Spiegel der Forschung 2012-2

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Das Higgs-Teilchen und der Rest der Welt • Schwerpunkt: Georg Büchner und seine Zeit Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im Vormärz Spuren der „Gießener Schwarzen“ in Büchners „Dantons Tod“ Die „Gießener Auswanderergesellschaft“ im Vormärz Auf nach Amerika! 400 Jahre Universitätsbibliothek Gießen • Jenseits von Furcht: Milena Jesenská • Soziale Folgen der AIDS-Waisen-Krise in Namibia • Zur Finanzierung der EU-Politiken von 2014 bis 2020 WISSENScHAFTSMAGAZIN ISSN 0176-3008 Nr. 2/2012 · 29. Jahrgang

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Spiegel der Forschung zweite Ausgabe 2012

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Das Higgs-Teilchen und der Rest der Welt • Schwerpunkt: Georg Büchner und seine Zeit • Zur

wirtschaftlichen und sozialen Lage im Vormärz • Spuren der „Gießener Schwarzen“ in Büchners

„Dantons Tod“ • Die „Gießener Auswanderergesellschaft“ im Vormärz • Auf nach Amerika! •

400 Jahre Universitätsbibliothek Gießen • Jenseits von Furcht: Milena Jesenská • Soziale Folgen

der AIDS-Waisen-Krise in Namibia • Zur Finanzierung der EU-Politiken von 2014 bis 2020

W I S S E N S c H A F T S M A G A Z I N

ISSN 0176-3008Nr. 2/2012 · 29. Jahrgang

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Physik

4 Michael Düren und hasko stenzelDas Higgs-Teilchen und der Rest der Welt • Langjährige Suche ist endlich von Erfolg gekrönt

Physiker am CERN in Genf haben in diesem Sommer die Beobachtung eines neuen Teil-chens bekannt gegeben. Dabei handelt es sich um das schwerste je beobachtete elemen-tare Teilchen, das 134mal so schwer wie das Proton ist. Vieles spricht dafür, dass es sich bei der Beobachtung um das lange gesuchte Higgs-Teilchen handelt, den letzten fehlenden Baustein im Standardmodell der Teilchenphysik. Die Arbeitsgruppe von Prof. Düren und Dr. Stenzel am II. Physikalischen Institut der Justus-Liebig-Universität ist als Mitglied der ATLAS-Kollaboration an den Messungen beteiligt.

schwerPunkt:

Georg Büchner und seine Zeit

12 heinrich BrinkmannZur wirtschaftlichen und sozialen Lage im Vormärz • Wie lebte die Bevölkerung in und um Gießen zwischen 1815 und 1848

Oberhessen zählte in der Zeit des so genannten Vormärz von 1815 bis 1848 zu den rück-ständigsten und ärmsten Gebieten in Deutschland. Nach der Bauernbefreiung im Jahr 1811 konnten viele Bauern sich die Selbstständigkeit finanziell gar nicht leisten, denn die bisher in Naturalien und körperlicher Arbeit erbrachten Leistungen für die Grundherren mussten nun abgelöst werden. So übergaben sie ihr Land häufig den Gutsherren und mussten sich als Tagelöhner verdingen. Wenn irgend möglich wanderte man nach Amerika aus.

18 Günter OesterleGeorg Büchner und seine Zeit • Ein privilegierter Schriftsteller und ein solitäres Werk

Wenn man an die Stelle des Titels „Georg Büchner und seine Zeit“ „Georg Büchner in sei-ner Zeit“ setzt, hat man den Unterschied der Lebenszeit Büchners (1813-1837) und seiner Wirkung über einen umfassenderen Zeitraum im Blick. Diese doppelte Perspektive ver-sucht der Essay durchzuhalten: Er fragt zunächst, wie es möglich wurde, dass ein junger

Spiegel der Forschung Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen

Herausgeber: Der Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen Ludwigstraße 23, 35390 Gießen www.uni-giessen.de

Redaktion: Christel Lauterbach Telefon: 0641 99-12040 Fax: 0641 99-12049 [email protected] www.uni-giessen.de/ spiegel-der-forschung

Design und Layout: Polkowski Mediengestaltung Erlengasse 3, 35390 Gießen Telefon: 0641 9433784 [email protected]

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Druck: Druckkollektiv GmbH www.druckkollektiv.de

Gedruckt auf Recycling-Papier Auflage: 7.000 Exemplare

Die Beiträge geben die Meinung der Autorinnen und Autoren wieder. Der Nachdruck ist nach Absprache mit der Redaktion und den Autoren möglich.

Titelbild: Georg Büchner (1813-1837), Bronze-Kopf, patiniert, von Karl-Henning Seemann, Löchgau, 2006, vor dem Alten Schloss in Gießen.Foto: Franz Möller

Nr. 2 – November 2012 · 29. Jahrgang

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Mann, der mit 24 Jahren starb, nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Wissenschaft-ler und Revolutionär eine herausragende Rolle spielen konnte. Anschließend werden zwei avantgardistische Alternativen zu den von Büchner gewählten Dramenstoffen Danton und Woyzeck fiktiv vorgeführt.

28 Gerhard kurz„Der Freiheit eine Gasse“ • Spuren der „Gießener Schwarzen“ in Büchners „Dantons Tod“

Die „Gießener Schwarzen“ waren eine Gruppe radikaler Studenten, deren revolutionäres Programm für die Ambivalenzen der deutschen Demokraten nach 1800 aufschlussreich ist. Georg Büchner setzte sich in seiner kritischen Vorführung der französischen Revolutio-näre in seinem Drama „Dantons Tod“ auch mit ihnen auseinander.

35 200. Geburtstag von Georg Büchner – Veranstaltungen an der universität Gießen

36 rita rohrbachBleiben oder Gehen? • Die „Gießener Auswanderergesellschaft“ im Vormärz: Projektseminar in der Didaktik der Geschichte

Georg Büchner, Ludwig Weidig, die Brüder Follen und Pastor Friedrich Münch waren durch vielfältige Aktivitäten im Rahmen ihres Studiums an der „Vormärz-Universität Gie-ßen“, ihrer revolutionären Ziele und durch verwandtschaftliche Beziehungen verbunden. Als Akteure in der Zeit des Vormärz stellten sie sich die Frage, wie sie ihre freiheitlich-re-publikanischen Ideen umsetzen könnten: hier in Deutschland oder durch Gründung eines eigenen Staates in Amerika. Büchner und Weidig blieben, während Paul Follen und Pfarrer Münch die „Gießener Auswanderergesellschaft“ gründeten und mit 500 Mitgliedern die Utopie in Amerika verwirklichen wollten.

44 rolf haaserAuf nach Amerika! • Die Erinnerungen des „roten Becker“ in einer amerikanischen Zeitschrift

Die im amerikanischen Exil verfassten Erinnerungstexte des Büchner-Freundes August Becker sind als Hintergrundinformationen für die Entstehung des „Hessischen Landboten“ nur wenig bekannt. Nachfolgende Veröffentlichung aus den digitalen Beständen des Ober-hessischen Literaturarchivs möchte auf die Bedeutung des „roten Becker“ als Chronisten der Gießener Ereignisse zur Zeit Büchners aufmerksam machen.

kurZ Berichtet

49 Das Mathematikum wird 10: herzlichen Glückwunsch!

uniVersitätsBiBliOthek

50 claudia Martin-konleWas war und was wird • 400 Jahre Universitätsbibliothek Gießen

Im Jahr 1607 gründete Landgraf Ludwig V. von Hessen-Darmstadt die Universität Gießen als neue Landesuniversität. Fünf Jahre später kaufte er 1000 Bücher in Straßburg und legte damit den Grundstock für die Universitätsbibliothek. Vor 400 Jahren begann also die Ge-schichte der UB Gießen: Grund genug für einen Rück- und einen Ausblick.

2 Justus-Liebig-Universität Gießen

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BiOGrafiefOrschunG

56 lucyna DarowskaJenseits von Furcht: Milena Jesenská • Zur widerständigen Praxis der Prager Journalistin gegen den Nationalsozialismus

Wie ist Milena Jesenská zur Widerständlerin geworden? Diese Frage steht im Mittelpunkt der Untersuchung von Lucyna Darowska, die neue Perspektiven interpretativer Biogra-fieforschung innerhalb der politisch-historischen Widerstandsforschung zum National-sozialismus erschließt. Ausgehend vom New Historicism formuliert sie den Begriff der widerständigen Praxis neu. Auf dieser methodisch-theoretischen Basis entwickelt sie In-terpretationen widerständiger Handlungen der in literarischen Kreisen bekannten Prager Journalistin Milena Jesenská gegen das NS-Regime.

kurZ Berichtet

65 50 Jahre Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Justus-Liebig-Universität Gießen

sOZiOlOGie

66 Michaela fink, Julia erb und reimer GronemeyerSoziale Krisen und soziale Kräfte • Forschung zu den sozialen Folgen der AIDS-Waisen-Krise in Namibia

Experten schätzen, dass gegenwärtig rund 15 Millionen Kinder und Jugendliche in Afrika einen Elternteil oder sogar beide Eltern durch die Immunschwäche AIDS verloren haben. Am Institut für Soziologie widmet sich ein dreiköpfiges Forscherteam seit März der Frage nach den sozialen Folgen der AIDS-Waisen-Krise im Südlichen Afrika. Am Beispiel von Namibia wird der gesellschaftliche Umgang mit dieser Krise untersucht. Geleitet wird das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierte Projekt „Soziale Krisen und soziale Kräfte“ von dem Soziologen und Theologen Prof. Reimer Gronemeyer. Er forscht seit über vierzig Jahren in Afrika.

POlitikwissenschaft

72 karin PieperMehrwert Europa • Zur Finanzierung der EU-Politiken von 2014 bis 2020

Bis spätestens Mitte 2013 müssen sich die EU-Mitgliedstaaten auf einen neuen Mehrjähri-gen Finanzrahmen (MFR) für den Zeitraum 2014 bis 2020 einigen. Wie bei den vorherigen Verhandlungen geht es hierbei um Milliardenbeträge und um die Aushandlung zwischen den Staaten der EU, welches Politikfeld mit welchen Summen finanziell ausgestattet wird. Mit Blick auf die andauernde Finanzkrise stellt diese Aufteilung ein „kniffliges Spiel“ dar: Einerseits geht es um die Umsetzung der Wachstumsprämisse und um den EU-weiten Soli-daritätsgedanken, andererseits um das mögliche Festhalten an traditionellen Politiken wie der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Der Artikel beleuchtet aus politikwissenschaftlicher Sicht die Reichweite einer Finanzaufteilung, die einer innovativen und wachstumsfördern-den sowie einer solidarischen Logik folgt.

Spiegel der Forschung · Nr. 1/2012 3

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4 Justus-Liebig-Universität Gießen

Das higgs-teilchen und der rest der weltlangjährige suche ist endlich von erfolg gekrönt

Von Michael Düren und Hasko Stenzel

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Das Higgs-Teilchen und der Rest der Welt

was ist eigentlich ein higgs-

teilchen? wozu ist es gut, und was

macht es so wichtig, dass tausende

Physiker Jahrzehnte lang danach

gesucht haben? wieso werden

kilometerlange unterirdische

teilchenbeschleuniger gebaut, um

es zu erzeugen? in diesem Beitrag

wird der Versuch unternommen,

nicht-Physikern einen einblick in

die welt der physikalischen Grund-

lagenforschung an vorderster front

zu vermitteln, wo mit gigantischen

Maschinen und immensem aufwand

versucht wird, die grundlegenden

Gesetze der natur zu verstehen.

Ziel der Physik ist es, die grund-legenden Phänomene in der Natur zu erforschen, d.h. zu

beobachten, zu klassifizieren und mathematisch zu beschreiben. Als Krönung einer Jahrhunderte langen Entwicklung gelang es der modernen Physik in den letzten Jahrzehnten, sämtliche bekannten Formen der Ma-terie, der Energie und ihre Wechsel-wirkungen in Raum und Zeit in einem sehr einfachen mathematischen Sys-tem zusammenzufassen, welches das „Standardmodell der Teilchenphysik“ genannt wird. Das Standardmodell der Teilchenphysik beruht auf einer Synthese der Einstein’schen spezi-ellen Relativitätstheorie, welche die Welt als vierdimensionales Raum-Zeit-Kontinuum beschreibt, und der Quan-tentheorie zur so genannten relativis-tischen Quantenfeldtheorie.

Letztlich werden alle Phänomene in der Physik auf Wechselwirkungen zwischen Teilchen zurückgeführt. Wir kennen drei Sorten lang-reich-weitiger Wechselwirkungen, die über große Distanzen zu spüren sind, und drei Sorten kurz-reichweitiger Wech-selwirkungen, die nur in der sub-atomaren Welt spürbar werden. Die lang-reichweitigen Kräfte sind uns aus dem täglichen Leben bekannt: die elektrischen Kräfte, die magnetischen Kräfte und die Schwerkraft. Die kurz-reichweitigen Kräfte sind unter ande-rem für Radioaktivität, Kernenergie und den Zusammenhalt der Atomker-ne zuständig.

Aber wie lässt sich erklären, dass Kräfte über Entfernungen wirken können, dass beispielsweise der weit entfernte Mond hier auf der Erde Ebbe und Flut verursachen kann? Be-reits in der klassischen Physik wurde die Fernwirkung der Kräfte dadurch beschrieben, dass Felder eingeführt wurden, die sich in dem zunächst lee-ren Raum ausbreiten und ihre Wir-kung dann lokal ausüben. Auf diese Weise werden Fernwirkungen in der Physik generell auf lokal wirkende Prozesse zurückgeführt. Der Mond wirkt also auf die Erde dadurch, dass sich vom Mond aus ein Gravitations-feld ausbreitet, das dann die Erde umgibt und dort seine Wirkung zeigt. Die Natur dieser Kraftfelder bekam später im Rahmen der Quantentheo-rie eine neue Interpretation: Die den Raum ausfüllenden Felder bestehen in Wirklichkeit aus Quantenfluktua-tionen von speziellen Austauschteil-chen, den Bosonen, benannt nach dem indischen Physiker Satyendra Nath Bose. Sie können quasi aus dem Nichts jederzeit entstehen und wie-der verschwinden und sind in der Lage, Energie, Impuls und viele an-dere Eigenschaften von Ort A nach B zu transportieren. Das bekannteste Boson ist das Photon, also das Licht-teilchen. Photonen sind also nicht nur die Bausteine von Licht, Radiowel-len oder Röntgenstrahlung, sondern sie sind auch die mikroskopischen Bestandteile jedes elektrischen oder magnetischen Feldes.

Abb. 1: Der ATLAS-Detektor ist in einer großen Kaverne 100 m unter der Erde aufgebaut. Die während der Bauphase zu sehenden acht Röhren beinhalten die supraleitenden Spulen, die den ganzen Raum mit einem starken Magnetfeld füllen. Der gesamte hier zu sehende Raum wurde anschließend mit empfindlichen, hoch auflösenden Detektoren ausgefüllt, die in der Lage sind, die bei der Kollision entstehenden Teilchen und Antiteilchen zu messen. © 2012 CERN ATLAS Experiment

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Düren, Stenzel

wozu ist das higgs-teilchen gut?

Das Higgs-Teilchen wurde erfunden, um den Teilchen Masse zu geben. Ohne Masse würden sich alle Teilchen mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, wie Albert Einstein in seiner spezi-ellen Relativitätstheorie gezeigt hat. Eine Welt ohne träge Masse ist also nicht denkbar. Aber wieso braucht man ein Higgs-Teilchen, damit Teil-chen Masse haben?

Nach der Einstein’schen Formel E=mc2 gibt es eine Äquivalenz von Mas-se und Energie. Jede Energieform kann sich in einem gebundenen System als Masse manifestieren. Die Masse des Protons beispielsweise besteht weit ge-hend aus der Bewegungs- und der Bin-dungsenergie seiner Bestandteile, den Quarks und Gluonen (1). Somit könnte man denken, dass alle Massen als reine „Energiebälle“ zu verstehen sind. Das ist aber nicht der Fall.

Um das zu verstehen, gehen wir zurück in die 1960er Jahre. Damals wurden wesentliche Teile des Stan-dardmodells der Teilchenphysik ent-wickelt. Es wurde eine Theorie ent-wickelt, die es erlaubte, die schwache Wechselwirkung quantenfeldtheore-tisch zu beschreiben. Diese Theorie sagte die Existenz von zwei neuen Austauschteilchen vorher, die anders als das masselose Photon eine große Masse haben mussten. Diese massi-ven W- und Z-Bosonen konnten 20 Jahre später als reale Teilchen im Ex-periment nachgewiesen werden (2), (3). Die Theorie hatte in den 1960er Jahren aber noch einen „Schönheits-fehler“: Setzte man die postulierten Massenwerte für die W- und Z-Bo-sonen in die Formeln der Quanten-feldtheorie ein, so erhielt man zwar zunächst die richtigen Ergebnisse, es zeigte sich jedoch, dass die so for-mulierte Theorie mathematisch nicht korrekt war. Wann immer man die Massenwerte der Austauschteilchen explizit in die Theorie einbauen woll-te, traten Unendlichkeiten in der The-orie auf, die nicht „renormierbar“, also nicht praktisch handhabbar wa-ren.

Statt die quantenfeldtheoretische Beschreibung der W- und Z-Bosonen zu verwerfen, erfanden Peter Higgs (4; 5; 6; 7) und andere im Jahre 1964 einen mathematischen Trick: Sie setzten die Masse der Teilchen nicht explizit in die Formeln der Feldtheo-rie ein, sondern sie postulierten die Existenz eines neuen Feldes, des Higgs-Feldes, welches durch seine Wechselwirkung mit den W- und Z-Bosonen diesen eine Trägheit und damit eine Masse gab. Da das Higgs-Teilchen nicht nur mit den W- und Z-Bosonen, sondern laut Theorie auch mit anderen Teilchen und auch mit sich selbst wechselwirkt, bekommen alle diese Teilchen träge Massen, und das Higgs-Teilchen selbst bekommt auch eine Masse. Je stärker ein Teil-

wechselwirkung Quant Phänomen

lange Reichweite:

MagnetfeldPhoton

Magnetismus, Elektrizität, Licht, Radiowellen, Röntgen-strahlen, …elektrisches Feld

Gravitationsfeld GravitonSchwerkraft, Gravitationswellen

kurze Reichweite:

schwache Wechselwirkung W-, Z-Boson Radioaktivität (β-Zerfall)

starke Wechselwirkung Gluon Kernkraft

Higgs-Feld Higgs-Boson Trägheit der Masse

Die Phänomene in der Natur werden in der Physik auf Wechselwirkungen zwi-schen Teilchen zurückgeführt. Diese Wechselwirkungen werden einerseits durch Felder, andererseits durch so genannte Austauschquanten beschrieben. Das bekannteste Austauschteilchen ist das Photon oder Lichtteilchen. Noch völlig ungeklärt ist die Existenz des Gravitons und der zugehörigen Gravitati-onswellen. Auf sub-atomarem Niveau wirkt die so genannte schwache Wech-selwirkung, die durch die inzwischen gut studierten W- und Z-Bosonen ver-mittelt wird, sowie die starke Wechselwirkung, die von Gluonen hervorgerufen wird. Während die W- und Z-Bosonen den Zerfall der Atomkerne verursachen, sind die Gluonen für den Zusammenhalt der Atomkerne verantwortlich. Das Gluon bekam seinen Namen aufgrund seiner Eigenschaft, die Quarks – also die Bestandteile von Proton und Neutron – so stark zusammen zu kleben (engl. „glue“), dass die Quarks nie als einzelne freie Teilchen in der Welt zu finden sind, sondern nur in Gruppen von zwei oder drei Teilchen bzw. Antiteilchen. Das Higgs-Teilchen, auch Higgs-Boson genannt, ist das letzte im Standardmo-dell der subatomaren Physik vorhergesagte Teilchen. Es spielt in der quanten-theoretischen Beschreibung der subatomaren Physik eine besonders wichtige Rolle.

liste der fundamentalen kräfte in der natur

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Das Higgs-Teilchen und der Rest der Welt

chen mit dem Higgs reagiert, desto größer ist seine Masse.

Das so postulierte Higgs-Feld, das die gesamte Welt ausfüllt, hatte also keinerlei physikalischen Nutzen, au-ßer dass es die Theorie rettete. Seit 48 Jahren beruhte somit das Fundament der Teilchenphysik auf einem mathe-matischen Trick, für den es keinerlei experimentelle Verifikation gab. Ist das Higgs-Feld, das sich durch nichts äußert, außer dass es den Teilchen Masse gibt, real oder nur eine Erfin-dung verzweifelter Theoretiker? Erst der Nachweis des Higgs-Teilchens im Experiment stellt die Theorie auf so-liden Boden.

wie wird das higgs-teilchen nachgewiesen?

Eines der wenigen Dinge, welche die Theorie von Peter Higgs nicht vor-hersagen konnte, war die Masse des Higgs-Teilchens. Nach Jahrzehnten vergeblicher Suche nach dem Higgs-Teilchen in verschiedenen Beschleu-nigeranlagen der Welt wurden in Genf der LHC-Beschleuniger (Large Hadron

Collider) (8) sowie zwei große Teil-chendetektoren ATLAS (A Toroidal LHC ApparatuS) (9) und CMS (Compact Muon Spectrometer) (10) gebaut mit dem Ziel, endgültig zu zeigen, ob das

Higgs-Teilchen existiert oder nicht. Das Prinzip der Experimente ist ein-fach: Protonen hoher Energie wer-den frontal aufeinander geschossen (Abb. 2). Bei den hochenergetischen Kollisionen der Quarks und Gluonen im Proton werden neue Teilchen und Antiteilchen produziert. Wenn Higgs-Teilchen existieren, so sollten sie bei diesen Kollisionen – mit einer gewis-

sen, aber sehr geringen Wahrschein-lichkeit – kurzzeitig in Erscheinung treten, dann aber sofort wieder zer-fallen. Die Zerfallsprodukte wiede-rum sind in den Detektoren ATLAS und CMS messbar.

