, den Mund aufzumachen. Und, mit Gottes Hilfe: Wir können sogar

Erfolg haben. Und dann – dürfen wir uns freuen!

Die Paradiesgeschichte (Gen 2 und 3)

Was haben wir? Einen Garten, ein Schlaraffenland. Keine Schuld, keine Mühsal, keinen Hunger

oder Durst. Nur Leben, Leben in Fülle. So ist das in der Nähe Gottes.

Menschen, die anfangen, selbst zu denken, selbst zu urteilen. Und die am Ende nicht mehr hin-

einpassen in diesen Rundum-Sorglos-Garten. Die sich entfernen. Von Gott. Vom Schlaraffen-

land.

Erzählt wird dieser Prozess des Erwachsenwerdens als Mythos: Von einem Tabu ist die Rede, ei-

nem Verbot Gottes, von Verführung und von der Verletzung des Tabus. Von der darauf folgen-

den Strafe – Gottes Fluch.

In diesen Mythos verpackt sind die eigentlich spannenden Gedanken: wie es die Menschen treibt,

das Verbotene zu erproben. Wie die Menschen versagen, indem sie einander verraten, die Schuld

weiterschieben, anstatt zu ihrer Schuld zu stehen. Und schließlich: Wie Gott ist. Er lässt sie gehen,

doch nicht ohne Segen: Er machte ihnen Kleider von Fellen.

Dieser Mythos macht mit seinen Mitteln, also auf erzählerische Weise, deutlich: Das Leben der

Menschen auf der Erde ist schwer, ist mühselig, ist von Krisen und Auseinandersetzungen ge-

prägt. Und das liegt nicht an Gott. Das liegt daran, dass der Mensch so ist, wie er ist: auf Selbst-

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ständigkeit bedacht, auf Grenzen-Erproben, auf Eigenmächtigkeiten. Diese Entfernung von Gott

hat Konsequenzen. Der Mensch muss damit leben; es gibt kein Zurück. Aber Gott geht ihm nach.

Stattdessen konzentrieren sich die Erzähler oft darauf, vom Zorn Gottes (der kommt gar nicht

vor!) zu erzählen, von Schuld und Strafe und – wiederum! – so, als sei das protokollierbar so und

nicht anders geschehen.

Gäben sie diese Geschichte zum Deuten frei, zur Entdeckung der Natur des Menschen und sei-

nes Verhältnisses zu Gott – wie viele Missverständnisse wäre vermieden!

Die Paradiesgeschichte ist keine Geschichte für Kinder. Jugendlichen kann sie Mut machen und

Augenmaß ans Herz legen beim Aufbruch. Eltern kann sie helfen, loszulassen – jedoch nur,

wenn sie erzählt wird ohne Strafe und ohne den „zornigen“ Gott. Als Parabel des Erwachsen-

werdens.

Wie Kinder sie missverstehen, belegen übrigens schriftliche Nacherzählungen von Viertklässlern.

Die Geschichten erzählen alle – sachgemäß – vom Versagen der Menschen. Um dann in Ver-

zweiflung zu enden: „Da hat Gott die Menschen für immer von sich getrennt.“

Sie wissen / du weißt es wohl besser: Hat er nicht! Zeit, das auch so zu erzählen!

Subjektiv, deutlich, offen

Es mag anschaulich geworden sein, worum es geht. Welche Bibelgeschichte auch immer erzählt

werden soll: Es gilt, vor dem Erzählen genau hinzuschauen. Was ist der Kern, was ist die Wahr-

heit, die sich lohnt? Was kann hindern, diesen Kern zu erkennen? Welche Missverständnisse

sind zu vermeiden? Erzählen wir deutlich!

Es gilt, die Position des Erzählers klar zu benennen. Erzählt wird nicht objektiv – wir lesen nicht

aus der Zeitung. Erzählen wir subjektiv: So haben es Menschen erlebt und empfunden. So emp-

finde ich – als Erzähler – es heute und so gebe ich es euch weiter –

… zum Bedenken! Es gilt, unabgeschlossen zu erzählen – nicht so, als wüssten wir, sondern so,

wie es ist: Wir glauben, wir ahnen, wir leben davon. Aber wie ist das mit den Hörern? Die sind

gefragt: Glaubst du das auch? Oder glaubst du das anders? Was empfindest du? Und was über-

zeugt dich? Sag mir deine Fragen. Lass uns gemeinsam auf die Suche nach Antworten gehen. Er-

zählen wir offen!

© Martina Steinkühler, in: Dam, H., hg., Aktiv in der Gemeinde, Göttingen 2012

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Zum Beispiel: Zum Beispiel: Zum Beispiel: Zum Beispiel: Jesus Christus Jesus Christus Jesus Christus Jesus Christus

Warum feiern wir Weihnachten? Weil Jesus geboren wurde. Und dass sich zu diesem

Fest die Menschen etwas schenken, hat ursprünglich mit der Freude über die Geburt

Jesu zu tun. Von ihm ging von Anfang an eine starke Faszination aus. Es war die Art

und Weise, wie er auf andere Menschen zuging. Er kümmerte sich in besonderer

Weise um die Armen. Jesus sorgte sich um Menschen in sozialen Notlagen, um Men-

schen, die am Rande der Gesellschaft lebten. Er war aber auch für die Reichen da – die

nach dem Sinn ihres Lebens suchten oder es durch Betrug zu etwas gebracht hatten.

Die Art und Weise, wie Jesus von Gott redete, ließ manchem den Himmel auf Erden

entstehen, als ob das verheißene Reich Gottes schon jetzt angebrochen wäre.

Was muss ich tun, um Gott nahe zu sein? Auf diese Frage geben die Weltreligionen

unterschiedliche Antworten. Nicht selten geht es um das Einhalten bestimmter Re-

geln und Frömmigkeitsübungen. Anders bei Jesus. Er steht dafür ein, dass jeder

Mensch einen Zugang zu Gott hat, der nicht daran geknüpft ist, dass bestimmte Be-

dingungen vorher erfüllt werden müssten: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig

und beladen seid; ich will euch erquicken“ (Matthäus 11,28).

Jesus setzt Zeichen: Zum Beispiel segnet er Kinder und stellt Frauen den Männern

gleich. Er geht zu den Menschen, sucht sie dort auf, wo sie leben, gibt sich sogar mit

Prostituierten ab. Er durchbricht religiöse, soziale, politische Schranken, indem er mit

Zöllnern und Sündern bei Tisch zusammen sitzt, isst, trinkt und betet. Er zeigt damit:

Jeder Mensch hat eine Würde – von Gott.

Kein Wunder, dass vielen Menschen buchstäblich ein Licht aufging. Gott nimmt

mich so an, wie ich bin. Aber ich muss nicht so bleiben, wie ich bin. Jeder Mensch

kann sich ändern. „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht

wandeln in der Finsternis, sondern das Licht des Lebens haben“, sagt Jesus (Johannes

8,12). Wo ein Licht angezündet wird, wird es hell. Weihnachten heißt: Jesus ist wie

ein Licht für die, die im Dunkeln leben. Und wenn sich Menschen einander zuwen-

den, dann sorgen sie dafür, dass es beim anderen hell wird. Wo das geschieht, ist alle

Tage Weihnachten.

Hat Jesus wirklich gelebt? Auf diese Frage geben neben den vier Biographien im Neu-

en Testament, den Evangelien des Matthäus, Markus, Lukas und Johannes vor allem

außerchristliche Quellen Aufschluss. Sie lassen keinen Zweifel daran, dass Jesus gelebt

hat. Dass er ein Produkt religiöser Phantasie sein könnte, vermuteten nicht einmal die

schärfsten Kritiker des Christentums.

42

So schreibt der römische Historiker Tacitus (55–120 n. Chr.): „Christus war unter der

Regierung des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus zum Tode verurteilt

worden“ (Annalen 15,44). Pontius Pilatus gilt als historisch verbürgte Figur. Auch der

jüdische Historiker Josephus kommt auf Jesus zu sprechen. Im Jahre 62 n. Chr. „ver-

sammelte Annanias den Hohen Rat, ließ Jakobus, den Bruder Jesu, des sogenannten

Christus, und einige andere vorführen, erhob gegen sie Anklage als Gesetzesübertre-

ter und ließ sie steinigen“ (Altertümer 20,9).

Und im jüdischen Talmud ist nachzulesen: „Am Vorabend des Pesachfestes hängte

man Jesus“ (Sanhedrin 43a). In seiner Biographie über Nero schreibt der römische

Historiker Sueton: „Mit Todesstrafen wurde gegen die Christen vorgegangen, eine

Sekte, die sich einem neuen und gefährlichen Aberglauben ergeben hatte.“ Und in der

Biographie über Kaiser Claudius schreibt er von diesem: „Die Juden vertrieb er aus

Rom, weil sie, von Chrestus aufgehetzt, fortwährend Unruhe stifteten.“

Chrestus heißt übersetzt „der Freundliche“. Damit ist Christus gemeint (wörtlich

übersetzt: „der Gesalbte“, „der mit Salböl Behandelte“). Unter dieser Bezeichnung

kann man sich in Rom möglicherweise nichts vorstellen, so dass Christus in Chrestus

umgewandelt wurde. Zwar beklagt der Kirchenlehrer Tertullian zu Anfang des 3.

Jahrhunderts, dass Christen fälschlicherweise als „Chrestianer“ bezeichnet wurden,

doch ist die in Chrestus enthaltene Wesensbestimmung keineswegs falsch, wenn man

Jesu wohltätiges Verhalten vor Augen hat.

Über den historischen Jesus lässt sich allerdings keine lückenlose Biographie schrei-

ben, denn was über ihn gesagt wird, hat nicht selten Bekenntnischarakter, liefert eine

bestimmte Deutung gleich mit. Wo in der Geschichte der Kirche und der wissen-

schaftlichen Theologie versucht wurde, eine Biographie Jesu zu schreiben, sagen die

jeweiligen Texte mehr über den Verfasser als über Jesus aus.

Was wir aus den Evangelien wissen: Jesus war Jude und wurde in der Regierungszeit

Herodes des großen vermutlich im Jahre 7 v. Chr. geboren – und zwar in seiner Hei-

matstadt Nazareth in Galiläa (Markus 1,24; 6,1). Die bei Matthäus und Lukas berich-

tete Geburt Jesu in Bethlehem muss als theologische Ortsangabe verstanden werden.

Es handelt sich um eine Glaubensaussage, die sich auf die Verheißung des Propheten

Micha (5,1) bezieht, wonach der Messias wie einst David in Bethlehem geboren

werde.

Die Eltern Jesu waren Maria und Josef. Er hatte vier jüngere Brüder und einige

Schwestern. Wie sein Vater übte er den Beruf des Zimmermanns aus. Seine Mutter-

sprache war Aramäisch, doch konnte er die in hebräischer Sprache abgefassten bibli-

schen Texte lesen. Er ließ sich im Jordan taufen, nachdem er mit der Buß- und Tauf-

43

bewegung des Johannes in Berührung gekommen war. Hier hatte er auch sein Beru-

fungserlebnis.

Die Zeitspanne des öffentlichen Auftretens Jesu – in Galiläa und in Jerusalem – dürfte

sich auf etwas mehr als ein Jahr beschränken. Im Jahre 30 wurde er während der Pas-

sahfeiertage zum Tode verurteilt und am Kreuz hingerichtet. Jesus hat selbst nichts

Schriftliches hinterlassen. Was man sich von ihm erzählte, seine Worte und was Men-

schen mit ihm erlebten, ist er später aufgeschrieben worden.

Bleibt noch eine Frage: Ist Jesus wirklich auferstanden? Kann es eine Auferstehung

von den Toten als ein reales Geschehen tatsächlich geben? Für das Neue Testament

steht fest, dass es sich bei der Auferstehung Jesu um ein historisches Ereignis handelt,

mit dem die Geschichte des Christentums ihren Anfang nahm. Dass Jesus der verhei-

ßene Messias ist, lässt sich nur vor dem Hintergrund behaupten, dass er auferweckt

wurde. Und wäre er nicht auferweckt worden, so hätte sein Tod keine Heilsbedeu-

tung. Jesus wäre mit seiner Mission gescheitert. „Ist aber Christus nicht auferstanden, so

ist unsre Predigt vergeblich, so ist auch einer Glaube vergeblich“, ist Paulus überzeugt

(1. Korinther 15,14).

Es fällt auf, dass alle Berichte Jesu Auferstehung nicht als die Rückkehr eines Toten in

das irdische Leben beschreiben, nicht von der Wiederbelebung eines Toten ausgehen.

Vielmehr geht es um eine Verwandlung zu einem neuen, unvergänglichen Leben.

Dies wird schon an der Wortwahl sichtbar, die hier verwendet wird. Die Rede von der

Auferstehung beziehungsweise Auferweckung drückt das Geschehen metaphorisch

aus. Wie man vom Schlaf aufsteht oder geweckt wird, so soll es analog auch den To-

ten einmal widerfahren. Mehr noch als Auferstehung drückt Auferweckung aus, dass

ein Geschehen am Menschen vollzogen wird, der Objekt ist. Im übertragenen Sinne:

dass Gott handelt und nicht der Mensch aus eigenem Vermögen.

Die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit einer Auferstehung von den Toten

hängt letztlich damit zusammen, ob nur das geschehen kann, was sich menschlicher

Erkenntnis voll und ganz erschließt. Es kommt auf das Wirklichkeitsverständnis an.

Die biblische Sprache mit ihren Gleichnissen und Metaphern weist über das Empi-

risch-Faktische hinaus. Der Osterglaube ist nicht entstanden, weil bewiesen werden

konnte, dass das Grab leer war. An keiner Stelle berufen sich die Jünger Jesu auf das

leere Grab, sondern stets auf die Begegnung mit dem Auferstandenen. Der Vorgang

der Auferweckung fand jenseits menschlicher Beobachtung statt. Die Auferstehung ist

als Wunder verstanden worden, als Eingreifen Gottes in unsere Welt, menschlichem

Begreifen entzogen und dennoch nicht unzugänglich.

© Udo Hahn in: Das kannst du glauben. Für Konfis und Konfirmierte. Göttingen 2008

44

4 Von der Idee zum Unterrichtsentwurf

Einleitung

Die Lehrperson

Wo spricht der „Stoff“ mich / mein religionspä-

dagogisches „Ich“ an?

Zielgruppe

Die Subjekte des

Lernens

Wer sind die Kinder? Welche Unterrichtsbedin-

gungen, -voraussetzungen finden sich in „mei-

ner“ Klasse?

(schulischer und sozialer Kontext, religiöse Sozi-

alisation, Verstehensstrukturen, Vorwissen.

Kontext im RU)

Sachanalyse

Der Stoff

Wo berührt der „Stoff“ wichtige Bibelthemen /

theologische Themen?

Was ist daran heute und hier, für mich und

meine Kinder der Kern?

Didaktische Analyse Wie verstehen Kinder den „Stoff“?

Wo finden Kinder Antwortwege auf ihre großen

Fragen?

Was also ist mein Unterrichtsthema, mein Un-

terrichtsziel?

Unterrichtsplanung Wie kommen wir in eine fruchtbare Begegnung

„Kinder“, „Stoff“, „Thema“?

Wie lege ich die Stunde an?

In welchen Schritten plane ich den Lernweg?

Kompetenzen und

mehr

Welche Kompetenzen üben die Kinder, welches

Wissen eignen sie sich an? Welche Haltungen

werden angebahnt?

45

Einen Unterrichtsentwurf schreiben (L1)Einen Unterrichtsentwurf schreiben (L1)Einen Unterrichtsentwurf schreiben (L1)Einen Unterrichtsentwurf schreiben (L1)

1 Ei1 Ei1 Ei1 Einleitung nleitung nleitung nleitung

Wie bin ich auf mein Thema gekommen? Was ist mir wichtig daran? Welche elementare Wahrheit …?

Welche Zugänge habe ich und welche Vorerfahrungen bringe ich mit?

2 a Situative Voraussetzungen2 a Situative Voraussetzungen2 a Situative Voraussetzungen2 a Situative Voraussetzungen

Was finde ich vor?

Die Lerngruppe: Zusammensetzung, Altersstruktur, Lernvoraussetzungen, Arbeitsklima, Interessen,

Herausforderungen, elementare Zugänge zu Themen des RU / zum Lernen und Verstehen?

Die Lernumgebung: Schule / Schulkonzept, soziale Milieus, Raum und Raumgestaltung, Zeit und Zeit-

gestaltung?

Die Lerngruppe im RU: elementare Zugänge, Störungen, besondere Prägungen und Interessen?

Der Kontext meiner Stunde: Welche Vorkenntnisse sind vorhanden (außerhalb der aktuellen Unter-

richtseinheit? Welche Arbeitsformen sind bekannt?)

2 b Die Unterrichtseinheit2 b Die Unterrichtseinheit2 b Die Unterrichtseinheit2 b Die Unterrichtseinheit (in der meine Stunde ein Teil ist) (in der meine Stunde ein Teil ist) (in der meine Stunde ein Teil ist) (in der meine Stunde ein Teil ist)

Wo steige ich ein?

Warum und wozu wurde diese Einheit ausgewählt – bezüglich … � des Curriculums,

� der Ziele, Kompetenzen

� des pädagogischen und aktuellen Kontexts

� ihrer Relevanz für die Kinder / das Fach?

Wie ist die Einheit aufgebaut und welchen Eigenwert

a. haben darin die einzelnen Stunden

b. hat darin meine Stunde??

3 Sachanalyse3 Sachanalyse3 Sachanalyse3 Sachanalyse

Was muss / kann ich über den gewählten Stoff wissen?

Die fachwissenschaftliche Einordnung: exegetisch-hermeneutisch / kirchengeschichtlich / systematisch

/ religionswissenschaftlich / sozial-, kultur-, humanwissenschaftlich

führt zu einer theologischen Interpretation des Unterrichtsgegenstands

(Hier bereits elementarisieren! Nicht wissenschaftliche Vollständigkeit in der Ausführung, sondern ein

Überblick mit rotem Faden – z.B. drei Leitfragen / Schwerpunkte – ist hier gefragt!)

46

4 Didaktische Analyse4 Didaktische Analyse4 Didaktische Analyse4 Didaktische Analyse

Jetzt kenne ich den Stoff und die Kinder – wie bringe ich beide zusammen? � Wo berühren sich die Interessen der Kinder und die Möglichkeiten des Stoffs?

� Welche Aspekte des Stoffs wähle ich aus (didaktische Reduktion) und warum? (Elementare

Fragen)

� Was können die Kinder lernen? Und: Was haben sie davon?

� Wie wird meine Rolle als LehrerIn in dem Lernprozess aussehen, was sind meine Aufgaben

dabei? Wo schlägt mein Herz?

� Wie kann der Lerngegenstand in seiner Form von den SchülerInnen ihnen gemäß wahrge-

nommen werden? (Elementare Zugänge)

� Welches Unterrichtsmaterial(ien) soll(en) für den Lernprozess zur Verfügung stehen? (Bibli-

scher oder anderer Text, Bild, Musik, Gegenstand …)

5 Didaktisch5 Didaktisch5 Didaktisch5 Didaktisch----methodische Strukturierung methodische Strukturierung methodische Strukturierung methodische Strukturierung

Jetzt weiß ich, was gelernt werden kann – wie initiiere und begleite ich den Lernprozess?

a. Diskussion der Möglichkeiten � Mit welchen Arbeitsformen will ich den Lernprozess ermöglichen? (Gespräch, Beschreibung,

ästhetische Gestaltung, Interpretation, Malen, Debatte, Internetrecherche ... in Einzelarbeit,

Gruppenarbeit, Plenum, Lehrervortrag, Schülerpräsentation ...)

� Welches Methodenensemble soll die Stunde struktuieren?

