WDR 3 Kulturfeature · Als Tarkowski 1983 nach Italien geht, um „Nostalghia“ zu drehen, ist...

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© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. WDR 3 Kulturfeature Im Spiegel der Nostalgie. Die russischen Jünger des Andrej Tarkowski O-Ton Tarkowski übergehend in Musik für „Andrej RubljowSprecher Tarkowski: (Drehbuch „Andrej Rubljow“) 8. September 1380. Kulikowo-Schlachtfeld. Reiter prallen aufeinander, Krummsäbel blitzen, Kampffahnen fallen nieder, getroffen von Tatarenpfeilen. Zügel, Hände, Blut, rasierte Köpfe, durchbohrt von Pfeilen, rote Schilde, von Äxten zerschlagen, ein Pferd mit zerfetztem BauchStaub, Geschrei. Tod. Sound O-Ton/ Sprecherin Marina: Es gab einen Termin mit dem Chef der Propaganda-Abteilung. Andrej war so verunsichert, dass man ihn fast mit Gewalt in den Raum schieben musste. Autor: Marina Tarkowskaja, die Schwester O-Ton/ Sprecherin Marina: Der Parteibonze fragte freundlich, wie lange es dauern würde, das Drehbuch zu schreiben und den Film zu drehen? Andrej antwortete, mindestens zwei Jahre. Gut, meinetwegen, in zwei Jahren bin ich sowieso in Rente. Sound O-Ton /Sprecherin Alla Demidowa: Als er begann, "Andrej Rubljow” zu drehen, kannten wir uns schon.

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© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben

(z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.

WDR 3 Kulturfeature

Im Spiegel der Nostalgie. Die russischen Jünger des Andrej Tarkowski

O-Ton Tarkowski – übergehend in Musik für „Andrej Rubljow“

Sprecher Tarkowski: (Drehbuch „Andrej Rubljow“)

8. September 1380. Kulikowo-Schlachtfeld. Reiter prallen aufeinander, Krummsäbel

blitzen, Kampffahnen fallen nieder, getroffen von Tatarenpfeilen.

Zügel, Hände, Blut, rasierte Köpfe, durchbohrt von Pfeilen, rote Schilde, von Äxten

zerschlagen, ein Pferd mit zerfetztem Bauch… Staub, Geschrei. Tod.

Sound

O-Ton/ Sprecherin Marina:

Es gab einen Termin mit dem Chef der Propaganda-Abteilung. Andrej war so

verunsichert, dass man ihn fast mit Gewalt in den Raum schieben musste.

Autor:

Marina Tarkowskaja, die Schwester

O-Ton/ Sprecherin Marina:

Der Parteibonze fragte freundlich, wie lange es dauern würde, das Drehbuch zu

schreiben und den Film zu drehen? Andrej antwortete, mindestens zwei Jahre.

Gut, meinetwegen, in zwei Jahren bin ich sowieso in Rente.

Sound

O-Ton /Sprecherin Alla Demidowa:

Als er begann, "Andrej Rubljow” zu drehen, kannten wir uns schon.

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Autor:

Alla Demidowa, Schauspielerin

O-Ton /Sprecherin Alla Demidowa:

Er hatte mir die Rolle des schwachsinnigen Mädchens angeboten. Ich lehnte ab, weil

ich in einer Episode urinieren sollte. Na, sowas! Nie im Leben! Keiner ahnte, dass es

ein genialer Film werden würde.

Sound

O-Ton/ Sprecherin Olga:

Bei der Moskauer Premiere im Februar 1967 war der Saal voll. Der Film wurde sehr

kalt aufgenommen. Einer rief laut: Das ist keine Kunst, das ist Sadismus!

Autor:

Olga Surkowa, Tarkowskis Ko-Autorin

O-Ton/ Sprecherin Olga:

Als der Abspann lief, stand Tarkowski allein da, blass. Nur meine Mutter grüßte ihn.

Der "kollegiale, progressive" Teil der Öffentlichkeit lehnte den Film als slawophil ab, die

Parteiobrigkeit fand ihn dagegen antirussisch. Fast wie heute. Zur selben Zeit hatte

man das Werk versehentlich in den Westen verkauft.

Auf diese Weise geriet „Andrej Rubljow“ 1969 nach Cannes und bekam den

FIPRESCI-Preis.

Musik/Soundscape Rubljow

Sprecher Tarkowski: (Drehbuch Rubljow)

Der Russe erhebt sich mit letzter Kraft, im schleimig-kalten Blut findet er ein Schwert –

und sinkt zu Boden.

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O-Ton Sprecherin Marianna:

Die Schlacht wurde nicht gedreht, obwohl sie im Drehbuch von „Andrej Rubljow“ stand.

Zu teuer.

Autor:

Marianna Tschugunowa, Tarkowskis Rechte Hand

O-Ton/ Sprecherin Marianna:

Auch der Film “Der Spiegel” sollte mit dieser Szene anfangen.

Sprecher Tarkowski: (Drehbuch Rubljow)

In der Brust des Tataren steckt ein Pfeil. Sein Pferd hat ihn aus Schlacht

herausgetragen. Jetzt wirft ihn die schwarze Stute ab, im wilden Ritt, der Sonne

entgegen.

Musik

Ansage:

Im Spiegel der Nostalgie.

Die russischen Jünger des Andrej Tarkowski .

Feature von Mario Bandi

Autor:

Andrej Arsejniewitsch Tarkowski, 1932 bis 1986.

Im Westen der vielleicht berühmteste russische Regisseur seit Eisenstein.

Und: Marina, Marianna, Alla, Olga

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O-Ton/ Sprecher Schmyrow

Das sind alles tolle Leute, aber man muss sie miteinander versöhnen.

Autor:

Und Wjatscheslaw Schmyrow, Cineast

O-Ton/ Sprecher Schmyrow:

Weil Marina lange Zeit Irma Rausch nicht mochte, ist sie auf mich sauer, weil ich zu

Irma Kontakt aufgebaut habe.

Atmo: Telefongespräch mit Irma Rausch (unverständlich)

Autor:

Irma Rausch, Tarkowskis erste Ehefrau. Die Mutter in Tarkowskis erstem Film, dem

Welterfolg „Iwans Kindheit“. Die Schwachsinnige in „Andrej Rubljow“ - die Rolle, die

Alla nicht spielen wollte. Irma gibt kein Interview. Nie.