Die technologischen Herausforde-rungen zur Messung der Higgs-Teil-chen stoßen aus zwei Gründen an die Grenzen des technisch Machbaren: Erstens muss die Energie der Teil-chen sehr hoch sein, damit überhaupt Higgs-Teilchen bei den Kollisionen entstehen, und zweitens sind Reak-tionen mit Higgs-Teilchen extrem selten, so dass sehr viele Kollisio-nen studiert werden müssen, um ein Higgs-Teilchen zu finden.

Gesucht wurde das Higgs-Teilchen am CERN in dem Massebereich von etwa 100 bis 600 GeV/c2. Die in der Teilchenphysik übliche Einheit GeV bezeichnet eine Energie, die ein Proton aufnimmt, wenn es in einem elektrischen Feld der Spannung von einer Milliarde Volt beschleunigt wird. Nach der Einstein’schen Formel

spontane symmetriebrechung

Die Theorie von Peter Higgs nutzt ein weiteres bemerkenswertes Phänomen, das mit dem Begriff der spontanen Symmetriebrechung bezeichnet wird. Vereinfacht gesagt bezeichnet dieses Phänomen

die Tatsache, dass die reale Welt oft weniger Symmetrien aufweist, als sie eigentlich haben müsste. Folgendes Bei-spiel aus der klassischen Physik illustriert das: Wird eine Eisenkugel auf 770°C erhitzt, so verliert sie ihren Magne-tismus. Die heiße Kugel wird unmagnetisch, und sie besitzt völlige Rotationssymmetrie. Wird die Kugel langsam abge-

kühlt, so bilden sich in der Kugel mikroskopisch kleine Bereiche, die so genannten Weiss’schen Bezirke, in denen sich ein Magnet-feld in einer bestimmten Richtung ausbildet. Die Theorie sagt vo-raus, dass sich solche Vorzugsrichtungen ausbilden müssen, aber es gibt keine Möglichkeit die Richtung vorherzusagen. Somit wird während der Abkühlung spontan, also auf unvorhersagbare Weise, die ursprüngliche Rotationssymmetrie zerstört. Auf ähnliche Weise wurde nach dem Urknall, als sich unser Weltall abkühlte, auch das Higgs-Feld erzeugt. Dabei wurden Symmetrien gebrochen, die heu-te zwar noch in den Formeln der Theoretiker, aber nicht mehr in der realen Welt des Experimentalphysikers zu finden sind.

Abb. 2: Protonen werden im CERN in Genf mit hohen Energien aufeinan-der geschossen, um neue Teilchen und Antiteilchen zu erzeugen. Nach vielen Monaten Messzeit mit extrem hohen Raten von bis zu 600 Millionen Ereignissen pro Sekunde konnten im Juli 2012 einige Hundert Ereignisse selektiert werden, bei denen ein neuartiges Teilchen entstanden war.

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8 Justus-Liebig-Universität Gießen

Düren, Stenzel

E=mc2 kann aus purer Energie von 1 GeV dann eine Masse von 1 GeV/c2

erzeugt werden, was etwa 1,8⋅10-24

Gramm entspricht. Um genügend Kol-lisionsenergie für die Erzeugung des Higgs-Teilchen bereit zu stellen, wur-den die Protonen auf eine kinetische Energie beschleunigt, die einer Span-nung von 4000 Milliarden Volt ent-spricht. Aus der Größe dieser Energie

tischen Zerfallsteilchen abzubremsen. Auch braucht es riesige Magnetfelder, um die schnellen Teilchen abzulenken und aus der Bahnkrümmung ihre Ge-schwindigkeit bestimmen zu können. Der ATLAS-Detektor ist der größte je gebaute Teilchendetektor an einem Be-schleuniger mit 46 m Länge und 25 m Durchmesser. Er befindet sich in einer großen Kaverne 100 m unter der Erde (siehe Abb. 1).

Da die Entstehung von Higgs-Teil-chen bei der Kollision von Quarks und Gluonen ein extrem seltener Prozess ist, müssen sehr viele Teilchenkollisi-onen studiert werden, um ein Higgs-Teilchen zu finden. Bis zu 600 Milli-onen Ereignisse pro Sekunde werden rund um die Uhr erzeugt und ausge-wertet, um dann nach Monaten einige Hundert Higgs-Teilchen nachgewie-sen zu haben. Die riesigen Datenmen-gen des komplexen ATLAS-Detektors werden in einem weltweiten Netz von Rechenzentren simultan analysiert.

erklärt sich, dass der Beschleuniger so groß sein muss.

Der LHC-Beschleuniger ist der welt-größte Beschleuniger und hat einem Umfang von 27 km. Die Größe der De-tektoren ATLAS und CMS folgt daraus, dass die beim Zerfall des Higgs-Teil-chens entstehenden Teilchen eine enor-me Energie haben und es großer Menge an Materie bedarf, um die hochenerge-

Die autOren

Michael Düren, Jahrgang 1957, hat an der RWTH Aachen Physik studiert und über nukleare Effekte auf Quarks im Atomkern in einem Experiment am CERN in Genf promoviert. Anschließend war er am Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg und an der Universität Erlangen-Nürnberg tätig. 1996 habilitierte er sich über das HERMES-Experiment am DESY in Hamburg. Nach einer Lehrstuhlvertretung in Bayreuth wurde er 2001 nach Gie-ßen berufen. Im Rahmen großer internationaler Kooperationen am CERN, DESY und der GSI/FAIR führt er Experimente zur Erforschung der inneren Struktur des Protons durch. Seit 1998 ist Prof. Düren Mitglied im Arbeitskreis Energie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft und setzt sich dort mit technisch-ge-sellschaftlichen Aspekten der Energieversorgung und der Klima-

problematik auseinander. Er gehört zu den Initiatoren der SEPA-Gruppe (Solar-energiepartnerschaft mit Afrika) an der Universität Gießen und ist Koordinator des Akademischen Netz-werkes der DESERTEC-Stiftung.

hasko stenzel, Jahrgang 1964, promovierte an der Universität Hei-delberg zu einem Thema der starken Wechselwirkung am ALEPH-Experiment am CERN. Anschließend befasste er sich am Max-Planck-Institut für Physik in München bereits mit ersten Vorarbeiten

zum ATLAS-Experiment und führte Datenanalysen mit dem ALEPH-Experiment fort. Seit 2002 ist Dr. Stenzel als Akademischer Rat an der Universität Gießen und kon-zentriert seine Forschungs-arbeiten seit 2006 auf das ATLAS-Experiment.

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Das Higgs-Teilchen und der Rest der Welt

Die mathematische Physik, eine Meis-terleistung des menschlichen Geistes, hat ihre Vorhersagekraft abermals be-wiesen! Die Vorhersage und der Nach-weis des neuen Teilchens ist aber nicht nur eine Meisterleistung der Physik und der Technik. Die LHC-Experi-mente wurden erst dadurch möglich, dass sich Tausende von Physikern und Ingenieuren aus der ganzen Welt or-ganisiert und zusammengetan haben, um gemeinsam dieses Problem des Ursprungs unserer Materie zu lösen.

Das CERN ist ein Prototyp für eine internationale Organisation, die es über nationale und kulturelle Schranken hinweg hoch motivierten und Ziel orientierten Wissenschaft-lern ermöglicht, Dinge zu erreichen, die oft für unmöglich gehalten wur-den, und sich so den Grenzen des menschlich Machbaren zu nähern.

In diesem Sinne hat das CERN in Genf Modellcharakter auch für den nicht-naturwissenschaftlichen Be-reich und trägt zu der Hoffnung bei,

Der nachweis des higgs-teilchens

Am 4. Juli 2012 wurde am CERN bekannt gegeben, dass sowohl im CMS-Detektor (11) als auch im ATLAS-Detektor (12) übereinstim-mend und unabhängig von einander ein neues Teilchen entdeckt wurde, das eine Masse von etwa 126 GeV/c2 bzw. 2,25⋅10-22 g hat und damit 135 mal so schwer wie ein Wasserstoffatom ist. Es ist davon auszugehen, dass es sich dabei um das lange gesuchte Higgs-Teilchen handelt. Genauere Messun-gen in den nächsten Monaten müssen zeigen, ob das neu entdeckte Teilchen wirklich genau die Eigenschaften hat, wie sie vom Standardmodell der Teil-chenphysik für das Higgs-Teilchen vorhergesagt werden.

Prinzipiell kann es sich bei dem neuen Teilchen allerdings auch um eine ganz neue Klasse von Teilchen handeln. Wir wissen heutzutage, dass das Weltall so genannte dunkle

Materie beinhaltet, die nicht durch Teilchen des Standardmodells be-schrieben werden kann. Es besteht die Hoffnung, dass im LHC auch neue Teilchen jenseits des Standardmodells gefunden werden.

Abbildung 3 zeigt ein Ereignis eines einzelnen solchen Higgs-Kandidaten, der in diesem Fall in vier Myonen (dargestellt als rote Linien) zerfallen ist. Myonen sind Elementarteilchen, die mit den Elektronen verwandt sind. Eine statistische Analyse von Hun-derten solcher Higgs-Kandidaten mit verschiedenen Zerfallskanälen führte dann zu dem eigentlichen Ergebnis der Higgs-Messungen bei ATLAS, wie in Abbildung 4 dargestellt.

Das cern: Prototyp für globale Zusammenarbeit auf höchstem niveau

Peter Higgs erfand als junger Mann einen Mechanismus, der sich jetzt im hohen Alter als korrekt erwiesen hat.

Abb. 3: Diese Computergrafik zeigt eines der potenziellen Higgs-Ereignisse (gemessen am 10. Juni 2012). Die vier roten Spuren sind Myonen, die aus dem Zerfall des neuen Teilchens stammen. Aus den Winkeln und der Krümmung der roten Linien wurde die Masse von 126 GeV/c2 berechnet. Die orange-farbenen Spuren zeigen Hunderte weiterer Teilchen, die bei der Kollision der beiden Protonenpakete außerdem noch entstanden sind. Die grauen Röhren in der Grafik deuten die Magnetspulen an, wie sie auch in Abbildung 1 zu sehen sind. Die grünen und blauen Quader deuten diejenigen Subdetektoren an, durch die die Myonen geflogen sind und in denen die Winkel- und Impulsbe-stimmung der Myonen stattgefunden haben. © 2012 CERN ATLAS Experiment

Abb. 4: Die durchgezogene schwar-ze Kurve zeigt die Messergebnisse zu der Suche nach dem Higgs-Teilchen im ATLAS-Detektor. Bei einer Masse von 126 GeV/c2 weicht der Messwert signifikant von den erwarteten Untergrundereignissen ab, die als grüne und gelbe Bänder dargestellt werden. Vertikal ist eine Größe aufgetragen, aus der sich die statisti-sche Signifikanz der Entdeckung des neuen Teilchens herleiten lässt. © 2012 CERN ATLAS Experiment

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Düren, Stenzel

10 Justus-Liebig-Universität Gießen

Im Jahr 2006 hat sich unsere Arbeitsgruppe am II. Physika-lischen Institut der ATLAS-Kollaboration am CERN ange-schlossen. Eine Kernaufgabe bestand darin, die Detektoren für das ALFA-Projekt zu bauen. ALFA steht für Absolute Luminosity For ATLAS (13) und soll zusammen mit anderen Subdetektoren die Luminosität des LHC am ATLAS-Wechsel-wirkungspunkt bestimmen. Die Luminosität eines Teilchen-beschleunigers ist eine wichtige Größe, die angibt, wie häufig die Teilchen – im Falle des LHC sind es Protonen – an den Kreuzungsstellen der Strahlen kollidieren. Dies ist z.B. im Falle des Higgs von Bedeutung, wenn man die beobachtete Häufigkeit der Produktion des Higgs-Bosons mit den theo-retischen Erwartungen vergleichen möchte, und kann Auf-schlüsse darüber liefern, ob es sich bei dem jetzt entdeckten Boson tatsächlich um das lang erwartete letzte fehlende Teil-chen des Standardmodells der Teilchenphysik handelt oder womöglich um ein anderes exotischeres Teilchen.

Einer der insgesamt zehn ALFA-Detektoren ist in Abbil-dung 5 gezeigt. Auffällig sind die zahlreichen Fasern, die zum einen als Nachweismedium für den Durchgang von ge-ladenen Teilchen dienen und zum anderen das bei diesem Durchgang entstehende Lichtsignal weiter transportieren, ähnlich wie beim Informationstransport in optischen Fasern.

Aus der Kombination der Fasern, die beim Durchgang von Protonen aus Kollisionen am LHC angesprochen haben, lässt sich sehr genau die Flugbahn der Protonen bestimmen. Dazu war es jedoch nötig, beim Bau des Detektors die Fasern mit größter Präzision auszurichten, wozu die mechanische Werkstatt der Physikalischen Institute in Gießen aufwendige Vorrichtungen hergestellt hatte. Schlussendlich wurde eine Präzision in der Faserausrichtung von 0.03 mm erreicht, die den Anforderungen des Experimentes mehr als genügen.

Der Detektorbau konnte 2010 abgeschlossen werden, und im selben Jahr wurde der Detektor – nach umfangreichen Tests – in den LHC eingebaut. Das Detektorsystem hat zwei Besonderheiten: Es kann bis auf wenige Millimeter an den LHC-Protonenstrahl herangefahren werden und hat da-mit einen kleineren Abstand vom Strahl als jeder andere ATLAS-Detektor. Gleichzeitig befinden sich die Detektoren 240 m strahlabwärts vom Wechselwirkungspunkt und sind damit sehr weit von den anderen ATLAS-Detektoren ent-fernt. Dadurch können Protonen gemessen werden, die den Wechselwirkungspunkt unter einem winzigen Streuwinkel von etwa 0.03° verlassen. Solche kleinen Streuwinkel ent-stehen bei der elastischen Streuung und bei der so genann-ten diffraktiven Streuung, deren Messung zur Bestimmung der Luminosität und anderer fundamentaler Parameter das Ziel von ALFA ist.

Der ALFA-Detektor konnte im Jahre 2011 den Betrieb aufnehmen und hat bereits große Mengen an viel verspre-chenden Daten geliefert. Gegenwärtig befassen sich die Gießener Forscher federführend mit der Analyse der spezi-ellen ALFA-Daten und rechnen mit einer ersten Publikation dieser Ergebnisse noch in diesem Jahr.

Ermöglicht wurde die Arbeit der Gießener Gruppe im ATLAS-Experiment durch die Forschungsförderung des BMBF im Rahmen des Forschungsschwerpunktes FSP 101. Durch den Zusammenschluss von 18 deutschen Universitä-ten, zwei Helmholtz-Zentren und einem Max-Planck-Insti-tut zur Helmholtz-Allianz „Physik an der Teraskala“ wurde die deutsche Teilchenphysik zu einem nationalen Netz-werk gebündelt. Die Allianz unterstützt die Ausbildung und Entwicklung des wissenschaftlichen Nachwuchses durch Schulen und Workshops, fördert junge Spitzenfor-scher durch die Einrichtung von Jungforschergruppen und ermöglicht es Wissenschaftlern, an leitender Stelle in den aktuellen Großprojekten zu wirken.

Gießens anteil am größten teilchenphysik-experiment der Menschheit

Abb. 5: Ein in Gießen produzierter ALFA-Detektor. Der Detektor besteht aus 1500 szintillierenden Fasern die beim Durchflug von geladenen Teilchen Lichtblitze erzeugen, welche dann von empfindlichen Photodetektoren regist-riert werden. © 2010 Sune Jakobsen

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 11

Das Higgs-Teilchen und der Rest der Welt

8. L. Evans, P. Bryant: JINST, 2008, Bd. 3, S08001.

9. ATLAS Collaboration: JINST, 2008, Bd. 3, S08003.

10. CMS Collaboration: JINST, 2008, Bd. 3, S08004.

11. CMS Collaboration: Phys. Lett. 2012, Bd. B 716, 30.

12. ATLAS Collaboration: Phys. Lett. 2012, Bd. B 716, 1.

13. ATLAS Collaboration: CERN/LHCC/2008-004. 2008.

kOntakt

Prof. Dr. Michael Düren Dr. hasko stenzel Justus-Liebig-Universität II. Physikalisches Institut Heinrich-Buff-Ring 16, 35392 Gießen Telefon: 0641 99-33220/-33222 [email protected] [email protected]

dass wir eines Tages auch die drän-genden Probleme unserer globalen Gesellschaft effizient angehen und lö-sen werden. •

Ǻ literatur

1. Ch. Fischer et al.: Spiegel der For-schung, Nr. 1/2012, 60.

2. UA1 Collaboration: Phys. Lett., 1983, Bd. B 122, 103.

3. UA2 Collaboration: Phys. Lett., 1983, Bd. B 122, 476.

4. P.W. Higgs: Phys. Lett., 1964, Bd. 12, 131, S. 132.

5. P.W. Higgs: Phys. Rev. Lett., 1964, Bd. 13, 508.

6. C.S. Guralnik, C.R. Hagen, T.W.B. Kibble: Phys. Rev. Lett., 1964, Bd. 13, 585.

7. F. Englert, R. Brout: Phys. Rev. Lett., 1964, Bd. 13, 321.

Abb. 6: Am CERN arbeiten Tausende hoch motivierter Wissenschaftler (hier Mitglieder der ATLAS-Kollaboration) aus aller Welt gemeinsam an einem Ziel. © 2012 CERN ATLAS Experiment

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12 Justus-Liebig-Universität Gießen

Zur wirtschaftlichen und sozialen lage im Vormärzwie lebte die Bevölkerung in und um Gießen zwischen 1815 und 1848*

Von Heinrich Brinkmann

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 13

Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im Vormärz

Die Jahre 2012 und 2013 sind aus

anlass des 175. todestags und des

200. Geburtstags dem andenken an

Georg Büchner (1813-1837) gewid-

met. Büchner, am 17. Oktober 1813

in Goddelau bei Darmstadt geboren,

studierte 1833/34 an der Großher-

zoglichen landesuniversität Gießen.

hier hatte er kontakt zu oppositio-

nellen Bewegungen, wie den „Gie-

ßener schwarzen“, und gründete

die Gesellschaft für Menschenrech-

te, eine Geheimorganisation nach

französischem Vorbild, deren Ziel

ein umsturz der politischen Ver-

hältnisse war. anfang 1834 lernte er

den Butzbacher rektor und Pfarrer

friedrich ludwig weidig kennen,

mit dem er den hessischen land-

boten, eine achtseitige flugschrift

gegen die sozialen Missstände der

Zeit, verfasste. wie lebte damals, in

der Zeit des so genannten Vormärz,

die Bevölkerung in Oberhessen

und in Gießen? „Oberhessen war

eines der rückständigsten und

ärmsten Gebiete, die es damals in

Deutschland gab“, schreibt heinrich

Brinkmann in seinem aufsatz über

„Politische strategien im Vormärz

(1815-1848) – Büchner und liebig“,

der hier im auszug dokumentiert

wird.

… Schaut man sich in der Zeit des Vormärzes um, so

ist auffällig, daß zwei Univer-sitätsstädte besonders in die po-

litischen Unruhen dieser Jahre verwi-ckelt gewesen sind: Jena und Gießen. Zwischen den beiden Städten gab es eine rege Fluktuation politisch aktiver Studenten. Läßt man Jena außen vor und beschränkt sich auf Gießen, so ist die Frage berechtigt, warum gerade die Gießener Studenten mindestens bis zu den Karlsbader Beschlüssen 1819 führend an den Bewegungen des Vormärz beteiligt gewesen sind.

Es mag als Platitüde erscheinen, wenn man angesichts der damaligen politischen Misere darauf hinweist, daß sie sich in besonders krasser Weise in Oberhessen ausprägte und demzufolge auch besonders heftige Reaktionen in Gießen hervorrief. Ober-hessen war eines der rückständigsten und ärmsten Gebiete, die es damals in Deutschland gab. Eugen Katz, ein Schüler Lujo Brentanos, hat 1904 in seiner Dissertation „Landarbeiter und Landwirtschaft – Die Entwicklung der Landwirtschaft seit der Mitte des 18. Jahrhunderts“ dargestellt.

Die Durchschnittsgröße der Höfe lag zwischen 1,2 Hektar (=ha) in Ul-richstein und 5 ha in Gettenau. Diese Hofgrößen reichten kaum zu einem an-ständigen Sterben, geschweige denn

für ein anständiges Leben aus. Noch drückender war die Situation der Bei-sassen, deren von ihnen selbst bestellte Flächen zwischen 0,03 ha in Homberg und 1,8 ha in Langgöns lagen.

Wenn auch diese Zahlen aus dem Jahre 1776 stammen, so wird man doch davon ausgehen können, daß die Verhältnisse sich am Tage der Bau-ernbefreiung im Großherzogtum, am 25. Mai 1811, kaum geändert haben dürften. Die Freisetzung der Bauern bedeutete nicht, daß sie selbständig wirtschaftende Subjekte geworden waren, vielmehr kam dadurch auf die Bauern eine hohe Verschuldung zu. Denn die bisher in Naturalien, körperlicher Arbeit und auch in Geld erbrachten Leistungen für die Grund-herren mußten nun abgelöst werden. Viele Bauern waren dadurch finanziell überfordert, gaben ihr Land auf und übergaben es an den Gutsherrn, so daß sie sich nun als Tagelöhner ver-dingen mußten. Wenn irgend möglich, wurde bevorzugt nach Amerika aus-gewandert.