� Welche alternativen Möglichkeiten kann ich entwickeln? (Begründen Sie, warum Ihnen die

gewählte Variante am besten erscheint.)

� Begründung der Methoden (Didaktisch-methodischer Zusammenhang)

� Welche Medien werden benötigt? (Schulbuch, Tafel, OHP, Instrumente, Farbstifte, Computer,

Tücher, Puppen, Arbeitsblätter …)

b. Echt-Planung

� Aufbau und (ungefähre) Zeitplanung der Unterrichtsstunde

� Können die SchülerInnen den geplanten Unterricht durch Hausaufgaben vorbereiten, vertie-fend begleiten oder zur Sicherung der Ergebnisse nachbereiten? Wie könnten die Hausaufga-

ben aussehen?

� Welche Schwierigkeiten könnten im Verlauf auftreten?

47

6 Kompetenzen 6 Kompetenzen 6 Kompetenzen 6 Kompetenzen

Ich fasse zusammen bzw. bringe es auf den Punkt � Was können die Kinder (nachweisbar!) nach der Stunde (besser), was sie vorher noch nicht

(so gut) konnten?

� Welche Inhalte können sie wiedergeben, deuten, in ihren Erfahrungsschatz integrieren?

� Wo sind Fortschritte, z.B. in Methoden-, Ich-, Sozial-, Kommunikations-, Urteilskompetenz

angebahnt / belegbar?

7777.... Verlaufsplan Verlaufsplan Verlaufsplan Verlaufsplan

8. Anhang: Literatur, Arbeitsmaterial, Tafelbilder, Sonstiges

Beispiel für einen UnterrichtsentwurfBeispiel für einen UnterrichtsentwurfBeispiel für einen UnterrichtsentwurfBeispiel für einen Unterrichtsentwurf

Der folgende Entwurf ist nicht vollständig: Fußnoten und Literaturhinweise fehlen; die

„Kompetenzen“ sind nicht ausgearbeitet. Das Spiel ist nicht erprobt. Auch in den einzelnen

Abschnitten wäre bisweilen noch Weiteres zu sagen (s. Fragenliste). Der Entwurf zeigt aber

exemplarisch, wie die einzelnen Teile ineinandergreifen und wie viel Reflexion einer Stun-

denplanung vorausgeht. Am Ende finden Sie Literaturempfehlungen für Ihren Entwurf.

Nächstenliebe – wie Jesus sie meint (Klasse 3)

1 Einleitung1 Einleitung1 Einleitung1 Einleitung

Nun soll ich „Jesus Christus“ unterrichten – und im Seminar haben wir uns viel Mühe gege-

ben, herauszuarbeiten, wie komplex das ist: Jesus ist nicht einfach ein „guter Mann“ – man

muss sich vom Ende her annähern: Weil mit dem Kreuz nicht Schluss war und die Menschen

nach Ostern erst recht begannen, von Jesus zu erzählen, weil sie ihn Messias nannten, Gottes

Sohn, Heiland, Erlöser und Herr – deshalb reden wir auch heute von ihm und deshalb gehört

er in den Religionsunterricht.

Ich habe aber Lust, noch weiter auszuholen, und direkt von heute herzukommen: Christliche

Nächstenliebe gilt als besonderer Wert, manchmal belächelt, oft bewundert. Das kann eine

Perspektive für meine Schüler sein, gerade in einer kalten Umwelt wie unserer, wo jeder an

sich denkt und helfen oft als „uncool“ gilt.

Wenn ich zeige, wie Jesus Nächstenliebe lebte – vielleicht können die Sch das attraktiv finden

und vielleicht prägt es sie, auch wenn ich ohne moralischen Zeigefinger ankomme? Das will

ich versuchen. Meine didaktische Idee heißt: „Nächstenliebe à la Jesus – heute attraktiv?“

48

2 a Die Kinder 2 a Die Kinder 2 a Die Kinder 2 a Die Kinder

Die 3c ist eine muntere Gruppe, 13 Mädchen, 8 Jungen, die seit der ersten Klasse zusammen

sind. Nur Alina ist durch Zuzug am Anfang des Schuljahrs neu hinzugekommen. Sie hat

rasch Anschluss gefunden und gehört zu den leistungsstärksten Kindern der Klasse.

Die Klassengemeinschaft ist aufgrund des großen Engagements der Klassenlehrerin gut ge-

fügt; die Schülerinnen und Schüler gehen lebhaft, bisweilen ruppig miteinander um; es gibt

einen tollen Zusammenhalt nach außen, auch wenn die inneren Beziehungen nicht sonder-

lich tief gehen. Es gibt kaum enge Zweierfreundschaften, aber auch keine Cliquen, die sich

gegenseitig ablehnen. Besondere Mühe hat sich die Klassenlehrerin, wie sie mir erzählte ge-

geben, Luise, Karl und Alissa einzugliedern, die durch ihr Äußeres und ihr Verhalten auffäl-

lig sind und daher in anderen Gruppen vielleicht Mobbing-gefährdet wären.

Lernklima

Den Religionsunterricht besuchen alle gemeinsam, denn ein alternatives Angebot gibt es an

der Schule nicht und kein Erziehungsberechtigter hat sein Kind bisher abgemeldet. So be-

steht die Gruppe aus drei evangelisch freikirchlichen Kindern (Luise, Marion und Karl); acht

evangelisch lutherischen, vier katholischen Kindern sowie fünf Kindern ohne Konfession;

Alina gehört einer hinduistischen Gruppierung an.

Die Klasse ist die ersten zwei Jahre von der Klassenlehrerin auch in Religion unterrichtet

worden (fachfremd); seit Beginn des dritten Schuljahrs hat eine Pastorin den RU übernom-

men, was zu gewissen Schwierigkeiten geführt hat: Die Pastorin zeigt offen ihre Abneigung

gegen den religionskundlichen und unspezifischen RU ihrer Vorgängerin; die Kinder wie-

derum reagieren befremdet auf die „Abfrage“ von Bibelgeschichten und Glaubenswissen.

„Das hatten wir nicht“ und „Das wollen wir nicht“ liegen eng beieinander. Es ist

vorhersehbar, dass sich bald auch die Eltern einschalten werden; Alinas Mutter und Antons

Eltern haben mich bereits einmal darauf angesprochen, ob man neuerdings „glauben müsse“,

um im RU eine gute Note zu bekommen.

Ich habe bisher im RU nur hospitiert; die Aufgabe, eine Unterrichtseinheit „Jesus Christus“

zu übernehmen, habe ich, glaube ich nur, bekommen, weil die Uni das verlangt. Die Pastorin

gibt nicht gern das Heft aus der Hand.

Lernvoraussetzungen

Neulich habe ich anlässlich einer Einheit über Gottesbilder einen Einblick in den kognitiven

Entwicklungsstand der Kinder bekommen können.5 Die meisten Kinder sind gerade irgend-

wo zwischen den Stufen 2 und 3 nach Piaget6 bzw. Oser / Gmünder7 – sie schaffen es bereits

ganz gut, Bilder von Gott symbolisch zu verstehen; fallen aber oft auch noch zurück in ein

wörtliches Verstehen.8

Die Sch sind durch ihre Klassenlehrerin offene Unterrichtsformen gewöhnt; in Deutsch und

Mathe machen sie Wochenplanarbeit, in Sachunterricht und Religion oft Stationen- oder

5 6 7 8

49

Freiarbeit.9 Die neue Religionslehrerin arbeitet eher lehrerzentriert und kämpft entsprechend

mit Aufmerksamkeitsproblemen.

Ich habe Sorge, wie ich mit der Gruppe umgehen kann – ob sie schon wieder einen anderen

Unterrichtsstil hinnehmen werden?

2b Die Unterrichtseinheit 2b Die Unterrichtseinheit 2b Die Unterrichtseinheit 2b Die Unterrichtseinheit

Die Stunde zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter, die ich für diese Arbeit entwerfe,

wird die vorletzte Stunde in einer Einheit „Nächstenliebe“ sein, die fünf Stunden (= Doppel-

stunden) umfasst.

Die Doppelstunden haben folgende Überschriften:

1. „Nächstenliebe: was ist das?“

2. „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist“

3. „Kommt her zu mit alle, die ihr mühselig und beladen seid!“

4. „Wer ist mein Nächster?“

5. „Ich habe keinen Menschen …“

In (2) werden biblische Grundtexte des gelingenden Miteinanders entdeckt (Es ist dir gesagt,

Mensch, Micha 6,8; die Zehn Gebote. In (3) wird erkundet, wie Jesus selbst diese Gebote er-

füllt (Heilandsruf, Mt 11,28–30, und Bartimäus, Mk 10,46–52), und in (3) erfahren die Kin-

der, wie Menschen nach Jesu Maßstab handeln können (der barmherzige Samariter, Lk

10,25–37).

Der Rahmen der Einheit – (1) und (5) – verortet das Thema in der Lebenswelt: Einem erfah-

rungsbezogenen Einstieg entspricht am Ende ein achtsamer Blick auf den einzelnen Schüler

sowie die Lebenswelt: Wo bin ich auf andere angewiesen? Wo brauchen andere Menschen

mich?

Die gesamte Einheit zielt auf achtsamen Umgang miteinander. Dazu üben wir Empathie. Es

soll nicht moralisiert, sondern erkannt werden: Wer sich geliebt weiß und aus Liebe handelt,

handelt ganz von selbst liebevoll – und damit heilsam. Jesus beansprucht – wie Gott (!) –

nicht unsere Opfer, sondern unser Herz.

3 Sachanalyse3 Sachanalyse3 Sachanalyse3 Sachanalyse

Die letzte Aussage ist bereits das Ergebnis der Sachanalyse, die sich auf drei Schwerpunkte

konzentriert:

a) Biblische / christliche Ethik: Der Mensch vor Gott – der exemplarische Mensch Jesus

b) Gleichnisse verstehen – den „barmherzigen Samariter“

c) Der barmherzige Samariter – Wo setze ich Schwerpunkte?

9

50

3a Der Mensch vor Gott 3a Der Mensch vor Gott 3a Der Mensch vor Gott 3a Der Mensch vor Gott –––– der exemplarische Mensch Jesus der exemplarische Mensch Jesus der exemplarische Mensch Jesus der exemplarische Mensch Jesus10101010

Während ich Fachliteratur zu diesem Thema suche, höre ich mit einem Ohr eine Episode,

die die Radiosprecherin erzählt: Ein kleines Mädchen durfte mit dem Vater den Weih-

nachtsbaum aussuchen. Und sie trugen dann einen Baum zur Kasse, der äußerlich recht

kümmerlich aussah – krumme Spitze, kahle Stellen, unregelmäßiger Wuchs. Da sagte die

Verkäuferin zum Vater: „Ist doch schön, dass Ihre Tochter Mitleid hatte. Der wäre sonst

noch zu Ostern hier gewesen …“ – So wie dieses kleine Mädchen, denke ich, verhält sich

Gott zu uns: Nennen wir es Gnade, Erbarmen oder einfach Liebe. Wir können krumm und

schief sein, innerlich wie äußerlich – Gott nimmt uns an. Das erzählen die

Erwählungsgeschichten (Abraham11, Jakob12, David13, Jesaja14, Jona15).

Gottes Liebe als Anfang

Das erzählt aber auch die Urgeschichte. Als Adam und Eva das Paradies verlassen, macht

Gott ihnen Kleider (das ist ein Zeichen für Schutz und Begleitung); als Kain in sein Exil auf-

bricht, gibt Gott ihm ein Schutzzeichen mit auf den Weg, als die Welt an ihrer Bosheit bei-

nahe erstickt wäre (Sintflut), stellt Gott seinen Bogen in den Himmel – er garantiert Bewah-

rung und bietet seinen Bund.16

Diese feste, haltbare Beziehung Gottes zu den Menschen hat ihren Ausgangspunkt in der

Schöpfung. Aus freien Stücken schafft Gott die Welt und darin den Menschen, ihm zum Ge-

genüber. Gott will den Menschen – und er will ihn eigenständig und mit freiem Willen. Die

Lehre von Gottes Unveränderlichkeit17 hat hier ihren guten Sinn: Daran wird sich nie etwas

ändern.

Der Mensch ist nicht Gott

Damit kommt auch die andere Seite in den Blick: Der Mensch ist eigenwillig. Er strebt da-

nach, selbst Gott zu sein – und Gottes Gottsein zu missachten.18 Der Mensch ist aber nicht

Gott und so macht er sich und anderen das Leben schwer. Er geht krumme Wege, er verletzt,

er richtet Schaden an.19 Dies alles kann Gott nicht gefallen.20 Straft er? Es gibt etliche Belege

in beiden Büchern der Bibel, dass das so gedacht und gedeutet worden ist. Mehr aber spricht

m.E. dagegen. Darauf kann hier nicht ausführlich eingegangen werden.

Regeln des guten Lebens

10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

51

Eines aber ist deutlich sichtbar und für meinen Zusammenhang von Belang: Gott macht den

Menschen seinen Willen deutlich. Er gibt ihnen Regeln: die Gebote und viele weitere. Diese

Gebote sind mit Gottes gutem Willen für seine Schöpfung begründet und zielen auf ein

friedliches Miteinander. Eine gute Zusammenstellung stellt der Spruch des Propheten Micha

dar:

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert, nämlich Gottes Wort

halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. (Micha 6,8)

Im Mittelpunkt steht die Liebe und das ist, genau betrachtet, keine andere Liebe als die, die

Gott zuerst geschenkt und in die Welt gebracht hat. „Gefordert“ wird nichts Schweres und

Unmögliches, keine besondere Leistung, sondern einfach nur: sich einlassen auf die Liebe,

aus der alles entstanden ist, also schöpfungsgemäß, schöpfergemäß zu leben.

Gott wird Mensch

Was ich im Alten Testament lese, findet im Neuen Testament seinen Höhepunkt. So wie

Gott immer vorangegangen ist mit seiner Liebe – so geht er jetzt bis zum Äußersten. Er

kommt zu den Menschen als Mensch. So jedenfalls wird die Jesus-Geschichte christlich ver-

standen.21 Gott sucht das Verlorene – das drückt Jesus in seinen Gleichnissen aus (Lk 15)

und spricht damit zugleich von Gott und von sich.

Jesus selbst tut, was Gott mit Abraham, Jakob und David getan hat: Er ruft, er erwählt, er be-

gleitet. Dabei gilt seine besondere Hinwendung und Liebe denen am Rand.22

Den Regeln des guten Lebens begegnet Jesus beim religiösen Establishment seiner Zeit in

verzerrter Form: Ein Wettbewerb um das rechte Verstehen und Halten aller Regeln ist an die

Stelle der Liebe getreten, die im Mittelpunkt der Gebote steht und ihr Geist ist. Dagegen

spricht Jesus sich immer wieder aus – also nicht gegen die Regeln, sondern gegen ihr Miss-

verständnis.23

Jesus wiederholt und erneuert, was Micha (z.B.) fordert: Liebt Gott und liebt einander. Und

er bekräftigt, was auch das Alte Testament in vielfältiger Weise erzählt: „Wenn ihr Liebe habt

– dann kommt alles andere von selbst. Ihr müsst euch gar nicht anstrengen. Wenn ihr euren

Nächsten mit liebevollen Augen anschaut, dann seht ihr, was er braucht. Und dann könnt ihr

gar nicht anders – dann wollt ihr es ihm geben.“

Das einzige Gebot ist die Liebe. Aber gerade die kann man nicht befehlen. Das ist das Prob-

lem mit der Ethik. Darunter leidet immer wieder das Projekt „heile Welt“. Und darum

muss(te) Gott in die Welt kommen.

3b Gleichnisse verstehen 3b Gleichnisse verstehen 3b Gleichnisse verstehen 3b Gleichnisse verstehen –––– den „barmherzigen Samariter“ den „barmherzigen Samariter“ den „barmherzigen Samariter“ den „barmherzigen Samariter“

Die Gleichnisse Jesu haben immer wieder die Frage aufgeworfen: Wie sind sie eigentlich zu

deuten? Das beginnt bereits in den Evangelien. Im Markusevangelium sind die Gleichnisse

21

22

23

52

als eine Art Geheimcode verstanden, die die Wahrheit verschlüsseln (Mk 4,11f.; Stichwort

Messiasgeheimnis24). Für seine Jünger macht Jesus eine Ausnahme und „übersetzt“ ihnen das

Gleichnis vom Sämann (Mk 4,14–20). Diese Stelle wird von Exegeten als sekundär (nach-

träglich eingefügt) betrachtet.25

Analogie

Diese „Übersetzung“, die darin besteht, dass „Jesus“ jedes einzelne Detail des Gleichnisses

mit einem Gleichheitszeichen versieht, erweist sich als wenig ergiebig. Der Leser erfährt

nichts Neues. Dagegen ist die Lehre ohne das Kleid der Geschichte viel weniger attraktiv als

das ursprüngliche Gleichnis. Der Reiz des Bildes geht verloren.

Tertium Comparationis

Die Gleichnisauslegung durch „Analogie“ wird heute nicht mehr praktiziert.26 Eine weitere

Möglichkeit: Man lässt dem Gleichnis seine Würde als Geschichte und hält nur Ausschau

nach dem einen Punkt, wo das Besondere liegt, wo das Bild in die Wirklichkeit ragt. Man

spricht vom Tertium Comparationis27 zwischen „Bildebene“ und „Sachebene“.

Im Falle des „Verlorenen Sohns“ etwa wäre dies die unerschütterliche Liebe des Vaters, der

jedes Aufrechnen von „Schuld“ hintansetzt und überwindet. „So“, sagt sich der Hörer, „ist

ein guter Vater. Das kann nur Vaterliebe.“ – „Und wer ist der beste und gütigste Vater?“ –

„Aha, in diesem Gleichnis geht es um Gott!“

Skandalon

Es scheint aber, dass in dieser Gleichnistheorie das Anstößige übersehen wird, das den

Gleichnissen Jesu innewohnt. Es ist nämlich, genau betrachtet, nicht wirklich so, dass sich

das Tertium Comparationis so nahtlos aus der Bildwelt und die Sachwelt übertragen lässt. So

sind nämlich die Väter der Welt in der Regel nicht wie der Vater im Gleichnis. So sind die

Hirten der Welt nicht wie der Hirt, der dem einen verlorenen Schaf stundenlang nachsteigt

und die anderen riskiert. So sind die Weinbergbesitzer der Welt nicht, dass sie die Zuletztge-

kommen genau so großzügig bezahlen wie die Ersten (usw.).

Das, was die eben erläuterte Gleichnistheorie „Tertium Comparationis“ nennt, ist in vielen

Gleichnissen der Stein des Anstoßes, das „skandalon“. Angemessen ist es, hier innezuhalten

und zu staunen: Gott ist also anders! Gottes Gerechtigkeit ist anders. Gottes Liebe ist ganz

anders …! Und da lohnt es dann, sich zu wundern und zu reiben und ins Grübeln zu kom-

men. Das ist die didaktisch fruchtbare Stelle.

Der barmherzige Samariter

Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter scheint auf den ersten Blick wenig anstößig. Da

liegt ein Schwerverletzter. Zwei gehen vorbei, ohne zu helfen. Einer hilft. Die dazu erzählte

24

25

26

27

53

Typologie legt nahe, dass der, der hilft, nach Menschenmaßstäben eigentlich derjenige ist,

von dem der Verletzte am wenigsten hätte erwarten dürfen (ein Fremder, ein Verachteter in

den Augen frommer Juden). Das wirft ein schlechtes Licht auf die anderen beiden (gute Ju-

den, fromm, im Gottes-Dienst). „Alles klar“, sagt sich der Leser. „Aufs Helfen kommt es an,

nicht auf den Status.“ Und der Übertritt aus der Bildebene in die Sachebene? Na klar: Sei so

wie der Samariter. Dann ist alles gut.