Telefon Abbruch / Sound Amsterdam

Sprecher Autor:

Amsterdam. Ein Intellektuellen-Wohnzimmer. Bücher, Bilder. Vor dem Fenster: Grün.

Eine jugendliche Mittsechzigerin, klein, kräftig, resolut, rotgefärbtes Kurzhaar, packt

Fotos und Bücher auf den Tisch.

O-Ton/ Sprecherin Olga:

Also, selbstverständlich habe ich alle Papiere von meiner Arbeit mit Andrej

Tarkowski gesammelt.

Autor:

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Die Filmwissenschaftlerin Olga Surkowa lernt Tarkowski 1965 kennen.

Als Studentin der Moskauer Filmhochschule hospitiert sie bei den Dreharbeiten zu

„Andrej Rubljow“. Bis in die 1980er Jahre nimmt Tarkowski den wichtigsten Platz in

ihrem Leben ein.

O-Ton/ Sprecherin Olga:

Das fing am 22. November 1973 an, als Andrej mir anbot, gemeinsam ein Buch zu

schreiben. Damals hatte ich kein Tonbandgerät, so sind große Notizbücher entstanden

mit handschriftlichen Aufzeichnungen unserer Gespräche. Die sind Bestandteil des

Archivs.

Dann fand in London diese Auktion statt. Mein Sohn sagt mir, Mama, du kannst alles

im Internet verfolgen.

Ich setze mich in mein Arbeitszimmer und sehe, mein Archiv ist gerade dran.

Ich denke, was soll das, 60.000 Dollar, ich krieg keine saure Gurke dafür. Und dann

…höre ich diese Zahlen: 250 Tausend, 400 Tausend. …

Autor:

Als Tarkowski 1983 nach Italien geht, um „Nostalghia“ zu drehen, ist Olga die einzige,

die ihn dabei begleiten kann. Denn sie hat kurz zuvor einen Holländer geheiratet und

ist offiziell nach Amsterdam gezogen. Dorthin gelangt auch, allerdings inoffiziell: Ihr

Archiv.

O-Ton/ Sprecherin Olga:

...600 Tausend, eine Million! Eine Million Einhunderttausend, eine Million

Zweihunderttausend… Eine Million Sechshunderttausend und dann der

Hammerschlag. Verkauft! Was habe ich da gefühlt? Nichts! Ich habe mich

halbtotgelacht.

Autor:

Fotos, Briefe, Notizen. Dazu 32 Audio-Kassetten.

Jahrelang hatte Olga versucht, ihre Tarkowski-Archivalien nach Moskau zu verkaufen –

mit 6000 Dollar wäre sie zufrieden gewesen. Aber ihre Landsleute wollten nicht.

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Erstens pflegt die Kulturbürokratie ein nachhaltiges Desinteresse an Tarkowski. Und

zweitens: man schmeißt einer Abtrünnigen keine Devisen in den Rachen!

Und nun, am 28.November 2012, zahlt ein ungenannter Russe bei Sotheby´s in

London 1 Million 497 Tausend britische Pfund für Olgas Schätze. Die landen im

Tarkowski-Museum in der Kleinstadt Jurjewetz an der Wolga.

Dazu gehört ein Notizbuch: Tarkowskis Erinnerungen an seine Kindheit und Skizzen

für den Film „Der Spiegel“:

Sprecher Tarkowski (Notizbuch):

Dieser Film wird keinerlei Bezug zur gewöhnlichen Kinematographie haben, keine

Geschichte. Die Reihenfolge der Ereignisse ist ohne Bedeutung. Der Sinn entsteht in

der Gegenüberstellung von Episoden aus der Vergangenheit und der Reflexion des

Autors darüber. Dieser Film wird einem Traum ähneln, in dem sich der Mensch sehr alt

fühlt und begreift, dass sein Leben zu Ende geht...

Soundscape

Autor

Sawraschje, das zentralrussische Dorf, in dem Tarkowski 1932 geboren wurde, ist in

den Fluten eines Wolga-Stausees versunken. Auf dem Wasser schwimmt ein Floß mit

einem Kreuz, es markiert die Stelle, an der die Dorfkirche stand.

Das sieht man von einem anderen Kirchturm aus: Vom dem der Stadt Jurjewjetz am

Ufer des Sees.

Sprecher Tarkowski(Notizbuch):

So muss ich einen Film über meine Kindheit, entstehen lassen. Jetzt, wo ich begriffen

habe, was ich liebte und warum. Ich kann nur lernen, glücklich zu sein, wenn ich mich

erinnere...

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Kindheit….die Sonne in den Baumkronen …die Mutter geht über die Wiese …. wie auf

frischem Schnee hinterlässt sie auf dem Morgentau dunkle tiefe Spuren...

O-Ton/ Sprecherin Marina:

Wir liefen barfuß, ich fühle sie immer noch, diese sumpfigen Erde am Fluss, du gehst

und sie federt unter den Füßen...

Autor:

Andrej und seine Schwester Marina wachsen in Moskau auf.

1941 flieht ihre Mutter, Maria Wischnjakowa, mit den Kindern aus der von den

Deutschen belagerten Hauptstadt zu Verwandten nach Jurjewjetz. Der Vater, der

Dichter Arsenij Tarkowski, hat die Familie 1935 verlassen. Jetzt ist er im Krieg.

Sprecher Tarkowski(Notizbuch):

1941 war ich neun. Wir waren verbunden durch den Krieg, durch Erwartung, Hoffnung,

Glauben und Hunger. Durch die kleinen dreieckigen Briefe unserer Väter von der

Front. Und das seltene Wiedersehen mit ihnen.

O-Ton Sprecherin Marina:

Die Mutter hat uns beigebracht, das einfache Leben und die Natur zu schätzen. Ja, wir

sind noch sehr klein: Seht, sagt sie, wie schön hier das Moos blüht. … wie schön ist

das Gesicht einer einfachen Bäuerin.

Szene aus dem Film Der Spiegel

Sprecher Tarkowski(Notizbuch):

Da war kein Wald, nur dünne Bäumchen um eine Datscha…Hinter dem Grundstück

sammelten wir Morcheln.