Angesichts der geringen Betriebs-größen übten viele Bauern vornehm-lich im Winter schon seit Urzeiten ein Nebengewerbe in Form des Ver-lagswesens aus: die Spinnerei und Weberei. Während der napoleoni-schen Kontinentalsperre, der Ab-schottung des europäischen Marktes

In „Georg-Büchner-Universität“ nannten die protestierenden Studie-renden im Mai 1968 die Justus-Lie-big-Universität Gießen um.Foto: Archiv

* Auszug aus dem Artikel „Politische Strategien im Vormärz (1815-1848) – Büchner und Liebig“ von Heinrich Brinkmann, in: 800 Jahre Gießener Geschichte 1197-1997. Herausgegeben im Auftrag des Magistrats der Univer-sitätsstadt Gießen von Ludwig Brake und Heinrich Brinkmann, Gießen 1997, Seite 150 ff., mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber. Die Fußnoten konnten in diesem Kontext nicht berücksichtigt werden.

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14 Justus-Liebig-Universität Gießen

Brinkmann

schränkt zur Beschaffung von Brenn-holz nutzen konnten. Zu dem Verlust der Almende und den Ablösezahlun-gen kam noch das Steueraufkommen hinzu, das angesichts der hohen Ver-schuldung des Darmstädter Hofes recht drückend gewesen ist. Bereits in normalen Zeiten waren die Bauern bis an ihre Grenzen belastet.

Liebig, der diesen Prozeß beobach-tete, schreibt: „Der kleine Bauer ist unvermögend, sich auf seinem Besitze zu behaupten, weil er ihm durch die steigende Abnahme der Erträge seiner Felder seinen und seiner Familie Un-terhalt nicht mehr abgewinnen kann. Während sonst 20 Acker hierzu genug waren, sind jetzt 40 Acker dazu nötig; er verkauft sein Feld und wandert mit dem Rest seiner Habe aus, oder er ver-kommt und wird Tagelöhner bei einem großen Landbesitzer.“

Wenn dann zu diesen normalen Be-schwerden Mißernten und Hungers-nöte hinzukamen, war die Situation unerträglich geworden. Auch hier hat Liebig hellsichtiger als derzeit man-cher Historiker bereits die Probleme benannt und zugleich auch das Schlüs-selerlebnis bezeichnet, das ihn zu sei-ner Forschung veranlaßte; „Wenn die-se Kriege nicht stattgehabt hätten und die Population auf dem Continente von 1790 bis 1815 in einer ähnlichen Pro-gression sich vermehrt hätte, wie dies jetzt geschieht, so würden ein paar

Millionen Menschen mehr die Hun-gerjahre 1816 und 1817 erlebt haben, und wer sich dieser Zeit erinnert, der wird nicht zweifelhaft darüber sein können, daß alsdann Zustände in vie-len europäischen Ländern eingetreten wären, von einer Schrecklichkeit, wie sie das Mittelalter nicht gekannt hat.“

Wilhelm Bingsohn hat in einer bis-her unveröffentlichten Zusammen-stellung der Preisentwicklung für die wichtigsten Grundnahrungsmittel in Gießen das bestätigen können, was Wilhelm Abel in seinen beiden Bü-chern „Agrarkrisen und Agrarkon-junktur“ und „Massenarmut und Hun-gerkrisen im vorindustriellen Europa“ generell für Europa herausgefunden hatte: Es gab drei Nahrungskrisen im Vormärz, die bemerkenswerterweise in ihrer Begleitung oder auch leicht phasenverzögert mit sozialen und po-litischen Unruhen verbunden waren. Mit Blick auf Frankreich bemerkt Abel allerdings einschränkend, nachdem er die Jahre der sozialen und politischen Aufstände im 18. Und 19. Jahrhundert in Frankreich aufgezählt hat: „Das wa-ren mit geringen Abweichungen, …, die Hungerjahre auch in deutschen Territorien, doch fehlten bei uns – mit vielleicht wenigen noch nicht entdeck-ten Ausnahmen – die Aufstände des hungernden Volkes.“ Wenn auch nicht das Volk rebellierte, so fand doch im-merhin 1817 das Wartburgfest statt, das der Obrigkeit einige Kopfschmer-zen bereitete und das von Gießener Studenten ausging.

Blickt man auf Gießen, so hat sich die Situation durch die Schleifung der Mauern insofern geändert, als nun nicht nur im übertragenen Sin-ne frische Luft in die Stadt eindrin-gen konnte. Welche Beleidigung für die Nase Gießen gewesen sein muß angesichts der teilweise 15 m hohen Stadtmauern, macht man sich dann klar, wenn man daran denkt, daß eine Kanalisation fehlte, jedes Haus einen eigenen, selten geruchsdicht

gegen britische Ware, gab es hier wie auch sonst in Deutschland einen Auf-schwung dieses Nebengewerbes. Als sich nach der Niederlage Napoleons der europäische Markt wieder öffnete und die britischen Tuchwaren, die z.T. bereits maschinell hergestellt wur-den und deswegen billiger waren als die in Handarbeit gefertigten Waren, den deutschen Markt überschwemm-ten, brach ein langfristig aussichtslo-ser Konkurrenzkampf zwischen den englischen und u.a. den Produkten der hessischen Heimindustrie aus, die nicht über genügend Kapital verfügte, ebenfalls maschinell zu produzieren. Damit verloren die Bauern eine wich-tige Erwerbsquelle.

Ihre Situation verschärfte sich noch dadurch, daß die Großbauern, so-fern sie es sich leisten konnten, und die Grundherren, die bis dato allen zur Verfügung stehenden Weideflä-chen, die Gewässer und die Wälder privatisierten, also die Kleinbauern von der unentgeltlichen Nutzung aus-schlossen, die somit ihr Weidevieh einschränken mußten und auch die Wälder nicht mehr oder nur einge-

Die Badenburg bei Gießen: Georg Büchner traf sich hier mit republika-nischen Revolutionären und verfasste den Hessischen Landboten.

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 15

Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im Vormärz

verschlossenen Abort hatte. Zudem wurden meist Kleinvieh, Geflügel, sel-tener schon Schweine, Ziegen, auch Schafe usw. gehalten, manchmal noch Pferde und Kühe, deren Mist wohl eher offen gelagert, denn verborgen wurde. Hinzu kamen so geruchsinten-sive Handwerke wie Lohgerber und Tuchwalker. Die meisten Häuser hat-ten eigene Brunnen, wobei angesichts der hygienischen Zustände über der Erde die keimfreie Qualität des dicht unter dem Boden liegenden Grund-wassers und damit des geschöpften Wassers zumindest in Zweifel ge-zogen werden darf. Wenn zu diesen fehlenden hygienischen Bedingungen der menschliche Organismus durch Hunger geschwächt wurde und da-mit die körperlichen Abwehrkräfte reduziert waren, dann kann man sich leicht vorstellen, welche katastropha-len Auswirkungen Hungersnöte haben

mußten: Pest in früheren Jahrhunder-ten, im 19. Jahrhundert vor allem die Cholera waren die Folgen. Insofern mag die idyllische Schilderung, die Hauschild wesentlich gestützt auf Carl Vogts „Erinnerungen“ vorlegt, zu eini-gem Mißtrauen Anlaß geben.

Gleichwohl sind ein paar Zahlen von Interesse. „Im Jahr 1812 lag Gießens Einwohnerzahl bei 5200; 1830 zählt Wagner unter Einschluß der teils aus-wärtigen Studenten und Gymnasiasten 7224 Seelen. Nur etwa 20% der Er-wachsenen waren abhängig beschäf-tigt.“ Wenn diese Angaben richtig sind, dann spricht dies dafür, daß die Gieße-ner Handwerks- und Kaufmannsbetrie-be zumeist Familienbetriebe gewesen sein müssen, in denen nur in seltenen Fällen fremde Personen angestellt wa-ren. Bei dieser Größe waren die Betrie-be hoch krisenanfällig.

Hausschild weist darauf hin, daß durch Georg Philipp Gail am Kreuz-platz eine neue zeitgemäße Form des Wirtschaftens einzog. „Mit Beginn der Rauch-Tabakfabrikation von Ge-org Philipp Gail am Kreuzplatz hielt die Industrialisierung in Gießen Ein-

zug. 1822 beschäftigte Gail, der bald drauf Bürgermeister wurde, bereits 40 Mitarbeiter.“

Diese neue Form der Produktion scheint zunächst kaum einen Einfluß auf das übrige Wirtschaften gehabt zu haben; bis weit nach Büchners Tod sollte dies der einzige industrielle Be-trieb bleiben.

Die Zahl der Studenten schwankte zwischen 400 und 600 und betrug da-mit etwa 10% der Bevölkerung. Die-se Studenten waren für Gießen ein so wichtiger Wirtschaftsfaktor, daß man nach Auseinandersetzungen zwischen Studenten und Soldaten 1821 eher bereit war, den Abzug der Soldaten nach Worms hinzunehmen, als auf die Studenten zu verzichten. Eben-so war es die Bürgerschaft, die 1846 die nach Staufenberg ausgezogene Studentenschaft bewog, wieder nach Gießen zurückzukommen, die wäh-rend ihres Auszugs von Bürgern aus Gießen verpflegt wurden. Gießen war auf sein Hinterland angewiesen. Auch dann, wenn es außerordentlich ver-kehrsgünstig lag und deswegen auch aus der weiteren Umgebung – etwa

Der Marktplatz in Gießen im 19. Jahrhundert. Kolorierter Stahl-stich von F. Foltz.

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16 Justus-Liebig-Universität Gießen

Brinkmann

Frankfurt – versorgt werden konnte, waren doch die meisten Gewerbe-treibenden auf die Zulieferung der Produkte der näheren Umgebung ver-wiesen. Fleisch, Getreide, Holz, Tabak und auch die Produkte der Leinwebe-rei gingen zunächst nach Gießen. Ein wichtiger Wirtschaftsfaktor war die Universität nicht nur durch den Zuzug der Studenten, sondern auch durch die Gewerbe, die sich spezifisch um eine Universität anzusiedeln pflegen: Buchhandel, Buchdruckerei, Kliniken und nicht auch zuletzt die Universi-tätsbediensteten selbst.

Die enge Verbindung zum unmittel-baren Hinterland wurde auch dadurch gewahrt, daß viele Gießener Bürger bis in die Professorenkreise hinein einen eigenen kleinen Acker oder Garten vor der Stadt hatten, den sie bestellten und sich so mit eigenem Obst und Gemüse nebst natürlich dem entsprechenden Kleinvieh versorgten. Es ergab sich von daher, daß die Bekanntschaft mit

ten Reformer mit Blick auf die Phase der Terreur in der Französischen Re-volution Angst. In Hessen-Darmstadt wurde, wie übrigens auch in Preu-ßen nach dem Zusammenbruch, das Modell der engen Zusammenarbeit aufgeklärter Intellektueller mit gleich-gesinnten politischen und administra-tiven Eliten favorisiert, ohne daß das Volk selbst in diesen Reformprozeß als politisch mit entscheidendes Sub-jekt einbezogen werden sollte. Die Verfassungsfrage wurde virulent, als man gegen die Massenheere Napole-ons eine Mobilisierung des Volkes nur glaubte erreichen zu können, wenn man dem Volk eine aktive Teilnahme an den politischen Entscheidungspro-zessen in Aussicht stellte. Nach 1815 wurden häufig die Verfassungsschwü-re gebrochen oder doch deren Einlö-sung auf die lange Bank geschoben.

Ein zweites war für die Zeit nach der Niederlage Napoleons bis zu den Karlsbadern Beschlüssen wichtig und prägend für die Entstehung des deut-schen Nationalismus. Frankreich war als Eroberer und Plünderer aufgetre-ten. Die napoleonische Herrschaft über den Kontinent war durch die Nie-derschlagung von Aufständen, Bespit-zelung und Unterdrückung gekenn-zeichnet gewesen, so daß auch die Napoleon hervorbringende Revolution abgelehnt wurde. Was als politische Emanzipation in Frankreich 1789 be-gonnen hatte, war als Unterdrückung, Krieg und in einem Meer von Blut und Zerstörung geendet, zumal Napoleon es nicht unterlies, sich als den Sohn und Vollender der Revolution darzu-stellen. Der deutsche Nationalismus ist auch dort, wo er bewußt gegen die Obrigkeit der Fürstentümer auftrat, durch diese Wunde gezeichnet, die erklärt, daß hinter der These der Erb-feindschaft zu Frankreich auch immer die Ablehnung der Französischen Re-volution stand.

Menschen aus anderen Schichten nicht ungewöhnlich war.

Diese starke Abhängigkeit von Stadt und Land bedeutete, daß die Stadt sehr viel stärker in die unmittelbaren Krisen des Hinterlandes mit einbezogen war, als dies heute bei unseren Verkehrs-mitteln gegeben ist. Umgekehrt galt dies natürlich auch. Gleichwohl läßt sich trotz aller Provinzialität nicht leug-nen, daß durch die Französische Revo-lution auch Gießen und sein Hinterland an die internationale Entwicklung an-geschlossen wurde; auf die negative Auswirkung der Überschwemmung des deutschen Marktes mit englischen Tuchen und Stoffen wurde hingewie-sen. Durch diese Revolution war unab-weisbar die Frage der Modernisierung des Wirtschaftens gestellt.

Dahinter stand die Frage, wie eine radikale Reform von Gesellschaft und Politik durchzuführen sei, ohne eine Revolution von unten zu provozieren. Denn davor hatten selbst die mutigs-

Der autOr

heinrich Brinkmann, Jahrgang 1942, studierte von 1962 bis 1965 an der Universität Münster, anschließend ein Semester in Frank-furt/Main und von 1965 bis 1968 an der Universität Gießen Ger-manistik, Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaft. 1974 wurde er an der Universität Bremen promoviert und habilitierte sich im Jahr 1983 an der Universität Gießen im Fach Politikwis-senschaft. Von 1971 bis 1983 war er als Wissenschaftlicher Mit-arbeiter und Dozent am Institut für Politikwissenschaft der Uni-versität Gießen tätig. Lehrstuhlvertretungen in Mainz und Gießen sowie Lehraufträge in Darmstadt und Erfurt schlossen sich an. Im Jahr 1985 bis 1989 und von 1993 bis 2001 war er Ehrenamtliches Magistratsmitglied in Gießen, 1989 bis 1993: Mitglied der Stadt-

verordnetenversammlung und stellvertre-tender Stadtverordnetenvorsteher. Von 1991 bis 1997 war er als Mitarbeiter bei den Vorbereitungen des Gießener Stadtju-biläums in der Gießener Stadtverwaltung tätig. 1996 wurde er zum apl.-Professor ernannt. Seit 2006 ist Prof. Heinrich Brink-mann wieder Ehrenamtliches Magistrats-mitglied in Gießen.

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 17

Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im Vormärz

Sieht man sich z.B. die Liste der Gegenstände und Bücher an, die während des Wartburgfestes ver-brannt wurden, so wird das durchaus Zwiespältige dieser Aktion sichtbar. In Erinnerung an die vier Jahre vor-her stattgefundene Völkerschlacht bei Leipzig, den 300 Jahre vorher vollzogenen Thesenanschlag Luthers (der nie so stattgefunden hat, wie es die protestantische Heroenlegende gern hätte) und die Verbrennung der

päpstlichen Bannbulle durch Luther wurden Gegenstände und Bücher verbrannt, die besonders verhaßt wa-ren: der Zopf, der Schnürleib und der Prügelstock als die Zeichen der po-litischen Unterdrückung, auch Cro-mes Buch „Deutschlands Krisis und Rettung“. Diese Schrift plädierte für ein kulturelles deutsch-französisches Zusammengehen. Kategorial orien-tierte sich Crome an der Literatur der französischen Aufklärung. Dies war

aber bereits zu viel vor allem für die Gießener Studenten.

Saul Aschers „Germanomanie“, der sehr früh den Unrat im entstehenden Nationalismus entdeckte, wurde auf dem Flugblatt, das über dieses Au-todafé berichtet, am Rand mit einer eindeutig antisemitischen Judenphysi-ognomie versehen. Vor allem war der „Code Napoleon“ ins Feuer geworfen worden, also jenes Gesetzbuch, das in einer bis heute vorbildlichen Klarheit die Rechtsverhältnisse zunächst in Frankreich und dann durch Auswei-tung des unmittelbaren französischen Einflußbereichs auch in Hessen-Darm-stadt regelte. Der „Code Napoleon“, der für die bürgerliche Gesellschaft die Ergebnisse der Revolution in ein systematisches Regelwerk brachte, war das abschließende wichtigste Er-gebnis dieser Revolution. Wer dieses Buch ins Feuer warf, warf damit zu-gleich die Errungenschaften der Revo-lution ins Feuer, deren wichtigste die Gleichstellung aller Menschen ist. Dies war für Hegel, den diese Verbrennung erboste, die Unterscheidung zwischen reaktionären und einer solchen Bewe-gung, die sich auf der Höhe der bür-gerlichen Emanzipation befand. Nicht unerwähnt bleiben sollte, daß auch Kotzebue, der knapp zwei Jahre später von Karl Ludwig Sand ermordet wur-de, mit seinem Buch „Geschichte des deutschen Reiches“ vertreten war…“ •

kOntakt

Prof. Dr. heinrich Brinkmann Stephanstraße 29 35390 Gießen Telefon: 0641 791250

…Ein armes Land, dieses hessische Hinterland! Öde Schieferberge mit dünnen Waldflecken, Moore und Heiden, magere Felder und Wiesen! Hie und da Eisen-

hütten, sonst aber nur Schiefergruben, die mit engen Mündungen gen Himmel gähnen, in die Tiefe sich mehr und mehr erweitern und schließlich voll Wasser lau-fen, so daß der Boden mit kleinen, runden Löchern besät scheint an vielen Stel-len. Häufig kommen Unglücksfälle vor, denn erst, wenn jemand in einer solchen „Kaute“ ertrunken ist, umgiebt man sie mit einer Wehre. Die Bewohner, meist arm und in elender Weise sich behelfend. Tante Lenchen hatte an einem, auf die Stra-ße gehenden Fenster ein Schieberchen anbringen lassen, hinter welchem sie an jedem Morgen auf einem Brettchen eine bestimmte Anzahl von Hellern aufreihte. Die vorübergehenden Armen nahmen stillschweigend einen Heller, lüpften den Hut zum Danke und gingen weiter. Wenn die Heller verausgabt waren, schloß die Tante den Schieber. Niemand hätte mehr als einen Heller genommen – man hätte das für einen Diebstahl gehalten. Aber Holzfrevel war keine Diebstahl und Jagdfrevel auch nicht. Die Strafen für Holzfrevel mußten durch Arbeiten im Walde an Wegen und Kulturen abverdient werden. Aber Venator war nachsichtig. „Wie sollen denn die armen Leute durch den harten Winter kommen“, sagte er, „wenn sie nicht Holz freveln. Kaufen können sie es nicht und Schiefer, die sie zur Genüge haben, brennen nicht.…“

In: Carl Vogt, Aus meinem Leben. Erinnerungen und Rückblicke, hrsg. Von Eva-Marie Felschow, Heiner Schnelling u.a., Gießen 1997

Das alte Kollegiengebäude der Universität Gießen am Brandplatz (rechts), wo Büchner und seine Freunde studierten; aus dem Stamm-buch Sinnigsohn, um 1787.

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18 Justus-Liebig-Universität Gießen

Georg Büchner und seine Zeitein privilegierter schriftsteller und ein solitäres werk*

Von Günter Oesterle

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Georg Büchner und seine Zeit

wenn man an die stelle des titels

„Georg Büchner und seine Zeit“

„Georg Büchner in seiner Zeit“

setzt, hat man den unterschied der

lebenszeit Büchners (1813-1837)

und seiner wirkmächtigkeit über ei-

nen viel umfassenderen Zeitraum im

Blick. Diese doppelte Perspektive

versucht der essay durchzuhalten:

er fragt zunächst, wie es möglich

wurde, dass ein junger Mann, der

mit 24 Jahren starb, nicht nur als

schriftsteller, sondern auch als wis-

senschaftler und revolutionär eine

herausragende rolle spielen konnte.

Zwei avantgardistische alternativen

zu den von Büchner gewählten Dra-

menstoffen (Danton und Woyzeck)

werden fiktiv vorgeführt – ein feuil-

leton über Danton und ein naturalis-

tisches Drama über Woyzeck –, um

auf diese experimentelle weise eine

folie herzustellen, auf der sich das

Besondere und das einzigartige von

Büchners werk plastisch abheben

kann.

Das Thema „Georg Büchner und seine Zeit“ eröffnet ein weites Feld. Schon eine klei-

ne Veränderung im Titel macht darauf aufmerksam. Stellt man neben den Titel „Georg Büchner und seine Zeit“ eine Variante „Georg Büchner in sei-ner Zeit“, eröffnet sich ein Fern- und Nahblick, eine lange und eine kur-ze Zeitstrecke. Bedenkt man etwa, dass Büchners für die weitere litera-rische Entwicklung so überaus wirk-mächtiges Dramenfragment Woyzeck zum ersten Mal in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts – also 40 Jahre nach seinem Tod – publiziert wurde (1875/1878), so gibt es gute Gründe, die Zeitspanne, unter der wir die Ti-telformulierung „Büchner und sei-ne Zeit“ begreifen können, weit zu fassen, etwa in dem Sinne „Büchner und das 19. Jahrhundert“ zu verste-hen. Interpretiert man den Titel in der

Richtung „Büchner in seiner Zeit“, dann wird man sich eher auf Büchners Lebenszeit – also von 1813 bis 1837 – einschränken. Beide Perspektiven zei-tigen Ergebnisse.