Den Anstoß finde ich erst, wenn ich den Rahmen dazu nehme. Jesus wurde gefragt, was „gu-

tes Leben“ ist. Jesus verweist auf die Gebote und fragt zurück. Der, der gefragt hat, antwortet

weise – mit dem Doppelgebot der Liebe: „Gott lieben – deinen Nächsten wie dich selbst.“ So

weit, so gut. Aber nun gerät der Frager, ein Schriftgelehrter, in die Falle menschlicher Maß-

stäbe. Er will es genau wissen. Er will mehr Regeln, die er befolgen kann: „Wer ist mein

Nächster?“, fragt er nach.

Jesu Antwort ist das Gleichnis, in dem ein Mann Hilfe braucht und einer ihm hilft. Diese

Hilfe wird detailliert beschrieben: Öl auf die Wunden, Verbände, der Krankentransport, Kost

und Logis. Der Samariter tut das Nötige – ohne zu fragen und ohne auf Dank aus zu sein. Er

macht es perfekt – aber ohne sich aufzuopfern.

Am Ende kommt Jesus auf die Frage zurück: Wer ist dem, der unter die Räuber gefallen ist,

der Nächste gewesen?“ – Nicht der Volks- und Glaubensgenosse. Sondern der Fremde. Weil

es, wenn es ums Leben geht, ganz egal ist, wer was ist.

Der Schriftgelehrte kann die einfache Frage nicht falsch beantworten. „Der, die die Barmher-

zigkeit an ihm getan hat.“ Und dann kommt Jesus auch noch auf die allererste Ausgangsfrage

zurück, die Frage nach dem guten Leben: „Tu das Gleiche.“

Hier kommen wir dem Ärgernis auf die Spur: Dem Schriftgelehrten war es darum zu tun,

Regeln zu erfahren, die ihn sicher sein ließen, dass er auf dem richtigen Weg sei. „Wenn du

das und das tust, dann bist du Gott recht …“ - So hatte er sich das vorgestellt. Und da macht

Jesus nicht mit. Seine Antwort: „Ich kann dir nicht sagen, was du tun musst. Ich weiß ja

nicht, was dir begegnet. Ich kann dir nur sagen, wie du sein musst: achtsam und voller Liebe.

Und wenn du eine Regel willst, dann die: Dreh doch die Frage: Wer ist mein Nächster?, ein-

fach um: Was würdest du denn brauchen, wenn DU in Not wärst? Der, der dann hilft, ist

dein Nächster. Na also. Noch Fragen?“

Der Schriftgelehrte wird sich ganz schön geärgert haben. Jesu Anspruch ist viel einfacher und

doch viel schwerer, als er es erwartet hat. Vor allem: Das ist nichts, womit man Ehre ein-

heimsen und dann sicher sein kann. Nein, sondern das ist der immer währende Anspruch an

alle. Und ist nie „erledigt“. Unangenehm? Für den, der Liebe hat, wohl nicht …

3c Der barmherzige Samariter 3c Der barmherzige Samariter 3c Der barmherzige Samariter 3c Der barmherzige Samariter –––– wo setze ich Schwerpunkte wo setze ich Schwerpunkte wo setze ich Schwerpunkte wo setze ich Schwerpunkte

Der Wunsch, auf „Nummer Sicher“ zu gehen, das heißt eine Aufgabenliste zu haben, abha-

ken zu können und dann Ruhe zu haben, ist wohl ein allgemein menschliches Verhalten und

nicht auf die historische Situation zur Zeit Jesu beschränkt. Insofern ist die Polarität „Schrift-

gelehrte“, „fromme Juden“ einerseits, Jesus andererseits wohl nicht so entscheidend für unse-

ren Zugang heute.

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Aber auch die „Nummer Sicher“ ist nur wichtig, wenn die Angst vor Gott einen treibt und

man glaubt, dass man bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss, um Gott recht zu sein.

Dies aber ist nicht mehr das erste Problem, das Menschen heutzutage umtreibt.28

Mich persönlich fasziniert am meisten diese Idee, dass man alles recht macht, wenn man

liebt. Wenn man in dem Mann, der am Boden liegt, sich selbst sehen kann – und darum ganz

selbstverständlich alles Nötige unternimmt, um ihm aufzuhelfen – das ist eine so schöne

Vorstellung, das ist so viel mehr als eine Regel. Das ist eine Haltung, die man üben und kulti-

vieren kann. Das ist für mich der Kern des Gleichnisses.

4 Didaktische Analyse4 Didaktische Analyse4 Didaktische Analyse4 Didaktische Analyse

Brauchen die Kinder der 3c, die ich im Teil 2 beschrieben habe, eine Geschichte über das

„gute Handeln“, das aus Liebe erwächst? Ich habe ja dargestellt, dass es durchaus eine gute

Klassengemeinschaft gibt und die Klasse bereits viele Kompetenzen im sozialen Miteinander

eingeübt hat und praktiziert.

Dem Beobachter fällt aber auf, dass diese Gemeinschaft stark von Regeln bestimmt ist, die

innerhalb der Klasse gelten, sozusagen einem Verhaltenscodex innerhalb des Raumes Schule.

Ich kann mir vorstellen, dass dieselben Kinder nach außen weniger selbstverständlich teilen,

Rücksicht nehmen, Achtung erweisen. Der raue Ton in der Klasse legt dies ebenso nahe wie

die Tatsache, dass sich keine engen Freundschaften entwickelt haben.

Insofern fühle ich, dass das Thema „Nächstenliebe“ durchaus wichtig ist in dieser Klasse,

und während die Stunden (2) und (3) der Einheit wiederum mit Regeln arbeiten, die einem

„Verhaltenskodex“ zu entsprechen scheinen, ist es wichtig, dass es in Stunden (4) ganz kon-

kret wird, emotional, möchte ich sagen.

Mir geht es darum, die Sch nicht zu „belehren“, sondern sie spüren zu lassen, worauf es an-

kommt. Dabei hilft mir die bereits erwähnte vorgebildetete soziale Kompetenz. Ich kann die

Rettungstat des Samariters als selbstverständlich darstellen. Und werde erst anschließend auf

das Skandalon kommen. Dass dieses Selbstverständliche das Gesetz der Nächstenliebe ist:

„Versetz dich in den Nächsten. Dann weißt du, was er braucht.“

Übrigens: Die Frage, warum die ersten beiden nicht helfen, wird in vielen Unterrichtsent-

würfen in den Mittelpunkt gestellt.29 Mich interessiert sie eigentlich weniger. Vor allem für

meine Stunde möchte ich sie möglichst unterdrücken. Das Zeigen auf andere lenkt vom ei-

genen Handeln ab und macht passiv und selbstgerecht.

Elementare Fragen

Die Sch werden die Regeln, die man ihnen bereits beigebracht hat, sicherlich bisweilen auch

lästig finden. Die Tendenz, sie äußerlich zu erfüllen (also, wenn jemand hinguckt) und sie zu

28

29

55

umgehen, wenn es unbeachtet möglich ist, liegt nahe (vgl. Stufe 2 in Osers Modell des mora-

lischen Urteils!)30.

Hier können die Sch Entdeckungen machen: Es kommt nicht darauf an, wie andere mich be-

urteilen. Es kommt darauf an, wie ich vor mir selbst (vor Gott) dastehen will – wie ich mich

selbst wohl fühle.

Ich bin gespannt, wie die Sch diesen Weg mitgehen können. Ich bin mir aber sicher, dass sie

emotional und kognitiv dazu in der Lage sind.

Elementare Zugänge

Um die beiden Effekte zu erzeugen, auf die ich setze – erstens das Helfen selbstverständlich

zu machen, zweitens die Frage der „Regeln“ in den Mittelpunkt der Reflexion zu stellen,

brauche ich eine geeignete Version des Gleichnisses. Nach einer Sichtung verschiedener

Kinderbibeltexte31 entscheide ich mich für eine eigene Erzählung, die ich aus der Sicht des

Überfallenen gestalten werde (Anhang 1). Ich werde sie zunächst nur knapp einleiten: „Jesus

erzählt, was Liebe ist.“ Dann gebe ich der Verzweiflung des Überfallenen viel Raum. Und

statt einer Auflösung fragt dann „Jesus“ die Kinder: Was wird der Samariter tun?“

Die Frage ist, ob wir ein Bild brauchen, um die Situation noch auf anderem Weg als über

Worte zu verdeutlichen. Die Sichtung der künstlerischen Darstellungen von Rembrandt bis

Kees de Kort zeigt, dass immer die Szene des Helfens dargestellt ist, nicht aber, wie hier vor-

ausgesetzt, der Überfallene, bevor er Hilfe erfährt.

Schließlich bin ich auf ein Bild aus einer Kinderbibel gestoßen (Die Bibel mit Bildern von

Lisbeth Zwerger, Kath. Bibelwerk, Stuttgart 2000; Anhang 2): Auffällig nüchtern gestaltet

liegt da der Überfallene quer über der Straße. Und Menschen streben von ihm weg – die

Räuber, der Priester, der Levit; sie müssen an ihm vorbeigekommen, ja, über ihn hinwegge-

treten sein – ohne seine Not zu bemerken.32 Außerhalb des Bildes stehen die Dinge, die der

Verletzte dringend benötigt – Wasser, Salbe, Wein – sozusagen griffbereit.

Ich entschließe mich, das Bild nach der Erzählung einzusetzen – die Erzählung zuerst – we-

gen der Emotionalität (die dem Bild fehlt), das Bild dann, um die Situation des Verletzten

ganz deutlich zu machen und dem Impuls des Helfens zusätzlich Nahrung zu geben. Jedes

Kind kann an diesem Bild zum Samariter werden.

30

31

32 Gefunden auf der Homepage des rpi Loccum: http://www.google.de/imgres?imgurl=http://www.rpi-

loccum.de/bildru/bilder/zwerger_3g.jpg&imgrefurl=http://www.rpi-

loc-

cum.de/bildru/zwerger_anregung.html&usg=__Jna6umgum6nMYtGADP0W1zsh_ao=&h=2968&w=2461&sz=1

006&hl=de&start=0&zoom=1&tbnid=n4cQ3eu6Xp07fM:&tbnh=136&tbnw=101&ei=VMLtTqisNMKfOuyP7acI

&prev=/search%3Fq%3Dder%2Bbarmherzige%2Bsamariter%26hl%3Dde%26sa%3DX%26biw%3D1034%26bih

%3D851%26tbm%3Disch%26prmd%3Dimvns&itbs=1&iact=rc&dur=494&sig=115073237258415615808&page=

1&ndsp=23&ved=1t:429,r:17,s:0&tx=55&ty=84; kommentiert von Steffen Marklein.

56

Die Kinder können sagen und zeigen, was der Verletzte braucht. Nach einer längeren Vertie-

fungsphase kommen wir auf die Grundfrage zurück: Was ist Liebe? Und ich erzähle den Kin-

dern, dass die Leute, die Jesus gefragt haben, gern genaue Regeln haben wollten: Was muss

ich tun? Was kann ich lassen? Und Jesus antwortet mit der Geschichte von der Liebe. Die

Kinder versuchen sich daran, eigene Regeln zu formulieren – in Jesu Sinn.

Eine Achtsamkeitsübung kann die Stunde rahmen. Hier soll die Wahrnehmung geschult

werden. Möglich wären eine Traumreise oder auch ein Parcours für alle Sinne. In Anknüp-

fung an die Geschichte vom blinden Bartimäus aus der Stunde zuvor aber bieten sich Seh-

Übungen an: Sich blind führen lassen, fallen lassen, einen Menschen durch Tasten erkennen

(Haar, Gesicht – ganz vorsichtig!); sehend Haltungen und Mienen erkennen und deuten.

Am Ende (oder als Hausaufgabe) wäre es auch denkbar, dass die Kinder einen kurzen Dank

schreiben oder malen für einen Menschen, der ihnen schon einmal etwas Liebes erwiesen hat

(ohne Namen, rein beispielhaft).

Das bereitet Stunde (5) vor: Es kommt mir dabei darauf an, dass die Hilfeleistung nicht etwas

„Exotisches“ bleibt, wie etwa einen Unfallverletzten zu versorgen, sondern dass der Bezug

zum ganz normalen Alltag gelingt: Auch dem nervigen großen Bruder einmal ungefragt ei-

nen Gefallen zu tun, gehört dazu, oder ein Malheur in der Küche zu beseitigen, das man

nicht selbst angerichtet hat.

5 Die Stunde (Planung des Ablaufs)5 Die Stunde (Planung des Ablaufs)5 Die Stunde (Planung des Ablaufs)5 Die Stunde (Planung des Ablaufs)

Nachdem die Wahl und Vorstellung der Materialien bereits Entscheidungen zum Metho-

denensemble und Ablauf der Stunde vorweggenommen hat, übergehe ich hier den Punkt 5a

der vorgegebenen Gliederung eines Unterrichtsentwurfs und steige direkt in die konkrete

Planung der (Doppel-)Stunde ein.

Die Sch haben in Stunde (4) der Einheit keine Hausaufgabe bekommen. Ich vertraue auf den

emotionalen Eindruck, den die Bartimäus-Geschichte gemacht hat. Die Sch kommen in ei-

nen (annähernd, symbolisch) abgedunkelten Raum; auf dem Pult liegen Augenbinden

(Schals). Ich schreibe an die Tafel das Stichwort „Sehen“.

Wiederholung

Meine Erwartung ist, dass einige rasch an Bartimäus erinnern werden. Es folgt eine kurze

Wiederholung: „Der konnte nicht sehen.“ „Jesus hat ihn gesehen.“ „Jesus hat ihn sehend ge-

macht.“

Wahrnehmungsübungen / Vertrauen (Aufwärmphase)

Anschließend bitte ich die Sch, sich paarweise zusammenzustellen. Je einem werden die Au-

gen verbunden. Die Paare üben „führen“ und „folgen“, anschließend kommen wir im Kreis

zusammen. Die Blinden erzählen, wie sie sich gefühlt haben. Dann auch die Begleiter.

Es folgt die „Vertrauensübung“ (mit denselben Paaren). Jeder lässt sich einmal rückwärts fal-

len und erlebt, wie er aufgefangen wird. Kurze Auswertung. „Ich kann mich auf dich verlas-

sen.“

Präsentation der Geschichte

57

Mit einer Überleitung („Auch auf Jesus konnten sich die Leute verlassen. Und einmal fragten

sie ihn, wie viel er eigentlich von ihnen erwarte; wie viel Gutes sie tun müssten. Und Jesus

sagte: Liebe sollt ihr füreinander haben. Das ist alles.“ – „Wie viel Liebe?“, fragten. Da erzähl-

te er ihnen folgende Geschichte … ) komme ich zum neuen Stoff.

„Geschichte“ bedeutet in der 3c: Sie setzen sich in den Erzählkreis (Kissen am Boden) und

hören zu. Ich erzähle frei von dem Überfall und der Not des Überfallenen. Verzweifeln, hof-

fen, enttäuscht werden – das geschieht zweimal. Nachdem der Bogen ein drittes Mal ge-

spannt ist (verzweifeln, hoffen …) halte ich ein.

Kreative Aneignung der Geschichte

Ich lege das Bild (Anhang 2) in die Mitte. Die Kinder identifizieren die Personen. Was könn-

te der Dritte denn tun? Wir sammeln, wir entdecken die Hilfsmittel, die das Bild nahelegt.

(Aus meiner Kenntnis der Kinder und durch den Aufforderungscharakter des Bildes nehme

ich nicht an, dass jemand auf die Idee kommen wird, die Hilfe zu verweigern; wenn doch,

stelle ich seine Haltung in den Raum.)

Die Paare verteilen sich wieder im Raum und proben mit ihrem Partner.

Nach einer Weile versammeln wir wieder im Erzählkreis. Ich sage: „Und Jesus fragte ein paar

Kinder: Dieser dritte Mann, was hat der gemacht?“ Die Kinder erzählen von ihren Rettun-

gen. Jesus bestätigt: „Genau das hat er gemacht. –Eigentlich logisch, oder?“

Ethisieren mit Kindern

Jetzt kommt der Teil der Stunde, den ich am schwierigsten finde – auch, weil ich schwer vor-

hersehen kann, wie die Kinder reagieren werden. Ich erinnere an die Ausgangsfrage: „Wie

viel Gutes muss ich tun? Wie viel Liebe brauche ich?“ Die Kinder gehen zu vieren zusammen

(Tischgruppen) und beraten. Aufgabe: die Antwort Jesu in einem Satz. Sie erhalten dafür ein

Arbeitsblatt (Anhang 3).

Anschließend stellen wir uns gegenseitig unsere Ergebnisse vor. Evtl. noch mit meiner Rück-

frage: Kann man „Liebe“ eigentlich regeln? Oder: Wo „wohnt“ eigentlich die Liebe? (Gegen-

satz Herz und Kopf).

Anwendung

Eine Übung zum Schluss: Schau, was xy fehlt – was braucht er? Etwa zehn Sch erhalten Rol-

lenkarten (Anhang 4; verlosen). Sie haben die Aufgabe, eine Haltung, Gestik, Mimik vorzu-

führen – die Kinder raten das Bedürfnis und machen Vorschläge, wie es zu erfüllen ist. Das

darstellende Kind verleiht dem, das die passendste Lösung vorgetragen hat, den Orden des

„guten Samariters“33 (auf der Rückseite der Rollenkarte, Anhang 5).

Aufgabe

Erinnere dich an eine Situation, in der du Hilfe erfahren hast. Schreibe einen Dank für die

Person, die dir damals geholfen hat (ohne Namen). Erzähle ihr, wie das für dich gewesen ist,

und mache ihr mit deinem Dank eine kleine Freude.

33 Die Termini „Samariter“ und „Nächstenliebe“ werden in der kommenden Stunde im Zuge der Wiederholung

eingeführt, eingeübt und aufgeschrieben.

58

6 Kompetenzen6 Kompetenzen6 Kompetenzen6 Kompetenzen

Im Curriculum finde ich einerseits Können-Ziele, die die Sch am Ende von Klasse 4 erwor-

ben haben sollen, andererseits Themen, die dabei im Mittelpunkt stehen. Die Verknüpfung

dieser Dimensionen ist Sache der Lehrkraft bzw. des schulinternen Stoffverteilungsplans.

Im Fall „Nächstenliebe“ sind wir einerseits beim „Stoff“ Jesus Christus, andererseits aber

auch beim sozialen Miteinander. Die Dimension „Gott“ / „Gottes Wille“ kommt durch Jesus

mit in den Blick.

Alles in allem und auf die Stunde (4) bezogen können die Sch

….

….

….

….

Mein besonderes Augenmerk liegt, wie gesagt, darauf, dass sie …

59

7 7 7 7 VerlaufsplanVerlaufsplanVerlaufsplanVerlaufsplan

7 Verlaufsplan7 Verlaufsplan7 Verlaufsplan7 Verlaufsplan

Zeit / PhaseZeit / PhaseZeit / PhaseZeit / Phase Unterrichtsschritt / Unterrichtsschritt / Unterrichtsschritt / Unterrichtsschritt / ----

geschehengeschehengeschehengeschehen

SozialSozialSozialSozial---- / Lernformen / Lernformen / Lernformen / Lernformen Material / MedienMaterial / MedienMaterial / MedienMaterial / Medien Bemerkungen Bemerkungen Bemerkungen Bemerkungen

Anhang 1Anhang 1Anhang 1Anhang 1

Erzählskizze Der barmherzige Samariter (Lukas 15)Erzählskizze Der barmherzige Samariter (Lukas 15)Erzählskizze Der barmherzige Samariter (Lukas 15)Erzählskizze Der barmherzige Samariter (Lukas 15)

Es war einfach Pech. Räuber haben ihn überfallen. Ausgeraubt, ausgezogen. Geschlagen und liegen

gelassen. Im Niemandsland, zwischen Jerusalem und Jericho. Er ist hilflos. Halb tot. Er kann nicht mal

schreien.