In einem Wassergraben entdeckte ich eine Münze zwischen braunen Blättern. Ich

beugte mich vor … meine Schwester sprang plötzlich schreiend aus dem Gebüsch. Ich

war wütend, wollte sie schlagen …. in dem Moment hörte ich diese unverwechselbare

Stimme: - Marina!

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Stimme des Vaters aus dem Film

Sprecher Tarkowski(Notizbuch):

Augenblicklich rannten wir beide nach Hause. Ich fühlte, meine Brust zerreißt, ich

stolperte und stürzte fast, meine Augen standen voller Tränen.

Atmo Eröffnung der Filmfestspiele

Autor

Juni 2016. Ein Kurort an der Wolga. Restaurierte Kirchen, kleine Hotels, eine

Promenade. Die Lewitan-Konferenzhalle, davor Gedränge. Eröffnung der

Filmfestspiele. Ein junger Mann steht auffällig im Bild. Das dunkle Haar ins schmale

Gesicht gekämmt, ein dünner Oberlippenbart...

O-Ton/ Sprecher junger Mann

Nein, ich bin nicht mit Andrej Arsenjewitsch verwandt.

Autor

ein Wiedergänger des jungen Andrej Tarkowski

O-Ton/ Sprecher junger Mann

Ja, meinen Schnurrbart habe ich extra wachsen lassen, abrasiert und wieder wachsen

lassen. Doch so ähnlich bin ich ihm nicht mehr, obwohl ich oft gefragt werde, wieso ich

Tarkowski so ähnlich sähe. ... Sergei ist mein Name, ich arbeite in der Uni-Bibliothek

von Iwanowo und bin ein Stammgast bei den Festspielen. Seine Filme, „Nostalghia“,

zum Beispiel, habe ich in den 90ern schon gesehen…. und ich denke, den Nachlass

meines großen Landsmannes sollten wir zurück ins Land holen!

Atmo Eröffnung der Filmfestspiele

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Autor

Im Mittelpunkt: eine große, schmale alte Frau, schwarz gekleidet, das Haar im Nacken

geknotet. Sie hält sich sehr gerade.

O-Ton/ Sprecherin Marina:

Den Film “ Der Spiegel” hat Andrej dort gedreht, wo wir in den Jahren 1935/36

wohnten. Im Drehbuch heißt es “das Haus meines Großvaters”, es ist aber einfach das

Haus eines Bauern, der im Film selber mitspielt. Er schreit “Dunja Dunja”...

Atmo aus dem Film Der Spiegel

...wenn das Feuer sich ausbreitet. Das ist Onkel Pascha Gortschakow, das war sein

Haus, wo sich die Eltern für zwei Jahre eingemietet hatten.

Deswegen ist mir dieser Ort bis zum letzten Bäumchen bekannt.

Auch die große Wiese, wo Andrej gedreht hat. Das Haus von Onkel Pascha ließ er als

Kulisse originalgetreu nachbauen.

Atmo Filmfestspiele

Autor:

Marina Tarkowskaja, die Schwester, ist Ehrengast des Internationalen Filmfestivals. Es

findet jährlich im Juni eine Woche lang in drei Städten im Umkreis statt: im Kurort

Pljoss, in Jurjewietz und in der Gouvernements-Hauptstadt Iwanowo. Das Festival

zeigt neben Neuproduktionen auch Tarkowski-Werke und heißt wie Tarkowskis

autobiografischer Film: Serkalo. Der Spiegel.

Es läuft allerlei Moskauer und ausländische Filmprominenz auf.

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Olga Surkowa wird zu dem Festival nicht eingeladen: sie ist persona non grata, seit ihr

Archiv in Jurjewjetz gelandet ist. Es fällt vielen schwer, ihr die fast 2 Millionen Dollar zu

verzeihen.

O-Ton/ Sprecherin Olga:

Das lief sicherlich über Premierminister Medwedjew, der dort in der Gegend seine

Datscha hat. Marina Tarkowskaja hat bei ihm erwirkt, dass das Archiv nach Russland

gebracht wird, ins Tarkowski-Museum. Der Gouverneur des Gebietes Iwanowo sollte

Geld dafür, egal wo, auch bei reichen Privatpersonen, auftreiben... Der Etat der

Filmfestspiele wurde dadurch gekürzt, habe ich gehört. Also ich werde dort besonders

gehasst!

Sound

Sprecher Tarkowski (Tagebuch):

6. Dezember 1973

Heute Abend fahren wir für ein, zwei Tage nach Jurjewetz. Irgendwie ist mir dabei

unbehaglich zumute. Ich war 30 Jahre nicht mehr dort. Wie wird es dort wohl

aussehen?

Atmo Führung durch Museum auf Englisch für ausländische Gäste.

Autor:

Jurjewjetz. Ein einstöckiges Holzhaus. Ein kleines Zimmer: eisernes Bett, Esstisch, ein

betagtes Büffet, ein Schrank. Zwischen den Fenstern: ein großer Spiegel.

Es gehört sich nun mal für Tarkowski-Anhänger, gedankenschwer in den Spiegel zu

schauen.

Eine alterslose blonde Dame, die Hände mit modernen Silberringen besteckt, dunkle

Brillengläser, lächelt nachsichtig.

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O-Ton/ Sprecherin Alla:

Die Tarkowskis hatten zwei Zimmer in diesem Haus, das bis in die 1990iger Jahre so

ein Krähennest war, in dem etliche Familien hockten.

Die wurden umgesiedelt, nach langem Papierkrieg mit den Behörden, das Haus stand

leer und ich durfte diese zwei Zimmer sehen.

Die Tapeten waren an vielen Stellen abgerissen, darunter sah ich noch eine Schicht:

Blätter aus Schulheften, bestimmt von Marina und Andrej. Das war eigentlich der

Anfang dieses Museums.

Autor:

Alla Demidowa spielte im „Spiegel“ die Lisa, eine Freundin von Tarkowskis Mutter, und

ging damit in die Filmgeschichte ein.

Film, Episode mit Alla Demidowa

O-Ton, Sprecherin Alla:

Ich bin wegen der Vertonung eines einzigen Wortes zweimal 6 Stunden geflogen. Aus

purer Hochachtung vor Andrej. Er war ein außerordentlicher Mensch. Einem so

talentierten, auserwählten Menschen möchte man dienen, möchte man helfen.

Besonders, wenn er von den Mächtigen dieser Welt vernachlässigt, verachtet wird,

aber größer und bedeutender als sie alle ist. Das konnte ich bei ihm spüren.