Der umfassende panoramatische Blick auf das lange 19. Jahrhundert hilft rückblickend die vorgängige poe-tische und philosophische Inkubati-onszeit der Aufklärung, des Klassizis-mus und der Romantik für Büchners Schreiben zu begreifen und voraus-blickend das Zukunftsweisende von Büchners neuartiger Verbindung von Dokumentarischem, Poetischem und Wissenschaftlichem etwa für den Na-turalismus einzuschätzen. Ein derar-tiger Langzeitblick hat u.a. auch den Vorzug, Büchners Innovationen auf künstlerische Tendenzen im 19. Jahr-hundert zu beziehen – die nicht nur literarisch-poetisch sind. So ist es mir z.B. gegangen, als ich jüngst eine

Das Geburtshaus von Georg Büchner in Goddelau, Großherzog-tum Hessen-Darmstadt, heute ein Stadtteil von Riedstadt.Foto: Rudolf Stricker

* Vortrag gehalten in Büchners G eburtshaus in Goddelau am 12. Februar 2012.

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20 Justus-Liebig-Universität Gießen

Oesterle

Ausstellung zur bildenden Kunst im 19. Jahrhundert – im buchstäblichen Sinne – durchmaß: Der Besucher die-ser 100 Jahre umfassenden Ausstel-lung Die Düsseldorfer Schule und ihre internationale Ausstellung 1819–1918 konnte ein riesig dimensioniertes Bildpanorama des 19. Jahrhunderts abschreiten, das in der Zeit Büchners – in den 20er Jahren des 19. Jahrhun-derts also – mit eindeutiger Dominanz und Vorliebe für das die großen welt-geschichtlichen Ereignisse präsentie-rende Historienbild begann, dann aber noch zur Zeit von Büchners letzter Schaffensperiode in den 30er Jahren Zug um Zug den Aufstieg der bis da-hin eher abschätzig oder zumindest zweitrangig angesehenen Genre- und Sittenbilder erlebte – sowie parallel die unaufhaltsame Aufwertung des Landschaftsbildes. In der Tat hat Ge-org Büchners poetische Arbeit sowohl Anteil an der Destruktion des großen, universalgeschichtlichen Konzepts des Geschichtsdramas, des literari-schen Pendants zum Historienbild, als auch an der gleichzeitigen Aufwer-tung der kleinen drastischen Genre-szenen aus dem Alltagsleben – denken Sie etwa an die Genreszene zu Beginn von Dantons Tod mit dem betrunkenen Simon, der seine Tochter der Hure-rei bezichtigt, von der er aber wider-sprüchlicher Weise zugleich lebt – das

steht eh ,außer Zweifel‘. Und Büch-ners Landschaftsevokation in seiner Erzählung Lenz ist für die Moderne Maßstab setzend geworden. Wer die Sätze aus dem Anfang der Erzählung hört, wird schwerlich deren Rhythmus und Bilderreichtum vergessen: „Am Himmel zogen graue Wolken, aber Alles so dicht, und dann dampfte der Nebel hervor und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg so plump. / Er ging gelangweilt weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald lang, bald abwärts.“

Die allumfassenden herauforderungen in einer allumfassenden umbruchszeit

Wenden wir den Blick auf die enger gefasste Lebenszeit Georg Büchners, dann lässt sich konstatieren, dass eben diese  Zeit der ersten 40 Jahre des 19. Jahrhunderts durchweg und in allen Bereichen als eine Umbruchs-zeit bezeichnet werden kann – im Politischen, Ökonomischen, Philoso-phischen und Poetisch-Literarischen. Das Erstaunliche ist nur, Büchner hat an all diesen Umbrüchen nicht nur randständig als Beobachter Anteil, sondern er begibt sich jeweils ins Zen-trum derartiger Umbruchsereignisse.

Der junge deutsche Schriftsteller Karl Gutzkow, der dem noch unbe-

kannten jungen Literaten Büchner bei der Publikation seines poetischen Erstlings Dantons Tod wiewohl auf schlimmbessernde Weise geholfen hatte, dieser Karl Gutzkow hat seinem Nachruf auf Büchner die Überschrift Ein Kind der neuen Zeit gegeben. Als Charakteristik der neuen Zeit und neu-en Generation hat er die Bündelung von politischem Engagement und lite-rarischer Innovation verstanden wis-sen wollen. Der neuartige literarische Avantgardismus bestand für Gutzkow darin, dass Literatur nicht mehr vor-wiegend fabula, also freie Erfindung, bedeutet, sondern historia, also im weitesten Sinne dokumentarische Be-züge aufweise. So hat er selbst, um ein Beispiel zu geben, unter dem Titel Sterbecassirer als erster Schriftsteller einen witzigen Essay über das neue Phänomen der Versicherungsinstitu-te geschrieben. Der Bezug auf histo-ria im weitesten Sinne darf aber nach Ansicht Gutzkows nicht rückwärts gewandt rekonstruieren – das wäre nichts Neues – nein, gefordert wird prognostisch, vorwärtsorientiert, zu-kunftshaltig zu schreiben. Kurz: der moderne Poet sollte nicht Geschichts-schreiber, sondern Geschichtstreiber sein (Börne). Dazu wiederum musste der moderne Schriftsteller über Wis-sen verfügen, forschende Neugier mit großen Kenntnissen verbinden.

In einer Zeit allerdings, die immer komplexer wird und in der sich die Wissenschaften immer mehr ausdiffe-renzieren, wird der moderne Schrift-steller immer mehr Not haben, den auf verschiedensten Gebieten kenntnisrei-chen Lesern exakte Angaben machen zu können.

Die zeitgenössische Dichterin An-nette von Droste-Hülshoff erzählt er-

Dantons Tod – hier als E-Book im BücherregalFoto: Maximilian Schönherr

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Georg Büchner und seine Zeit

staunliche Geschichten über dieses Dilemma moderner Schriftsteller in einer im 19. Jahrhundert immer aus-geprägteren Wissenslandschaft. In ei-nem von ihr besuchten Lesezirkel, so berichtet sie, habe es jedes Mal Streit gegeben, wenn z.B. bei der Lesung ei-nes historischen Romans von Walter Scott ein auf Schlachten spezialisier-ter Zuhörer die Angaben im Roman bezweifelte, der Förster hingegen be-hauptete, die beschriebenen Bäume habe es im Schottland der von Scott erzählten Zeit gar nicht gegeben, und der zuständige Architekt die Darstel-lung der Burganlagen für Chimären ohne Hand und Fuß gehalten habe, so dass ihr – so der Bericht der jungen Dichterin Annette von Droste-Hüls-hoff – angst und bang geworden sei, überhaupt noch etwas Historisches zu Papier zu bringen.

Kurz, in einer Zeit, in der das Exper-tentum und die Spezialisierung immer mehr zugenommen hatte, konnte der junge Büchner diesem Anspruch, in derart vielen Bereichen führend da-bei zu sein, nur aufgrund von außer-ordentlich günstigen Vorbedingungen entsprechen.

Georg Büchner – ein privilegiertes „kind der neuen Zeit“

Georg Büchner war nicht nur ein „Kind der neuen Zeit“, sondern genauer und zutreffender auch ein privilegiertes Kind der neuen Zeit. Er war in dreier-lei Hinsicht privilegiert: Sein Vater war Arzt in der Residenzstadt Darmstadt in einer ganzen Reihe von Funktionen als Physikatsarzt, Hospitalarzt, Medi-cinalrath, Marstallchirurg – kurz, die Familie gehörte zur Führungsschicht des Großherzogtums Hessen-Darm-stadt. Georg Büchner war zweitens privilegiert, weil er am Darmstädter „Pädagog“ zur Schule gehen konnte, ein herausragend gutes Gymnasium, dessen Schülerschaft um 1831 zu 80 % aus Kindern von Staatsbeamten,

Gelehrten, Geistlichen und Militärs bestand und nur zu 20 % aus Kin-dern der Mittelschicht, also Kindern von Kommunalbeamten, Bürgern und Gewerbetreibenden. Georg Büchner genoss ein weiteres, seltenes Privileg, das ihm der französisch gesinnte Vater nach dem bestandenen Schulexamen ermöglichte: Georg musste nämlich zunächst nicht wie seine anderen Mit-gymnasiasten an die großherzogliche Landesuniversität Gießen, sondern durfte sich – nachdem eine Eingabe des Vaters von der Landesregierung genehmigt wurde – am 9. November 1831 an der Straßburger Universität als Medizinstudent immatrikulieren. Hatte Büchner schon in Darmstadt neben der Ausbildung als Gymna siast die umfängliche Privatbibliothek sei-nes Vaters benutzen können, mit der bildungsorientierten, literaturinter-essierten Mutter und Schwester die neueste romantische Literatur – Tieck, Jean Paul und Goethe – gelesen und mit einem Gymnasiastenzirkel politi-siert, so konnte er in Straßburg seinen vier Interessensfeldern, dem wissen-schaftlichen, dem literarischen, dem philosophischen und dem politischen, intensiv nachgehen.

Straßburg war eine Hochburg em-pirischer Studien der Cuvier’schen Schule in den Naturwissenschaften; in einer theologischen Verbindung na-

mens ,Eugenia‘ findet Büchner einen literarisch-theologisch interessierten geselligen Kreis – auf diese Weise er-hält er Zugang zu Materialien, die er für seine Erzählung Lenz auswerten konnte. Schließlich aber kam Georg Büchner in die privilegierte Situa tion, in Straßburg aus direktester Nähe die neuesten politischen Entwicklun-gen zu verfolgen: Er hatte Flugblätter von Blanqui lesen können. Er kam 14 Monate nach Ausbruch der Julirevo-lution nach Straßburg mitten in ein politisches Diskussionsfeld hinein, das durch die nun offensichtlich ge-lungene Revolution die Machbarkeit und erneute Wiederholbarkeit von Re-volution denkbar machte und zugleich – angesichts des Juste Milieu – das Problem der halben, unfertigen, ins-trumentalisierten und daher zu voll-endenden Revolution ins Rampenlicht der Aufmerksamkeit rückte.

Büchner nutzt seine chance in Politik, wissenschaft, Poesie und Publizistik

Es gibt Zeiten großer weltgeschicht-licher Ereignisse, und es gibt Zeiten einer Latenz, in der sich Alternativen abzeichnen. Georg Büchner erlebt in Straßburg in der unmittelbaren Nach-Julirevolutionszeit eine solche intensive Zeit der alternativ diskur-siven, der politischen kontroversen Diskussionen um Strategien einer Re-volution, die am Ende nicht nur einer bestimmten Schicht Vorteile bringen sollte. Als Anfang März 1834 mehrere „Wachenstürmer“ (gemeint sind die

Der moderne Poet solle nicht Geschichtsschreiber, sondern Geschichtstreiber sein, diese Mei-nung vertrat der Literatur- und Theaterkritiker Ludwig Börne.Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim

(1800-1832)

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Teilnehmer an dem am 3. April 1833 unternommenen, aber gescheiterten Sturm auf die Frankfurter Haupt- und Kon stablerwache in der Absicht, ein Signal zu einer allgemeinen Revoluti-on zu geben) entlassen wurden – die meisten waren schon in Darmstadt mit Büchner bekannt oder befreun-det, den Butzbacher Rektor Fried-rich Ludwig Weidig hatte er schon zuvor, Anfang des Jahres 1834, ken-nengelernt – überrascht Büchner die sich zur Gründung einer Gießener „Gesellschaft der Menschenrechte“ (nach dem Vorbild der französischen „Societé des Droits de l’homme“) Zu-sammengefundenen durch seine klare Kritik an den bisherigen strategischen Maßnahmen, durch sein klares politi-sches Konzept. Er hatte offensichtlich das Privileg genutzt, zwei Jahre in Straßburg die dortige Debatte studie-ren zu können.

bediente, sondern durch Integration statistischer Informationen über die Steuerlasten Wissen und Sachinfor-mation unter die ländliche Bevölke-rung brachte.

Im Bereich der Wissenschaft be-gnügte er sich nicht mit einem Me-dizinstudium in Straßburg, sondern ging in die avancierte Forschung sei-ner Zeit. Er nutzte geschickt die Diffe-renz der naturwissenschaftlichen For-schungsausrichtungen in Frankreich und Deutschland – dort die empirisch-experimentelle, hier die spekulativ-ty-pologische –, um „nach ausgedehnten Präparationen“ im ersten Teil seiner Dissertation Abhandlung über das Nervensystem der Barben (Originalti-tel: Memoire sur le Système Nerveux du Barbeau) zunächst seine empirischen Befunde nach französischer Manier zu beschreiben, um dann im zweiten Teil spekulativ die deutsche Methode einer Rekonstruktion von Grundtypen zu versuchen. In Philosophie- und Re-ligionsstrategien eignet er sich nicht nur den gängigen Standard an, son-dern kapriziert sich vornehmlich auf den seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ausgebrochenen Athe-ismusstreit. Aus dem Staunen kommt man aber gar nicht mehr heraus, wenn man bedenkt, dass er von Mitte Januar 1835 bis zu seinem Tode am 14. Feb-ruar 1837, also in etwas mehr als zwei

Georg Büchner war privilegiert – aber er nutzte auch seine Privilegien, um sich auf den verschiedensten Fel-dern wissenschaftlich, literarisch und politisch zu profilieren. Auch wenn er bekanntlich Kompromisse eingehen und Abstriche hat machen müssen, so können wir doch aus heutiger Sicht sa-gen, dass die mit dem politisch erfah-reneren Konrektor Friedrich Ludwig Weidig gemeinsam verfasste Flug-schrift Der hessische Landbote eine neuartige innovative Form erhielt, weil sie sich nicht vorlauter Agitation und propagandistischer Slogans allein

Der autOr

Günter Oesterle, Jahrgang 1941, war 32 Jahre Professor der Germanistik in Gießen. Er war dort zeitweise Sprecher des Gra-duiertenkollegs „Klassizismus und Romantik“ und des Sonder-forschungsbereichs „Erinnerungskulturen“. Nach seiner Pen-sionierung (2006) war er Gastprofessor am „Freiburg Institute for Advanced Studies“ (FRIAS) in Freiburg, am Gutenberg For-schungskolleg in Mainz, am IFK in Wien sowie an der Columbia

University in New York; im Wintersemes-ter 2012/13 lehrt er an der Universität in Peking. Neben seinem Forschungsschwer-punkt zur Romantik hat er zu den meisten deutschen Schriftstellern des 19. Jahrhun-derts, u.a. E.T.A. Hoffmann, Heinrich Hei-ne, Annette von Droste-Hülshoff, Eduard Mörike, Wilhelm Raabe und Theodor Fon-tane, Veröffentlichungen vorgelegt.

Der Zürcher Atheismusstreit 1845 (von links: Ruge, Follen, Heinzen, Schulz). Karikatur eines unbekannten Zeichners.

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Georg Büchner und seine Zeit

Kunst, eine politisierte Kunst, die mit der geschichtlichen Bewegung auf engster Tuchfühlung bleibe und die modernen medialen Mittel nutze, pro-gnostiziert, Er erwähnt die medialen Panorama effekte, die er in St. Sulpiz in Paris gesehen hatte, wenig später wird er auf die Daguerreotypie, eine Vorstufe der Photographie, verwei-sen. Dieser programmatischen These Heines, die neue Zeit würde eine neue Kunst gebären, geht eine bemerkens-werte Aufwertung des Skizzenhaften voraus, der Skizze, die nunmehr nicht mehr als bloße Vorstudie eingestuft wird, die in dem später ausgeführten und vollendeten Werk verschwindet und gelöscht wird – nein, jetzt wird

Jahren, neben Übersetzungen zweier Dramen Victor Hugos (Lukretia Bor-gia, Marie Tudor) vier poetische Wer-ke unterschiedlicher Art geschrieben hat: die Erzählung Lenz, das Drama Dantons Tod, die Komödie Leonce und Lena, das Tragödienfragment Woy-zeck, ohne die heute die moderne Lite-ratur schwerlich zu denken wäre.

Ich kenne keinen Intellektuellen in Büchners Zeit, der in so vielen Berei-chen, Politik, Wissenschaft, Religions-kritik, Poesie, derart kreativ eigenstän-dig und innovativ gearbeitet hätte. Es gab viele zeitgenössische Vormärz-schriftsteller, die den neuen Tendenzen Raum gaben, Politik und Wissenschaft in ihr Schreiben experimentierfreudig integrierten. Wir wissen heute, dass die Zeit des Vormärz (1820–1848) im Unterschied zu späteren literarischen Richtungen, z.B. dem Poetischen Re-alismus, die offenste, experimentier-freudigste Schreibartistenzeit gewesen ist. Eine Reihe von Vormärzliteraten begab sich durchaus in Gefahr: Gutz-kow saß vier Wochen in Arrest, Glas-brenner wurde aus Berlin ausgewiesen und musste in der Provinz zu überle-ben trachten – aber sie alle, Börne, Hei-ne, Gutzkow, Mundt, Laube, Herwegh – bleiben allesamt Literaten, die zwar politik- und wissensaffin schreiben, keiner von ihnen hat sich aber so tief eingelassen in politisch konspirative Tätigkeit, dass er steckbrieflich ge-sucht wurde, und keiner hat wissen-schaftliche, ja naturwissenschaftliche Forschung so intensiv eigenständig betrieben, und keiner hat die Poesie im Durchgang durch Geschichtsschrei-bung und wissenschaftliche Fallstu-dien derart revolutioniert wie Georg Büchner. Er ist in der Tat „Ein Kind der neuen Zeit“ – zugleich aber ist er

einzigartig und solitär. Er ist paradox: er ist tief verwurzelt in seiner Zeit und zugleich in Distanz zu seiner Zeit.

Die damals avancierteste moderne literaturkonzeption im Vergleich zu Büchner

Um dieses Paradox – in seiner Zeit über seine Zeit hinaus – zu begreifen, ist es hilfreich, die avancierteste, mo-derne Literaturkonzeption von Büch-ners Zeit kurz vorzustellen, um Büch-ners Nähe und seine Distanz dazu plausibel machen zu können. Heinrich Heine hat 1831 in Paris das Ende der politisch abstinenten Kunstperiode ausgerufen und stattdessen eine neue

Steckbrief vom 13. Juni 1835, mit dem Georg Büchner vom „Hofge-richtsrath Georgi“ gesucht wurde.

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en sind. Georg Büchner wurde von kundigen Zeitgenossen des Öfteren in Zusammenhang gebracht mit die-sen avantgardistischen Schreibvirtu-osen, Heine, Gutzkow, Mundt, Laube (die 1835 in unzutreffender Weise von der sie verklagenden Obrigkeit, dem „Bundestag“, als „Schule“ des Jungen Deutschland zusammengefasst wer-den).

Im provozierend witzigen schlag-kräftigen Schreiben, im virtuosen Spiel mit literarischen und wissen-schaftlichen Zitaten steht Büchner sei-nen damals avancierten Schriftsteller-kollegen in Nichts nach. Karl Gutzkow bescheinigt ihm sowohl seinen selte-nen anatomisch-sezierenden Blick wie seine außerordentliche Fähigkeit zur schnellen, scharf konturierten Skizze: „[...] seine außerordentliche Begabung in kurzen scharfen Umrissen schnell, im Fluge, an die Wand zu schreiben“. Und doch unterscheidet sich Georg Büchners Poesie entschieden von der seiner zeitgenössischen Schriftsteller-kollegen. Anders als die jungdeutsche Favorisierung einer Verbindung von Poesie und Publizistik, in der Wissen und Politik nur als poetisches Ideen-inzitament und „Ideenschmuggel“ benutzt werden, bleibt Georg Büch-ner viel strenger im poetischen und im wissenschaftlichen Bereich. Georg Büchner bevorzugt das Drama und die dramatische Bühne vermutlich, weil er den feuilletonistischen Verschleif und Verschnitt von Poesie, Publizistik und Wissenschaft vermeiden möchte.