Niemandsland? „Ich lebe noch“, denkt er sich. „Es ist noch nicht aus. Wenn Gott will, kommt einer

vorbei und hilft …“ Die Kehle ist ihm trocken. Die Wunden schmerzen. Die Sonne brennt.

Da – sind das Schritte? Da – ist das eine menschliche Stimme? Ein Schatten fällt auf ihn. Er hebt die

Hand. Hilf mir, um Gottes Willen … - Es war wohl nichts. Nur eine Täuschung. Es war wohl nicht ein

gut gekleideter, vornehmer Mann … Es war wohl kein Mensch … Schon ist er fort. Und der Mann ist

allein.

Niemandsland … „Ich lebe noch“, denkt er. „Es ist noch nicht aus. Wenn Gott will, kommt einer vor-

bei und sieht meine Not …“ Die Wunden schmerzen. Ihm ist kalt bis ins Mark. Die Sonne – die Sonne

kann ihn nicht wärmen.

Da – Schritte. Langsam, bedachtsam. Einer, der im Gehen liest. Ein Schatten fällt auf ihn. Mit letzter

Kraft hebt er den Kopf, um zu sehen … - Es war wohl nichts. Nur eine Täuschung. Es war wohl nicht

ein frommer Mann auf dem Weg zum Tempel … Es war wohl kein Mensch … Es war nichts. Und der

Mann ist allein.

Niemandsland … Hölle. „Lebe ich noch?“, fragt er sich. „Ist’s noch nicht aus? Kann es sein – mit Got-

tes Hilfe: Es geschieht noch ein Wunder?

Da – Hufschlag. Ein Esel, ein lebhaftes Tier. Wie es tänzelt. Ein Kaufmann vielleicht, ein Samariter? Er

hat keine Kraft mehr, aufzublicken. Er kann seine Hand nicht mehr heben. „Jetzt oder nie“, denkt er.

Und seufzt … Und ein Schatten, ein Schatten kommt näher …

61

Anhang 2: Lukas 15 im Bild von Lisbeth Zwerger Anhang 2: Lukas 15 im Bild von Lisbeth Zwerger Anhang 2: Lukas 15 im Bild von Lisbeth Zwerger Anhang 2: Lukas 15 im Bild von Lisbeth Zwerger

62

Anhang 3: Arbeitsblatt: Wie viel Liebe?Anhang 3: Arbeitsblatt: Wie viel Liebe?Anhang 3: Arbeitsblatt: Wie viel Liebe?Anhang 3: Arbeitsblatt: Wie viel Liebe?

Kannst du auf den Bildern die „Liebe“ sehen, von der Jesus erzählt? Die Men-

schen haben Jesus gefragt, wie viel Gutes sie tun müssen. Antworte für Jesus –

in einem Satz. Denk dabei an die Geschichte.

63

Anhang 4: Rollenkarten Anhang 4: Rollenkarten Anhang 4: Rollenkarten Anhang 4: Rollenkarten

Stelle dar, wie du dich fühlst. Du kannst Hände, Füße, Haltung und dein Gesicht einsetzen.

Deine Mitschüler erraten, was dir fehlt, und bieten dir Hilfe an.

Du hast eine ungerechte Note bekommen. Du

hast deine Lehrerin gebeten, noch mal darüber

nachzudenken – aber sie hat sich geweigert.

Jetzt gehst du nach Hause – da triffst du ein

paar Freunde. Sie sehen dir an, dass etwas

nicht stimmt …

Du hast dein Freundschaftsband verloren. Du hast

schon überall gesucht. Es ist einfach verschwun-

den. Jetzt sitzt du da und wartest auf deinen

Freund, mit dem du verabredet bist. Zwei Freunde

sehen dich sitzen. Sie sehen gleich, dass etwas

nicht stimmt ...

Dir ist furchtbar schlecht. Du hast auf der Party

viel zu viel Kuchen gegessen. Jetzt kommst du

vom Klo, wo du dich übergeben hast. Du bist

unsicher auf den Beinen. Deine Freunde sehen,

dass etwas nicht stimmt …

Du bist auf dem Weg zu deinem Freund. Du

nimmst eine Abkürzung, einen Feldweg. Da siehst

du vor dir einen großen Hund auf dem Weg sitzen.

Du hast panische Angst vor Hunden. Zwei andere

Freunde holen dich ein. „Was ist los, warum gehst

du nicht weiter?“ Sie merken, dass etwas nicht

stimmt …

64

Anhang 5: Die Rückseite der Rollenkarte: Der SamariterAnhang 5: Die Rückseite der Rollenkarte: Der SamariterAnhang 5: Die Rückseite der Rollenkarte: Der SamariterAnhang 5: Die Rückseite der Rollenkarte: Der Samariter----OrdenOrdenOrdenOrden

_________________________________________________________________________________

65

5 Methoden 5 Methoden 5 Methoden 5 Methoden

Beispiel 1: Ingo Baldermann und die existenzielle Bibellektüre

Ingo Baldermann, Kinder entdecken sich selbst in den Psalmen; in: Michael Wermke (Hg.), Aus gutem Grund:

Religionsunterricht, Göttingen 2002, 103–111. Bearbeiteter Nachdruck des Aufsatzes aus „Bibel und Kirche“, 56.

Jahrgang, 1/2001, Verlag Katholisches Bibelwerk, 40–45.

Es waren die Kinder, die mir durch verschiedene sehr nachhaltige Signale deutlich machten, dass sie

von meinem Religionsunterricht mehr erwarteten als nur einen interessanten Umgang mit biblischen

Geschichten.

Kinderfragen, die aufs Ganze gehen

Ich unterrichtete damals in den Anfangsklassen des Gymnasiums, und auf meine nicht eben sehr ge-

schickte Frage, welches denn die wichtigsten Fragen seien, die sie Gott stellen würden, schrieb mir ein

Junge dies auf: „Wie lange noch lebe ich? Wie lange lebt mein Hund noch? Wann geht die Welt unter?

Und Warum gibt es so viel Ungerechtigkeit?“

Und eine andere Klasse stellte mir am Ende einer Stunde auf einmal die Frage: „Jetzt sagen Sie uns

ehrlich – werden wir überhaupt noch erwachsen werden?“ Ich erinnere mich, dass ein eigentlich ganz

heiterer Unterricht vorausgegangen war; jedenfalls hatte ich nichts getan, um die Kinder durch er-

schreckende Szenarien in Weltuntergangsstimmung zu versetzen. Ich habe später begriffen, dass die

Kinder auf zerstörerische Eingriffe in die Ökologie weit sensibler reagierten als ich damals.

Deutlich war: Diese Wahrnehmungen bedrängten sie sehr, und sie erwarteten gerade vom Religions-

lehrer, dass er dazu nicht schwieg. Aber was sollte ich ihnen sagen, wenn ich ehrlich bleiben, sie nicht

billig vertrösten und sie doch nicht in hoffnungslose Ohnmachtsgefühle treiben wollte?

Es war in der Mitte der 70er Jahre, dass die Kinder mich so fragten, und die Fragen haben mich seither

nicht mehr losgelassen und meine ganze Arbeit verändert. Zusammen mit den Studierenden im Prak-

tikum fragten wir uns: Wie können wir überhaupt antworten? Hinter der Frage der Kinder stand ja

nicht nur akute Angst, sondern auch, für uns noch beklemmender, so etwas wie die Ahnung einer

heraufziehenden tiefen Depression.

Wo finden wir glaubwürdig Antwort? Ich fragte mich: Was mache ich denn selbst, wenn ich mit sol-

chen Fragen nicht fertig werde? Ich kehre immer wieder zu den Psalmen zurück, und zwar nicht mit

dem Rüstzug des historisch-kritisch geschulten Exegeten, sondern so, dass ich mich Worte der Psal-

men selbst vorsage, etwa nachts, wenn ich nicht schlafen kann, oder beim Aufwachen im Morgengrau-

en. So hat mich das Wort: „Meine Zeit steht in deinen Händen“ (Ps 31,16) in einer sehr bedrängten

Zeit davor bewahrt, den Boden unter den Füßen zu verlieren; ich habe es mir immer wieder selbst

vorgesagt und dabei erfahren: So konnte ich wieder Atem holen.

Ich kenne ähnliche Erfahrungen mit anderen Psalmenworten: „Von allen Seiten umgibst du mich und

hältst deine Hand über mir“ (Ps 139,5); oder: „Ich werde nicht sterben, sondern leben“ (Ps 118,17). Ich

66

weiß noch, dass ich mich später, in der Zeit der atomaren Bedrohung, buchstäblich festgehalten habe

an dem Wort: „Ich glaube aber doch, dass ich noch schauen werde die Güte des Herrn im Lande der

Lebendigen“ (Ps 27,13).Aber sind das Worte für Kinder?

Wir waren uns in der Praktikumsgruppe einig: Es hat keinen Sinn, den Kindern starke Worte des

Gottvertrauens zu präsentieren und an sie zu appellieren: So müsst ihr auch auf Gott vertrauen! Ver-

trauen lässt sich durch Appelle nicht lernen. Wir müssen versuchen, mit den Kindern dahin zu kom-

men, dass sie selbst zu einem solchen Umgang mit den Worten der Psalmen in der Lage sind.

Psalmen – eine Sprache für diese Kinder?

Wir lasen wieder die Psalmen, von Anfang an, und waren bestürzt: Das ist doch keine Sprache für

Kinder! Wir lasen noch einmal und fanden: Einige Worte stehen doch da, die so klingen, als wären sie

gerade für diese Kinder geschrieben, so etwa diese:

� Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist (Ps 69,3)

� Ich habe mich müde geschrien, mein Hals ist heiser, weil ich so lange warten muss (Ps 69,4)

� Ich rufe täglich, und du antwortest nicht (Ps 22,3) � Gewaltige Stiere haben mich umgeben (Ps 22,13)

� Gelähmt sind mir Hände und Füße (Ps 22,17)

� Ich bin wie ein zerbrochenes Gefäß (Ps 31,13)

Für uns war bestürzend, dass es sich dabei durchweg um Worte der Klage handelte, und zwar gerade

aus den schwersten Klagepsalmen, den Passionspsalmen 69, 22 und 31.Wir hätten lieber einen ande-

ren Einstieg in die Psalmen gefunden. Aber wir wollten endlich heraus aus den alten Formen des Un-

terrichts, in denen wir den Kindern erklären versuchten, was dieser oder jener Bibeltext „eigentlich

sagen will“.

Wenn die Psalmen den Kindern wirklich helfen sollten, dann mussten sie direkt zu ihnen reden. Wir

waren an einem Punkt angekommen, an dem nur noch die Bibel selbst helfen konnte, nicht mehr klu-

ge Worte über die Bibel.

Die Bibel bringt Kinder zum Reden

Also wagten wir den Sprung. Wir wollten mit den Worten beginnen, die uns die Psalmen selbst für die

Kinder anboten; wir nahmen uns vor, den Kindern diese Worte vorzulegen und zu warten, wie sie

damit umgehen würden, also nicht lenkend in das sich – hoffentlich – entwickelnde Gespräch ein-

zugreifen. Wir nahmen für den Anfang kein leichtes Wort, sondern gleich einen schwere Metapher;

wir wollten aufs Ganze gehen und ja nicht diese Metapher durch vorausgeschickte Erklärungen ent-

schärfen:

„Ich versinke im tiefen Schlamm, wo kein Grund ist“, stand an der Tafel, und wir warteten gespannt.

Zögernd entwickelte sich ein Gespräch, und zwar, sooft wir diesen Einstieg in einer neuen Gruppe

versuchten, immer in ähnlichen Strukturen, mit Äußerungen, die unsere Praktikumsgruppe geradezu

alarmierten, so aufregend war für uns das, was da geschah. Ich gebe dazu ein Gesprächsprotokoll wie-

der, das nicht bei diesem ersten Versuch entstand, sondern später, in einem 4. Schuljahr:

� Das hört sich traurig an, wenn man das liest …

67

� Da kann man auch denken, irgendwie, dass man in Dunkelheit versinkt,

dass keiner mehr mit einem spielt.

� Das macht traurig.

� Wenn man alleine ist …

� Wenn man da drin versinkt, dass man um Hilfe schreit und keiner da ist.

� Wenn du einsam und ganz allein in den tiefen Loch bist, wo dich keiner mehr rausholt.

Und nach einigen Gesprächsbeiträgen von anderen sagt der gleiche Junge noch einmal:

� … dass der Schlamm bedeuten soll, dass – Traurigkeit ohne Grund – dass sie nicht aufhört,

unendliche Traurigkeit.

Was ist da geschehen?

Wir waren uns einig: In diesem Gespräch war etwas Unerhörtes passiert. Wir versuchten uns Rechen-

schaft zu geben: Was ist da geschehen? Die Kinder verstehen die schwere Metapher auf Anhieb sach-

gemäß, ohne irgendeine vorausgeschickte Erklärung von uns; damit hätten wir das Gespräch nur ver-

eitelt. Sie kommen so auf eine sehr direkte Weise ins Gespräch mit einem biblischen Text. In diesem

Gespräch reden sie in dem Bemühen, das Psalmwort zu verstehen, von ihren eigenen Erfahrungen. So

kommt ein Prozess wechselseitiger Erschließung in Gang: Die Erfahrungen, die sie mitbringen, er-

schließen ihnen das Psalmwort, aber auch umgekehrt erschließt ihnen das Psalmwort eigene Erfah-

rungen, die bis dahin offenbar sprachlos geblieben waren.

Dabei erweisen sich gerade die Worte der Klage als eine einzigartige Hilfe für die Kinder zur

Versprachlichung ihrer Gefühle. Es hat uns immer wieder beeindruckt, was für eine dichterisch treffsi-

chere Sprache Kinder finden können: „Traurigkeit ohne Grund, unendliche Traurigkeit…“

Die Klage ist dabei ein Medium, in dem Kinder wie in keinem anderen sich selbst entdecken, ihre ur-

eigensten Erfahrungen, aber offenbar zugleich auch ihr Selbstbewusstsein, ihre Widerstandskräfte. Der

Umgang damit schließt autoritäre, moralisierende Formen der Gesprächsführung aus; wir gehen kon-

sequent den Weg eigener Wahrnehmung und Entdeckung. Das aber, so entdeckten wir, ist dem Um-

gang mit der Offenbarung genau angemessen, denn Apokalypsis (griech.) heißt eigentlich Entdeckung.

Im weiteren Verlauf der Gespräche sind uns noch andere Punkte deutlich geworden, von denen das

Gelingen eines solchen Gesprächs abhängt: Wir haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass ein

ganzer Text eine Klasse zum Schweigen bringt, ein einzelner Satz aber zum Reden. Ein längerer Text

schafft offenbar erst einmal Distanz, ein einfacher Satz dagegen eine Nähe, der ich mich gar nicht ent-

ziehen kann. Das Gespräch lebt von Assoziationen, die sich einstellen, von Erinnerungen, die wieder

ans Licht kommen. Das braucht Zeit. Bewertungen wie „richtig“ oder „falsch“ könnten dieses Ge-

spräch nur zerstören.

Dass die Kinder bereit sind, von so tief gehenden emotionalen Erfahrungen zu reden, hängt von der

Möglichkeit ab, dass sie nicht „ich“ sagen müssen, sondern in der dritten Person sprechen können, in

allgemeinen man-Sätzen oder unter dem Schleier der Wendung: „Vielleicht hat da einer…“. In beson-

deren Situationen (wie oben) kann der Schleier zerreißen; doch für den Einstieg müssen wir auch die

unschönen man-Sätze tolerieren.

Aneignung braucht Kreativität

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Aus diesem Einstieg aber, bei dem die Kinder ganz bei sich selbst und zugleich ganz in der Bibel sind,

ergibt sich eine Fülle didaktisch sehr ergiebiger und gut praktikabler Möglichkeiten kreativer Aneig-

nung: Sprachliches oder nonverbales Gestalten, grafisch oder im gemalten Bild (manchmal waren die

Bilder geradezu bestürzend beredt), als Klangbild mit einfachen Instrumenten, als Pantomime oder

auch im Rahmen eines größeren Vorhabens (Wir schreiben und malen, spielen und tanzen unseren

eigenen Psalm!), das auch Phasen der Freiarbeit mit einschließt.

Als eine Arbeitsform, zu der wir dabei immer wieder zurückkehrten, sozusagen die Grundform, ergab

sich das Gespräch im Stuhlkreis mit Wortkarten, etwa in Aktendeckelgröße, auf denen einzelne Sätze

aus Psalmen standen.

Im Laufe der Zeit wurden es immer mehr Karten, zuerst waren es nur Sätze der Klage, dann auch Ver-

trauensworte, schließlich auch Sätze aus den großen Lobpsalmen; und in dem einleitenden Gesprächs-

kreis holten sich die Kinder jeweils eine Karte ihrer Wahl, lasen sie vor und sagten auch ein paar Wor-

te zur Begründung, warum es gerade diese Karte war.

Es war für uns ganz unerwartet, wie viel schon dieser einfache Vorgang zur Aneignung beitrug: Die

Worte der Psalmen wurden dadurch wirklich zu ihren eigenen Worten.

Das war allerdings nur möglich, weil wir in Luthers Übersetzung immer wieder eine Sprache fanden,

die ganz unmittelbar anspricht. Ich selbst habe häufiger auch Schwierigkeiten mit Luthers Überset-

zung, besonders in den Paulusbriefen, auch bei Jesusworten. Da klingt sie manchmal gar zu altdeutsch,

so als sei das Altertümliche die dem Glauben gemäße Redeweise. Bei den Psalmen ist das völlig anders.

Bei Vergleichen fanden wir immer wieder: Während die anderen Übersetzer so formulieren, wie einer

am Schreibtisch meint, dass einer vielleicht so reden würde, wenn er verzweifelt wäre, klagt und schreit

und singt Luther wirklich; in seiner Übersetzung höre ich unmittelbar seine Angst und Trauer oder

den heißen Atem der großen Leidenschaft. Das macht seine Sätze, selbst wo sie in Metaphern reden,

auch für Kinder so beredt.

Eine Art von Alphabetisierung

Uns ist erst viel später klar geworden, in welche Nähe zur Theologie der Befreiung wir uns mit diesem

Umgang mit den Psalmen begeben hatten. Es war „kontextuelle Exegese“, die wir da mit den Kindern

betrieben: Auslegung der Bibel nicht aus dem historischen oder literarischen Kontext, sondern unmit-

telbar aus dem Kontext des eigenen Lebens, aus dem Gespräch mit den eigenen Erfahrungen und Er-

innerungen.

Und ganz offenkundig wirkten diese Bibelworte befreiend: Sie gaben den Kindern die Möglichkeit, erst

einmal Distanz zu ihren Angsterfahrungen zu gewinnen und frei zu werden von ihrer diffusen Gegen-

wart, dann nach Gegenerfahrungen Ausschau zu halten und nach Worten, mit denen diese sich in die

Gegenwart holen ließen. Dadurch gewinnen die Kinder Selbstbewusstsein und Widerstandsfähigkeit;

beides ist lebensnotwendig für sie, und sie begreifen das auch.

Insofern hat unser Umgang mit den Psalmen etwas mit Alphabetisierung zu tun: Es ist ein Lernen der

Sprache der Hoffnung von den ganz elementaren Anfängen an. Denn indem die Kinder beginnen, ihre

Erfahrungen von Angst und Einsamkeit in Sprache zu fassen, geschieht schon etwas gegen die Herr-

schaft der Angst. Die Versprachlichung hilft zum Umgang mit der Angst und mit den tief sitzenden

69

Verletzungen. So vollzieht sich in der Klage bereits ein Umschwung, sie ist der erste Schritt auf dem

Weg, Hoffnung zu lernen.