Atmo Führung in Englisch.

Autor:

Das Tarkowski-Museum von Jurjewjetz steht auf der Tarkowski-Straße. Im Garten gibt

es eine Art Kapelle, dort wird zur Erhebung der Festival- Besucher die Tarkowski-

Gedenkglocke geläutet.

Eingerichtet wurde es mit Hilfe des Verbandes der russischen Filmschaffenden – dank

Demidowas Kontakten. Denn Alla Demidowa ist noch immer eine prominente

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Moskauer Schauspielerin. Sie war stellvertretende Leiterin der Stiftung, die das

Museum ins Leben gerufen hat.

Atmo Museum, Führung.

Aber die Rolle der Herrin des Gedenkens und der Erinnerung spielt Marina

Tarkowskaja - in entschiedener Bescheidenheit.

O-Ton/ Sprecherin Marina:

Andrej hat so oft die Schule geschwänzt. Ging stattdessen ins Kino oder spielte um ein

paar Kopeken mit den Kameraden, ein Wurfspiel. Schulaufgaben wollte er gar nicht

machen. Geschichte und Literatur - das ging gut, aber Mathematik musste er üben…

Oft kam er aus der Schule, schmiss seine Tasche in die Ecke und verschwand.

Sprecher Tarkowski (Tagebuch):

8 Dezember 1973

Heute morgen aus Jurjewetz zurück. Es war kalt, alles verschneit. Jurjewetz machte

keinerlei Eindruck auf mich, so als sähe ich es zum ersten Mal. Ich erkannte meine alte

Schule wieder und stand vor dem Haus, in dem wir während des Krieges wohnten.

Atmo Akkordeonklänge am Wolgaufer

O-Ton/ Sprecherin Marina:

In Jurjewjetz war es kalt, wir hatten Hunger. Die Fenster mussten verdunkelt bleiben,

weil über uns die deutschen Bomber auf die Stadt Gorki zuflogen. Trotzdem wollte

Mama, dass Andrej seinen Musikunterricht fortsetzt, ging mit ihm zu einer Frau, die ein

Klavier besaß. Er hat das nicht gemocht. Er war nicht fleißig.

Sprecher Tarkowski (Tagebuch):

8 Dezember 1973

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Ich hätte nicht nach Jurjewjetz fahren sollen. Es hätte in meiner Erinnerung ein

wunderbares glückliches Land, das Land meiner Kindheit bleiben sollen. Ich habe zu

recht in meinem Drehbuch zum “Spiegel” geschrieben, dass man nicht zu den Ruinen

zurückkehren solle. Welche Leere empfinde ich, wie traurig ist mir zumute.

Moskau/ der sowjetische Jazzsänger L.Utjossow

Autor:

1943 kehren Andrej, Mutter und Schwester zurück nach Moskau. Hier wird er später

studieren: Musik, Kunst, Orientalistik– bevor er 1954 in die Filmhochschule wechselt.

O-Ton/ Sprecherin Marina:

Als wir erwachsen wurden, ging er gern mit mir spazieren. Ich war ein schönes

Mädchen und er wollte, dass alle denken, ich wäre seine Freundin. Er ging vor mir und

ich sollte hinter ihm her laufen. Ich habe gefragt, was soll das denn? - So wird in

Amerika spazieren gegangen, hat er gesagt.

O-Ton/ Sprecherin Alla:

Ich habe Tarkowski das erste Mal gesehen, als er schon Student der Filmhochschule

war. Er hat sich von den anderen deutlich unterschieden: als Erster in Moskau hat er

Jeans getragen. Und Erster einen Schal wie ein Künstler, über die Schulter geworfen.

Er war ein Ästhet.

Autor:

Die Familie wohnt in einer Arbeitergegend, in der Ersten-Schipkówski-Gasse. Das

Haus, ein Holzhaus, war für die Arbeiter der Michelsohn Dampfmaschinenfabrik gebaut

worden, wo 1918 Fanny Kaplan auf Lenin schoss. Daraufhin bekam der Betrieb seinen

Namen. Das Werk produziert in den Kriegsjahren Munition für die Katjuschas,

die Stalinorgeln.

In der Nähe ist das Wischnewski-Krankenhaus - dort wird dem Vater, Arsenji

Tarkowski, das Bein amputiert, als er von der Front zurückgekehrt ist.

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O-Ton/ Sprecherin Marina:

Unser Vater war ein Poet. Seine Gedichte wurden nicht veröffentlicht, Geld verdiente

er nur mit Nachdichtungen von Poesie aus den Sowjetrepubliken. Jedes Treffen mit

ihm war ein Fest: Freude, Liebe, Geschenke. Das war schön. Den Alltag musste meine

Mutter bewältigen.

Doch sie hatte Hefte mit Vaters Gedichten. Daraus las sie uns manchmal vor…

Ich kann daran nicht ohne Herzklopfen denken. Es fällt mir sehr schwer… Ja, Papa

war ein großer Poet.

Originalstimme Arsenij Tarkowskis aus dem Film.

Sprecher Tarkowski: ( Drehbuch “Der Spiegel”)

Meine Schwester und ich saßen in dem dämmerigen Zimmer und aßen

Buchweizenbrei mit Milch. Die Mutter ging zum Fenster, zog aus einem Koffer ein Heft,

setzte sich aufs Fensterbrett und begann darin zu blättern...

Es hatte alles neue Eigenschaften:

Die simplen Dinge - Schüssel, Krug sogar,

Wenn morgens zwischen uns wie eine Wand

Das schichtige und starre Wasser stand.

Und führte es - geheimnisvoll - wohin

Wie Spiegelungen wichen fremde Städte,

Durch Zauberei gebaut, vor unserem Blick.

Die Minze legte sich uns selbst zu Füßen,

Und Vögel zogen mit uns über Land,

Die Fische kamen an des Flusses Rand,

Der Himmel rollte sich bis zu den Fluren:

Das Schicksal folgte damals unseren Spuren

Wie ein Verrückter mit der Klinge in der Hand.

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Atmo Moskau,Straße

Autor

Moskau. Ein planiertes, leeres Grundstück, eingezäunt. Am provisorischen Tor

ein Plakat. Die Aufschrift: “Wiederherstellung eines Objekts des Kulturerbes. Hier lebte

von 1934 bis 1962 der Filmregisseur Andrej Tarkowski.”