Unsere eingenommene Perspek-tive auf das kurze und das lange 19. Jahrhundert erlaubt uns die Hypothe-se, dass Büchner der am Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Kritik am Heine’schen und jungdeutschen

zwar der Teil des Journals, der die größten Freiheiten zuließ: das Feuille-ton, das damals unter dem Strich auf einer Seite geradezu herausforderte, darüber stehende offizielle Verlautba-rungen parodistisch-ironisch zu kon-terkarieren. Kurz: das avanciertere literarische Medium dieser Zeit sind Feuilletons aus den großen Städten, die eine originelle Wahrnehmungs-weise in einer virtuosen Übergäng-lichkeit von neuen Informationen, neu-em Wissen, neuen Schreibtechniken zwischen Journal und Poesie erlaub-ten und erforderten. Diese neuartige Schreibweise ließe sich exemplarisch an Heines Darstellung eines Balletts in Paris demonstrieren. Heine liest aus den Tanzschritten der Balletttänzerin-nen – ihren Quadrillen und Arabesken – die entstehenden noch geheim ge-haltenen Strategien der europäischen Mächtepolitik. Nebenbei plaudert er Geheimnisse und Klatschwissen aus, dass der berühmte Komponist Mey-erbeer alle Orgeln in der Umgebung von Paris aufgekauft hätte, um seine Überraschung, in seiner Oper die Zu-hörer gleich mit drei Orgeln zu über-wältigen, vor dem Zugriff eines poten-ziellen Konkurrenten zu sichern; dann aber lässt er sich sachkundig über die neuesten Kompositionstechniken aus, wie sie nur einem Experten zuzutrau-

die Skizze, die spontan hingeworfene blitzartige Momentaufnahme zum Ziel der literarischen und bildnerischen Produktion. Geschult wird diese lite-rarische Schnappschusstechnik und blitzartige Aufscheinfähigkeit in der modernen Großstadtwahrnehmung: Nicht nur die eigenartige Figuren- und Personenkonstellation in diesem großstädtischen Milieu – sagen wir beispielsweise die Zusammenstel-lung eines Bettlers mit einer hübschen vorbeischlendernden Kurtisane und einem alten Rentier mit einem hässli-chen Pinscher – sondern auch die At-mosphäre etwa der sich bewegenden städtischen Menschenmenge rund-herum wird und soll eindrücklich auf den Punkt gebracht werden. Um der-artiges auffangen und aufschreiben zu können, bedarf der moderne Literat einer speziellen, außergewöhnlichen produktiven Aufmerksamkeit: auf der einen Seite eine gereizte Nervosität (dieser Begriff taucht just genau zu Büchners Zeit auf), auf der anderen Seite benötigt er einen distanzierten anatomisch-analogistischen Blick. Das literarische Gattungsmedium für diese treffgenaue, nervöse und zu-gleich präzis kalkulierende Schnapp-schussartistik ist zu Büchners Zeit, also in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts: das Journal, und

Büchners Grabstein in Zürich, Schweiz.Foto: Paebi

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Georg Büchner und seine Zeit

tiv von uns konstruierten jungdeut-schen Feuilletons über Dantons Tod zu Büchners gleichlautendem Drama herauszuarbeiten. Ein jungdeutsches Feuilleton hätte zwar auch wie Georg Büchner die historischen Quellen zur französischen Revolution ausgiebig herangezogen; es hätte aber, so mei-ne Unterstellung, zweierlei anders ge-macht: Erstens hätte es versucht, das revolutionäre Milieu der damaligen Zeit möglichst genau nachzubilden, und zweitens hätte es die Reden der Revolutionshelden in der narrativen Zitierung und Darstellung direkt per-sifliert und ironisiert – so etwa wie es heutzutage im Spiegel bzw. im Spiegel-Jargon geschieht. Büchner hingegen verdichtet und komprimiert zwar die historisch gehaltenen Reden, aber er

überschreibt sie nicht durch eine ei-gene Perspektive: Er stellt sie markant aufs Podest – auf die Bühne. Statt ei-ner historischen Revolutionskulisse schafft er allerdings einen ganz ande-ren von Shakespeare inspirierten, von Zoten, Paranomasien (Wortspielen) und Persiflagen nur so strotzenden Kontext, so dass die ,authentischen‘ historischen Reden durch diesen neu geschaffenen ,wilden‘ Kontext derart vor- und nachinszeniert werden mit

Feuilletonstil durch Karl Kraus (sei-ne polemische Abhandlung trägt den Titel Heine und die Folgen) weitsichtig und vorausschauend hätte aus dem Wege gehen wollen.

Die Anlage meines Vortrags, einen Blick sowohl auf das lange wie auf das kürzere, die Lebenszeit Büchners umspannende 19. Jahrhundert zu wer-fen, gestattet mir, zum Abschluss zwei Gedankenexperimente durchzufüh-ren. Im Blick auf Büchners Zeit fragen wir – gleichsam zur Gegenprobe: Wie hätte ein jungdeutsches „Dantons Tod-Feature“ ausgesehen? Und im Blick auf das ausgehende 19. Jahrhundert und die aufkommende naturalistische Richtung – denken Sie etwa an Ger-hard Hauptmanns Weber – fragen wir: Wie sähe wohl ein naturalistisch bear-beitetes Woyzeck-Drama aus?

erstes Gedankenexperiment: wie hätte ein jungdeutsches „Dantons Tod-feature“ ausgesehen?

Als Ausgangspunkt für unser erstes Gedankenexperiment kann die Ver-ärgerung Büchners aufgegriffen wer-den, als er bemerkte, dass der Verleger seines Dramas Dantons Tod diesem bei der Publikation eigenmächtig den Untertitel gab: Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft. In die gleich verballhornisierende Stoß-richtung zielte ja der Vorschlag, sein Drama als „dramatisierter Thiers“, also als illustrierende Geschichts-schreibung, auszugeben (Louis Adolphe Thiers hatte ein zehnbändi-ges Werk zur Geschichte der Franzö-sischen Revolution, Paris 1823–1827, verfasst, das Büchner im Oktober 1834 aus der Darmstädter Hofbiblio-thek ausgeliehen und bei der Anfer-tigung seines Dramas benutzt hatte.) Büchners Ärger über eine derartige die Rezeption lenkende Voreinstellung bietet für uns die Steilvorlage dafür, drei zentrale Unterschiede eines fik-

einem Effekt, dass sie zwar immer noch in der einzelnen Äußerung nach-vollziehbar und vernünftig klingen, in diesem wilden Kontext aber dann hohl und ohne Boden erscheinen.

Ich hoffe, dass Sie noch Zuhörlust genug haben – und einige veranschau-lichende Beispiele akzeptieren.

1. Akt, 1. Szene: Robespierre ist auf dem Weg zum Jakobinerclub. Wir unterstellen, dass er noch ganz in Ge-danken sich auf seine in Bälde Furo-re machende Rede zu konzentrieren versucht, und da stößt er auf eine sich zusammenrottende Menschenmenge. Anlass dieses Auflaufs einer schau- und tötungslustigen Menge ist ein krakeelender, seine Frau verprügeln-der Säufer und die Entdeckung eines Taschentuchs bei einem Passanten,

Premiere im Deutschen Theater von „Dantons Tod“, Berlin 1981, in der Regie von Alexander Lang. In dieser Szene spielen Inge Keller (l.) die Julie (Dantons Gattin), Margit Bendokat (3.v.l.) die Marion, Christian Grashof (2.v.l.) den Georg Danton und Günter Sonnenberg (4.v.l.) den Mercier.ADN-ZB-Rehfeld-20.4.81-BerlinBundesarchiv, Bild 183-Z0420-027 / Rehfeld,

Katja / CC-BY-SA

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sches Feuilleton zu Dantons Tod hätte alles darauf angelegt, die Ideologeme, Weltanschauungen und Positionen der beiden antagonistischen Lager, der Dantonisten einerseits und der Robes-pierre-Anhänger andererseits derart zu profilieren, dass sich die Leser affek-tisch angeregt entscheidungsfähig und entscheidungsfreudig fühlten. Indem, im Gegensatz dazu, Büchner in seiner Dramenfassung die Pathosformeln bei-der Seiten als weltfern, basislos und den Akteuren selbst entzogen darstellt, zerschellen diese Ideologeme, um nicht etwa in einer nihilistischen Position zu enden, sondern – das ist Büchners au-ßerordentliche Leistung –, um elemen-tare Lebensformen wie Hunger, Angst, Verzweiflung, partiell auch Sexualität als Triebfeder unserer Lebensdynamik herauszuarbeiten.

Zweites Gedankenexperiment: wie würde ein naturalistisches Woyzeck-Drama gestaltet sein?

Unser zweites Denkexperiment – also die Fragestellung, wie ein naturalis-tisch dramatisierter Woyzeck sich von dem Büchner’schen unterschei-det – ist schneller und gleichsam ohne spekulativen Einschlag präsentierbar: Die Antwort lautet: Ein naturalistisch

Das andere Lager der Dantonisten ist von einer qualitativ anderen, aber nicht weniger chaotischen weltfrem-den Tautologie befallen. Während drei profilierte Dantonisten, nämlich Herault, Philippeau und Camille, in der ersten Szene des 1. Akts in rich-tiger Lageeinschätzung sich mit einer Kaskade von Muss- und Werdens- und Wollens-Thesen Mut zur Aktion und Reorganisation der Revolution einre-den: „Die Revolution muss aufhören“, „die Staatsform muss ein durchsichti-ges Gewand seyn“, „Wir werden den Leuten“, „Wir wollen den Römern nicht verwehren“, „aber ...“, bremst Danton das von Camille gegebene Aktions-Stichwort: „Danton du wirst den Angriff im Convent machen“, und alle diese davor gemachten an sich be-rechtigten Willens- und Wunschäuße-rungen mit einer schlichten, sich aus aller Zeit und Planung herausnehmen-den tautologischen Wendung aus: „Ich werde, du wirst, er wird. Wenn wir bis dahin noch leben, sagen die alten Weiber. Nach einer Stunde werden 60 Minuten verflossen sein. Nicht wahr mein Junge.“ (7)

Nun sind wir vorbereitet, zur Dif-ferenz von jungdeutschem Feuilleton und Büchner’schem dramatischem Stil Stellung zu nehmen: Ein jungdeut-

das, weil als aristokratisch verschrie-nes Accessoire, zum Ruf nach dessen Soforthängung an eine Laterne führt, wodurch dieser sich nur durch einen Witz retten kann. In diese brisante, streit- und mordsüchtige Situation voll Lärm und Gelächter tritt nun Robes-pierre – der Unbestechliche, wie er genannt wird – um das Geschrei der Menge: ,Totgeschlagen, totgeschla-gen, totgeschlagen‘ (12) mit dem Dik-tum: „Im Namen des Gesetzes“ aus-zubremsen, eine Formulierung, die prompt durch einen ihm antworten-den Bürger aus der Menge durch eine Tautologisierung von Volk und Gesetz desavouiert wird: „Wir sind das Volk, und wir wollen, daß kein Gesetz sey. Ergo ist dieser Wille das Gesetz, ergo im Namen des Gesetzes giebts kein Gesetz mehr, ergo todgeschlagen.“ Robespierre nun seinerseits hält eine improvisierte Ansprache auf der Gas-se – in Vorwegnahme seiner im Jako-binerclub kurz darauf zu haltenden Rede, deren Pathos: „Armes tugend-haftes Volk! Du thust deine Pflicht, du opferst deine Feinde. Volk du bist groß. Du offenbarst dich unter Blitz-strahlen und Donnerschlägen“, in die-sem karnevalesken Umfeld der Men-ge auf der Gasse peinlich verfremdet wirkt, für Robespierre aber Anlass ist, seine dann tatsächlich im Jakobiner-club gehaltene Rede als nicht selbst erfunden, sondern als Antwort auf den Schrei des Volkes auszugeben: „Wir warteten nur“, so beginnt er, „auf den Schrei des Unwillens, der von al-len Seiten tönt, um zu sprechen.“ (14)

Aufführung des Woyzeck von Robert Wilson/Tom Waits/Kathleen Brennan nach dem Stück von Georg Büchner 2009 in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin: Moritz Grove (Woyzeck) und Maren Eggert (Marie). Siehe auch Bild Seite rechts.Foto: Arno Declair

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Georg Büchner und seine Zeit

über dem arbeitslosen und ehrlosen Pauper poetisiert worden. Die Akzen-te liegen anders. Der Entstehungspro-zess des Büchner’schen Woyzeck zeigt deutlich die Verlagerung von einem ursprünglich geplanten Eifersuchts- und Mordschauspiel zu einem Drama, in dem Vertreter der Disziplinarmäch-te, ein Repräsentant der Wissenschaft und des Militärs, Woyzeck als Objekt behandeln und zurichten.

Die Pointe ist nämlich, dass Büch-ners und unsere heutige Kenntnis des historischen Woyzeck sich fast aus-schließlich auf zeitgenössische me-dizinische und juristische Gutachten stützen. Woyzecks Fall löste eine wis-senschaftliche Kontroverse zwischen Psychologen und Somatikern aus, eine Debatte um die Zurechnungsfähigkeit oder den partiellen Wahnsinn des Tä-ters. Büchner rekonstruiert nun nicht hinter die Gutachten zurückgehend den historischen Woyzeck, sondern er gestaltet den wissenschaftlich dis-kursfähig gewordenen Woyzeck – mit seinen Halluzinationen und seiner Erbsendiät – in wissenschaftlich ex-perimentellen Interessen aus.

Fazit: Der historische und der Büchner’sche Woyzeck repräsentie-ren je einen bestimmten damals sich herausbildenden Typen des Paupe-rismus: nämlich einen Typ, der ar-beitslos ist und sich ehrlos fühlt, und

dramatisierter Woyzeck würde dem historischen Woyzeck stärker gleichen als dem ,poetischen‘ Woyzeck Büch-ners. Der historische Woyzeck, der am 2.  Juni 1821 in Leipzig seine Gelieb-te erstochen hatte und am 27. August 1824 hingerichtet wurde, kannte nicht das Problem der Überbeschäftigung wie der Büchner’sche Woyzeck. Der historische Woyzeck sah sich der Ar-beitslosigkeit ausgesetzt. Seinen ur-sprünglich gelernten Beruf Perücken-macher benötigte man in moderneren Zeiten nicht mehr, seine zunächst gewählte Ausweichmöglichkeit, sich als Soldat zu verdingen, war nach den Napoleonischen Kriegen nicht mehr gefragt. Der historische Woyzeck war noch ärmer dran als der Büchner’sche: Er verlor sogar eine Bleibe zum Über-nachten und musste zunehmend im Freien campieren. Zudem war er Al-koholiker. Er war nicht eifersüchtig im traditionellen Sinne; er wurde ag-gressiv, wenn sein Ehrgefühl verletzt schien; entsprechend bildete er sich mehr und mehr ein, seine Umwelt, vorneweg seine Geliebte, würde ihn wegen seiner Arbeitslosigkeit nicht mehr achten, ja, seine Geliebte wol-le sich deshalb nicht mehr öffentlich mit ihm zeigen. Es wäre nun freilich ein Kurzschluss, wenn wir aufgrund dieses Befundes behaupteten, der Büchner’sche Woyzeck wäre gegen-

einen Typ, der überbeschäftigt als Objekt für Experimente somatisch ru-iniert wird. Obgleich der historische, arbeitslose und ehrlose Woyzeck, den wir als naturalistischen Woyzeck eti-kettiert haben, etwas einliniger aus-fällt als der wissenschaftlich zuge-richtete und poetische Woyzeck, wäre es gleichwohl problematisch, den ei-nen gegen den anderen auszuspielen. Moderne Aufführungen jüngster Zeit zeigen, dass aus dem Widerspiel des historischen naturalistisch zugerich-teten Paupers modernes dramaturgi-sches Potenzial entsteht. Ostermaiers Verlagerung Woyzecks in ein gewalt-tätiges ban-milieu in Paris oder Mar-seille, Herzogs Herausarbeitung der halluzinatorischen Züge des durch Doktor und Professor ausgebeuteten Woyzecks oder Thalheimers Bühnen-fassung, die gesellschaftspolitische Aspekte zwar ausblendet, dafür aber sich ganz konzentriert auf die in ei-ner Anspielung Büchners im Drama präsente „wunderliche Märchen-gasterei“: „Blutwurst ist ein Mörder, der die Leberwurst mit einem lan-gen, langen Messer, das blinkt als wärs frisch gewetzt“ – mit der Folge, dass das nicht zu befriedigende Be-gehren zwischen Woyzeck und Marie zu Massenlustmorden führt. Diese Vielfalt an je stimmigen Auslegungen verdankt sich dem spannungsreichen hochmodernen Doppelgesicht des Paupers als arbeits- und ehrlosen und als wissenschaftlich hergerichte-ten Geringen. So gesehen haben wir schlussendlich das Thema noch ein-mal ausgeweitet: Es geht bei dieser Aktualität nicht mehr nur um Büch-ner und seine Zeit, sondern um Büch-ner und unsere Zeit. •

kOntakt

Prof. Dr. Günter Oesterle Nahrungsberg 49 35390 Gießen [email protected]

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„Der freiheit eine Gasse“spuren der „Gießener schwarzen“ in Büchners „Dantons tod“

Von Gerhard Kurz

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 29

„Der Freiheit eine Gasse“

Büchner reagiert mit seinem werk

nicht nur auf die allgemeine poli-

tische und soziale situation seiner

Zeit und das literarische Programm

des „Jungen Deutschland“, er

reagiert auch auf hessische Verhält-

nisse. Der „hessische landbote“,

zusammen mit dem Butzbacher

Pfarrer und rektor friedrich

ludwig weidig verfasst, zielt auf

die soziale lage der Bauern und

handwerker im Großherzogtum

hessen-Darmstadt, „woyzeck“

verarbeitet auch Gießener erfahrun-

gen, „leonce und lena“ auch Darm-

städter erfahrungen, und „Dantons

tod“ bezieht sich in seiner kriti-

schen Vorführung der französischen

revolutionäre auch auf die radikale

hessische Oppositionsbewegung. im

revolutionären Paris lässt Büchner

nicht nur die Marseillaise, sondern

auch deutsche Volkslieder singen,

darunter ein hessisches soldaten-

lied. ihren ausgang nahm diese

Oppositionsbewegung von den „Gie-

ßener schwarzen“. Deren spuren in

„Dantons tod“ soll hier nachgegan-

gen werden.

Die Universität Gießen und ihre Studentenschaft war um 1815 ein Zentrum der oppositionel-

len Bewegung in Deutschland. Hier entstand unter wechselnden Namen („Teutsche Lesegesellschaft zur Er-reichung vaterländisch-wissenschaft-licher Zwecke“, „Germania“ oder „Germanenbund“, „Deutscher Bil-dungs-und Freundschaftsverein“) eine geheimbündische, burschenschaftli-che Vereinigung, die wegen ihrer „teut-schen“ Tracht – schwarzer oder grauer, bis zum Hals zugeknöpfter Rock, darü-ber ausgeschlagen ein breiter, weißer Hemdkragen, langes Haar, ein schwar-zes Samtbarett mit einem Kreuz, an der Seite meist ein Dolch – die „Gie-ßener Schwarzen“ genannt wurden. (Abb. 2). Die einheitliche Tracht sollte die Gleichheit symbolisieren, die Farbe schwarz das Geheime, Unheimlich-Be-drohliche und sollte wohl auch an die Talarfarbe der protestantischen Pfar-rer erinnern. In Darmstadt bildete sich ebenfalls ein Kreis von „Schwarzen“.

Die Schreibweise „teutsch“ vs. „deutsch“ markiert in dieser Zeit ein politisches Programm, nämlich die Forderung nach nationaler Ein-heit und (vermeintlich altdeutscher) Freiheit. Im Kreis der „Schwarzen“ wurden Schiller und die nationalen Schriften von Fichte, Arndt und Jahn gelesen, die Freiheitslieder Theo-dor Körners mit ihrer Verklärung des Todes für das Vaterland und das „Nibelungenlied“. Als Hagen des Ni-belungenlieds (Abb.  9) oder Ritter im Harnisch (Abb.  1) zeichnete der

mit den Schwarzen sympathisierende Maler Karl Philipp Fohr Adolf Ludwig Follen. Gegen die restaurative Ent-wicklung nach den Befreiungskriegen und gegen die alten studentischen Landsmannschaften mit ihrer Sauf-, Rauf- und Duellkultur verstand sich diese neue Burschenschaft als eine moralische und intellektuelle Elite, als eine Jugendbewegung und als eine politisch radikale, nationale Avantgar-de. Die „Gießener Schwarzen“ enga-gierten sich auch in der jungen Turn-bewegung, zu deren Zielen ebenfalls politische Einheit, Gleichheit und Frei-heit gehörten.

Die führenden Köpfe der „Gießener Schwarzen“ waren der Pfarrersohn

Abb. 1: Adolf August Ludwig Follen im Harnisch, Sommer/Herbst 1816 gezeichnet (Feder, Pinsel/Tusche, 36,6 x 25,4 cm) von dem mit den „Schwarzen“ sympathisierenden Künstler Carl (Karl) Philipp Fohr (Heidelberg 1795-1818 Rom). Inv. Nr. Z 255© Kurpfälzisches Museum Heidelberg

Abb. 2: Einheitliche Tracht der „Gießener Schwarzen“: hier „Der ritterliche Kahl“, Zeichnung vermutlich von Ernst Fries aus dem Jahre 1819

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30 Justus-Liebig-Universität Gießen

Kurz

Karl Christian Sartorius (Abb. 5), Schüler des Darmstädter „Pädagogs“, das später auch Büchner (Abb. 6) be-suchte, 1817 einer der Wortführer des studentischen Wartburgfestes, dann die beiden Brüder August (später Adolf) Ludwig und Karl Follen (Abb. 3 und 4), Söhne eines Juristen. An ihren Versammlungen nahm auch Weidig teil, später die Zentralfigur der ober-hessischen Opposition.

Die Brüder Follen besuchten das Gymnasium in Gießen. August Ludwig studierte dann Philologie und Evan-gelische Theologie in Gießen, später Jura in Heidelberg. 1817 wurde er Re-dakteur der Elberfelder „Allgemeinen Zeitung“. 1819 gab er die „Freye Stim-men frischer Jugend“ in Jena heraus, ein politisches Manifest der „Gießener Schwarzen“ und der Turnbewegung in Liedern. Das erste Lied, von ihm selbst gedichtet, formuliert als Losung: „Gott, Freyheit, Vaterland, altteutsche Treu“. Im selben Jahr wurde er in Berlin inhaf-tiert. Mit seinem Fall war das Mitglied der „Königlichen Immediat-Untersu-chungs-Kommission zur Ermittlung hochverräterischer Verbindungen und staatsgefährlicher Umtriebe“, der

Kammergerichtsrat und Dichter E. Th. A. Hoffmann befasst. 1821, gegen Kau-tion entlassen, floh August Follen in die Schweiz. Sein weiterer Lebensweg: bis 1827 Professor für deutsche Spra-che und Literatur an der Kantonsschu-le Aarau; durch eine Heirat finanziell unabhängig geworden, Mittelpunkt eines literarisch-politischen Kreises in Zürich, in dem auch Gottfried Keller verkehrte; mehrere Jahre Mitglied des „Großen Rates“ von Zürich; 1828/29 erschien seine vielgelesene Anthologie „Bildersaal deutscher Dichtung“. Er starb verarmt 1855.

