Web 2.0 im Spiegel der Marketing-Forschung

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Während Schlagworte wie Web 2.0 bei manchen Unternehmen bereits zum Standardrepertoire gehören und man keine Cocktail-Party bestreiten kann, ohne über seinen Twitter-Feed zu berichten, hat der Rummel nun auch die wissenschaftliche Gesellschaft erreicht. So widmete das renommierte „Journal of Advertising Research“ erst kürzlich eine Sonderausgabe dem The-ma „Marketing in the Era of Long-Tail Media“. Inspiriert durch den 2007 er-schienenen Bestseller „The Long Tail“ des Wired-Magazin-Chefredakteurs Chris Anderson setzten sich rund ein Dutzend Autoren mit Fragen des ver-änderten Mediennutzungsverhaltens und den Herausforderungen der „Brave New Media World“ für das Marketing auseinander. Die wichtigste Herausforderung bringt der heutige Chief Research Officer der Advertising Research Foundation, Joel Rubinson, in seiner Einführung auf den Punkt: „The new marketing approach must be to integrate into both the head and tail of the media landscape in a way that makes you a welcomed and contex-tually relevant companion in people’s

lives.” Das bedeutet, ohne die vermeint-lich kleinen Nischenprodukte, aber für Nutzer so relevanten Angebote des „Long Tail“ kommt kein Marketer mehr aus, und nicht jedes Unternehmen, jede Marke wird vom Nutzer dieser Kanäle willkommen geheißen. Kontextrele-vanz ist die zentrale Anforderung.

Fangen wir bei den Verbrauchern an: Das Web bietet ihnen Informations-, Kommunikations- und Unterhaltungs-möglichkeiten, die zu veränderten Er-wartungen, Einstellungen und Verhal-tensweisen führen. Von Unternehmen und Marken wird heute jedoch mehr als nur Information erwartet. An die Stelle der unidirektionalen Kommunikation an den Kunden tritt der Dialog mit dem Kunden, das Engagement, die Bezie-hung und letztlich der Versuch, einen Weg in den digitalen Alltag, den Le-benskontext der Menschen zu bahnen. Jedoch sind die meisten Unternehmen dieser Herausforderung noch immer nicht gewachsen und hadern mit dem Abschied von dem, was der für das glo-bale Digital Advertising bei Microsoft verantwortliche Stephen Kim in seinem

Beitrag als das klassische „Interrupt and Repeat“-Prinzip der Werbung be-zeichnet. Im Internet können aber nur die Marken Wert schaffen, die ziel-gruppenrelevante Werbeinhalte so in den Kontext der Mediennutzung integ-rieren, dass sie einen echten Mehrwert für ihn generieren. Das gilt insbeson-dere für die „Long tail“-Angebote. Hier sieht Kim eines der größten Defizite der Werbebranche und vor allem der Agenturen: „Delivering value as part of an advertising strategy is not naturally part of advertiser/agency DNA”. Das heißt, die Lieferung eines Wertes als Teil einer Werbestrategie bildet nicht natürlicherweise auch einen Teil einer Anzeigenkunden- beziehungsweise Agentur-DNA. Ohne Zweifel eine starke Aussage, aber immerhin doch von ei-nem Marketingkollegen, der jedes Jahr Budgets in dreistelliger Millionenhöhe zu vergeben hat.

Werte für Konsumenten entstehen je-doch nicht nur durch die dargebotenen Inhalte per sé, sondern auch dadurch, dass sie über die richtigen Kanäle trans-portiert werden. Nicht jeder schaut das gleiche Fernsehprogramm, besucht die gleichen Websites oder schreibt in den gleichen Blogs. Ganz im Gegenteil: In der fragmentierten Medienlandschaft des „Long tail“ gibt es viele tausend Kanäle, die potenziell als Medium relevant sein können. Diese Vielfalt macht es nicht nur der Mediaplanung, sondern vor allem auch dem Cont-rolling des Kommunikationserfolges immer schwerer. Letztlich existiert

Weltweit produziert die Marketing-Wissenschaft laufend neue Erkenntnisse. Exklusiv für die Leser der absatzwirtschaft screent Vivaldi Partners des-halb regelmäßig die wichtigsten Publikationen und fasst die Ergebnisse zusammen. Das Thema zum Auftakt: Marketing mit und in Social Communities.