Ins Haus gegenüber ist Wjatscheslaw Schmyrow eingezogen. Der Filmwissenschaftler

träumt davon, Tarkowskis Nachbar zu sein.

Das alte Haus war Privatbesitz und wurde 2004 abgerissen.

Seitdem kämpft Schmyrow um den Wiederaufbau.

O-Ton/ Sprecher Schmyrow:

Was wir als Stiftung besitzen, ist nicht bloß eine Dokumentensammlung, es ist eine

materielle Welt. Viele private Gegenstände. Noch befinden sie sich bei Marina

Tarkowskaja. Teilweise sind das Dinge, die die Mutter von Andrej und Marina, Maria

Wischnjakowa, aufbewahrt hatte. Kinderzeichnungen, Briefe.

Das ist gewissermaßen unsere Hauptsammlung.

Außerdem haben wir Dokumente von Irma Rausch, der ersten Frau Tarkowskis, und

Zeichnungen von Pawel Safonow, dem Szenenbildner bei “Andrej Rubljow”. Von ihm

erwarb ich auch 30 Minuten Amateuraufnahmen von den Dreharbeiten. Die hat noch

kein Mensch gesehen, die hat Tarkowski selbst aufgenommen. Diese 30 Minuten sind

absolut einzigartig.

Alles befindet sich momentan in verschiedenen Privatwohnungen - bereit für die

kostenlose Übergabe an das Tarkowski-Museum hier. Doch seit zwei Jahren wird

dieser Prozess vom Moskauer Kultur-Departement gebremst. Es gibt keinerlei

Interesse an einem Museum.

Übrigens, alle Tarkowskis zusammenzubringen war schwer. Innerhalb der Familie gibt

es verschiedene Ambitionen.

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Autor:

Olga Surkowa kommentiert von Amsterdam aus die russische Szenerie in einer Art

befriedigter Rachsucht:

O-Ton/ Sprecherin Olga:

Marina sitzt also in ihrer Festung in Jurjewietz, und Wjatscheslaw kaufte sich in

Moskau eine Wohnung mit Blick auf Brachland und hofft, dass dort das Haus wieder

aufgebaut wird!

Jeder ist von seiner Mission getrieben. Jeder hält eine Scherbe aus dem großen Leben

unseres Genies in der Hand. Sein Nachlass wird sich unter der Leitung von einer

dieser Personen niemals vereinen lassen.

Autor:

Olga Surkowa kannte Andrej Tarkowski und dessen zweite Frau Larissa auch privat

sehr gut. Sie war mit Larissas Neffen verheiratet und wohnte mit Tarkowski in einer

Wohnung.

O-Ton/ Sprecherin Olga:

…auf dem Sternenboulevard bei Larissas Schwester. Außerdem wohnten dort: zwei

ihrer Söhne, Larissas Tochter aus erster Ehe, ihr Neffe, also mein Mann Serjoscha,

sechs Personen. Ich war die siebente, und wenn Andrej kam, waren wir zu acht. Die

Wohnung bestand aus zwei Zimmern und einer Küche. Andrej und Larissa schliefen in

der Küche auf dem Fußboden unter dem Esstisch.

Sergej und ich bekamen als frisch Verheiratete das kleine Zimmer für uns allein. Und

im großen Zimmer schliefen alle anderen.

Andrej war ab und zu bei seiner ersten Frau Irma. Dazu kann ich nicht viel sagen.

Wir saßen oft gemeinsam in der Küche auf der Matratze. Selbstverständlich wurde

getrunken. Wir haben Gedichte vorgelesen, geredet… Jeden Trinkspruch hat Andrej in

ein Gespräch über die Kunst verwandelt.

Das alles war mir so heilig, ich glaubte, ich hätte das wunderbarste aller Familienleben.

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Filmton Andrej Rubljow

Autor:

1969 - in der Zeit, als Tarkowski unterm Küchentisch schläft - wird sein Filmepos über

den russischen Ikonenmaler Andrej Rubljow in Cannes als Höhepunkt der russischen

Kultur hymnisch gefeiert. Der Film läuft wochenlang in den Pariser Kinos.

Irma Rausch bekommt den „Etoile de Cristal“ der französischen Filmakademie als

beste ausländische Schauspielerin.

In der Sowjetunion bleibt das Filmwerk noch bis 1971 im Regal.

Tarkowski veranlasst Olga Surkowa zu einem Bitt- und Beschwerdebrief an KPdSU-

Chef Leonid Breschnew. Es kommt keine Antwort.

O-Ton/ Sprecherin Olga:

Der Film „Andrej Rubljow“ war verboten. Andrei Tarkowski hatte kein Geld. Aber einen

nicht erfüllten Vertrag mit einem Verlag: ein Buch – ein Gespräch zwischen Regisseur

und Filmkritiker. Der Filmkritiker war abgesprungen, und ich durfte dieses Buch mit

Tarkowski machen. Ich habe schnell begriffen, dass er zu einem Dialog mit mir nicht

bereit war. Er war kein Mensch des Dialogs.

Ich habe meine Rolle als Dienerin eines Meister akzeptiert und Andrej folgenden Titel

vorgeschlagen: Andrej Tarkowski - “Das Buch der Vergleiche, niedergeschrieben und

kommentiert von Olga Surkowa”.

Er war damit einverstanden.

Davon abgesehen habe ich in jeder freien Stunde freudig seine Gesellschaft gesucht.

Sei es am Set, sei es bei ihm zu Hause.

Mich zog es einfach zu ihm. Das war die beste Zeit meines Lebens!

Autor:

Aus dem «Buch der Vergleiche» wird «Die versiegelte Zeit», es erscheint in Russland

erst 1991. Als das Buch 1984 in der Bundesrepublik auf den Markt kommt, zieht Olga

Surkowa gegen den Ullstein Verlag vor Gericht. Sie erstreitet das Recht, neben Andrej

Tarkowski als Autorin genannt zu werden.

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O-Ton/ Sprecherin Olga:

Er wollte damit allein brillieren. Mich hatte er gebraucht, um das Buch fertig zu

schreiben. Als ich in diesem Manuskript den letzten Punkt gesetzt hatte, hieß es: Auf

Wiedersehen. Ich war ja bereit, mich aufzuopfern wie Jean d'Arc, umsonst zu arbeiten.