Geborgenheit mitten in der Angst

Aber noch mehr ist möglich. Ich sprach von Gegenerfahrungen; auch sie haben in den Psalmen Spra-

che gefunden: In den Psalmen finden sich Worte, die von Vertrauen und Geborgenheit inmitten der

Angst sprechen, und sie sind charakteristisch für den Umgang der Psalmen mit der Angst. Das Prob-

lem der Angst wird nicht „gelöst“; wer von uns hätte im Ernst eine Lösung für den täglichen Kampf

mit der Angst? Aber wir können der Angst Gegenerfahrungen entgegensetzen – wenn wir eine Spra-

che dafür haben, die der Suggestion der Angst standhält.

Die Sprache der Appelle oder der läppischen Mutmachversuche kann das nicht leisten; es muss eine

Sprache sein, die eine andere Wirklichkeit aufschließt: Deine Hand hält mich fest (Ps 63,9), Du hältst

mir den Kopf hoch (Ps 3,4), Du bist mein Fels (Ps 31,4). Kinder begreifen auf Anhieb das Tröstliche

dieser Worte, sie verstehen, dass sie unmittelbar mit den Erfahrungen der Angst und der „Traurigkeit

ohne Grund“ zu tun haben.

Das Tröstlichste von allen ist: Du bist bei mir (Ps23,4), und eben dies ist die Bedeutung des Namens

Gottes in der hebräischen Bibel. Er heißt: „Ich bin da, ich bin bei euch“ (2. Mose 3,14).

Die Kinder beziehen diese Du-Sätze zunächst auf zwischenmenschliche Erfahrungen, etwa wie schön

es ist, wenn die Mutter auf einmal sagt: „Ich bin doch da, ich bin bei dir!“ Und davon erzählen auch

solche Kinder in ganz warmen Farben, von denen wir ahnen, dass sie selbst diese Erfahrung ganz sel-

ten machen, wenn überhaupt. Kinder haben bis zu einem gewissen Grade noch die Kraft, Defizite in

Sehnsucht zu verwandeln, und die Psalmen helfen ihnen auch dazu, dieser Sehnsucht nach menschli-

cher Geborgenheit Sprache zu geben. Aber irgendwann kommt die Einsicht, vielleicht nur als Frage:

Das kann der doch auch sagen, wenn er ganz allein ist?

Und damit sind wir auf einmal an der Schwelle zu der Erfahrung, die wir mit dem Wort „Gott“ nur

sehr unvollkommen andeuten können. Hier aber können auch Kinder ohne religiöse Sozialisation und

Vorkenntnisse anfangen zu begreifen, dass wir mit der Bibel von einer Wirklichkeit sprechen, die sie

erfahren können, wenn wir von „Gott“ reden. Diese Möglichkeit, Kindern eine solche Erfahrung zu

öffnen, in der Gott nicht mehr erschreckend groß und zutiefst ambivalent ist, sondern ganz eindeutig,

ganz tröstlich, ganz mir zugewandt: das war am Ende für mich die erstaunlichste, größte Entdeckung

auf dieser Reise.

Das ist eine Erfahrung noch diesseits des törichten Streits, ob „es Gott gibt“ oder nicht – wie soll in

solcher Sprache überhaupt Sinnvolles zur Gottesfrage gesagt werden können? Wer bin ich denn, dass

ich mir anmaßen kann, so „über“ Gott zu reden? Nicht die Sprache des distanzierten klugen Redens

„über“ Gott, sondern nur die Sprache der Anrede, der Klage, des Vertrauens, des Lobes, das Nennen

seines Namens, kann Kindern eine eigene Wahrnehmung dieser Wirklichkeit eröffnen.

Hoffnung wächst aus Erfahrung

Hoffnung lässt sich nicht lernen abseits der Gottesfrage. Ich muss wirklich starke Gegenerfahrungen

aufbieten, wenn ich dem Druck der täglichen Erfahrungen und Ängste, der Nachrichten und der ag-

gressiven Bilder standhalten will. Selbst die Vertrauensworte der Psalmen sind allein noch nicht genug,

um Hoffnung zu lernen: Sie sind erst die Schwelle, über die hinweg ich die ersten Schritte tun kann.

70

Hoffnung braucht noch mehr Erfahrungen, etwa solche, wie sie in den großen Lobpsalmen zur Spra-

che kommen (etwa Ps 104 und 139), die unsere Augen erst richtig öffnen für die Schönheit des Lebens

und dafür, wie ich eingebettet bin in ein Netz, dass mich trägt, quellendes Wasser und mächtige Bäu-

me, Luft zum Atmen und aufgehende Saat, so viel Licht und Farbe und Schönheit um mich, das Wun-

der des gestirnten Himmels und des neu geborenen Kindes (Ps 8), das doch schon vollkommen „berei-

tet“ ist (Ps 139,13).

Ich brauche das alles, um Gegenerfahrungen gegen die Macht der Hoffnungslosigkeit zu mobilisieren;

ich habe Hoffnung nicht mit einem Schlage gelernt, sondern muss sie täglich neu buchstabieren. Dazu

helfen mir die Schöpfungspsalmen mit ihren Argumenten, die Wundergeschichten im Neuen Testa-

ment mit ihren Erfahrungen (die mit Hilfe der Psalmen für Kinder ebenso beredt werden), die Aufer-

stehungsbotschaft mit ihrer behutsamen eindringlichen Didaktik, mit der sie mich bis an die Todes-

schwelle und darüber hinaus führt.

Ein Lernen, das niemals endet

So beschrieb Manes Sperber den Umgang mit der Bibel im Judentum von Kind auf, und er fügt hinzu:

„Den Gelehrten nannte man nicht den Gelehrten, sondern den Lerner“. Das ist die Rolle der Lehren-

den, die wir in diesem Unterricht auch erfahren haben: Die Psalmen machten uns alle gemeinsam zum

Lernenden, oft so, dass erst die Äußerungen der Kinder uns die Augen öffneten für eine Tiefe der Be-

deutung, die wir vorher noch gar nicht wahrgenommen hatten.

So befreite uns dieser Unterricht aus der Rolle der Alles-schon-Wissenden; wir wurden selbst wieder

zu Entdeckenden; und die Psalmen befreiten uns damit auch aus der Rolle der Ermahnenden, Appel-

lierenden, Glauben Fordernden. Sie ermöglichten eine Art des Umgangs, aus dem die Kinder anderes

mitnehmen konnten als theologische Richtigkeiten, Appelle und Ermahnungen: Worte die sie beglei-

teten und zu ihnen sprachen, wenn sie allein waren, und sie trösten konnten; es war eine Entdeckungs-

reise, auf der die Kinder mit ihren eigenen Erinnerungen auch ihre eigenen Ressourcen und Wider-

standskräfte neu entdeckten.

71

Beispiel 2: Hans Freudenberg und die Symboldidaktik (Wermke, Aus gutem Grund RU, Göttingen 2002(Wermke, Aus gutem Grund RU, Göttingen 2002(Wermke, Aus gutem Grund RU, Göttingen 2002(Wermke, Aus gutem Grund RU, Göttingen 2002

Reli in einem dritten Schuljahr: In der Mitte des Stuhlkreises liegen Postkarten mit unterschiedlichen

(offenen und geschlossenen) Türen und Toren (Bauernhaus, Schule, Schloss, Garten, Kirche ...) –Die

Kinder wählen einzelne Motive aus, sprechen dazu, sehen sich selbst als Tür, berichten von eigenen

ambivalenten Erlebnissen mit einladenden und abweisenden Türen, schreiben kleine Beiträge zu ei-

nem „Tür-Buch“. Die Lehrerin führt ein Lied ein: „Sein Haus hat offne Türen, er ruft uns in Geduld,

will alle zu sich führen, auch die mit Not und Schuld“ (EG 225). Im Gespräch versuchen die Kinder zu

klären: Wem könnte so ein Haus gehören? Wie fühlt es sich an, vor so einer Tür zu stehen? Was er-

wartet mich …?

Am Beispiel der Zachäusgeschichte erfahren die Kinder, wie Gott durch Jesus Türen öffnet (die Tür

zum Haus und zum Herzen des Zöllners), aber auch Türen zu Kranken, zu Kindern. Unter Bezug auf

ihre eigene Lebenssituation lernen sie: Gott ist so eine Tür, die immer und für alle offen steht.

Die Mädchen und Jungen erfahren in der Metaphorik der geöffneten Tür: Eine offene Tür ist wie eine

Einladung, wie Arme, die sich mir entgegenrecken, wie ein aufmunternder Blick, wie ein tröstendes

Wort, wie der Anfang einer Freundschaft. Eine offene Tür verbindet Menschen und Räume, bietet

Zuflucht und Schutz. Türen öffnen Mauern, auch solche der Vorurteile und der Angst, Türen ermögli-

chen Begegnungen. Jesus ist die Tür zu Gott, in ihm wird Gott selbst zur Tür!

Sodann überlegen die Mädchen und Jungen in Anlehnung an das o.a. Lied: Wer kann durch diese Tür

gehen? Sie malen Bilder dieser Menschen (z.B. Kranke, Einsame, Alte), Tiere, sich selbst, schneiden

diese Bilder aus und kleben sie auf die Tür-Innenflügel eines vorbereiteten Kartons (vorn sind zwei

klappbare Papp-Türflügel angebracht; Stk). Die Kinder überlegen auch, welche Erfahrungen, Gefühle,

Ängste und Hoffnungen sie persönlich durch die offene Tür Gottes in dessen „Haus“ tragen möchten.

Beispiele werden auf Wortkärtchen auf das Innere der Tür geklebt. Im Halbkreis vor der Tür erzählen

die Kinder (freiwillig!): Wann habe ich diese Gefühle, Ängste … erlebt? Wie fühlt es sich an, damit zu

Gott kommen zu dürfen?

Noch längere Zeit wird die „Tür“ die Klassenwand schmücken und für ganz individuelle und persönli-

che Anliegen wie eine Gebetswand aufnahmebereit sein.

Relevanz und Lernmöglichkeiten des RU mit Symbolen

Biblische Sprache ist im Wesentlichen bildhaft-symbolische Sprache. Sie weist über sich hinaus auf

eine tiefere, hintergründige Wirklichkeit, die die Welt des Faktisch-Konkreten und Zweckrationalen

transzendiert. Im Beispiel: Vordergründig gesehen ist ein Haus die Summe architektonischer und

baumeisterlicher Aktivitäten. Im bildhaft-hintergründigen Sinn steht es für Geborgenheit und Heimat.

Als Symbol ist „Haus“ mehrdeutig: Es verweist auf Bedürfnisse und Lebensgründe, die wir nicht gelegt

haben, die unverfügbar sind. – In gleicher Weise steht „Weg“ für Aufbruch und Wagnis, für Sich-

Bewegen und Sehnsucht, ist „Brunnen“ Chiffre für (Lebens-)Durst, Reinigung, Quelle, Tiefe, Ver-

wandlung, spiegelt sich im Sternenhimmel von 1. Mose 15 nicht nur das Bild kommender Generatio-

nen aus Abrahams Samen, sondern auch die Weite und Unendlichkeit Gottes.

72

Symbole gleichen Schlüsseln zu den Tiefenschichten, zu den Gründen des Lebens und des Glaubens.

Sie speichern und vermitteln Jahrtausende alte Erfahrungen und wollen wieder in aktuellen Erfahrun-

gen wirksam und (mit-)teilbar werden. Beispiel: Das „lebendige Wasser“ aus Joh 4 trägt in sich die

Frage, aus welchen Quellen sich unser Lebensdurst speist, was für uns sinnhaftes Leben, Erfüllung und

Lebensglück ist, welche (vielleicht verschütteten) Ressourcen vielleicht in uns aufgedeckt werden wol-

len. Symbole kann man nicht erfinden und nicht erklären; sie müssen sich einem über eigenes Erleben

und Erfahren, über Gefühle erschließen. Sie wirken, indem man sich auf sie und die in ihnen eingela-

gerten Erfahrungen und Sichtweisen einlässt, so wie sich im Eingangsbeispiel die Schülerinnen und

Schüler auf die „Tür“ als Symbol eingelassen und mit diesem Symbol kommuniziert haben.

In Aufnahme von Gedanken Fulbert Steffenskys lässt sich Religionsunterricht in einer Zeit vergehen-

der Träume als Erinnerungs- und Zukunftswerkstatt begreifen. RU ist Mittler von verlässlichen „Bil-

dern der Lebensrettung“: „Dass das Leben kostbar ist; dass Gott es liebt; dass einmal alle Tränen abge-

wischt werden sollen; dass wir zur Freiheit berufen sind und dass die Armen die ersten Adressaten des

Evangeliums sind … Dass das Recht siegen kann und dass man hoffen kann…“

Die Bilder und Symbole des Glaubens halten die Zusage wach, dass Menschen ihren Wert weder durch

Leistung gewinnen noch durch Versagen oder vermeintliche gesellschaftliche „Nutzlosigkeit“ verlie-

ren. Wenn Symbole unverzichtbare Wegbegleiter der Reise von außen nach innen sind, ist es verständ-

lich, wenn z.B. die Grundschulrichtlinien NRW (Ev. Religionslehre) die Einführung in die Bild- und

Symbolsprache der Bibel als grundlegende Aufgabe religiöser Bildung sehen. ( … )

Symbolerziehung in der Grundschule setzt sich als ganzheitlicher Prozess aus vielen „Bausteinen“ zu-

sammen, die in unterschiedlicher Intensität und situationsbezogen zum Tragen kommen: Alles,was

geeignet ist, Türen und „Fenster zum Geheimnis der Welt“, wie der katholische Symboldidaktiker

Hubertus Halbfas formuliert, zu öffnen und den Symbolsinn zu alphabetisieren, hat hier Raum:

Handelnder Umgang mit symbolhaltigen Dingen. Viele Dinge des Alltags, nicht nur Türen, sind sym-

bolträchtig und können Verborgenes offenbar machen: Steine und Blüten, Federn und Muscheln,

Baumscheiben und Baumrinde, Holzreste und Samenkörner, Tonscherben und Salz, Sand und Blätter,

Brot und Erde…

Nehmen wir als Beispiel die Steine: Steine eignen sich besonders gut, um von der ambivalenten Wirk-

lichkeits- zur Symbolebene durchzudringen. Auf der Wirklichkeitsebene sind Steine sind hart und

kalt, kommen aus der Tiefe der Zeit, drücken Dauerhaftigkeit, Unendlichkeit und Festigkeit aus; auf

der Symbolebene bergen Steine vielleicht Urlaubserinnerungen und Geheimnisse, haben eine Ge-

schichte, regen die Fantasie an („Welcher Stein möchte ich sein?“ – „Wo/Wann bin ich manchmal

selbst wie (ein) Stein?“ – Steine in Sprichwörtern und Redensarten, z.B. „Mir fällt ein Stein vom Her-

zen“), in biblischen Geschichten (z.B. Wasser aus dem Felsen, Ex 17), in Liedern (z.B.

„Ins Wasser fällt ein Stein …“) – Steine nützen und schützen: Aus Steinen kann man Brücken und

Häuser bauen. – Taufsteine und Grabsteine erzählen Lebensgeschichten.

Zur Stille finden – Aus der Stille leben

Der Weg von außen nach innen wird erschwert durch Stress und Hektik, Lärm und Gefühlsarmut,

durch Erleben der Wirklichkeit aus „zweiter Hand“. Er wird begünstigt durch Zur-Ruhe-Kommen

und Sensibilität, durch Schweigen-Können und Sich-Öffnen für das Leise, durch Entdecken der Lang-

73

samkeit, und eine Kultur der Wertschätzung. Gute Erfahrungen machen Lehrerinnen und Lehrer mit

Phantasiereisen und Stilleübungen, meditativem Tanz und Arbeit mit Mandalas („Zur Mitte finden“ –

„Meine Mitte finden“).

Für H. Halbfas stehen Übungen der Stille am Anfang des Weges zur „heilsamen Mitte“, zum Ur-

sprung, d.h. zu Gott; in der „Mitte“ verschränken sich Selbsterfahrung und Gotteserfahrung: Nicht im

(Sturm-)Wind begegnet Elia Gott (1. Könige 19), auch nicht im Erdbeben oder im Feuer, sondern im

stillen, sanften Sausen. „Nur im Schweigen gelangt der Mensch vor Gott“ (Romano Guardini).

Als Beispiel kann eine Imaginationsübung in Verbindung mit dem Wort aus Johannes 10 „Ich bin die

Tür“ dienen; nach entsprechenden Vorbereitungen im Blick auf Sitz und Atmung werde folgende Im-

pulse gegeben: „Stell dir eine Tür vor … Sie führt zu einem (paradiesischen) Garten … Die Tür öffnet

sich … Schau den Garten … Schau, was wächst und gedeiht … Schau auch, was vergeht … – Weiter-

führender Impuls: Eine Stimme spricht zu dir: „Ich bin die Tür zum Leben …“ (vgl. G. und R. Ma-

schwitz, Stille-Übungen mit Kindern).

Feste und Feiern

Im RU eines 2. Schuljahres ist die Josefs-Geschichte erarbeitet worden. Gestalterisch und mit Rollen-

spielen, erzählend und musizierend haben die Kinder Josefs Weg begleitet. Die abschließende Feier-

(Doppel-)Stunde lässt noch einmal Rückschau halten. Der Raum ist festlich geschmückt, Sets mit Mo-

tiven aus Gen 37ff liegen aus, kleine Köstlichkeiten für das Wiedersehens- und Versöhnungsfest (Fla-

denbrot – altägyptischer Salat – Pfefferminztee) sind vorbereitet. Ein Spiellied vergegenwärtigt noch

einmal Höhe- und Tiefpunkte der Erzählung. In einer Symbolhandlung teilt Josef sein buntes Kleid in

viele Streifen und macht so die Versöhnung und Geschwisterlichkeit erlebbar und auf eigene Erfah-

rungen und Träume hin transparent.

Feste sind Höhepunkte gemeinsamen Lebens und Lernens, sie stiften Gemeinschaft und machen Reli-

gion „sinnlich erfahrbar“. Handelnd werden so im gemeinsamen Feiern zentrale Inhalte christlichen

Glaubens anschaulich und leibhaftig. Wenn ein Fest gelingt, verhilft es zu einer vertieften und erwei-

terten Sicht der Dinge. Vieles kann unter Bezug auf Feste des Kirchenjahres, auf Gegenstände des

Lehrplans oder in Verbindung mit dem Schuljahr ein kleines oder aufwändigeres Fest begründen: Die

Heimkehr des verlorenen Sohnes (Lukas 15) ebenso wie ein „Bibel-Fest“ nach einer Unterrichtseinheit

„Bibel: Die gute Nachricht weitersagen“ oder ein Fest, das die Wunder der Schöpfung bestaunt oder

die Kinder Gäste „bei den Völkern der Erde“ sein lässt.

Feste vergegenwärtigen in Symbolen und Symbolhandlungen den Festanlass und bringen in spezifi-

schen Symbolen und Ritualen das Geheimnis des zu Feiernden zum Leuchten, unterbrechen produktiv

den (Schul-)Alltag.

Erlaubnisraum Kirche (Kirchenraumerkundung)

Der Anspruch, gelebte Religion außerhalb der Schule zu entdecken, lässt sich – je nach örtlichen Ge-

gebenheiten – besonders gut im Rahmen von Kirchgängen einlösen. Steine sollen zum Reden ge-

bracht, eine eigene Beziehung bei den Schülern zu einem Ort aufgebaut werden, der vielen fremd ist.