Karl Follen studierte in Gießen Jura und promovierte 1818. Den Zeugnis-sen nach war er eine charismatische Figur, verglichen wurde er mit Ro-bespierre und Christus. Er entwarf den „Ehrenspiegel“ der „Christlich-Teutschen Burschenschaft“, so etwas wie eine Verfassung der neuen Bur-schenschaft. Sie fordert eine einheit-liche, demokratische Organisation der Studenten und formuliert als Ziel ein „christliches, wissenschaftliches und teutsches Streben“ der „Burschen“, die Ausbildung aller „Geistes – und Leibeskräfte“. Sie löst den Ehrbegriff

von der herkömmlichen studenti-schen, quasifeudalen Kultur und bin-det ihn an Bildung, eine disziplinierte Lebensführung, an ein neues Tugend-ideal einschließlich einer asketischen Sexualmoral, schließlich an das „Va-terland“. Vaterland heißt nun nicht mehr die landsmannschaftliche Her-kunft, sondern das geeinte, republika-nische und demokratische Vaterland aller Deutschen.

Zusammen mit seinem Bruder kon-zipierte er 1818 die „Grundzüge für eine künftige Reichsverfassung“. Diese Grundzüge waren revolutionär, inspiriert von den Zielen der Franzö-sischen Revolution. Sie sahen einen einheitlichen, demokratischen Staat vor, Gewaltenteilung, Freiheit und Gleichheit der Bürger und Anspruch auf gleiche Bildung. Dieser Staat sollte zugleich deutsch und christlich sein. Gleichberechtigung der Frauen und Religionsfreiheit waren nicht vorgese-hen. Christlich bedeutete für den Pro-testanten Follen christlich-lutherisch. Dieser fundamentalistische Grundsatz richtete sich gegen den ‚römischen‘ Katholizismus und schloss Juden aus. Da dieses Christentum nationalreli-

Abb. 3: Carl Philipp Fohr: „Adolf Follen, Brustbild nach rechts“; Hessisches Landesmuseum Inv.-Nr. HZ 1248

Abb. 5: Der Pfarrersohn Karl Christian Sartorius, einer der führen-den Köpfe der „Gießener Schwarzen“.

Abb. 4: Karl Follen, der Bruder von Adolf Ludwig Follen

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 31

„Der Freiheit eine Gasse“

giös verstanden wurde – „Im Volkstum erblühe das Christentum“ –, schloss es tendenziell für die Juden auch den Weg der Taufe aus. Die „Schwarzen“ waren aber (noch) keine Antisemiten. Ihre Judenfeindschaft begründeten sie nicht rassistisch.

Im selben Jahr 1818 ging Karl Follen nach Jena, wo er als Privatdozent der

Jurisprudenz lehrte. Jena war neben Gießen eine Hochburg der Burschen-schaftsbewegung.

„Die unbedingten“

Der innere Kreis um Karl Follen in Gießen und Jena wurde „Die Unbe-dingten“ genannt. Unbedingt, weil sie

ihre Ziele unbedingt und kompromiss-los verfolgen wollten und diese Ziele die Mittel heiligten. Die Mittel, das war revolutionäre Gewalt: politischer Mord, der „Opfertod“ für „Freiheit und Vaterland“, das war das „Schwert“. In seinem Votum für die Untersuchungs-kommisssion zu August Ludwig Follen konstatiert E. Th. A. Hoffmann einen „Fanatismus“ in der „höchsten Recht-lichkeit und Sittlichkeit“ und kommt zu dem Urteil, dass der „Verein der Schwarzen“ den Umsturz aller beste-henden Verfassungen will und daher als ein „höchst gefährlicher Bund“ zu gelten hat.

Dem Kreis der Unbedingten ge-hörte auch Karl Ludwig Sand an. Als Sand, der schon länger davon träum-te, „für unsere heilige teutsche Sache als Märtyrer“ sterben zu wollen, 1819 den Schriftsteller August von Kotze-bue ermordete, eine Symbolfi gur der politischen Verhältnisse für diese Stu-denten, wurde Karl Follen der geisti-gen Urheberschaft beschuldigt. Der Verhaftung entzog er sich durch die Flucht über Paris in die Schweiz, 1824 in die USA. Sein weiterer Lebensweg: In Harvard hatte er den ersten Lehr-

Abb. 6: Georg Büchner, im revolutionären Polenrock.

…Offen gestanden, dieser Georg Büchner war uns nicht sympathisch. Er trug einen hohen Zylinderhut, der ihm immer tief unten im Nacken saß, machte

beständig ein Gesicht wie eine Katze, wenn‘s donnert, hielt sich gänzlich ab-seits, verkehrte nur mit einem etwas verlotterten und verlumpten Genie, August Becker, gewöhnlich nur der „rote August“ genannt. Seine Zurückgezogenheit wurde für Hochmut ausgelegt, und da er offenbar mit politischen Umtrieben zu tun hatte, ein- oder zweimal auch revolutionäre Äußerungen hatte fallen lassen, so geschah es nicht selten, daß man abends, von der Kneipe kommend, vor seiner Wohnung still hielt und ihm ein ironisches Vivat brachte: „Der Erhalter des euro-päischen Gleichgewichts, der Abschaffer des Sklavenhandels, Georg Büchner, er lebe hoch!“ – Er tat, als höre er das Gejohle nicht, obgleich seine Lampe brannte und zeigte, daß er zu Hause sei. In Wernekincks Privatissimum war er sehr eifrig, und seine Diskussionen mit dem Professor zeigten uns beiden andern bald, daß er gründliche Kenntnisse besitze, welche uns Respekt einfl ößten. Zu einer An-näherung kam es aber nicht; sein schroffes, in sich abgeschlossenes Wesen stieß uns immer wieder ab...“

Carl Vogt (1817-1895) in seinen Lebenserinnerungen (1895 veröffentlicht) über Georg Büchner

Das „Große Lied“

„... Ihr Geister der Freien und Frommen,Wir kommen, wir kommen, wir kommen,Eine Menschheit zu retten aus Knechtschaft und Wahn,Zur Blutbühn‘, zum Rabenstein führt unsre Bahn.Auf Zwingherrn Nacken zu fußen,Lohnt uns auch der Dolch in dem Busen.

Nur die Bürgergleichheit, der Volkswille sei Selbstherrscher von Gottes Gnaden. Auf, auf, mein Volk, Gott schuf Dich frei,Ruft Dich aus der Knechtschaft Wüstenei Zu der Freiheit Heimatgestaden.

Musst wandeln durch ein rotes Meer,Durch Deiner Söhne Opferblut,Dass tilgt die Pharaonenbrut Mit Ross und Tross, mit Kron‘ und Heer...“

Auszug aus dem „Großen Lied“ der Brüder Follen.

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32 Justus-Liebig-Universität Gießen

Kurz

stuhl für deutsche Sprache und Lite-ratur in den USA inne. Da er für die Sklavenbefreiung eintrat, wurde er entlassen. Danach war er als unitari-scher Prediger tätig. Bei einem Schiff-brand kam er 1840 ums Leben.

Sands Attentat nutzten die deut-schen Regierungen unter der Füh-rung Metternichs für die repressiven „Karlsbader Beschlüsse“ im Jahr 1819.

Das „Große lied“

Das „Allerheiligste“ der „Unbeding-ten“ enthält das „Große Lied“, das die Brüder Follen 1817/18 verfassten. Nur geheim und mündlich wurde es verbreitet. In seiner revolutionären Radikalität, seinen wilden Rache- und Vernichtungsphantasien, seiner Iden-tifizierung des nationalrevolutionä-ren und des religiösen Akts, seinem völkischen Jakobinismus, seiner to-talitären Tendenz, seiner reaktionä-

Einschwörung vollziehen. In einem mitternächtlichen Abendmahl vor dem „Vaterlandsaltar“ wird eine „aus-erwählte Schar“ in „nachtschwarzem“ Gewand in einen verschworenen, to-desbereiten „heil’gen Märt‘rerorden“ der „ewgen Freiheit“ verwandelt. „Ein Herz, ein Arm, ein Blut sind wir geworden“. Diese Trias wie auch „Ein Gott, ein Vater, ein Wille“ wan-delt die Forderung der französischen Revolution einer „Nation une et indi-visible“ und eine religiös-politische Tradition nationalreligiös ab: Ephe-ser 4, 5: „Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe“, Ludwig XIV.: „un roi, une loi, une foi“. Monströs wird der eigene Opfertod in die Nachfolge Christi ge-stellt. „Ein Christus sollst du werden“. Die Tötung der Tyrannen und der ei-gene Opfertod sollen die Erhebung des Volks auslösen. „Dann Volk: Die Molochpriester würge! würge!“ oder: „Gewehr und Axt, / Schlachtbeil und Sense packst, / Zwingherrn den Kopf abhackst“. Apokalyptisch wird der Freiheitskampf als ein „Weltbrand“, als „Abend aller Schlachten“ imagi-niert. Wie viele Tyrannen umgebracht werden müssen, ist „gleichviel“. Reli-giösen und revolutionären Akt iden-tifizierend heißt es in bezeichnender Abwandlung der französischen Trias

ren Fortschrittlichkeit ein singuläres Dokument in der frühen demokrati-schen Bewegung und der Geschichte der deutschen politischen Literatur. Aus ihm geht hervor, dass die Farbe schwarz auch eine apokalyptische To-dessucht symbolisiert. Veröffentlicht wurde es in zwei Drucken 1829 und 1830. Das „Lied“ stellt in der Form ei-ner religiösen Liturgie eine Einschwö-rung auf die revolutionäre Tat dar, für die man sein eigenes Leben zum Opfer bringt, und soll zugleich diese

Der autOr

Gerhard kurz, Jahrgang 1943, ist Professor i.R. für Neuere deut-sche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er studierte an der Universität Heidelberg und promovierte an der Universität Düsseldorf. 1980 wurde er auf den Lehrstuhl für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Amsterdam berufen, 1984 an die Justus-Liebig-Uni-versität. Seine Forschungsgebiete sind vor allem die Literatur um

1800 und des 20. Jahrhun-derts, Literaturtheorie und Hermeneutik. Er ist Vorsit-zender des Wissenschaft-lichen Beirats des Freien Deutschen Hochstifts/Goe-themuseums in Frankfurt a.M. und Ehrenpräsident der Hölderlingesellschaft.

Abb. 7: Dantons Tod, Berliner Ensemble 2012Foto: Monika Rittershaus

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 33

„Der Freiheit eine Gasse“

´altteutschen` Heroen Hermann, Ha-gen, Hus, Luther, Tell, der Ritter, von „Teutoburg und Rütli“, die Berufung auf „Kreuz, Schwert und Eiche“. Unter den „Schwarzen“ verbreitet war der sagenhafte Ruf Winkelrieds aus der Schlacht bei Sempach (Abb. 8): „Der Freiheit eine Gasse“. Mit diesem Ruf opfert er sich. Diesen Ruf legt Büchner im Drama dem Souffleur Simon in den Mund, um die Posen der Revolutionä-re zu entlarven. Das Drama kritisiert diese Posen als politische Romantik. Auf den Todes- und Opferrausch ist im Drama der Ausdruck „Guillotinen-romantik“ gemünzt. „Zur Blutbühn ,̀ zum Rabenstein führt unsre Bahn“, heißt es im „Großen Lied“. Der Aus-druck soll auch die Sehnsucht nach dem Vergangenen treffen, mit ihr auch ein falsches Bewusstsein, das sich über den geschichtlichen Stand betrügt und die Grenzen von Politik

liberté, égalité, fraternité „Freiheit, Gleichheit, Gottheit“. Die totalisie-rende Metaphorik und performative Rhetorik, die das „Große Lied“ durch-zieht, wird später der Nationalsozialis-mus aufgreifen. Hier heißt es z.B. „ein Volk, ein Reich, ein Führer“ oder „Volk ans Gewehr“, „Volk ins Gewehr“ heißt es im „Großen Lied“. Charakteristisch für den Nationalsozialismus auch die liturgische Inszenierung von Partei-tagen, die apokalyptische Rhetorik und Szenerie von Aufmärschen, die schwarze Uniform der SS.

„Guillotinenromantik“

Diese revolutionäre Bewegung in Gießen und Darmstadt war Büchner (Abb. 6) gegenwärtig. In seiner Umge-bung gab es nicht wenige personelle Beziehungen zu den „Schwarzen“, z.B. in der Person Weidigs. Kurz vor Verlassen der Schule 1831 hatte er sich auch Passagen aus dem „Großen Lied“ in sein Schulheft notiert. Büch-ner war ein Revolutionär, aber anders als die „Schwarzen“ kein National-revolutionär. Entscheidend für ihn war die soziale Frage, nicht die nati-

onale. In der revolutionären Strategie der „Schwarzen“ konnte er, der re-volutionäre Gewalt durchaus bejahte, wenig später nur eine naive Fehlein-schätzung der Revolutionsbereitschaft des Volkes sehen. Mit ihrer deutsch-protestantisch-romantischen, revolu-tionären Welt setzt er sich implizit in „Dantons Tod“ auseinander. In das Pa-ris der Revolution, in die Rhetorik und Phantasmen der französischen Akteu-re fügt er auch Elemente der revolu-tionären Rhetorik und Phantasmen ein, mit denen sich die „Schwarzen“ selbst bezauberten und berauschten. Kritisch – und selbstkritisch gegen ei-gene, frühere Wunschbilder – blendet er beide Welten ineinander.

Das Drama führt mit einer spezifi-schen Zitiertechnik vor, wie sich die französischen Revolutionäre an ihren heroischen „Phrasen“ in antiker Pose berauschen, wie sie darin ihre Verant-wortung für die blutige terreur ver-drängen, wie das hungernde Volk leer ausgeht. Hier, in Paris, die Pose einer heroischen Nachahmung der Antike, die Berufung auf die exempla, dort, bei den „Schwarzen“, analog die Pose einer heroischen Nachahmung der

Abb. 8: Schweizer Gevierthaufen in der Schlacht bei Sempach am 9. Juli 1386, Schlachtgemälde von Hans Ulrich Wegmann.

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34 Justus-Liebig-Universität Gießen

Kurz

Vandenhoeck & Ruprecht 1994, S. 108-148

Haupt, H.: Karl Follen und die Gieße-ner Schwarzen, Gießen: Alfred Tö-pelmann 1907

Kurz, G.: Dantons Tod im regionalen Horizont, in: Burdorf, D./Matuschek, S. (Hrsg.), Provinz und Metropole. Zum Verhältnis von Regionalismus und Urbanität in der Literatur, Hei-delberg: Winter 2008, S. 155-169

kOntakt

Prof. Dr. Gerhard kurz Justus-Liebig-Universität Institut für Germanistik Otto-Behaghel-Straße 10 B 35394 Gießen [email protected]

hundert, in: Spiegel der Forschung, 29. Jg., Nr. 1 (2012), S. 10-25

Brandt, H.-H.: Studentische Korpora-tionen und politisch-sozialer Wandel – Modernisierung und Antimoder-nismus, in: Hardtwig, W./ Brandt, H.-H. (Hrsg), Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert, Mün-chen: Beck 1993, S. 122-143

Fellrath, I.: Auf den Spuren des „Gro-ßen Liedes“ der Brüder Follen, in: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde, N.F. 54 (1996), S. 223-260

Gissel, N.: Vom Burschenturnen zur Wissenschaft der Körperkultur. Struk-tur und Funktion der Leibesübungen an der Universität Gießen 1816-1945, Gießen: Ferber’sche Universitätsbuch-handlung 1995, S. 45-106

Hardtwig, W.: Nationalismus und Bürgerkultur 1500-1914, Göttingen:

und Ästhetik, Rhetorik und Realität aufhebt. Zur Evokation der deutsch-romantischen Welt im Drama gehören auch die Fensterszenen, die Volkslie-der, darunter auch „Es ist ein Schnit-ter, der heißt Tod“, der Vergleich Dan-tons mit dem „hörnernen Siegfried“. Protestantisch konnotiert ist der Name „Herrgott“. Mitgetroffen wird in der Figur Robespierres auch die asketische Tugendpose der „Schwar-zen“, mitgetroffen auch die Identifizie-rung von Religion und Politik, die Be-rufung auf den Opfertod von Christus. Im Drama verstehen Robespierre und Danton ihre Handlungen als Überbie-tungen des Opfers Christi – weil sie andere opfern. Danton nennt Robes-pierre einen „Blutmessias“. Hier wie dort wird die Revolution mit dem Gang des israelischen Volkes durch das Rote Meer verglichen – rot ist es, weil es rot von Blut ist, heißt es nun. Hier wie dort zählt der Tod nichts, „gleich-viel“ heißt es im „Großen Lied“, „was liegt daran“ im Drama.

Schließlich lässt sich die kritische Perspektive des Dramas auch auf die spezifisch narrativ-performative Rhe-torik des „Großen Lieds“ beziehen. Es soll zugleich Darstellung der revolu-tionären Handlung und Einschwörung und Vorwegnahme dieser Handlung sein. Die Konsequenzen einer solchen Setzung der revolutionären Rhetorik als Wirklichkeit werden im Drama von Mercier scharf benannt. Zu sei-nen Mitgefangenen in der Concierge-rie sagt er: „Blickt um euch, das Alles habt ihr gesprochen, es ist eine mimi-sche Übersetzung eurer Worte. Diese Elenden, ihre Henker und die Guillo-tine sind eure lebendig gewordnen Reden.“ •

Ǻ literatur

Berding, H.: Von der Judenemanzipa-tion zum Antisemitismus. Die Situa-tion der Juden in Hessen im 19. Jahr-

Abb. 9: Carl Philipp Fohr: Die Donau-Nixen verkünden Hagen die Zukunft, Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt a. M.

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 35

Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 35

Geburtstag von Georg Büchner

Veranstaltungen im Jubiläumsjahr 2013 an der

Justus-liebig-universität Gießen

auftaktveranstaltung zum Georg Büchner Gedenkjahr 2013 Vortrag von felicitas hoppe, Büchnerpreisträgerin 201224. April 2013, 19 Uhr s.t., Aula im Universitätshauptgebäude

Grußworte: Prof. Dr. Joybrato Muk-herjee, Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen; Dietlind Grabe-Bolz, Oberbürgermeis-terin der Stadt Gießen

Der Vortrag ist gleichzeitig der Eröffnungsvortrag der Reihe „Georg Büchner – literatur/wissenschaft“die an sechs Abenden im Sommer-semester 2013 jeweils mittwochs um 19 Uhr stattfi ndet.

Veranstalter: Der Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen, Prof. Dr. Joachim Jacob, Hon.-Prof. Dr. Sascha Feuchert, Dr. Kai Bremer, Institut für Germanistik, in Kooperation mit dem Literarischen Zentrum Gießen e.V.

im Visier der staatsgewalt. Die uni versität Gießen als Zentrum von revolution und repression 1813-1848 Historische Ausstellung des Universi-tätsarchivs der Universität Gießen1. November bis 13. Dezember 2013

Öffnungszeiten: montags bis freitags 9 bis 19 Uhr, Rektoratszimmer im Universitätshauptgebäude.eröffnung: 31. Oktober 2013

Konzeption: Dr. Eva-Marie Felschow und Dr. Irene Häderle

Studierende der Geschichtsdidaktik bieten Führungen für Schulklassen mit Begleitmaterialien an. Im Rahmen von zwei Projektseminaren werden ein didaktisches Konzept und das pädagogische Begleitmaterial zur Ausstellung erarbeitet.

Leitung: Dr. Jens Aspelmeier

„Georg und luise. Die Geschwister Büchner in ihrer Zeit“Erarbeitung und Erprobung von Unterrichts materialien

Veranstalter: Professur für Didaktik der Geschichte in Zusammenarbeit mit dem Magistrat der Stadt Gießen und der Georg-Büchner-Schule Gießen.

Leitung der Seminargruppe und Ansprechpart nerin: Rita Rohrbach

Am Beispiel der Geschwister Ge-org und Luise Büchner erarbeiten Lehramtsstudierende gemeinsam mit Lehrerinnen und Lehrern der Georg-Büchner-Schule Unterrichtsmateri-alien zu Themen wie Landespolitik,

Gesellschaft, Familie und Erziehung im 19. Jahrhundert. Die Materialien werden an der Georg-Büchner-Schule erprobt und danach den Gießener Grundschulen zur Verfügung gestellt.