Ein Dankeschön hätte gereicht. Aber nicht mal das kam...

Das war eine Liebe, die Andrej verschmähte. Abgewiesene Gefühle hinterlassen

bekanntlich tiefe Spuren. Das war eine Liebe, die unerwidert ausdörrte.

Lied aus Solaris (Oh, Susanna)

Autor:

Im Jahr 1970 erhält Tarkowski den Auftrag, nach Stanisław Lems „Solaris“ einen

Science-Fiction-Film zu drehen.

Das Science-Fiction-Element daran interessiert Tarkowski wenig. Die Raumstation, die

über einem Planeten schwebt, den ein allmächtiger, denkender Ozean bedeckt, wird

zum Ort philosophischer Selbst- und Welterkenntnis. Was bedeutet es, ein Mensch zu

sein?

Musik Solaris

O-Ton/ Sprecherin Alla:

Er hat mich für den Film „Solaris“ eingeladen.

Autor:

Alla Demidowa

O-Ton/ Sprecherin Alla:

Meine Rolle sollte das Phantom einer Frau sein. Andrej sagt: Sie merkt zum Beispiel

nicht, dass für die Knöpfe am Kleid die Knopflöcher fehlen. Das Phantom versteht von

diesen menschlichen Details nichts. Und noch einen Unterschied zwischen Phantom

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und Mensch gibt es, sagt er: Ein Phantom leidet nicht. Ich müsse in dieser Rolle diese

Diskrepanz schwer erleben und nervös darauf reagieren.

Naja, schade, ich stand damals bei der Behörde auf der schwarzen Liste. Ich durfte

keine Hauptrolle übernehmen. Ich war sozusagen politisch illoyal. Aber ich denke,

wenn Andrej mich wirklich im Film hätte haben wollen, hätte er darauf bestanden.

Musik weg

Sprecher Tarkowski (Tagebuch):

11. August 1971

Ich befürchte stark, dass Solaris ziemlich bunt ausfallen wird. Diese verfluchten

Korridore, Laboratorien, Apparate, Raketenabschussrampen. Vielleicht ist das

unvermeidlich, weiß der Teufel. Keine Ahnung, was daraus wird. Es ist sehr schwer zu

filmen. Sehr schwer.

O-Ton/ Sprecherin Marianna:

Tarkowski hat die so genannten „blauen Hasen“ erfunden. Das heißt, er schrieb in das

Drehbuch eine teure Szene hinein, die nicht gedreht wird. Das ergab mehr Zeit und

Geld für den Dreh anderer Szenen.

Im Drehbuch zum Film „Solaris“ gab es eine Szene im Raumschiff Prometheus, mit

dem der Hauptheld, Kris Kelvin, von der Erde auf Solaris fliegt. Außerdem gab es ein

Team auf dem Raumschiff, drei Kosmonauten. Es gab den entsprechenden Text dafür

und so weiter. Unsere Leute für Spezialeffekte haben Boden oder Hals einer

rotierenden Flasche so aufgenommen, als ob etwas durch das All fliegt, und das war´s

dann.

Filmton Solaris

Sprecher Tarkowski (Tagebuch):

12 Juli 1971

Das Kodak- Material ist zu Ende gegangen, wir sind aber noch nicht fertig. Werden sie

uns noch etwas geben? Was nun?

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O-Ton/ Sprecherin Marianna:

Alles wollte man mit Kodak drehen, aber Kodakfilm gab es nur für Spezialeffekte. 5000

Meter etwa. Das Team für Spezialeffekte bekam vom Regisseur nur wenig davon.

Anatoli Solonizyn - der den Sartorius spielte- hatte gleichzeitig im Film eines anderen

Regisseurs, Gerassimow, die Hauptrolle. Für diese Produktion gab es reichlich Kodak-

Film. Also - Anatoli bekam von dem Filmtechniker der fremden Produktion eine oder

zwei Film-Büchsen, unter der Hand. Hatte aber kein Geld! Keiner von uns eigentlich,

außer Natascha Bondartschuk, der Hauptdarstellerin. Sie bezahlte schließlich diese

geklauten letzten 300 Meter Kodak aus eigener Tasche. Der Kameramann Wadim

Jussow sagte den Schauspielern: wer die Aufnahme verdirbt, geht und kauft neuen

Kodakfilm. Das war Disziplin!

Sprecher Tarkowski (Tagebuch):

12 Januar 1972

Morgen gibt es beim Direktor den Abgabetermin für Solaris. Es werden sich weitere

Termine entpuppen. Aus dem Filmkomitee, ZK... Ich glaube, es kommt zu einem

Skandal..

Versch. Sprecher:

- Es muss klar werden, wie die Welt der Zukunft aussieht!

- Vielleicht Landschaftsaufnahmen des Planeten der Zukunft.

- Aus welcher Gesellschaft kommt Kris Kelvin eigentlich?

- Die Konzeption des Christentums muss weg.

- Ja, Gott hat in dem Film nichts zu suchen!

Filmton weg

Sprecher Tarkowski (Tagebuch):

Es ist alles noch viel absurder als bei Rubljow. Klar doch, ich werde nichts ändern.

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Autor:

„Solaris“ hat mehr Glück als „Andrej Rubljow“: der Film wird zum sowjetischen Verleih

zugelassen und gut besucht. Beim Filmfestival in Cannes 1972 bekommt er den

Großen Preis.

Musik aus „Nostalghia“

Sprecher Tarkowski (Tagebuch):

Am 24. April haben wir ein Haus in Mjasnoje gekauft. Das Haus, das wir unbedingt

haben wollten. Jetzt ist mir vor nichts bange - wenn ich keine Arbeit habe, werde ich

auf dem Land hocken, Ferkel und Enten züchten, den Gemüsegarten beaufsichtigen

und auf sie alle spucken! Es ist ein bemerkenswert schönes Landhaus aus Stein. Ich

habe Bienenstöcke aufgestellt. Das gibt Honig. Ein Auto müsste man haben. Dann

wäre alles bestens. Die 300 Kilometer von Moskau hierher wird keiner angeschissen

kommen.

Autor

Ein russisches Landhaus. Der Tarkowski-Fan kennt es aus dem Film „Nostalghia“. Auf

der Treppe eine grauhaarige, korpulente Frau, im Blick eine Mischung aus Trauer,

Müdigkeit und Abwehr.