Beispiel: Kinder eines 4. Schuljahres erkunden zunächst die Außenfassade einer Kirche, danach den

Innenraum: Jede(r) sucht einen Platz, der ihr/ihm besonders gut gefällt – Ich schließe die Augen. Ich

lasse den Raum auf mich wirken … Was empfinde ich? Welches Gefühl vermitteln mir die dicken

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Mauern? – Was interessiert mich besonders? Ich trete näher heran, untersuche es, versuche, nähere

Informationen darüber zu erhalten.

Kirchen sind nicht nur Raum, Stein, Holz, Bronze gewordene Religion, sondern symbolische Verdich-

tungen, die es zu entschlüsseln und zu erschließen gilt: Das Gebäude als Arche und bergender Ort, die

Kerzen auf dem Altar, das Taufbecken, die Glocken, die Bilder, der Altar, die Turmuhr. Die Auseinan-

dersetzung mit diesen symbolhaltigen Ausstattungsgegenständen kann viel zur religiösen Bewusst-

seinserweiterung durch sinnliche Wahrnehmung beitragen.

Räumliche und sächliche Ausstattung

Eigentlich jeder Unterricht, insbesondere aber ein einem ganzheitlich symbolischen Ansatz verpflich-

teter Religionsunterricht verlangt nach einer anregungsreichen, einladenden Lernumgebung. Dies

bedeutet etwa die Einrichtung einer kleinen „Oase“, also einer Stilleecke. Hierhin können sich einzelne

Kinder auf Zeit zurückziehen und sich individuell und in eigenem Tempo beschäftigen.

Ein solcher Raum kann enthalten: Tücher – Kissen/Decken – Kerze – Krug/Schale mit Wasser – Sym-

bolbilder – frische Blumen – ausgewählte Bilderbücher. Es bedeutet auch die Einrichtung eines Ar-

beitsateliers, z.B. mit Regalen – Arbeitsflächen – Materialecke (Schreibmaterialien – (Bild-)Karteien –

ausgewählte Psalmworte und Bibelverse – Knete – Bethelpuppen – Korken – Steine – Kassetten mit

meditativer Musik/Erzählkassetten – Klangschalen – Düfte (sparsam) – Mandalas – Gegenstände aus

der Natur – Holzreste etc.).

Der Religionsunterricht versteht seinen Beitrag zum „Haus des Lebens und Lernens“ so, dass er alle

Ansätze unterstützt, die Leben und Lernen vielfältiger, hoffnungsvoller, tiefer, reicher, widerstandsfä-

higer machen.

Auch religiöses Lernen muss „Sachen klären“ (H. von Hentig), muss dialog- und auskunftsfähig ma-

chen, muss Lernfortschritte belegen können. Jedoch stiftet allein die Belehrung z.B. über Hoffnungen

der Religion noch keine existenziellen Hoffnungsperspektiven zur Gestaltung des eigenen Lebenshau-

ses. Darum stellt von Hentig der Zielperspektive „Sachen klären“ die andere zur Seite: „Personen stär-

ken!“ Der Erschließung von biblischen Symbolen und Bildern, der Beheimatung in wohltuenden Er-

fahrungen der Menschen kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Noch einmal im Bild der Tür: Religi-

onsunterricht, der in der beschriebenen Weise begabt, öffnet Türen (zu Geheimnissen und Hoffnun-

gen, zum Nächsten, zu Träumen, die nicht zerplatzen dürfen, – zu Gott). Er bahnt Grenzüberschrei-

tung an, nimmt den aufmerksamen Gastgeber in den Blick, der selbst zur Tür wird und freundlich

einlädt: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken!“

H. Halbfas: Das dritte Auge. Religionspädagogische Anstöße, Düsseldorf 1982

G. u. R. Maschwitz: Stille-Übungen mit Kindern. Ein Praxisbuch, München 1993

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Beispiel 3: Elisabeth Buck und der Bewegte RU (Wermke, Aus gutem Grund RU, Göttingen 2002(Wermke, Aus gutem Grund RU, Göttingen 2002(Wermke, Aus gutem Grund RU, Göttingen 2002(Wermke, Aus gutem Grund RU, Göttingen 2002

Von Zeit zu Zeit durchstöbere ich eine Schublade, in der ich besondere Schätze aufbewahre: Briefe und

Gemälde meiner Schülerinnen und Schüler aus dem Religionsunterricht.

Beispiel 1

Da fällt mir dann immer dieser Zettel in die Hand, geschrieben von der sechsjährigen Natalie an ihren

Klassenkameraden: „Lieber Christian, du bist ein Kaote. Du fengst mich immer in der Pause. Und zu

der Martina sagst du fette Kuh. Martina kann ga nichts dafür das sie so dick ist. Also gewöhn dir das

ab. Oder soll ich dich so nennen: Du alter Knochenkopf? Deine Natalie!“

Ich erinnere mich noch gut daran, wie sehr sich dieses Mädchen empört hat, wenn man seine überge-

wichtige Banknachbarin beleidigt hat. Inzwischen ist Natalie fünfzehn. Die alten Erzählungen aus dem

Religionsunterricht über diesen Jesus von Nazareth, wie er sich vor etwa 2000 Jahren auf die Seite der

Außenseiter und Schwachen gestellt hat, diese Erzählungen sind für Natalie in ihrem Umgang mit

anderen noch immer relevant. Da lässt sie sich von keiner Respektsperson etwas anderes vormachen.

Beispiel 2

Ebenfalls in dieser Schublade liegt ein Gemälde, das mir die achtjährige Nadja geschenkt hat. Sie malte

die hebräischen Sklaven, wie sie aus Ägypten fliehen und einen Ausweg durch das Schilfmeer geöffnet

bekommen. „Cool“, sagen alle in ihren Sprechblasen auf Nadjas Bild. Cool, so fand Nadja diese ganze

wundersame Mose-Erzählung aus dem Alten Testament der Bibel, cool die Menschen, die aus der

Unterdrückung aufbrechen trotz der ungewissen Zukunft. Und cool, wie in dieser alten Geschichte

davon erzählt wird, dass da ein mächtiges, höheres Wesen mitwandert – diese mächtigste Person, die

man Gott nennt. Erstaunlich – ein Gott, der die Welt und das Universum geschaffen hat und sich auf

die Seite der armseligen Flüchtlinge stellt, statt auf die Seite der glänzenden, erfolgreichen ägyptischen

Weltmacht. Nadja macht das deutlich in ihrem Bild, indem sie den vordersten Sklaven mit geflickter

Kleidung zeichnet. Und Nadja fand es sehr aufregend, sich vorzustellen: Wenn es denn einen Gott

gibt, der das Leben erfunden hat, „kümmert der sich auch um mich?“ Wo es doch so viele, viele Men-

schen gibt auf der Welt!

Beispiel 3

Und dann liegen da auch in einer Ecke meiner Schublade zwei kleine Steine. Die hat mir Florian ge-

schenkt, als er acht Jahre alt war. Ich erinnere mich, dass ich für jedes Kind seiner Klasse einmal kleine

Strandkiesel mitgebracht hatte. Jedes Kind untersuchte und erforschte seinen Kiesel nach allen beson-

deren Merkmalen: Wie ist seine Farbe? Sind Linien, Punkte, Flecken zu sehen? Welche Form hat er,

und gibt es da Schrammen, Ecken und Kanten? Später wurden die Steine alle wieder zusammengewor-

fen und gemischt. Und dann hat jedes Kind seinen Stein wieder herausgesucht. Das war uns Anlass

zum Gespräch: Jeder Stein ist einmalig. Jeder Stein hat viel erlebt auf seiner Reise vom Gebirge ins

Meer bis an das Ufer, wo er gefunden wurde. Da fiel der Vergleich mit uns selbst nicht schwer: Jeder

von uns ist einmalig. Jeder von uns hat viel erlebt, jeder von uns hat Ecken und Kanten, jeder hat auch

Schrammen und Narben durch das Leben mitbekommen.

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Anschließend haben wir uns ein altes Lied aus der Bibel angesehen: „HERR, du erforschst mich und

kennst mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es, du verstehst meine Gedanken von ferne. … Von

allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. … Nähme ich Flügel der Morgenröte

und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich

halten… Du hast mich gebildet im Mutterleib. Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht

bin…“ (Aus Psalm 139)

Florian hat das sehr gefallen. Er ist ein lebhaftes, fantasievolles Kind. Oft geben ihm seine Eltern und

Lehrer zu verstehen, dass seine „Ecken und Kanten“ stören. Ich konnte ihm ansehen, wie ihn das ange-

sprochen hat: Da wird von einem Gott in der Bibel erzählt, der darauf Wert legt, dass seine verschie-

denen Geschöpfe einzigartig sind. Und so hat Florian eine Woche später zwei Steine mitgebracht, die

er in seinem Garten aufgelesen hatte: „Da, Frau Buck, die sin’ für dich, weil, die sin’ ganz verschieden,

die zwei Steine.“

Relevanz und Kompetenz im Bewegten RU

Religionsunterricht lebt von der Kompetenz der Kinder, sich mit Fragen über Gott und die Welt aktiv

auseinandersetzen zu können. Diese Auseinandersetzung betreiben Kinder von sich aus, außerhalb der

Schule, mit Haut und Haar, mit Kopf, Herz, Hand und Fuß. Sie spielen „tot sein“, sie beerdigen tote

Mäuse und Kohlmeisen im Garten, sie beschriften Tonscherben als Grabstein und legen Blumen dazu.

Sie spielen „Himmel und Hölle“, sie spielen „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“…

Und gerade von grundsätzlichen Themen fühlen sich Kinder herausgefordert. Nämlich von Themen,

die ihr Selbstverständnis betreffen: „Wo komme ich her?, „Wohin gehen wir, wenn wir sterben?“ Älte-

re Kinder fangen an zu fragen: „Wozu lebe ich?“ Wenn Kinder spielen, wechseln sie ständig die Per-

spektive. Sie schlüpfen in die Rollen von Indianerhäuptlingen und Prinzessinnen. Sie schlüpfen aber

auch in die Rollen von Dienern und Sklaven. Sie spielen Polizisten und sie spielen Räuber. Sie klettern

auf Bäume und betrachten die Welt von oben. Sie kriechen auf dem Bauch durchs Gebüsch und sehen

sich die Dinge von unten an. Sie wechseln sowohl räumlich leiblich als auch mental immer wieder

Standort und damit den Blickwinkel. Und so sind sie neugierig und daran interessiert, auch existentiel-

le Fragen von verschiedenen Standpunkten aus – und damit eben in unterschiedlicher Perspektive –,

zu untersuchen.

Im Bewegten Religionsunterricht, wie er in den neunziger Jahren entstanden ist, wird dieser Kompetenz

der Kinder auch innerhalb der Schule Raum gegeben, nämlich der Kompetenz, von Kopf bis Fuß da-

nach zu forschen, wie man das Leben verstehen könnte. Wenn man Kinder ernst nehmen möchte,

muss man auch ihre Zugangsweisen ernst nehmen. Kinder lernen in allen Bereichen über das Wech-

selspiel von Wahrnehmung und Bewegung. Und so darf diese Zugangsweise auch im Religionsunter-

richt nicht außen vor bleiben. Der Bewegte Religionsunterricht lebt dadurch, dass Kinder Meister sind

im Rennen, Kriechen, sich Verstecken, Klettern, Tasten, Schnuppern, Springen, Schleichen… und dass

auf diese Weise die Gedanken der Kinder in Bewegung geraten.

Mit den Kindern zusammen geht es in diesem Unterricht auf Entdeckungsreise: Und zwar wird mit

den alten, archetypischen Erzählungen aus der Bibel gespielt. Diese Erzählungen über Erfahrungen mit

einem liebenden Gott fordern die Kinder heraus, sich in wechselnden Perspektiven auf deren Spuren-

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suche zu begeben. Mit Kopf, Herz, Hand und Fuß geschieht sie, diese Spurensuche, in Rollenspielen,

Symbolspielen, Pantomime oder in Tanzspielen, im Singen und Musizieren, im Spiel mit Sprache.

Diese Perspektivenwechsel erlauben es den Kindern und Jugendlichen, sich lebenswichtigen Grund-

fragen von verschiedenen Blickwinkeln und unterschiedlichen Standpunkten aus anzunähern:

� Hat das Universum, hat das Leben, habe ich einen Ursprung in einem Urheber?

� Von welchen ungewöhnlichen Erfahrungen mit einem solchen Urheber erzählen über Jahr-

tausende hinweg die verschiedensten Menschen?

� Ist es ein liebendes Wesen?

� Wenn es einen solchen liebenden Urheber gibt – nennen wir ihn Gott –, wie verändert das

meinen Umgang mit den Menschen neben mir?

� Welchen Wert hat „Leben“?

� Wie gehen wir mit „Schuld“ um, mit eigenem Versagen, mit Kränkungen durch andere?

� Ist mit dem Tod alles aus?

� Ist ein „Zuhause“ vorstellbar, wohin ich gehe, wenn ich gestorben bin?

Man kann es nicht oft genug betonen: Kinder kennen keine Gedankentabus und sie sind nicht zufrie-

den, wenn diese Fragen von vielen Erwachsenen in ihrer Umgebung einfach beiseite geschoben wer-

den. Im Bewegten Religionsunterricht werden diese Fragen mit den Kindern bewegt, nicht über sie

hinweg.

Da wird im Alten Testament der Bibel von Erfahrungen berichtet, die umherziehende Nomaden mit

einem Gott gemacht haben. Diesen Gott haben sie als den „Einzigen“ anerkannt. Und dieser Einzige

zeigt Emotionen, die bei Menschen Widerhall finden: Liebe, Sorge, Mitleid. Die Geschichte dieses Got-

tes mit Menschen, die sich ansprechen lassen, wird als Liebesgeschichte erzählt. Diese Liebesgeschichte

verändert das Zusammenleben der Menschen. Denn aus der Liebesgeschichte zwischen diesem Gott

und den Menschen entstehen Regeln, die das Leben schützen und Freiheit ermöglichen:

� Du musst niemand Höheren anerkennen über dir als allein Gott.

� Du sollst dir regelmäßig Ruhe gönnen und der Liebe zwischen dir und Gott Zeit geben.

� Die Würde des Alters ist unantastbar.

� Das Leben ist unantastbar. � Die liebende Verbindung zweier Menschen ist unantastbar.

� Arme müssen vor der Habgier reicher Menschen geschützt werden.

� Der gute Ruf eines jeden ist unantastbar.

Und dann kommt im Neuen Testament der Bibel diese provokante Lebensgeschichte des Jesus von

Nazareth zur Sprache, an dem sich heute noch die Geister scheiden. Die Spurensuche nach den Über-

zeugungen und der Lebensart dieses Jesus finden Kinder höchst aufregend. Denn es zeigt sich dabei

auch an vielen Stellen ein großer Widerspruch zu heutigen Trends und gesellschaftlichen Mechanis-

men: Statt in einem Königspalast wird Jesus in einer Viehbaracke geboren, statt mit Bodyguards um-

gibt er sich mit Versagern und Außenseitern, statt Ellbogen zeigt Jesus seine helfende Hand.

Wie mit einem Brennglas wird hier die Liebesgeschichte Gottes mit den Menschen herausgehoben: Es

finden sich in den frühen Schriften der ersten Christen erstaunliche Interpretationen. So soll sich hier

in der Person des Jesus von Nazareth Gott selbst in die Hände der Menschen gegeben haben und sich

ausgeliefert haben bis in die eigene Vernichtung hinein, bis in den Foltertod. Dieser Machtverzicht

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Gottes, der keine Unterwerfung fordert sondern seine Freundschaft anbietet, bestimmt die Perspektive

christlicher Lebenseinstellung.

Dann ist da auch noch der Skandal, mit seinem Sterben sei es mit diesem Jesus nicht aus gewesen.

Viele Menschen waren erschreckt von Erlebnissen und Begegnungen, die sie zu der Überzeugung

brachten: Jesus ist auferstanden. Gott hat den Tod besiegt. Zahllose Menschen bis heute sind wie elekt-

risiert von dieser Geschichte, die unerklärbar geblieben ist. Auch wenn es immer wieder Erklärungs-

versuche gibt, sie werden diesem Ereignis jenseits der Grenze unserer erklärbaren Wirklichkeit nicht

gerecht. Gerade Kinder geben sich mit banalen Erklärungsversuchen nicht zufrieden und werden so-

gar ärgerlich, wenn ihnen eine Interpretation von Ostern als zu billig erscheint.

Mit Kopf, Herz, Hand und Fuß untersuchen Kinder diese Spuren religiöser Lebensdeutungen. Und

Kinder zieren sich nicht, dafür im Spiel die unterschiedlichsten Standpunkte auszuprobieren, in ver-

schiedene Rollen zu schlüpfen, sich anzunähern, um verschiedene Blickwinkel kennen zu lernen. Da-

für sind sie zu ernsthaft an den relevanten Lebensthemen interessiert, als dass sie sich distanziert und

unberührt zurücklehnen wollten. Und dafür stehen sie zu sehr mitten im Leben: Im Pausenhof gibt es

ständig Situationen von Mobbing und Hierarchiekämpfen; Kinder erleben, dass ihre Wertschätzung

an ihre schulische Leistung gekoppelt wird; auch Kinder werden mit dem Tod junger Freunde oder

Verwandter konfrontiert und viele Eltern entziehen sich dem Gespräch; Eltern streiten sich und Väter

ziehen aus… Kinder haben ein Recht darauf, dass ihre Fragen über Gott und die Welt in der Schule

respektiert werden. Kinder haben ein Recht darauf, dass sie sich gemeinsam mit respektvollen Lehre-

rinnen und Lehrern mit diesen Fragen auseinandersetzen können. Und diese Auseinandersetzung, wie

gesagt, betreiben Kinder gerne und intensiv mit Haut und Haar, mit Kopf, Herz, Hand und Fuß, um

der notwendigen Perspektivenwechsel willen.

Beispiel 4

Zwölfjährige Schülerinnen und Schüler wünschen sich, Gedanken zum Thema „Tod“ zu gestalten.

Kurz vorher hatte es einen schrecklichen Unfall in unserer Gegend gegeben. Nach einem Discoausflug

waren zwei Autos mit jungen Leuten frontal zusammengestoßen. Sieben Jugendliche sind dabei ums

Leben gekommen und sieben Kreuze stehen seither an der Unfallstelle am Rand der B22 bei Bamberg.

Geschockt von diesem Ereignis haben die Jungen und Mädchen meiner Unterrichtsgruppe aber auch

dies bemerkt und wohl befremdet reagiert: Da stehen einzelne Holzkreuze ganz schlicht, andere Kreu-

ze daneben sind überreich verziert mit geschnitzten Ornamenten und Dächern.

Die Kinder sammeln Ideen, wie man im Spiel darstellen könnte, dass der Tod keine Unterschiede

macht; die verschiedensten Menschen sollen in diesem Spiel dem Tod begegnen und ihr übliches

Machtgehabe wird sich als sinnlos erweisen. Frank will einen reichen Bankdirektor spielen, er bringt

das nächste Mal einen Aktenkoffer mit und Spielgeld. Martin und Christoph wollen Skinheads sein,

das martialische Outfit einschließlich eines Messers und zwei leerer Bierflaschen bringen auch sie das

nächste Mal mit. Und Liane spielt eine alte Bettlerin mit Stock. Markus möchte den Tod spielen, mit

schwarzem Umhang und schwarzer Gesichtsmaske.