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Autor: Dr. Markus Pfeiffer

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bis heute keine einheitliche Währung, die einen Vergleich der „klassischen“ Werbeinvestments mit den „digitalen“ Spendings ermöglichen würde. Zu viele Faktoren, seien es schwer nachvollzieh-bare Erhebungsmethoden, komplexe Kooperations- oder Barteringdeals und nicht zuletzt eine Vielzahl unterschied-licher Erfolgskriterien (Leads versus Click throughs versus Direct Sales) ver-komplizieren das Thema zusätzlich.Scott McDonald, Senior Vice Presi-dent der Marktforschung im Condé Nast Verlag, empfiehlt, dass Unter-nehmen mehr zu „hybriden Ansätzen“ übergehen. Damit meint er Metho-den, bei denen klassische Medien wie TV-Programme und Zeitschriften mit herkömmlichen Wahrscheinlichkeits-stichproben erfasst werden, während „Long-tail“-Aktivitäten mit nicht-stich-probenbasierten Methoden ermittelt werden. Dazu zählen beispielsweise die direkte Auswertung der Logfile-Daten von Internetseiten oder der Videoserver von Kabelunternehmen. Hier muss also das Prinzip des „New and old at the same time“ greifen. Einerseits liegt McDonald damit vom Prinzip her richtig, andererseits löst dieses Vorgehen noch immer nicht das eigentliche Problem, dass in der Effizi-enzbetrachtung damit kaum sinnvolle Gegenüberstellungen möglich sind. Vielleicht muss sich das Marketing deshalb grundsätzlich vom Gedan-ken einer quantitativen Messung des Kommunikationserfolges im Internet, der noch dazu mit klassischen Medien vergleichbar ist, verabschieden. Oder

müssen wir nicht darüber nachdenken, wie wir uns besser auf den Wert für den einzelnen Nutzer konzentrieren kön-nen und diesen messbar machen?

Auch in der klassischen Werbewelt könnte die Subline „New and old at the same time” lauten: Kreativität in der Werbung. Obwohl sich über Kre-ativität natürlich vortreff lich streiten lässt, erscheint die Diskussion nicht zuletzt vor dem Hintergrund der ewig aktuellen Frage nach der Qualität von Werbeagenturen relevant. Bei den Veröffentlichungen dazu ste-hen ganz grundsätzliche Fragen im Vordergrund. Die lauten zum Beispiel, wann Werbung aus Sicht des Kunden als kreativ gilt, welche Wirkung kre-ative Werbung auf Konsumenten hat und welche Effekte kreative Werbung für Werbende hat? Der ersten Frage nähern sich Douglas West und seine Co-Autoren in ihrem Artikel aus dem 2008 erschienenen „Journal of Adverti-sing“, indem sie dazu die verschiedenen Perspektiven von Werbetreibenden und Beworbenen beleuchten. Das Ergebnis heißt, wen wundert es: Beide Parteien haben gänzlich unter-schiedliche Ansichten von dem, was in der Werbung als kreativ gilt. Neben dem häufig kritisierten Selbstzweck zur Anerkennung in der Werbegemeinde ist Kreativität für Praktiker primär ein Mittel zur Erreichung der Ziele des Kunden. Damit ist nichts anderes als „Return on Advertising“ gemeint, gemessen an Bekanntheitsgrad, Image oder Abverkaufszahlen. Kreativität für

gloSSar:The Long tail (englisch für „Der lange Schwanz“): Dahinter steckt eine Theorie, die der Chefredakteur des „Wired Magazine“ Chris Anderson 2004 vor-stellte. Danach kann ein Anbieter im Internet durch eine große Anzahl an Nischenprodukten Gewinn machen. Dieser Effekt soll insbesondere für den Musik- und Bücherverkauf zutreffen, wo selten verkaufte Titel in einem konventionellen Verkaufs-geschäft zu hohe Kosten verursachen würden. Der Name leitet sich von der Ähnlichkeit der Verkaufs-grafik mit einem langen Schwanz ab.

Interrupt and Repeat-Prinzip der Werbung (eng-lisch für „Unterbrechungs- und Wiederholungs“-Prinzip): Dieser Ansatz kommt in Werbung zum Ausdruck, die etwa Fernseh- oder Filmzuschauer bei ihrer Beschäftigung unterbricht und ihre Auf-merksamkeit auf das beworbene Produkt lenkt.

Barteringdeal (englisch für „Tauschgeschäft“): Damit ist eine Vereinbarung eines Werbungtrei-benden mit dem Sender gemeint, der seine Werbung ausstrahlt, und derzufolge der Wer-bungtreibende für Werbesendungen oder für die Erwähnung seines Produkts oder seiner Firma mit Waren und Dienstleistungen bezahlt.

Return on Advertising (englisch für „Investitions-rechnungsansatz“): Diese Budgetierung gibt darü-ber Auskunft, wie viel Umsatz für die eingesetzten Marketing-Investitionen zu erwarten sind.

Involvement (englisch für „Stärke der Betroffen-heit”): In der Marktforschung zielt die gängige Definition auf Produktinteresse und Produktre-levanz. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass ein Werbemittel potenziellen Kunden besser gefällt, wenn sie an einem beworbenen Produkt beziehungsweise der beworbenen Dienstleistung interessiert sind, und dass umgekehrt Desinteresse auch nur wenig Gefallen auslöst.