O-Ton/ Sprecherin Marianna:

Diesen Ort und dieses Landhaus hat er selber gefunden und umgebaut. Hier ist alles

so, wie er es haben wollte.

Sein Traum war, dort immer zu leben. Im Unterschied zu seinem Haus in Jurjewetz –

gar nicht zu reden von dem abgerissenen Haus in Moskau – ist hier in Mjasnoje alles

so geblieben, wie es war, als er das Haus verlassen hat. Ich werde den anderen

Museen und Zentren nichts abgeben.

Autor:

Seit über 50 Jahren ist Marianna Tschugunowa ihrem Meister treu wie Sancho Panza.

Sie arbeitete am Set aller 5 Filme, die der Regisseur in Russland gedreht hat,

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überwachte das Casting und die Ordnung am Drehort. Sämtlicher Papierkram ging

durch ihre Hände. Da sammelt sich eine Menge Dokumente.

Marianna hockt auf ihrem Schatz, nicht einmal sprechen mag sie darüber:

Tonaufnahme vom Dreh „Stalker“

Diese Tonaufnahmen aus „Stalker“ gibt sie nur widerstrebend frei, dabei hütet sie doch

Hunderte Stunden mit Tarkowskis Stimme…..

O-Ton/ Sprecherin Marianna:

Andrej Arsenjewitsch sagte mir: Lass uns eine Gesamtausgabe vom “Spiegel” machen!

Und ich setzte alle Texte zusammen, von der ersten Variante bis zur letzten.

Chronologisch. Er hat ein paar Worte zur Überleitung geschrieben. Das alles liegt in

einer Mappe bei mir.

Sprecher Tarkowski (Tagebuch):

4 Februar 1973

Der Titel “Der helle Tag” gefällt mir nicht. Irgendwie schwach. “Martyrolog” wäre gut,

aber das versteht ja niemand. Und wenn sie die Bedeutung erfahren, verbieten sie den

Titel erst recht. “Die Sühne” klingt auch flach. “Die Beichte” - zu prätentiös. “Warum

stehst du in der Ferne?” - das ist zwar besser, aber unklar.

O-Ton/ Sprecherin Marianna:

Der Film bekam den Titel “Der Spiegel” viel später, als die Kulissen schon abgebaut

waren. Ich weiß, dass Andrej Arsenjewitsch einen Film von Ingmar Bergman sehr

gemocht hat – „Wie in einem Spiegel“, heißt er...

Szene aus „Der Spiegel“

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Autor:

Eine Schlüsselszene: Die junge Mutter des Helden - Tarkowskis Mutter - rennt in Panik

zur Arbeit in die Druckerei. Ein Druckfehler! Der Zuschauer erfährt nicht, welcher –aber

das Entsetzen der Mutter ist so gewaltig, dass es kein geringerer sein dürfte als einer

im Namen Stalins.

Stalin… Sralin?? Oh, Gott!... Das heißt so was wie Scheißkerl!

O-Ton/ Sprecherin Marina:

Ich weiß nicht, ob man für Druckfehler in den Knast ging. Aber man konnte sehr schnell

rausgeschmissen werden. Den Druckfehler musstest du auf eigene Kosten und in

deiner Freizeit korrigieren, sitzen und den richtigen Buchstaben manuell in die Bücher

eindrucken.

In dieser Druckerei habe ich auch gearbeitet! Ich saß in demselben Zimmer! Ich habe

im Film sofort das große Zimmer erkannt. Es ist einfach erstaunlich! Und den

Betriebseingang kenne ich, den meine Mama im Film benutzt.

O-Ton/ Sprecherin Alla:

Ich finde, kein Kinoregisseur kann wirklich mit Theaterschauspielern arbeiten. Und

Andrej war keine Ausnahme.

Die Szene in der Druckerei…Ich glaube, ich habe sie schlecht gespielt, weil ich nicht

verstanden habe, was er von mir will.

Er machte nie etwas vor, er suchte den Nerv einer Szene. Er kaute auf den Nägeln,

redete sehr nervös und hat im Grunde genommen ein bestimmtes Bild gesucht, rein

ästhetisch gesehen.

Und Andrej hat es keineswegs erklärt, er hat überhaupt nie etwas erklärt, in welcher

Reihenfolge was sein soll, so, wie es im Theater stattfindet, eine Entwicklung der Rolle.

Andrej Tarkowski benahm sich so, dass man mit ihm nicht auf gleicher Augenhöhe

reden konnte.

Szene aus dem Film mit Alla Demidowa

Sprecher Tarkowski (Tagebuch):

18 Februar 1973

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Ich habe noch nie eine von Schauspielern gespielte Szene gesehen, in der sie nicht

immer den gleichen Fehler machen: zuerst eine abwartende Haltung einnehmen, um

sich ein Urteil über das Ganze zu bilden, dann darüber reflektieren und dann erst

sprechen. Eine schreckliche, widernatürliche Zeitvergeudung und Sinnlosigkeit, dieses

Fehlen der inneren Verfassung, diese Unfähigkeit, zu denken und zu sprechen. ...

Szene aus dem Film mit Alla Demidowa

O-Ton/ Sprecherin Alla:

Ich wusste mich nicht rechtfertigen. Und wenn ich das nicht weiß, drücke ich auf die

Tränendrüse, dann wird es mehr oder weniger natürlich. Na ja, mehr oder weniger.

Und Andrej sagte: Gut, im Kasten!

Meine Partnerin Margarita wusste auch nicht, wie sie spielen soll und ließ auch eine

Träne zu. Margarita und ich haben uns später darüber amüsiert: was so eine Träne bei

Regisseuren ausmacht!

Autor:

1974 ist „Der Spiegel“ vollendet. Etwas Einmaliges in der Filmgeschichte: der surreal

inszenierte, dabei quasi autobiografisch-dokumentarische Film spiegelt Erinnerungen

und Gefühle der sowjetischen Nachkriegsgeneration wider.

“Wir haben künstlerische Freiheit, aber doch nicht in solchem Ausmaß!” befindet der

Filmminister. Der Film darf nur in wenigen Kinos gezeigt werden und keinesfalls die

sowjetische realistische Kinokunst im Ausland repräsentieren.

Dem Regisseur wird erlaubt, mit einer Kopie durch die Sowjetunion zu tingeln, um Geld

zu verdienen.