Und so entsteht aus der gemeinsamen Planung folgendes Spiel: Alle Schülerinnen und Schüler stehen

im Kreis, ein paar Stühle nebeneinander bilden eine Parkbank in der Mitte. Nur „der Tod“ steht au-

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ßerhalb des Kreises. Aus dem Ring aller Kinder löst sich zuerst Liane als alte Bettlerin mit dem Stock,

humpelt zur „Parkbank“ und setzt sich mühsam. Als Nächstes treten Martin und Christoph als Skin-

heads aus ihrer Reihe. Sie stürmen zur „Parkbank“ und bedrohen die Bettlerin mit dem Messer. Bevor

sie ihr etwas antun, kommt würdevoll Frank, der Bankdirektor. Er setzt sich ebenfalls auf die Bank,

wenn auch in angemessenem Abstand zur Bettlerin. Die beiden Skinheads bleiben stehen und setzen

ihre Bierflaschen an den Mund. Plötzlich bricht Markus als Tod durch den Ring der Kinder. Er schreit

die Skinheads an: „Ihr seid jetzt dran. Ihr müsst mit.“ Die Skinheads wollen sich erst mit dem Messer

verteidigen, sie lassen die Bierflaschen auf dem Boden stehen und wollen den Tod abwehren, aber das

Messer fällt ihnen aus der Hand und der Tod zieht sie an der Hand aus dem Kreis nach draußen. Das

Messer liegt am Boden und bleibt zurück. Und wieder springt der Tod in den Kreis, um den Bankdi-

rektor zu holen. Der will sich erst freikaufen. Er holt Geldscheine aus seinem Koffer, um den Tod zu

bestechen. Aber es nützt ihm nichts, der Tod zieht auch ihn aus dem Kreis, der Aktenkoffer und die

verstreuten Geldscheine bleiben zurück. Zuletzt holt der Tod nun die alte Bettlerin, die sich gar nicht

wehrt und ihren Stock zurücklässt. Außerhalb des Kreises legen die Spieler nun die restlichen Insig-

nien ihrer Verkleidung beiseite und reihen sich ohne ihre Spielrolle wieder in den Kreis ein. Denn

auch sie möchten teilhaben an dem, wie sich das Spiel weiter entwickelt.

Nun steht also im Kreis die leere Bank und verstreut liegen Gegenstände am Boden: Ein Messer, Bier-

flaschen, ein Aktenkoffer, Geldscheine und ein Stock. Die Kinder haben für diese Szene eine Musik

ausgesucht, die wir nun mit dem Kassettenrecorder einspielen: Es ist ein Chorstück von Rudolf Mau-

ersberger, das er nach der Bombardierung Dresdens im 2. Weltkrieg komponiert hat, – „wie liegt die

Stadt so wüst“.

Die Kinder stehen im Kreis, es klingt „wie liegt die Stadt so wüst“, – und im Kreis am Boden liegen die

Gegenstände, die ohne ihre Besitzer nun völlig sinnlos geworden sind.

Wer es möchte, kann nun selbst durch die Mitte des Kreises gehen und einen Gegenstand fallen lassen,

den er bei sich trägt: Eine Uhr, einen Kugelschreiber, ein Taschentuch, einen Busausweis…, was von

uns eben so alles zurückbleiben könnte, wenn wir einmal aus dem Kreis der Lebenden gehen.

Wir setzen uns alle. Eine lange, lange Gesprächsrunde schließt sich an. Sprichwörter eröffnen das Ge-

spräch: „Arm oder Reich, vor dem Tod sind alle gleich.“ „Das Totenhemd hat keine Taschen.“ Und

dann sprudelt es aus den Kindern heraus, was sie bewegt: „Die meisten Leute sagen: Nur nicht daran

denken! Da darf man gar nicht darüber reden!“

„Mein Opa sagt aber manchmal, er würde jetzt gerne sterben, weil er nun lang genug gelebt hat.“

„Aber, was passiert denn, wenn man stirbt? Gibt es einen dann überhaupt nicht mehr, ist man dann

wie ausradiert?“ Viel Zeit braucht man für eine solche Gesprächsrunde, in der die Kinder ihre Vorstel-

lungen über den Tod und ihre Fragen nach einem Leben nach dem Sterben zur Sprache bringen kön-

nen. Und vielleicht wird sich herauskristallisieren: Wer über den Tod nachdenkt, wird sich bewusster

am Leben freuen können und wird das Leben ganz neu Wert schätzen. So hat man es schon vor Tau-

senden von Jahren ausgedrückt in einem Lied des Alten Testaments der Bibel: „Herr, hilf uns daran zu

denken, dass wir sterben müssen, damit wir klug werden.“ (Psalm 90, 12)

Solch ein Gespräch kann zu weiteren Fragen führen: Was gibt es denn alles für Vorstellungsmodelle

neben dem hinduistischen Glauben an die Wiedergeburt oder neben dem Volksglauben „Wir werden

alle Engel sein“? Womit rechneten die alten Erzähler aus dem Alten und Neuen Testament? Häufig

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erlebe ich, dass unter vielen Fundstellen einige besonders das Interesse der Kinder finden. Beispiel:

„Und Jesus schrie auf: Vater, ich gebe mein Leben in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, starb

er.“ (Lukas 23,46).

Manche Kinder finden sich gerade von diesem Aufschrei angesprochen. In einem Spiel können sie

dem nachsinnen: Jedes sucht sich ein Kind seines Vertrauens aus, – einen Helfer oder eine Helferin.

Dann stellt sich jeweils ein Kind mit geschlossenen Augen auf den Stuhl. Blind versucht es nun vom

Stuhl zu steigen und vertraut sich dabei den unterstützenden Händen seines Helfers an. Auch diese

Erfahrungen wollen dann im gemeinsamen Gespräch bedacht werden. Sie können auch nachwirken in

dem Lied Dietrich Bonhoeffers: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was

kommen mag…“

Wenn ich meine Schubladen durchforste, werfe ich in der Regel auch immer eine Menge weg. Unter-

richtskonzepte, Arbeitsblätter, Texte, die mir nicht mehr gefallen oder von denen ich nicht mehr über-

zeugt bin, wandern in den Papierkorb. Natalies Brief, Nadjas Gemälde und Florians Steine und noch

einige andere Schätze, die mir Kinder geschenkt haben, werden nicht entrümpelt. Sondern sie weisen

mich immer wieder darauf hin: Mit ihrer ganzen Person stellen sich Kinder den wesentlichen Fragen

des Lebens mit Kopf, Herz, Hand und Fuß. Davor habe ich Respekt und davon möchte ich noch viel

lernen.

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Beispiel 4: Karlo Meyer und der interreligiöse Dialog Karlo Meyer, Lea fragt Kazim nach Gott Inhalt Was wir wollen Was wir vorbereiten und beachten

1. Religion erleben Der muslimische Ruf zum Gebet Kazim hört den Ruf zum Gebet Bilāl, der erste Rufer Glocken – der christliche Ruf zum Gebet Ausrufen

2. Religion erzählen Wie Mose berufen wurde. Leas Mutter erzählt Wie Mohammed berufen wurde. Kazims Vater erzählt Gott ruft Samuel. Leas Mutter erzählt Ein Riecher für Gott?

3. Religion vollziehen Kazim antwortet Lea antwortet Wie kann ich Gott antworten?

Exkurse Eine Moschee von innen Eine Kirche von innen

4. Deine Religion – meine Religion Was unterscheidet uns? Können wir zusammen beten? Lasst uns zusammen feiern!

Anhang Islam: Wann gibt es Grund zum Feiern? Muslimische Feste Rezepte für Feste Literaturverzeichnis Zur Aussprache des Arabischen

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Was wir wollen

Dialog zwischen Muslimen und Christen – für viele christliche Kreise noch immer unge-wöhnlich, für andere inzwischen selbstverständlich. Wo Kazim und Lea, Aishe und Kai ne-beneinander im Klassenraum sitzen, wo Nachbarschaften, Fußballmannschaften und Arbeits-kollegien türkisch-deutsch und sonst multinational besetzt sind und mein Freund eine Türkin heiratet, da wird geredet, auch über Glauben, über Religion und Religionen. Und doch im Detail fehlt es schnell an Wissen. Die christliche und die muslimische Religion mit ihrem Alltag in Deutschland sind daher das Thema des Heftes. Grundsätzlich ... → Begrenzte, religiös zentrale Punkte der Religionen stehen im Mittelpunkt. Religion in ihrer Praxis und in ihrer Lebenskraft ist das primäre Thema des Religionsunter-richts. Ein kleines Fenster zur Religion wird geöffnet, ein Ausschnitt, um in die Tiefe zu ge-hen und genau hinzusehen. Ein allgemeiner Überblick verstellt eher den genauen, respektvol-len Blick. Es geht um ein erstes Kennenlernen, dem andere folgen. → Religiöse Rituale, religiöse Gebrauchsgegenstände, religiöse Gebäude und religiöse Er-zählung sind gleichgewichtig. Sie alle haben auch in der staatlichen Schule das Recht mit Kopf, Hand und Herz wahrge-nommen zu werden. Ausgewählte Stücke aus religiösem Gebrauch werden genauso vorge-stellt wie Geschichten. → Religion lebt in den Menschen, die Religion praktizieren. Daher führen Kazim und Lea durch diese Einheit, zwei Kinder, die auch außerhalb dieses Buches genauso heißen und in Hildesheim ihre Religion ausüben. Sie können z.B. als Pass-bild auf Arbeitsblättern erscheinen – nicht als Illustration, sondern als „Kontextualisierung“, um deutlich zu machen: Dieses Zeugnis einer Religion/dieses Arbeitsblatt hängt mit einem ganz bestimmten Menschen zusammen, der so seine Religion ausübt. → Ausgeübte Religion und ihre Zeugnisse brauchen Aufmerksamkeit und Geduld mit allen Sinnen zum Hinhören, Riechen, Schmecken, Sehen und Fühlen. → Das Fremde ist anders und darf anders bleiben. Dazu setzen wir bewusst Grenzen. Eine fremde Geschichte, ein fremdes Ritual, ein fremdes Bild, sie alle haben ihren eigenen Ort und zu ihnen gehören bestimmte Menschen, die mit ihnen umgehen. Wir zeigen dies durch Fotos von Lea und Kazim, zu deren christlicher oder muslimischer Tradition eine Geschichte oder ein Ritual jeweils „gehören“ („Nicht allen gehört alles“). Ein Foto von Kazim erscheint zum Beispiel auf der Oberseite eines Blattes zu islamischen Bildern. Die Materialien werden so verortet. Das Thema des Blattes gehört dann explizit zu Kazim und seiner Tradition, nicht zur christlichen. Des Weiteren unterscheiden grüne und violette Wandtafeln die Ergebnisse aus der Arbeit an islamischen und aus der Arbeit an christlichen Traditionen. Grün ist traditionell die Farbe Mohammeds und der Muslime. Violett ist traditionell die Farbe der Kirche. Als drittes leiten Geräusche oder visuelle Hinweise eine religiöse Geschichte ein und beenden sie.

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Sie erhält so ihren eigenen Raum als etwas Anderes, etwas Fremdes im Raum der Schule. Ein Ausschnitt des Gebetsrufes leitet zum Beispiel eine islamische Geschichte ein, eine Glocke eine christliche. → Religion schafft Tiefe durch das persönliche Verhältnis zu ihr, durch eigenes Berührtsein. Fremde und eigene Tradition sollen in Bewegung setzen, um mit Körper, Seele und Geist in Beziehung zu treten zu Ritualen, Gedanken oder Geschichten – zu den großen Fragen der Menschen. → Klare Grenzen und die tiefere persönliche Auseinandersetzung bedürfen der Balance. Vor dem Berühren des Korans waschen sich Muslime rituell – vielleicht macht es Sinn, den Re-spekt vor dem fremden Buch ebenso deutlich zu machen. Eine Grenze erhält so einen leibli-chen Ausdruck. Mit Fragen schaffen wir Brücken zum Eigenen: Wie drücken wir Respekt gegenüber unserer heiligen Schrift aus? Was verdient sonst in unseren Augen einen Ausdruck des Respekts? Wie zeige ich ihn? Die genannten sieben Punkte machen mein Interesse deutlich, fremde und eigene Religion nicht nur auf der Sachebene zu behandeln, sondern sinnenhaft-gestalterische Erfahrungen mit Religion bei den Schülerinnen und Schülern selbst anzubahnen; nicht die Grenzen zu anderen zu verletzen und doch Raum zu geben zur persönlichen Auseinandersetzung. Wichtig bleibt dabei: Es geht um Menschen. Und: Es geht um Erfahrungen mit Gott. Es geht um Menschen Lea und Kazim, die uns durch die Einheit begleiten sind, wie erwähnt, keine abstrakten, er-fundenen Wesen. Sie heißen tatsächlich „Lea“ und „Kazim“34. Beide leben in Hildesheim. Sie gehen in die vierte bzw. in die fünfte Klasse. Lernen Sie die beiden Kinder vorab ein wenig kennen, damit Sie sie bei Nachfragen auch für die Schulkinder mit Leben füllen können: → Kazims Großeltern väterlicherseits kamen vor mehr als dreißig Jahren nach Deutschland. Sein Vater wurde noch in der Türkei geboren, ist aber schon hier aufgewachsen. Er arbeitet in einer Zulieferfirma der großen Fab-rik in der Stadt. Die Familie wohnt in einem kleinen Haus. Im obersten Geschoss wohnen die Großeltern, im mittleren Geschoss der Onkel und im Erdgeschoss Kazims Familie: Vater, Mutter, die fünfjährige Schwester und Kazim.

34 Sprich: Kásem (das „z“ wird wie ein stimmhaftes „s“ gesprochen, das „i“ – im Türkischen ohne Punkt – wie das

kurze, unbetonte „e“ in „laufen“).

Bild von Kazims Familie Foto 0.3

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In den Ferien fliegt die Familie einmal im Jahr in die Türkei zu den anderen Großeltern. Sie leben in der Nähe von Izmir. Kazim freut sich auf die Besuche. Es gibt dort so viele Verwand-te, dass es noch kein Mal in den Ferien gelungen ist, alle zu besuchen; irgendeiner wird im-mer ausgelassen. Kazim spielt gern Fußball. Als Stürmer seiner Mannschaft hat er schon einige Pokale gewon-nen, einmal ist er sogar als bester Stürmer ausgezeichnet worden. Auch Computerspiele spielt er gern. Er hat schon einen eigenen Computer auf seinem Schreibtisch. Sein Lieblingsfach ist Geografie. Kazim geht am Wochenende regelmäßig in die Moschee. Er lernt dort, die arabische Schrift des Korans zu lesen, und kann diese schwierige Schrift schon ausgesprochen gut. Die Sprache Arabisch kann er noch nicht, aber allein die Worte lesen zu können, ist schon ein Anfang. Bald wird er mit Lesen den ganzen Koran durchgegangen sein, dann gibt es ein kleines Fest. Kazim kennt nur wenige Geschichten aus dem Koran; der Koran ist ja auch kein Geschich-tenbuch, es ist ein Buch der großen und kleinen Gottesreden. Ihm entspricht das Rezitieren des Gotteswortes im ureigenen arabischen Wortlaut. Und deshalb lernt Kazim, in fremder Sprache Gottes Wort zu rezitieren. Sein liebstes Wort ist Bismilla: „Im Namen Gottes, des Barmherzigen“, so beginnt jede Sure des Koran. Kazim weiß, was man als gläubiger Muslim tun und was man lassen sollte. Das rituelle muslimische Gebet hat Kazim mehr von den Großeltern gelernt als von den El-tern. Er kann schon alle Bewegungen und die nötigen Koranverse. Die Großmutter hat es ihm Stück für Stück beigebracht. Sein Vater meinte zum Gebet: „Ganz regelmäßig habe ich nicht immer gebetet, beim Schicht-betrieb ist das auch schwierig; ich müsste eigentlich noch eine Menge nachholen.“ Seine Mut-ter hält guten Kontakt zur Moschee. In der Kirche fragte Kazim zuerst: „Wer ist denn der da vorn?“ „Isa,“ sagte sein Vater, „den die Christen ‚Jesus’ nennen.“ → Leas Eltern sind in der DDR auf-gewachsen, in der Nähe des Harzes. Lea hat eine ältere Schwester, die schon mit ihrem Freund zusammenge-zogen ist und nicht mehr zu Hause wohnt. Die jüngere Schwester besucht die erste Klasse. Leas Vater arbeitet in der großen Fab-rik der Stadt, Leas Mutter hilft in ei-nem Hotel am Empfang aus. Sie ist sehr engagiert in der kirchlichen Ar-beit im Kindergottesdienst, bei Famili-engottesdiensten und darüber hinaus. Leas Vater ist nie Mitglied der Kirche gewesen, kommt aber ab und zu mit. Die Familie wohnt in der Mietwohnung in einem großen Haus. Die Wohnung hat zwei Etagen und Lea ist ganz stolz, dass sie vor kurzem in die zweite Etage umziehen konnte, als ihre Schwester ausgezogen ist. Jetzt hat sie oben ihr eigenes Reich. Lea geht regelmäßig in den Kindergottesdienst ihrer Gemeinde. Er findet immer am Freitag-nachmittag statt. Auch zu Hause liest Lea gern in der Kinderbibel. Sie kann gut die Hälfte der

Bild von Leas Familie

Foto 0.4

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Geschichten nacherzählen. Auch die Geschichten aus diesem Heft – von Mose am Dornbusch und von Samuel – kannte sie schon. Ob sie eine Lieblingsgeschichte in der Bibel hat, kann sie schwer sagen; es gibt einfach zu viele davon, die ihr gefallen. Die Mutter hat immer sehr viel Wert auf die christliche Erziehung gelegt. Sie hat Lea beige-bracht, abends zu beten. Im Augenblick tut Lea das nicht besonders regelmäßig. Regelmäßig wird von der ganzen Familie vor dem Mittagessen gebetet. Lea singt in ihrer Freizeit in einem Kinderchor. Ihr Lieblingslied ist „Herr, deine Liebe…“ In der Moschee hat ihr die Gebetsnische spontan gefallen. Es geht um Erfahrungen mit Gott In diesem Band wird das theologische Thema „rufen und geru-fen sein“ behandelt. Beginnend bei den äußeren Phänomenen des muslimischen Gebetsrufs und dem christlichen Glockenläu-ten im ersten Kapitel, beschäftigt sich das zweite Kapitel mit der Erfahrung, dass prophetische Menschen eine „Ansprache Gottes“ in außergewöhnlicher Weise erfahren haben. Sie hörten oder sahen etwas von einem Gottesboten und erhielten einen Auftrag. Dieses Angesprochensein durch Gott ist im christlichen wie muslimischen Glauben jedoch nicht auf einzelne große Religionsgestalten beschränkt. Im dritten Kapitel geht es darum, dass Christen wie Muslime sich von Gott angesprochen wissen können und je auf ihre Weise „Gott antworten“ und zu ihm sprechen. Aufgetragen ist beiden bei allen Unterschieden zwischen ihren Religionen ein Leben des Friedens und der Liebe in Gott; diesem kann bei allen Unterschieden gemeinsam in einer be-sinnlichen Andacht und in einem fröhlichen Fest Gestalt gegeben werden; davon handelt das vierte und letzte Kapitel. Lehren und Lernen Gelernt werden kann im Zusammenhang mit anderen Religionen auf einer Vielzahl von Ebe-nen – angefangen beim Schlichtesten, dem Wahrnehmen des anderen und den neuen Voka-beln. Die Schülerinnen und Schüler können

- auf der Ebene der Sinne: genau hinhören auf etwas Fremdes; Fremdes riechen, fühlen, schmecken und ansehen;

- zur aufmerksamen Wahrnehmung von Unbekanntem heranziehen; - auf der Ebene des Wortschatzes: sachgemäß verstehen und verwenden: „Mus-

lim/Muslima“, „Minarett“, „Moschee“, „Islam“, „Azzan/Ezan“, „Offenbarung“ u.a.; - auf der Ebene der (Kinder-)Theologie: islamische und christliche Geschichten inhalt-

lich wiedergeben, in denen Gott Menschen gerufen hat, und die Vorstellung kennen und werten, dass Gott jeden Menschen ruft;

- auf der Ebene des Sozialverhaltens: Andersartigkeit unter Menschen zunächst respekt-voll hinnehmen, z.B. einen fremden Laut genau anhören und, auch wenn er als „lus-tig“ empfunden wird, um der anderen willen das Lachen zurückhalten.