Zu diesem Thema fi ndet auch eine Vorlesung im Rahmen von Justus‘ Kinderuni für Mädchen und Jungen im Alter von 8 bis 12 Jahren statt: „warum konnten Georg und luise ihr land nicht verändern?“ 28. Mai 2013, 16 Uhr c.t., Aula im Universitätshauptgebäude

lesung aus frederik hetmanns Jugendbuch „Georg B“13. Mai 2013, 18 Uhr, im Rahmen des Geschichtslesesommers im KiZ

Veranstalter: Professur für Didaktik der Geschichte in Zusammenarbeit mit dem Literarischen Zentrum Gießen

[  BÜCHNER-JAHR  ]

Georg Büchner (1813–1837)

Aus Anlass des 200. Geburtstags von Georg Büchner (1813-1837) fi nden im Jahr 2013 zahlreiche Veranstaltungen statt – auch an der Universität Gießen, wo Büchner in den Jahren 1833/34 Medizin studierte. Hier die Zusammenstellung einiger Veranstaltungen an der Justus-Liebig-Universität im Jubiläumsjahr:

Justus-Liebig-Universität HauptgebäudeLudwigstraße 23 35390 Gießen

KiZ Lonystraße 2 35390 Gießen

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36 Justus-Liebig-Universität Gießen

Bleiben oder Gehen?Die „Gießener auswanderergesellschaft“ im Vormärz: Projektseminar in der Didaktik der Geschichte

Von Rita Rohrbach

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 37

Bleiben oder Gehen

Georg Büchner, friedrich ludwig

weidig, die Brüder follen (auch fol-

lenius genannt) und Pastor fried-

rich Münch waren durch vielfältige

aktivitäten im rahmen der frei-

heitskriege und des studiums an der

„Vormärz-universität Gießen“, der

Burschenschaftsgestaltung, ihrer

revolutionären Ziele und auch durch

verwandtschaftliche Beziehungen

verbunden. als akteure im Vormärz

stellten sie sich die frage, wie sie

ihre freiheitlich-republikanischen

ideen umsetzen könnten: entweder

hier in Deutschland oder aber durch

Gründung eines eigenen staates

in amerika. Büchner und weidig

blieben, während Paul follen und

Pfarrer Münch die „Gießener aus-

wanderergesellschaft“ gründeten

und mit 500 Mitgliedern die utopie

in amerika verwirklichen wollten.

Im Sommersemester 2012 haben Studierende der Didaktik der Ge-schichte in einem Projektseminar

zum Thema „Gießener Auswanderer-gesellschaft“ mit der Künstler- und Forschergruppe „Reisende Sommer-Republik“ sowie dem Stadtarchiv Gießen zusammengearbeitet. Die Studierenden haben aus neuen Quel-lenfunden über die „Utopisten“ und aus curricularen Vorgaben für den Geschichtsunterricht Unterrichtsma-terialien für die Schulen der Region erstellt. Diese stehen 2013 parallel zu der Ausstellung „Aufbruch in die Uto-pie“ den Schulen in der Region und auch der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung.

Die „Gießener auswanderergesellschaft“

„Dieser Vorsatz erwachte in uns, seit wir nach unserer Einsicht die Über-zeugung gewonnen haben, daß uns die Verhältnisse in Teutschland we-der jetzt noch für die Zukunft gestat-ten, die Anforderungen, welche wir als Menschen und Staatsbürger für uns und unsere Kinder an das Le-ben machen müssen, zu befriedigen, seit wir erkannt haben, daß nur ein Leben, wie es in den freien Staaten Nordamerika’s möglich ist, uns und unseren Kindern genügen könne.“

Mit diesen Worten begründeten der Gießener Rechtsanwalt Paul Follen und Pfarrer Friedrich Münch aus Nie-

der-Gemünden den Entschluss, ihre Heimat zu verlassen. In ihrem Aus-wanderungsaufruf „Aufforderung und Erklärung in Betreff einer Auswande-rung aus Teutschland im Großen in die nordamerikanischen Freistaaten“, publiziert im Verlag Ricker in Gießen, warben sie 1833 um gleichgesinnte Bürger aus ganz Deutschland.

Was wissen wir über ihre Ameri-kareise? Was über die Mühen des Neubeginns in Amerika, was über ihr Scheitern oder ihre Erfolge? Ver-suchen wir, uns ihre Geschichte wie ein Theaterstück vorzustellen! In der Geschichte der „Gießener Auswande-rergesellschaft“ treten auf: der Gie-ßener Rechtsanwalt Paul Follen und der oberhessische Pastor Friedrich Münch aus Nieder-Gemünden.

Prolog

Paul Follenius und Friedrich Münch kennen sich seit ihrer Studienzeit an der Gießener Universität, wo sie den so genannten „Gießener Schwarzen“ angehörten. Paul kämpfte, wie sein Bruder Karl und sein Freund Weidig als 14-jähriger in den Befreiungskrie-gen gegen Napoleon und wurde für seine Tapferkeit geehrt. Sie protestie-ren gegen die Fürstenwillkür und set-zen sich in nationaler und christlicher Gesinnung für einen demokratisch orientierten Nationalstaat ein. Darum werden sie bespitzelt und bedroht. So verlangt der hessische Staat von Friedrich Münch 1825 bei seiner Er-

Pfarrer Friedrich Münch, der gemeinsam mit Paul Follen die „Gießener Auswanderergesellschaft“ gründete und mit 500 Mitgliedern „ein Leben, wie es in den freien Staaten Nordamerika’s möglich ist“, führen wollte. Foto von Mitte des 19. Jahrhunderts, Fotograf unbekannt. Missouri History Museum Photograph and

Print Collection. Portraits n12876.

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38 Justus-Liebig-Universität Gießen

Rohrbach

nennung zum Pastor eine besondere Loyalitätserklärung. Im Unterschied zu Büchner und Weidig lehnen Münch und Paul Follen Gewalt als Mittel der Veränderung ab. Aus Gottfried Du-dens Amerikaberichten und von Karl Follen, Pauls Bruder, der wegen seiner Verfolgung nach Amerika ausgewan-dert war und dort als Professor an der Harvard University arbeitet, hören sie von „Amerika als Vaterland der Frei-heit“. Paul und Friedrich beschließen, dort eine deutsche Musterrepublik zu gründen. Weidig, Büchners Mitstrei-ter, kritisiert diesen Entschluss als „Verrat am Vaterland“.

erster akt: Die auswanderung

Wie erreicht man im Jahr 1833, also ohne Internet oder ein breites Nach-richtenangebot, Gleichgesinnte, die nicht aus Armut ihr Land verlassen

wollen, sondern aus politischen Mo-tiven? Wie gelangt man – ohne Auto oder Zug – nach Bremerhaven?

Münch und Follen erarbeiten eine 25-seitige Deklaration, die in ganz Deutschland gelesen wird. Sie halten Versammlungen ab und werben um „unbescholtene und fleißige Familien“ mit finanziellen Mitteln, demokrati-schen Gedanken und brauchbaren Be-rufen. Es finden sich 500 Bauern, Aka-demiker, Handwerker und Kaufleute mit ihren Familien zusammen, die „ein verjüngtes Teutschland“ in Ame-rika aufbauen und von dort aus ein Vorbild für das enttäuschende absolu-tistische Heimatland geben wollen.

Die Männer, Frauen und Kinder, manche Familien sogar mit Gesin-de, reisen 1834 zu Fuß oder mit der

Kutsche bis zur Weser, von dort sol-len Flussschiffe sie bis Bremerhaven bringen, wo sie ein Segelschiff ge-bucht haben. Die erste Gruppe unter Paul Follen erreicht zwar ohne Zwi-schenfälle New Orleans, aber durch die Strapazen der Reise und durch die Cholera in der Region Mississippi ver-lieren sie etwa 40 Mitglieder.

Die zweite Gruppe unter der Lei-tung von Pfarrer Münch kann die Atlantik reise nicht sogleich antre-ten, weil ihnen bei der Ankunft das gebuchte Schiff nicht zur Verfügung steht. Sie müssen fünf Wochen in der Nähe von Bremerhaven warten und werden vom Reeder auf der Weser-insel Harriersand in einem Kuhstall untergebracht. Hier zermürben das Warten, schlechte Ernährung und

Der Butzbacher Rektor Friedrich Ludwig Weidig, Büchners Mitautor des Hessischen Landboten, kritisiert den Entschluss, Deutschland zu verlassen, als „Verrat am Vaterland“.Foto: Museum Butzbach

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 39

Bleiben oder Gehen

das feuchte Klima auf den Flusswie-sen die Ausreisewilligen. Besonders die kleinen unter den Kindern erkran-ken. Immer wieder gelingt es Fried-rich Münch, die Gruppe mit seinen Gottesdiensten zu ermutigen, bis das Schiff endlich bereit steht. In Ameri-ka geht dann die anstrengende Reise mit Pferdewagen und Flussdampfern weiter ins Missouri-Valley.

Als sich die zwei Gruppen endlich wieder treffen, leiden die Auswanderer

Pfarrer Friedrich Münch wurde in Amerika Freidenker, statt Predigten hielt er dann Vorträge, u.a. auch als Mitglied des US-Senats.Missouri History Museum

Veranstaltet vom Magistrat der Stadt Gießen mit Stadtarchiv und Kulturamt und der Reisenden Sommer-Republik. Projekt-partner: Justus-Liebig-Universität Gießen, German-American Heritage Foundation, Washington DC; Heinrich Böll Stiftung Bremen, Kulturkirche St. Stephani Bremen u.a.

Die ausstellung

Die Ausstellung und das Begleitbuch AUFBRUCH IN DIE UTOPIE sind weltweit die erste ausführliche Darstellung der Gießener Auswanderergesellschaft – einem einzigartigen und inspirierenden Kapitel in der deutschen Demokratie-geschichte, das seinen Ursprung in Oberhessen hat.

reisende sommer-republik

Die Reisende Sommer-Republik ist ein freier Zusammen-schluss von Künstlern, Kulturschaffenden und Wissen-schaftlern u.a. aus Hessen, Bremen, Berlin und Missouri. Sie forscht über eine utopische Idee und ihre Brücken in die Gegenwart: die wahre Geschichte der Gießener Auswander-ergesellschaft, die 1834 in den USA einen deutschen demo-kratischen Staat errichten wollte. www.sommer-republik.de

aufbruch in die utopie

ausstellungsreise auf den spuren einer deutschen republik in den usa

Dorris Keeven-Franke, Archivarin der „Saint Charles County Historical Society“, und Dr. Ludwig Brake vor dem Grabstein von Paul Follenius, einem der beiden Führer der „Gieße-ner Auswanderergesellschaft“, der 1844 auf seiner Farm am Lake Creek in Warren County, Missouri, verstarb. Der Grabstein befindet sich auf Follenius‘ ehemaligem Farmgelände.Foto: Peter Roloff

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40 Justus-Liebig-Universität Gießen

Rohrbach

Gleichheit, besonders von der Freiheit von Sklaverei. Münch ist Freidenker geworden, er hält keine Predigten mehr, sondern Vorträge, u.a. auch als Mitglied des Senats. Den Traum von einer deutschen Musterrepublik muss Münch aber aufgeben, denn die Einheimischen fühlen sich bevormun-det und bedrängt, sie reagieren sogar deutschenfeindlich.

Dritter und aktueller akt: ab 2005 „reisen“ wieder „republikaner“ in die usa

Historiker, Archivare, Fotografen, Filmemacher und andere Neugierige mehr gründen die „Reisende Som-mer-Republik“ und machen sich ab 2005 auf die Suche nach den Spuren der „Gießener Auswanderergesell-schaft“. Sie möchten viel mehr als nur Quellen finden, sie möchten Er-innerungskultur gestalten, indem sie nachvollziehen, verstehen und doku-mentieren. Sie verbringen, wie die Münch-Gruppe, einige Tage auf der Weserinsel Harriersand und reisen in die Missouri-Region, wo sie Nachfah-ren der Auswanderer und verlassene Farmen oder alte Weingärten ausfin-dig machen. In ihrem ‚Experiment Geschichte‘ forschen sie auf Dachbö-den in Hessen oder in Archiven in der

unter Trauer, Erschöpfung, Krankhei-ten und Geldnot. Die „Gießener Aus-wanderergesellschaft“ löst sich auf.

Zweiter akt: siedeln, Versuch der utopie, Deutschenfeindlichkeit

Die Deutschen bauen sich im Missou-ri Valley Hütten und betreiben Land-wirtschaft, sie bieten ihre Arbeitskraft an, gründen Handwerksbetriebe und Schulen. Die deutsche Sprache soll Amtssprache werden, also die eng-lische und französische Kultur und Sprache verdrängen. Aber: Die Eta-blierung einer „teutschen Colonie“ gelingt nicht. Paul Follen stirbt 1844 krank und erfolglos. Friedrich Münchs Arbeit allerdings hat Spuren hinterlas-sen. Seine Schriften und Vorträge, u.a. auf einer Wahlreise in New York für die Republikanische Partei vor 10.000 Menschen, bewirken verän-derte Vorstellungen von Freiheit und

• Zeitreise im Botanischen Garten: Studierende entwickeln Projekt-stationen für den Botanischen Garten. Schulklassen aus der Re-gion besuchen an einem Präsen-tationstag diese Stationen und ar-beiten mit Hilfe der Studierenden zu Themen wie ‚Geschichte der Pflanzen und Ernährung‘.

• Geschichtslesesommer (GELESO): Jeweils im Sommersemester ar-beiten Lehrende und Studierende gemeinsam im so genannten GE-LESO. Die Studierenden entwickeln didaktische Konzepte zur Einbin-dung von Jugendbüchern mit histo-rischen Themen in den Geschichts-unterricht. Zu Lesungen treffen sich die Studierenden mit der Öf-fentlichkeit und lernen u.a. Jugend-buchautoren wie Pressler, Kordon, Flacke, Beyerlein oder Boie mit ih-ren Arbeitsweisen kennen.

• Erarbeitung von Unterrichtsmate-rialien zur Region: Geschichte wird für Grund- und Hauptschulklas-sen besonders dann anschaulich, wenn sie mit Regionalgeschichte verbunden ist. Studierende ent-wickeln didaktische Konzepte mit Unterrichtsmaterialien zu Themen wie Gießen, Justus Liebig, Bil-dungsgeschichte oder National-sozialismus in der Region.

• Erarbeitung von museumspäda-gogischen Konzepten oder Aus-stellungen an Beispielen: Studie-rende erarbeiten das didaktische Potenzial von Ausstellungen für Schulklassen, zum Beispiel für ein mögliches Gießener Criminalium oder für eine Ausstellung zu einer Archivrecherche.

Projekte der Geschichtsdidaktik in einer auswahl

Dorris Keeven-Franke, Archivarin der „Saint Charles County Historical Society“, und Dr. Ludwig Brake hier bei der Recherche in der „Missouri Historical Society“ in Saint Louis. Foto: Folker Winkelmann

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 41

Bleiben oder Gehen

jekt, das auch als „vorausgeworfenes Wagnis“ bezeichnet wird, geht von einer aktuellen gesellschaftlichen Fra-ge- oder Aufgabenstellung aus, die u.a. mit Kooperationspartnern in eine zwar betreute, aber dennoch relativ selbstständige Erarbeitungsphase der Teilnehmenden mündet und mit einer Präsentation abgeschlossen wird, in

einer Studienreform, die auf die Ver-mittlung von Lernstrategien und die Teilhabe an der Gestaltung des gesell-schaftlichen Lebens abzielt. Für Leh-rende und Studierende ist die Arbeit in einem Projektseminar ein Spagat zwischen Forschung, Lehre/Lernen und praktischen Erfahrungen sowie überprüfbaren Ergebnissen. Das Pro-

Region Missouri in den USA mit dem Ziel, bürgerschaftliches Engagement zu dokumentieren und Erfahrungen der Vergangenheit für gegenwärtige gesellschaftliche Schlüsselprobleme nutzbar zu machen. Mit dabei: aus Gießen Dr. Ludwig Brake und Oliver Behnecke, aus anderen Orten sind es u.a. Peter Roloff, Rolf Schmidt, Fol-ker Winkelmann und Dorris Keeven-Franke. Zum Büchner-Jahr stellen sie die Ergebnisse ihrer Spurensuche in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt und dem Archiv der Stadt Gießen aus. Den Studierenden der Didaktik der Geschichte an der Universität Gießen überlassen sie Quellen, aus denen Un-terrichtsmaterialien erstellt werden, damit sich Schülerinnen und Schüler auf die Ausstellung vorbereiten oder diese nachbereiten können.

Das thema in der ausbildung von Geschichtslehrern

Die Frage, ob man aus politischen Gründen ein Land verlassen oder aber in der Heimat die Veränderungen mit-gestalten sollte, ist von überzeitlicher Bedeutung und darum für das Lernen und Lehren zukünftiger Lehrerinnen und Lehrer von großer Relevanz. Dies trifft sicherlich auch für unsere multi-ethnischen Schülergruppen zu.

Als Teil der modularisierten Lehr-amtsausbildung wurde am Histori-schen Institut das Modul Pragmatik mit Projekt- und Exkursionssemina-ren entwickelt. Das Projektseminar ist integratives Element in der Lehre und wird von der Didaktik konzeptionell ausgerichtet. Die Didaktik reagierte damit auf die Unesco-Forderung nach

Die autOrin

rita rohrbach, Jahrgang 1951, ist Pädagogische Mitarbeiterin in der Didaktik der Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gie-ßen. Sie hat 19 Jahre lang als Lehrerin an verschiedenen Schulen vom Primar- bis Sekundarstufenbereich Erfahrungen im histori-schen Lernen und Lehren gesammelt. Seit 1993 arbeitet sie am Historischen Institut/Didaktik der Geschichte in der Lehramtsaus-bildung. Sie ist Autorin von Fachbüchern und Koautorin von Schul-büchern. Zuletzt erschien von ihr das Buch „Kinder und Vergan-genheit, Gegenwart, Zukunft“ in der Reihe „Wie Kinder lernen/Was Erwachsene wissen sollten“, Seelze/Velber 2009. Mit Studie-renden hat sie Schülerhefte zur Geschichte Gießens erarbeitet, die

an den Schulen in der Regi-on verteilt wurden und bei der Tourist-Info in Gießen erhältlich sind. Rita Rohr-bach ist Gutachterin an In-stitutionen, die sich mit der Planung und Ausführung von Sach- und Geschichts-unterricht befassen.

Handschrift Friedrich Münch: „Gedanken einsamer Stunden“; Manuskript (3364)Foto: Folker Winkelmann

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42 Justus-Liebig-Universität Gießen

Rohrbach

ein Ziel, aber verschiedene wege

Die Aktivisten, die in Gießen und Umgebung einen freien und demokratischen Nationalstaat anstreb-ten, hatten ähnliche Forderungen. Sie wollten nach der christlichen Lehre ein menschenwürdiges Leben für das Volk erkämpfen. Ihre Wege dazu waren aber unterschiedlich.

Dieses Lied der „Gießener Schwarzen“ gilt für manche als Vorläufer des „Hessischen Landboten“:

„Brüder, so kann‘s nicht gehn,Laßt uns zusammenstehn,Duldet‘s nicht mehr!Freiheit, dein Baum fault ab,Jeder am BettelstabBeißt bald ins Hungergrab,Volk ins Gewehr!

Brüder im Bauernkleid,Reicht Euch die Hand!Allen ruft Teutschlands Not,Allen des Herrn Gebot:Schlagt Eure Plager tot,Rettet das Land!“

Ein Lied der „Gießener Auswanderergesellschaft“. Hier die erste und dritte Strophe:

„Auf in muthigem Vertrauen,Fest und brüderlich vereint!Vorwärts, vorwärts laßt uns schauen,Am Missouri Hütten bauen.Wo der Freiheit Sonne scheint.

Ihr vom alten Vaterlande,Seht, wir gehen euch voran.Oh, zerbrecht auch eure Bande, Kühn entreißet euch der Schande –Folgt, oh folget unsre Bahn“

aufgaben in Partnerarbeit:

1. Erstellt eine Tabelle und schreibt in Stichpunkten die wichtigsten Aussagen der beiden Lieder in euer Heft.

2. Beurteilt die beiden Wege. Nennt eine Alternative.

3. Die beiden Lieder wurden immer wieder gesungen. Schreibt auf, welche Emotionen Musik über den Text hinaus bewirken kann, besonders, wenn die Lieder wiederholend gesungen werden.

Alternative zu Aufgabe 3 in Alleinarbeit: Stell dir vor, deine Familie möchte ein neues Leben in einem anderen Land beginnen. Schreibe dazu deine Gefühle, Wünsche u.a.m. in Liedform auf.

unterrichtsblatt aus der seminararbeit, erarbeitet von anastasia esaulov, studierende l2:

Seminargruppe und „Reisende Sommer-Republik“ (links) singen ein Auswanderungslied.Foto: Folker Winkelmann

Die Seminargrup-pe (rechts) im Stadtarchiv Gießen.Foto: Rita Rohrbach

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 43

Bleiben oder Gehen

ders, weil die Themen Migration und Integration zu den „großen Fragen der Zeit“ gehören. Die Studierenden ha-ben in „angewandter Geschichte“ das

Recherchieren gelernt, zum Beispiel im Stadtarchiv Gießen, Quellenkritik und die Verarbeitung von Sach- und Bildquellen für den schulischen Ge-brauch in einer Didaktischen Analyse, sie formulierten dafür Kompetenz- und Lernzielbestimmungen sowie dif-ferenzierende Aufgaben für Sekundar-stufenklassen.

Ein Beispiel für ein ausgearbeitetes Unterrichtsblatt aus dem Projektsemi-nar zur „Gießener Auswanderergesell-schaft“, findet sich auf der Seite links. •

Ǻ literatur

Assion, Peter: Von Hessen in die Welt. Eine Sozial- und Kulturgeschichte der hessischen Amerikaauswande-rung mit Text- und Bilddokumenten, Frankfurt/M 1987.

diesem Fall von Unterrichtsmateriali-en für Schulen in und um Gießen (Bei-spiele zur Projektarbeit des Instituts siehe Seite 40).