Im Hintergrund Szene mit dem Publikum

Verschiedene Sprecher

- Warum lassen Sie pornographische Szenen in einem sowjetischen Film zu?

- Sie sagten, es sei Ihnen egal, ob Ihre Filme gefallen oder nicht gefallen, ist Ihnen die

Meinung der Zuschauer wirklich gleichgültig?

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- Warum filmen Sie nicht so wie alle?

Sprecher Tarkowski: 11 Dezember 1979

War mit Marianna drei Tage in Kasan, wo ich sieben Auftritte hatte. Eine Menge Leute

im Saal, sehr schlechte Projektion, aber Einnahme 1000 Rubel.

O-Ton/ Sprecherin Marianna:

Moskau, Leningrad, Dnjepropetrowsk, Kasan... Er hat fast überall den Film gezeigt.

Das lief über die örtlichen Kinoklubs und das Büro für Filmkunst. Nach Iwanowo haben

sie ihn auch entsandt. Dort durfte der Regisseur nicht den ganzen Film zeigen. Nur

Fragmente. Deswegen lief den Film ohne Anfang.

Szene mit dem Publikum

Verschiedene Sprecher

- Andrej Arsenjewitsch, leben Sie manchmal im Konflikt mit sich selbst?

- Glauben Sie an den wissenschaftlich-technischer Fortschritt?

- Wenn nicht, woran glauben Sie?

- Sie werden als „Neofaschist“ bezeichnet. Was können Sie zu Ihrer Rechtfertigung

sagen?

Atmo Festspiele in Pljos

Autor

Sommer 2016. Pljos, das Filmfestival. Zwischen zwei aktuellen Wettbewerbsfilmen

ergötzt sich das Publikum am Sonnenuntergang über der Wolga. Die goldenen

Zwiebeltürme der frischrestaurierten Kirchen bieten ein russisches Bilderbuch-

Panorama und fördern nostalgische Erinnerungen.

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O-Ton/ Sprecher Wladimir Martynow:

Bei uns in Iwanowo gab es zu Sowjetzeiten einen der besten Kinoklubs, der “Écran

TN” hieß. Das war ein Territorium bedingter Freiheit.

Autor

Wladimir Martynow, Journalist von Radio Iwanowo. Cineast der ersten Stunde,

damals, vor 30 Jahren, immer mit einer Zenit-Kamera um den Hals.

O-Ton/ Sprecher Wladimir Martynow:

Wir durften Filme vorführen, die man sonst aus politischen Gründen dem breiten

Publikum nicht zeigen wollte. Unter Aufsicht des KGB.

Wir haben Andrej Tarkowski eingeladen. Er durfte mit dem Film “Der Spiegel” kommen.

Die Platzanweiserinnen haben uns Mitglieder des Kinoklubs sehr gemocht und uns

jedes Mal gesagt, wie viele KGB-Leute da sind. Und diesmal waren es zwei und das

haben wir Andrej Arsenjewitsch auch gesagt. Er ging auf die Bühne starrte

aufmerksam/minutenlang ins Publikum, wahrscheinlich wollte er sie finden.

Aus einem Foto, das ich davon gemacht habe, ist fast ein Meter großes Porträt

geworden. Darauf hat er einen solch angespannten Blick...

Das war eine schwierige Zeit für ihn, er bekam keine Aufträge, fühlte sich bedrängt,

doch er sagte - an den Satz erinnere ich mich gut: wenn ihr hört, dass ich das Land

verlassen habe, glaubt es nicht. Ich habe nicht die Absicht zu emigrieren.

Autor:

1979 kommt Tarkowskis letzter Film in der Sowjetunion heraus, „Stalker“. Danach hat

er keine Aufträge mehr und geht mit einem Arbeitsvisum nach Italien. Dort entsteht

„Nostalghia“ - und in Schweden „Das Opfer“.

Nur sieben Filme hat Andrej Tarkowski gedreht – jeder kulturaffine Westeuropäer kann

ein, zwei aufzählen. In Russland versammeln sich ihre Kenner in einem Kurort an der

Wolga und witzeln darüber, dass Putin „Andrej Rubljow“ heutzutage wahrscheinlich

auch verbieten würde. So wie da die Erbarmungslosigkeit der Macht gegenüber einem

kleinen, unerschrockenen Maler gezeigt wird!

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Sprecher Tarkowski (Notizbuch):

Worüber ich gern einen Film drehen würde: über den Prozess gegen Martin Bormann,

über einen Physikers, der zum Diktator wird...

Über die Deserteure. Josef und seine Brüder. Matrjonas Hof nach Solschenyzin.

Über Dostojewski, Jeanne d'Arc, die Pest nach Camus...

O-Ton/ Sprecherin Olga:

Ich bedauere sehr, dass er „Stalker“ gefilmt hatte, ich bedauere auch, dass er „Solaris“

gedreht hat. Wenn er doch andere Stoffe hätte machen können! In diesem Sinne war

er sicherlich ein Opfer des Sowjetsystems. Wenn er damals hätte einen Film über

Dostojewski drehen können, und das in Zusammenarbeit mit Friedrich Gorenstein! Das

wären ganz andere Filme gewesen. Das wäre ein viel größerer Tarkowski gewesen,

als wir ihn kennen.

Musik Luigi Nono "No hay caminos hay que caminar ... Andrej Tarkovskij"

Sprecher Tarkowski (Drehbuch Stalker):

„Stalker“. Kamerafahrt über Wasser, darunter versunkene Reste von Zivilisation. Einige

lose Kalenderblätter tauchen auf. Ein Blatt zeigt die Zahl 29.

Autor

Am 29. Dezember 1986 stirbt Andrej Tarkowski in Paris an Krebs.

Musik Luigi Nono:

Absage

Im Spiegel der Nostalgie.

Die russischen Jünger des Andrej Tarkowski .

Sie hörten Feature von Mario Bandi

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Es sprachen: Robert Dölle, Susanne Barth, Renate Fuhrmann, Doris Plenert, Wieslawa

Wesolowska, Wolfgang Rüter, Florian Seigerschmidt

und Mark Zack

Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Angelika Brochhaus

Regie: Mario Bandi

Redaktion: Ulrike Bajohr

Eine Produktion des Deutschlandfunks mit dem Westdeutschen Rundfunk und dem

Südwestrundfunk 2016

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