Bild vom Koran

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- auf der Ebene des Dialogs: die Unterschiede und Grenzen zum Fremden achten und doch mit eigenen Erfahrungen ins Gespräch mit dem anderen treten.

- auf der Ebene der Persönlichkeitsbildung: den Fragen und Anstößen des religiösen Materials eine eigene gestaltete Antwort geben in leiblicher, bildnerischer, lautmaleri-scher, musikalischer oder anderer Form.

Was wir vorbereiten und beachten

→ Laden Sie muslimische Kinder der Klasse nach Absprache mit den Eltern für diese Einheit in Ihren Religionsunterricht ein. → Unterlegen Sie zwei deutlich voneinander unterschiedene Wandbereiche

• mit grünem Papier (Grün ist traditionell die Farbe Mohammeds und der Muslime) – für Ergebnisse, Bilder oder Gegenstände im Zusammenhang mit dem Islam;

• mit lilafarbenem Papier (Violett ist traditionell die Farbe der ev. Kirche) – für Ergeb-

nisse, Bilder oder Gegenstände im Zusammenhang mit dem Christentum. Sie können einen gezackten, reißverschlussartigen Mittelbereich für Überschneidungen vor-sehen, der allerdings nicht leichtfertig mit allzu viel Material gefüllt werden sollte; Grenzen sind wahrzunehmen und zu wahren. Zur Unterstützung kann auf die eine Seite ein Bild von Kazim und auf die andere Seite ein Bild von Lea gehängt werden.

→ Bringen Sie eine große Wortschatz-Tabelle an der Wand an (und geben Sie den Kindern eine kleine Tabelle für die Mappen; M1). Sie kann, Stück für Stück ergänzt, wichtiges Wort-material aus dem Unterricht aufnehmen:

A) Kazim ist __________, seine Schwester [Platz für ein Bild] ist ____________.

B) Lea ist ______________, [Platz für ein Bild] Ihr Vater ist ______________ .

C) Kazim geht in die _____________ . [Platz für ein Bild]

D) Lea geht in die ______________ [Platz für ein Bild]

E) Der ____________ ruft Muslime auf zum Gebet.

F) Die _____________ rufen zum christlichen Gottesdienst.

Usw. (s. M1) Usw. (s. M1)

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→ Benutzen Sie das Wort „Allah“ lieber nicht als muslimischen Eigennamen für Gott, selbst wenn Muslime es so gebrauchen. „Allah“ wird auch von arabischen Christinnen und Christen als Wort für Gott verwendet, ebenso in der neueren Religion der Bahai. Es kann in der heuti-gen Verwendung einfach als „Gott“ übersetzt werden und sollte entsprechend vermittelt wer-den (grammatisch korrekt auch: „der Gott“). Ich gebrauche im deutschen Text durchgehend das deutsche Wort. Die Übersetzung des Wortes „Gott“ ins Arabische mit „Allah“ führen wir als einen unter vielen Punkten in der Wortschatztabelle ein.

→ Auch muslimische Schüler stammen nicht unbedingt aus besonders gläubigen Familien! Selbst wo es so ist, wissen sie mit ihren neun, zehn oder auch elf Jahren längst nicht alle Hin-tergründe. Andererseits kann es sein, dass sie zu den Geschichten und Ritualen Variationen kennen, die hier nicht aufgeführt werden. Es lohnt sich nachzufragen, offen zu bleiben, in Betracht zu ziehen, dass Schüler mehr wissen – aber auch durchaus einmal nichts.

→ Bei den Sachinformationen und den Geschichten über eine andere Religion kann man leicht das aus den Augen verlieren, womit die Schülerinnen und Schüler in ihrem eigenen Inneren „umgehen“ oder auch „schwanger gehen“ können, das, wofür sich der Dialog persön-lich lohnt, nämlich von anderen für sich selbst zu lernen und mit dieser „Aufgabe“, die das Fremde für mich mit sich bringt, gestaltend umzugehen. Wir haben daher für jedes Großkapi-tel neben einer Zielperspektive auf der Ebene „religionskundlicher Kompetenz“ einen „exi-stenziellen Herzschlag“ der entsprechenden Sequenzen formuliert. Letzterer macht die innere Seite des Lernens aus. Wenn Sie diesen vorgeschlagenen oder einen anderen selbst gewählten „Herzschlag“ im Gespür behalten, kann aus der bloßen Information über eine andere Religion der Beginn eines Religionsdialogs im Klassenzimmer werden. 4 Meine Religion – deine Religion

Was Sache ist „Identität und Verständigung“ sind die beiden Eckpfeiler, zwischen denen interreligiöse Dia-loge sich abspielen. In den vorausgegangenen Unterrichtsvorschlägen haben sich die Kinder (stellvertretend Lea und Kazim) ihre Glaubenstraditionen und -bezüge vorgestellt. Unter-schiedliches und Gemeinsames sind dabei ganz selbstverständlich entdeckt und benannt wor-den. Und das ist gut so. Dennoch ist die Frage irgendwann „dran“, was aus den erkannten Gemeinsamkeiten und Unterschieden folgt: Was gehört unaufgebbar zu christlicher bzw. muslimischer Glaubensidentität, welche Grenzüberschreitungen sind im Interesse der Ver-ständigung möglich und sinnvoll? → Was unterscheidet uns? Die christliche und die islamische Tradition haben viele Gemeinsamkeiten. Beide sind mono-theistisch und haben beide ein Buch im Zentrum ihres Glaubens, den Koran und die Bibel. Beide leiten sich aus der jüdischen Tradition und der Tradition Jesu her und kennen viele ge-meinsame Gestalten, von denen hier nur die wichtigsten genannt werden können. Es beginnt bei Adam, Noah (Nūh) und Abraham (Ibrāhīm), geht über Jakob (Ya’qūb), Josef (Yūsuf) und Mose (Mūsā) bis hin zu Johannes dem Täufer (Yahyā), Jesus (�Îsâ) und Maria (Maryam). Sie

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alle sind bei Muslimen hoch geehrt und werden als Propheten verstanden. Im Detail können sich die Geschichten zu diesen Personen allerdings deutlich unterscheiden. Gemeinsam betonen Christen und Muslime auch die Barmherzigkeit Gottes. Die Muslime berufen sich auf sie vor jeder Lesung einer Sure: „Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen …“. Unterschiedlich sind die beiden jeweils wichtigsten Elemente des Glaubens: Koran und Jesus Christus. Die Person Jesu Christi trennt beide Seiten, auch wenn die Muslime Jesus ehren. Aus Sicht der Muslime ist er jedoch nicht Gottes Sohn; die Mehrheit der Muslime meint, er ist auch nicht am Kreuz gestorben; praktisch alle Muslime halten fest, dass seine Todesart nicht ge-klärt ist; von seiner Auferstehung nach drei Tagen ist den Muslimen nichts bekannt. Aus Sicht der Muslime ist er ein Prophet, der viele Wunder vollbringen konnte. Er habe schon für seine Zeit ausgesprochen, was Mohammed später verkündet hat. Christinnen und Christen sagen demgegenüber: In Jesus Christus hat Gott in dieser Welt als Mensch gehandelt. Wie das genau vorzustellen ist, ist ein Geheimnis; der Ausdruck für dieses Geheimnis ist: Jesus Christus ist „Gottes Sohn“. Gott ist in seinem Sohn für die Menschen an das Kreuz und in den Tod gegangen; das heißt: Gott erlebt bewusst den Tiefpunkt des Menschseins, Tod, Leid und Schuldsprechung. Seitdem können alle wissen, dass Gott auch in Tod, Leid und Schuld an der Seite der Menschen ist, dass er dieses Schicksal kennt. Seine Auferstehung zeigt, dass Gottes Kraft stärker ist als alles andere. Gott überwindet für die Menschen Tod, Leid und Schuld, damit sie einmal ganz mit ihm vereint sein können. Der Koran ist der zweite Unterscheidungspunkt. Er hat für Christinnen und Christen keine besondere Bedeutung. Sie glauben nicht, dass hier vom Anfang bis zum Ende das Wort Got-tes zu lesen ist. Ob an wichtigen Stellen Gottes Wort oder Gottes Geist zu hören ist, lassen viele offen. Der Koran ist für Muslime, wie oben ausgeführt, Buchstabe für Buchstabe Wortlaut Gottes, das durch den Engel Gabriel an Mohammed erging. → Können wir zusammen beten? Manchmal sagt man die gleichen Worte und meint doch Verschiedenes, eine scheinbare Übereinstimmung entsteht, hinter der sich doch recht unterschiedliche Ideen verbergen. Christinnen und Christen feiern ihre Gottesdienste im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, Muslime empfinden diese dreiteilige Bezeichnung Gottes als anstö-ßige Aufteilung des unteilbaren Gottes. Muslime feiern ihre Gottesdienste im Rückgriff auf die „unverfälschte Offenbarung des Wortes Gottes im Koran“, Christen finden darin keine besondere Offenbarungsbotschaft für ihr Glauben. Im Respekt vor dem eigenen Bedeutungsgehalt des Wortes „Gott“ für Muslime und dem an-deren Bedeutungsgehalt desselben Wortes „Gott“ für Christen sollte man sehr vorsichtig bei gemeinsamen Gebetsveranstaltungen zu sein.

• Gebetsformulierungen können andere ungewollt vereinnahmen. • Das Formulieren von angemessenen Gebeten kann dazu führen, dass man sich ver-

pflichtet fühlt, Unterscheidendes oder für andere eventuell Anstößiges zu unterdrü-cken. Das wäre eine falsch verstandene Toleranz.

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Sinnvoll ist ein Weg, wie ihn die EKD unter der Bezeichnung „multireligiöses“ Beten vor-schlägt.35 In einem gemeinsamen äußeren Rahmen können Muslime ihre Gebete sprechen, während die Christen zuhören und die Worte der Muslime bedenken, dann sprechen die Christen Gebete, die Muslime hören zu und bedenken deren Worte. Eventuell sprechen noch weitere, die an keine Gottheit glauben, ihre Wünsche auf ihre Weise aus. Der äußere Rahmen sollte so schlicht wie möglich sein; und wir sollten nicht beginnen, diese Gebete wiederum zu interpretieren, auch hier droht oft eine Vereinnahmung. Diese Vorüberlegungen sollen niemanden verunsichern, sondern den respektvollen Blick schärfen und gerade Mut machen, wenn es die Situation in der Schule oder der Klasse erlaubt, auch gemeinsam eine kleine andächtige Runde von Christinnen, Christen, Muslimen und möglicherweise Nicht-(so-)glaubenden zu wagen.

→ „Lasst uns zusammen feiern“

Ein Fest hebt heraus aus dem Alltag, es hat seine eigenen Regeln der Freude und ermöglicht neue Beziehungen zwischen den Menschen. Es ist interpretationsoffen. Wer mag, kann in einem Fest mit Christen und Muslimen Jesu Geist am Werke sehen, der immer wieder und gern mit verschiedenen Menschen gefeiert und gegessen hat, der von Gottes Fest mit den Menschen erzählt hat und dessen Gegner ihn für seine Freude am feiernden Essen und Trin-ken kritisiert haben (Mt 11,19; Lk 7,34). Muslime mögen hier Gastfreundschaft als wichtiges mitmenschliches Gebot Gottes sehen. Ein Fest ermöglicht Gespräche jenseits eines schulischen Rahmens und jenseits eines festen Strukturrahmens. Neue Kräfte werden freigesetzt, neue Beziehungen werden möglich und neues Verstehen wird angebahnt. Im Schmecken wird Andersartigkeit noch einmal neu wahrgenommen und verbin-det doch zugleich. Was die Schülerinnen und Schüler davon haben Religionswissenschaftliche Kompetenz: Die Schülerinnen können wichtige Unterschiede zwi-schen christlichem und muslimischem Glauben benennen und Möglichkeiten gemeinsamer Wege entwickeln. Existenzieller Herzschlag: Im Wissen um die Unterschiede zwischen den Religionen probie-ren Schülerinnen und Schüler mit Herzen, Mund und Händen aus, wie sie spirituelle und ge-sellige Gemeinschaft praktizieren wollen, und erfahren dabei, was ihnen selbst die Form der Gemeinschaft bedeutet.

35 Vgl. einschlägige EKD-Veröffentlichungen; aktuelle Liste unter www.kirche-islam.de. Vgl. auch H. Chr.

Goßmann (2003), „Interreligiöses Gebet“, PrTh 38/2, S. 123–127.

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Was unterscheidet uns? Was wir brauchen Foto V 8.4, Arbeitsblatt M34 Wie wir vorgehen gWenn es räumlich möglich ist, setzen sich die Kinder heute vor die grün-violette Wand, an der Ergebnisse, Bilder und die Wortschatztabelle hängen. gSammeln Sie mit den Kindern die Unterschiede zwischen den beiden religiösen Traditio-nen. „Vielleicht sind auch noch Fragen offen geblieben?“; „Fällt euch etwas ein, was an der Wand noch fehlt?“ gNennen Sie deutlich den Schwerpunkt der Stunde. „Ich habe euch heute etwas mitgebracht, was beide Religionen sehr unterscheidet.“ (V8.4.) Evtl. ist das Foto im Zusammenhang „Kirchenbesuch“ schon kommentiert worden; dann ist hier eine inhaltliche Überleitung nötig. Es schließt sich folgende Erzählung an, die die Kinder auf M34 mitlesen können: Lea und Kazim sind in der Kirche und Lea zeigt Kazim etwas, was bei ihr ganz anders ist als bei ihm. Lea: „Guck mal, das ist Jesus.“ Kazim: „Stirbt der gerade?“ Lea: „Ja, seine Feinde haben dafür gesorgt, dass er an ein Kreuz genagelt wurde, um ihn zu töten. Eigentlich wollte er Gutes für die Menschen tun, aber seine Feinde haben es nicht verstanden. Das ist traurig, doch wir wissen, dass die Geschichte damit nicht aus ist. Nach drei Tagen ist er auferstanden. Gott hat ihn auferweckt vom Tod. Die ersten Christinnen und Christen haben begriffen: Als Jesus am Kreuz gelitten hat, hat Gott selbst dort gelitten. Als Jesus gestorben ist, ist Gott selbst dem Tod begegnet. Gott hat ihn auferweckt, damit alle wissen, dass Gott ganz mit Jesus verbunden war. Kazim sagt: „Ich glaube nicht, dass Gott leiden und den Tod an sich selbst spüren kann.“ Lea: „So ein Kreuz habe ich bei euch auch nirgends gesehen.“ Kazim: „Wir haben keine Kreuze. Ich kenne den Mann auch: Isa heißt er bei uns, das ist arabisch und heißt Jesus. Er ist ein Prophet, aber er ist, glaube ich, gar nicht am Kreuz gestorben. Gott hat ihm vorher geholfen, so dass ein anderer gekreuzigt wurde.“

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Lea: „Wir sind überzeugt: Jesus wurde gekreuzigt und Gott erlebte mit ihm den Tod und hat ihn dann auferweckt.“ Kazim: „Dafür habe ich bei euch nirgends einen Koran gesehen. Da steht doch Gottes Wort drin. Warum ist er bei euch nicht in der Kirche?“ Lea: „Der Koran ist für uns nicht wichtig. Keine Ahnung, ob da Gottes Wort drin steht. Wir hören durch Jesus Christus von Gott.“ Kazim: „Eine ganze Menge Unterschiede sind das zwischen uns.“ Lea: „So bleibt wenigstens genug, worüber wir uns unterhalten können.“ gIm Nachgespräch sollten Koran und Jesus Christus als wichtigste religiöse Elemente der jeweiligen Religion deutlich werden, durch die sich beide auch deutlich unterscheiden. Gehen Sie (wieder) darauf ein, dass der Koran für Muslime wörtlich „Gottesrede“ ist, die Bibel demgegenüber für Christen eine Sammlung von Erfahrungen mit Gott. Sicherung Neu in der Wortschatztabelle:

Q) Muslime glauben: Gott hat seinen Willen in besonderer Weise mit Worten deutlich

gemacht, Wort, die jetzt in einem Buch ste-hen, dem ___________.

R) Christen und Christinnen glauben: Gott hat seinen Willen in besonderer Weise mit dem Le-ben einer Person deutlich gemacht, dem Leben

von ______________.

r „Fallen euch noch weitere Unterschiede zwischen Kazims und Leas Religion ein?“ g Erarbeiten Sie mit der Klasse „Wichtigkeitsbilder“. Das geht so: „Faltet ein Blatt und malt auf eine Seite einen Koran, auf die andere Seite Jesus Christus und ein Kreuz.“ Dazu wird noch einmal besprochen: Der Koran ist das Wichtigste in Kazims Religion. Jesus Christus und das Kreuz sind das Wichtigste in Leas Religion. Diese beiden sind die grundlegenden Unterschiede. r „Male hinten auf die „Koran-Seite“ etwas, das dich an Kazims Religion besonders ange-sprochen hat, hinten auf die „Kreuzseite“ malst du, was dir an Leas Religion gefällt. Die violette und die grüne Seite unseres Aushangs helfen dir beim Erinnern.

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Literaturempfehlungen Literaturempfehlungen Literaturempfehlungen Literaturempfehlungen Zum Nachschlagen

Adam, Lachmann, Ritter, Elementare Schlüsselbegriffe (TLL1), Göttingen 2002 (2. Auflage)

Adam, Lachmann, Reents, Elementare Bibeltexte (TLL2), Göttingen 2006 (3. Auflage)

Bitter, Englert, Miller, Nipkow, Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, München 2002

Klassiker

Baldermann, Ingo, Wer hört mein Weinen?, Neukirchen 2008 (9. Auflage)

Berg, Horst Klaus, Ein Wort wie Feuer. Wege lebendiger Bibelauslegung, München 1991

Berg, Horst Klaus, Grundriss der Bibeldidaktik. Konzepte, Modelle, Methoden, München 1993

Oberthür, Rainer, Kinder und die großen Fragen, München 1995

Oberthür, Kinder fragen nach Leid und Gott, München 1998

Schweitzer, Friedrich, Das Recht des Kindes auf Religion, Gütersloh 2005 (2. Auflage)

Schweitzer, Fdr. / Nipkow, K.E., Faust-Siehl, G. / Krupka, B., Religionsunterricht und Entwicklungspsychologie.

Elementarisierung in der Praxis, Güterloh 1997 (2. Auflage)

Materialien (Beispiele)

„Wer bist du, Gott?“. Eine Unterrichtseinheit zur Gottesfrage für die Klassen 3–6. Erarbeitet von Petra Freuden-

berger-Lötz. Stuttgart 2001

Schulz, Petra / Stockmann, Luise, Jesus. Stationen für Kinder. Kopiervorlagen für die Grundschule, Göttingen

2008

Spuren lesen. Religionsbuch für das 1./2. Schuljahr, hg. von Freudenberger-Lötz, P., Diesterweg und Calwer

Kinder fragen nach dem Leben. Religionsbuch für das 1. Und 2. Schuljahr, Cornelsen

Buck, E., Bewegter Religionsunterricht, Göttingen 2010 (5. Auflage)

Macht,. S., Wie ein Fenster zu Gott. Gleichnisse sehen lernen, Göttingen 2009

Religion, Empirie, Religiöse Sozialisation

Schweitzer, Friedrich, Lebensgeschichte und Religion, Gütersloh 2010 (7. Auflage)