Kreative Werbung führt zu positiveren Kaufabsichten: Das gilt auch in Low-Invol-vement-Situationen, wo sie Effekte über die Vermittlung von Emotionen entfaltet.

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den Zuschauer äußert sich dagegen vor allem in einer fesselnden Inszenierung und einem Bezug zu ihren individuel-len Bedürfnissen nach Unterhaltung, Einfühlsamkeit, schönen Bildern und nicht zuletzt Humor. Doch genau bei diesen Bedürfnissen liegt häufig die Kernfrage der Praxis: Verkauft denn schöne Werbung auch?

Den Zusammenhang zwischen Kreati-vität und Werbewirkung untersuchten Xiaojing Yang und Robert E. Smith in einem Artikel in der „Marketing Science“ genauer. Sie ermittelten vor allem, wann und wie die Kreativität Einf luss auf die Verarbeitung von Wer-bebotschaften nimmt und welche Ver-haltensreaktionen sie bei Konsumenten auslöst. Dabei fanden sie heraus, dass kreative Werbung in der Lage ist, so-

wohl emotionale als auch kognitive Reaktionen beim Konsumenten aus-zulösen, und folgerten, dass sie je nach seinem „Involvement“ eher emotional oder kognitiv gestaltet werden sollte. Dies klingt zunächst nicht neu und erinnert eher an Richard Petty and John Cacioppo’s „Elaboration Likelihood Model“, das bereits 1986 vorgestellt wurde. Es besagt: „Sind Deine Kunden wenig involviert, sprich sie emotional an. Ist ihr Involvement hoch, dann appelliere an ihren Gedankenapparat“. Also doch nur alter Wein in neuen Schläuchen? Nicht ganz. Die Autoren weisen nach, dass als kre-ativ wahrgenommene Werbung nicht nur kurzfristig das Interesse weckt und Emotionalität erzeugt, sondern auch zu einer intensiveren kognitiven Verarbei-tung führt. Kreative Werbung unter-

stützt durch Originalität, unerwartete Effekte oder ungewöhnliche Bilder den Auf bau von Spannung. Sie sorgt dafür, dass Konsumenten die Werbung gerne wieder sehen möchten, was dann mit-telfristig zu positiveren Kaufabsichten führt. Klingt nach einem Plädoyer für ein Höchstmaß an Kreativität. Doch leider ist dem nicht so.Zu übertriebene Umsetzungen kon-terkarieren den gewünschten Effekt („diminishing returns of excessive creativity“). Ab einer gewissen Krea-tivitätsschwelle nehmen die Effekte ab. Maß halten ist also gefragt. Zudem sind die Effekte nicht unabhängig von den Marktbedingungen: Kreativität ist grundsätzlich effektiver bei hoher Wettbewerbsintensität und in einem sicheren Marktumfeld mit relativ ge-ringen Veränderungen. In wettbe-werbsschwachen oder bei unsicheren Marktbedingungen wirkt sie schnell übertrieben und unangemessen. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten muss Werbung also zumindest so krea-tiv sein, dass sie den Verbraucher dauer-haft bei Laune hält und den Nutzen klar aufzeigt. Letztlich sollte sie das gleiche Ziel verfolgen wie Joel Rubinson ein-gangs postulierte: Die Marke zu einem jederzeit willkommenen und für das Leben der Menschen relevanten Partner zu machen – on- und off line! ←

↘Literatur:- Anderson, Chris: The Long Tail: Why the Future of Business is Selling Less of More, Revised and Updated Edition, New York 2007- Hairong Li; Wenyu Dou; Guangping Wang; Nan Zhou: Journal of Advertising, Winter 2008, Vol. 37 Issue 4, Seite 109-120- Kim, Stephen J.: Journal of Advertising Research, Sep2008, Vol. 48 Issue 3, Seite 310-312- McDonald, Scott: Journal of Advertising Research, Sep2008, Vol. 48 Issue 3, Seite 313-319- West, Douglas C.; Kover, Arthur J.; Caruana, Albert: Journal of Advertising, Winter 2008, Vol. 37 Issue 4, Seite 35-45- Yang, Xiaojing; Smith, Robert E.: Marketing Science, Articles in Advance (published online ahead of print January 12, 2009), Seite 1-15

Dr. MarkuS Pfeifferist Managing Director bei Vivaldi Partners. Seine Kernkompetenzen liegen in den Bereichen Brand Management, Strategisches Marketing und Elec-tronic Commerce.

Joel Rubinson, Chief Research Officer der Advertising Research

»Der neue Marketingansatz muss Sie zu einem willkommenen und relevanten Begleiter im Leben der Menschen machen.«

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