Die Lehrkonzeption für die Projekt-seminare der Didaktik der Geschichte eröffnet den Studierenden dabei das Arbeiten an außeruniversitären Lern-orten, die Erprobung von fachwissen-schaftlichen Medien und Methoden, wie zum Beispiel der Spurensuche oder der Historischen Methode, die Zusammenarbeit mit Experten und Schulen, die Erstellung von Materia-lien nach fachdidaktischen Gesichts-punkten u.a.m.

In diesem Zusammenhang war die Zusammenarbeit mit Experten wie Dr. Ludwig Brake, dem Leiter des Gie-ßener Stadtarchivs, und den Künstlern und Historikern der Gruppe „Reisen-de Sommer-Republik“ ein Glücksfall für die Seminararbeit. Sowohl me-thodisch als auch inhaltlich konnte sehr konkret und zukunftsbezogen gearbeitet werden, letzteres beson-

Dr. Ludwig Brake (2. von links), Leiter des Stadtarchivs Gießen, und der Berliner Filmemacher Peter Roloff (links, mit Kamera) recherchieren für die Ausstellung „Aufbruch in die Utopie“ am Kindheitsort der revolu-tionären Follen-Brüder, dem ehemali-gen Forstamt ihres Großvaters in Romrod. Hier im Gespräch mit dem Hauseigentümer und dem Hausmeis-ter (rechts).Foto: Folker Winkelmann

Mehring, Frank: Karl/Charles Follen: Deutsch-Amerikanischer Freiheits-kämpfer, Gießen 2004.

Münch, Friedrich: Gesammelte Schriften, St. Louis 1902.

Schmidt, Rolf: Warten auf die Flut. Ein historischer Harriersand-Roman, Oldenburg 2008.

Schmidt, Rolf: Die Gießener Auswan-derergesellschaft. Vom Scheitern einer deutschen Republik, in: Mit-teilungen des Oberhessischen Ge-schichtsvereins Bd. 95, Gießen 2010, S. 77-92

kOntakt

rita rohrbach Justus-Liebig-Universität Didaktik der Geschichte Otto-Behaghel-Straße 10C 35394 Gießen Telefon: 0641 99-28311 [email protected]

„Die Projektseminare sind die effektivsten Seminare. Es gibt heftige Dis-kussionen, es gibt Rückschläge und auf einmal eine Lösung von Proble-men, die einen weiterbringen. Die Studierenden sind immer sehr moti-viert, daraus entsteht dann auch die Lebendigkeit.“

Page 46: Spiegel der Forschung 2012-2

44 Justus-Liebig-Universität Gießen

Die im amerikanischen exil verfassten

erinnerungstexte des Büchner-freun-

des august Becker sind als hinter-

grundinformationen für die entstehung

des „hessischen landboten“ nur wenig

bekannt. nachfolgende Veröffentli-

chung aus den digitalen Beständen

des Oberhessischen literaturarchivs

möchte auf die Bedeutung Beckers als

chronist der Gießener ereignisse zur

Büchner-Zeit aufmerksam machen.

auf nach amerika!Die erinnerungen des „roten Becker“ in einer amerikanischen Zeitschrift

Von Rolf Haaser

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 45

Auf nach Amerika

Die Erinnerungen von August Becker (1812-1871) werfen ein bezeichnendes Schlaglicht auf

die Spannungen innerhalb der oppo-sitionellen Bewegung in Oberhessen, die durch Paul Follens Gründung einer „Auswanderungsgesellschaft“ um die Jahreswende 1833/34 hervorgerufen wurden. Die geschilderten Ereignisse legen die Vermutung nahe, dass die Abfassung des Hessischen Landboten nicht nur den äußeren Zweck der Agi-tation der oberhessischen Bauern ver-folgte, sondern – zumindest aus der Sicht des Butzbacher Rektors Ludwig Weidig – den Sinn hatte, den politi-schen Oppositionskräften im Lande, nach dem Debakel des „Frankfurter Wachensturms“ und der danach spür-baren Depression in weiten Teilen der Bewegung, neuen Schwung zu verlei-hen.

Mit Blick auf seine hier deutlich wer-dende Frontstellung gegen Paul Follen in Sachen Auswanderung lässt sich auch leicht nachvollziehen, warum Weidig später bei seiner drohenden Verhaftung nicht von der Möglichkeit Gebrauch machen wollte, sich selbst ins Exil in die Schweiz zu begeben.

Der Verfasser der Erinnerungen, August Becker (1812-1871) – wegen der Farbe seines Haarschopfes mit dem Beinamen „der rote Becker“ ver-sehen – war an der Vorbereitung und Verbreitung des Hessischen Landboten beteiligt und 1834 Mitglied der von Georg Büchner gegründeten „Gesell-schaft für Menschenrechte“. Er emi-grierte 1853 über die Schweiz in die USA, wo er sich u.a. auf die Spuren der ehemaligen Gießener Gesinnungs-

August Becker (1812-1871), wegen der Farbe seines Haarschopfes „der rote Becker“ genannt.

Der autOr

Rolf Haaser, Jahrgang 1950, Studium der Germanistik und Anglistik in Gießen (1971–1977), Studienrat (1980), 1996 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit zum Thema „Spätaufklärung und Gegenaufklä-rung: Bedingungen und Auswirkungen der religiösen, politischen und ästhetischen Streitkultur in Gießen zwischen 1770 und 1830“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zwischen 1980 und 1999 Mitarbeit bei mehreren Forschungsprojekten des Instituts für Ger-manistik der Universität Gießen unter der Leitung von Prof. Dr. Ger-hard Kurz und Prof. Dr. Günter Oesterle; 2010: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Bonn im Rahmen des DFG-

Forschungsprojekts „Von der ‚Aufklärung’ zur ‚Unter-haltung’: Literarische und mediale Transformationen in Deutschland zwischen 1780 und 1840“. Dr. Haaser betreut das Oberhessische Literaturarchiv an der Uni-versität Gießen.

genossen machte und über diese in verschiedenen amerikanischen Zeit-schriften Erinnerungstexte veröffent-lichte.

Nebenbei ist der Text auch stadt-geschichtlich von Interesse, weil er einen wichtigen Hinweis darauf gibt, wie die Gießener Stadtbevölkerung sich im Herbst 1830 auf die aus dem Vogelsberg anrückenden aufständi-schen Bauern vorbereitete. Auf das klägliche Scheitern des Aufstandes bezieht sich an einer Stelle auch der Hessische Landbote.

Im Folgenden ist der Text von Au-gust Becker, der 1869 in Cincinnati in der Zeitschrift „Der deutsche Pionier“ publiziert wurde, dokumentiert:

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46 Justus-Liebig-Universität Gießen

Haaser

s. 20 „In der ersten Hälfte des Jahres 1833, nicht lange nach Auflösung der großen, für die politische Umgestaltung des Vaterlands über ganz Deutschland verbreiteten Verschwörung, welche in dem sogen. Frankfurter Attentat zu einem vorzeitigen und fast kläglichen Aus-bruch gekommen war, erschien im Frankfur-ter Journal und der Augsburger allgemeinen Zeitung ein motivirter Aufruf für Bildung einer Auswanderungs-Gesellschaft nach Amerika. Die politischen Zustände Deutschlands, hieß es in demselben ungefähr u. A., seien dermalen so trost- und hoffnungslos, daß es sich wohl mit der Ehre selbst des ausdauernsten Patrioten vertra-ge, denselben den Rücken zu kehren und sein und seiner Kinder Schicksal abzutrennen von dem des unglücklichen deutschen Volks. Der Aufruf schloß mit einer Aufforderung an Alle, welche gesonnen seien, sich in Gemeinschaft mit dem Unterzeichner eine neue deutsche Heimath in Amerika zu gründen, an einem gewissen Tag in einem Gasthof in Friedberg (zwischen Gießen und Frankfurt) zusammenzukommen, um dort das Nähere zu berathen. Zu verwundern war nur, daß die Censur, welche damals schärfer als vorher den Rothstift in Deutschland führte, das Alles

s. 21 hatte passiren lassen, und daß eine hoch-löbliche Polizei den Verfasser des Aufrufes nicht den Gerichten überwies, denn unterzeichnet war das Schriftstück von Paul Follenius, Hofgerichts-Advokat und Rechtsanwalt zu Gießen.

Gab es je einen Mann, der das Zeug zur Rolle eines Führers solcher Auswanderungs- und Colo-nisationsgesellschaften zu haben schien, so war es gerade dieser Paul Follenius. Er war der On-kel Carl Vogts, des späteren sogen. Reichsvogts und Naturforschers und der jüngste Bruder von Carl und August Follen, welche beide, in die so-gen. demagogischen Umtriebe der fünfzehner und zwanziger Jahre verwickelt, nach dem Aus-land geflüchtet waren. Carl, früher Professor in Jena, der Verfasser des sogen. hohen Liedes und Veranstalter des Wartburg-Festes, war zu An-fang der 20er Jahre mit Empfehlungsschreiben Lafayettes versehen, nach Amerika gekommen und lebte damals als hochgeachteter Professor

der Religionsphilosophie in Cambridge, Massa-chusetts. Der wissenschaftliche Sinn und Geist, durch welchen sich die Gebildeten von Massa-chusetts vor denen anderer Staaten noch heut auszeichnen, ist besonders durch ihn in‘s Leben gerufen worden, und sein tadelloser Charakter und Wandel hatten ihn dabei in ein so großes über die Grenzen jenes Staates hinausgehen-des Ansehen versetzt, daß ihn, so versicherte mich einmal einer seiner Schüler, Namens Hy-dekooper, den ich in Genf kennen lernte – sei-ne neuenglischen Verehrer sicherlich als Präsi-dentschafts-Candidat aufgestellt haben würden, hätte sie das constitutionelle Hinderniß seiner ausländischen Geburt nicht daran gehindert. Im Jahr 1844 hatte er seiner Schwester Louise, der Gattin des Professors W. Vogt, seinen Besuch angemeldet, er verbrannte aber mit dem Damp-fer Lexington auf der Fahrt nach New-York, von wo er sich eben nach Europa einschiffen wollte. Er hat eine Wittwe, die seine zahlreichen Werke herausgegeben hat und einen wackern Sohn hin-terlassen, der im letzten Kriege als Divisionsarzt fungirte.

August Follen, der deutsche Kaiser genannt, ebenfalls poetisch hochbegabt, lebte zur Zeit, von der hier die Rede ist, in Zürich – als reicher Privatmann und Mäcen angehender Dichter (Herweg, Freiligrath, Keller), – und starb erst Ende der 50er Jahre auf einer alten romantisch restaurirten Burg im Thurgau, nachdem er sei-nen Theil zur freiheitlichen Regeneration der Schweiz beigetragen hatte.

Paul, der jüngste, war etwas anders geartet als seine älteren, etwas deutsch thümelnden Brüder. Er war mehr Verstandsmensch. Er wollte nichts wissen von der altdeutschen Wahlkaiser-Roman-tik, welcher seine Brüder gehuldigt hatten. Auch war er nie dahin zu bewegen gewesen, seinen lateinisch klingenden Namen Follenius in Follen umzuwandeln, wie seine Brüder gethan hatten. Er war ein Republikaner, wie der alte Follenius in der Jugend gewesen war. Paul war ein Mann von einer unbändigen Energie und Willenskraft. Als seine Brüder in 1815 in einem Bataillon frei-williger Jäger gegen die Franzosen auszogen, lief Paul, damals noch nicht 15 Jahre alt, seinem Vater davon und zog als Gemeiner eines hessi-

[august Becker:] sagen-Geschichte einer deutschen auswanderungs-Gesellschaft. in: Der deutsche Pionier, cincinnati, 1 (1869), s. 20-24.

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 47

Auf nach Amerika

schen Infanterie-Regiments mit in den Krieg. Vor Lyon verdiente er sich durch ein von ihm verübtes Bravour-stück einen österreichischen Orden, verkaufte denselben aber sobald das Regiment in die Stadt eingerückt war, an einen Trödler, um sein Taschengeld aufzubessern. Er diente seine Zeit aus im Regiment und brachte es darin

s. 22 bis zum Unteroffizier. Dann erst studirte er die Rechtswissenschaften. In 1830, zur Zeit des Vogelsberger Bauernaufstandes, bemächtigte er sich fast mit Gewalt des Oberbefehls über die gegen die Bauern errichtete Bürgerwehr von Gießen – in der Ab-sicht, wie er mir später sagte, mit der-selben bei der ersten Gelegenheit zu den Aufständischen überzugehen.

Der Ausgang der 1833er Bewe-gung, zu deren Leitern er gehörte, stimmte seine Hoffnungen auf ein bal-diges Besserwerden in Deutschland auf‘s Tiefste herunter. Er hatte nach derselben noch einmal seine politi-schen Freunde in Kurhessen besucht, um die Stimmung der Bewohner jenes Landes, auf die er so große Stücke hielt, zu erkunden. Der Bescheid, den er dort erhielt muß ein wenig tröst-licher gewesen sein. Diese Hessen, sagte er mir nach seiner Rückkehr, werden nichts thun – und wenn die nichts tun, thun die andern erst recht nichts. Kurz darauf erschien sein Auf-ruf. Derselbe fand Anklang bei vielen politisch Unzufriedenen, aber bei wei-tem nicht bei allen. Der Rector Weidig in Butzbach z. B. sah in dem Auswan-derungsproject eine Art Verrath am Vaterland und rückte dem Follen deß-halb sofort auf die Bude. Es soll zu den heftigsten Auftritten zwischen beiden gekommen sein. Aber Follenius war nicht der Mann, sich von einem einmal gefaßten Vorsatz durch Vorstellungen, Vorwürfe oder Drohungen abbringen

zu lassen. Er war ent-schlossen, seine gesi-cherte und b e h ä b i g e Existenz (er erfreute sich in Gießen ei-nes schönen Hauses mit Garten vor den Thoren der Stadt und einer ausgedehnten und ein-träglichen advokatischen Kundschaft) an sein Project auf‘s Spiel zu setzen und agitirte nur um so eifriger dafür. Die erste Versammlung in Friedberg war gut besucht. Friedrich Münch (Far West) ein Schwager Follen‘s, da-mals Pfarrer in Obergemünd und der Bruder desselben Georg, Pfarrer in Homberg an der Ohm – auch der Can-didat der Theologie, August Kröll, und gar viele andern wackre Männer aus andern Theilen Deutschlands (Cobur-ger, Altenburger und Rheinpreußen) hatten sich zu derselben eingefunden. Der ersten Versammlung folgten an-dere. Es wurde eine Gesellschafts-kasse gegründet, es wurden Agenten erwählt, das westliche Land der Ver. Staaten auszukundschaften und eine geeignete Heimstätte für die europa-müden freien Männer aus Deutsch-lands Gauen auszusuchen.

Der Apotheker Müller aus Hom-burg an der Höhe und der Pfarrer Schmidt aus Büdingen, welche für diese Mission ausersehen worden wa-ren, machten sich sofort über New-Orleans nach St. Louis auf den Weg nach Arkansas, wo sich der Pfarrer Klingelhöfer niedergelassen hatte, aber die Berichte, welche sie von dort einsendeten, lauteten keineswegs sehr ermuthigend. Das rohe Back-wood-Leben welches sie dort und in Missouri gesehen, hatte ihnen alle Lust zum Auswandern benommen

und als sie nach einigen Monaten wie-der zurück kehrten, erklärten sie vor der Versammlung, daß sie um keinen Preis dort „abgemalt“ sein möch-ten. Diese Erklärung schreckte Viele der Auswanderungslustigen zurück – nicht aber Alle – am wenigsten den Follenius. Es blieben noch zwei volle Schiffsladungen deutscher Männer und Frauen übrig, die sich durch die Beschreibung des Klingelhöfer‘schen Blockhauses in Arkansas und seiner mangelnden Bequemlichkeiten und der dort so häufig vorkommenden Morde, Todtschläge und Lynchgerich-te nicht abhalten ließen, ihr Glück in Amerika und gerade in Arkansas unter Kehlabschneidern und Pferdedieben versuchen zu wollen. Arkansas hatte damals schon um Aufnahme in die

s. 23 Union als Staat angeklopft und man glaubte, diese Zustände würden sich ändern, sobald eine Staatsregie-rung daselbst eingerichtet sei. „Auf nach Arkansas!“ war daher das Feld-geschrei.

Gerade zur Zeit als es erhoben wur-de, besuchte ich einmal Paul Folleni-us. „Sie kommen mir gerade recht“, sagte er, „Sie müssen mit als Lehrer der deutschen Colonie in Arkansas.“ Ich erhob Einwendungen – aber er verstand sie zu beseitigen. Geld, ant-wortete er, brauche ich keins, da ich in Diensten der Colonie stehen und diese die Reisekosten bestreiten werde. Ich nahm Rücksprache mit meinen Ange-hörigen. Nach einigen Tagen schon

Gemälde von Pfarrer Friedrich Münch, der gemein-sam mit Paul Folleni-us die Auswanderer betreute.Missouri History

Museum

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48 Justus-Liebig-Universität Gießen

Haaser

trug mich Follenius in die Emigranten-Liste ein – und auch ich schwärmte von da an für Amerika.

Um diese Zeit erhielt ich eines Mor-gens einen Zettel von der Hand des Rectors Weidig in Butzbach, worin mir dieser schrieb, daß er mich in einer wichtigen Angelegenheit „wo mög-lich heute noch“ sprechen müsse und daß ich mich sofort auf den Weg nach Butzbach begeben möge. Der Wunsch eines so wackern Mannes war mir na-türlich Befehl. Ehe ich ging, besuch-te ich den Follenius. „Wenn Sie nach Butzbach gehen“, sagte er, „können Sie dem Sarracin die amerikanischen Papiere da mitnehmen, aber lassen Sie sich von dem Weidig nicht herum schwatzen.“ Und damit rollte er einige Papiere zusammen, Karten von ausge-legten Städten, wie man sie hier bei den Landagenten hängen sieht und Schreibereien, wahrscheinlich Briefe des Klingelhöfer. Ich nahm die Rolle unter den Arm und begab mich direct zu Weidig. „Sie wollen nach Amerika“, hub er an, nachdem er mich von oben bis unten gemessen – und hielt dann eine Predigt an mich, die mich so voll-ständig zermalmte, daß ich dastand, ich weiß selbst nicht wie und nichts

Predigt als Weidig gehalten haben – er würde mich auf‘s Tiefste beschämt haben wegen meiner Schwäche und Unbeständigkeit, er würde mich we-gen des Verlustes seiner Papiere ge-würgt haben. Weidig mochte dies einsehen, und gab mir den Rath, mich nach meinen Verwandten im Hinter-land zu begeben und dort zu verwei-len, bis der Unhold Follenius und die von ihm Verführten abgezogen seien. Diesen Rath zu befolgen, hatte ich um so mehr Ursache, als ich schon da-mals, obgleich auf freiem Fuße, in die politische Untersuchung verwickelt war, welche später meine Verhaftung zur Folge hatte. Mitten im Januar,

s. 24 fast bei Frühlingswetter, wan-derte ich zu Fuß nach Wallau bei Biedenkopf und von dort zu andern Verwandten – über den Westerwald nach Montabaur im Nassauischen und fühlte mich von einer beschämenden Angst befreit, als ich in der Zeitung las, daß der erste Transport der Deut-schen Auswanderungs-Gesellschaft am 2. Febr. 1834 von Gießen nach den Ver. Staaten abgegangen sei.“ •

kOntakt

Dr. rolf haaser Am Brühl 13 77776 Bad Rippoldsau-Schapbach [email protected]

mehr zu sagen wußte. „O, pfui!“ rief er, „sein Vaterland zu verlassen, ehe man noch Pulver dafür gerochen – die Mutter zu verlassen, die uns gebo-ren und gesäugt hat,“ etc. Kurz ich war vernichtet – und die Geschichte endete damit, daß ich dem Rector in die Hand gelobte, nicht nach Amerika auszuwandern!

„Was haben Sie da unterm Arm?“ fragte mich Weidig, als er mich so weit gebracht hatte. „Es sind amerika-nische Papiere,“ antwortete ich klein-laut, „die ich dem Sarracin bringen soll!“

„So, so“, sagte er höhnisch, „ame-rikanische Papiere – vom Freund Ver-räther Follenius. Geben Sie doch her; die will ich selber besorgen.“

Und damit nahm er die Rolle unter meinem Arm hervor, öffnete die Kü-chenthüre und warf die ganze Herr-lichkeit, ehe ich es mich versah, in‘s Heerdfeuer.

So kam es, daß ich in 1833 nicht mit den Andern auswanderte nach Ame-rika und daher heute, laut Statuten, noch nicht zu den Pionieren gehöre.

Nach Gießen zu Follenius zurück-zukehren, durfte ich nicht wagen. Er würde mir eine noch fürchterlichere

Die „Reisende Sommer-Republik“, ein Zusammenschluss von Künstlern, Kulturschaffenden und Wissenschaft-lern, begab sich bereits 2006 auf die Spuren der „Gießener Auswanderer-gesellschaft“.Foto: Folker Winkelmann

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 49

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»Ich bin endlich unabhänging. Danke Wohnbau!«

M a m a s ö h n c h e n :

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M a m a s ö h n c h e n

Das „Mathematikum“ wird 10: herzlichen Glückwunsch!

Der „Mathemacher des Monats november 2012“ ist Prof. Dr. albrecht Beutelspacher

Das Mathematikum wird 10. Dies nahm die Deut-sche Mathematikervereinigung (DMV) zum An-lass, seinen „Erfinder und Direktor“ Albrecht Beutelspacher zum „Mathemacher des Monats November 2012“ zu ernennen. Das Mathemati-kum in Gießen, das erste Mitmachmuseum für Mathematik in Deutschland, ist mit diesem The-menschwerpunkt heute noch einmalig. Was mit originellen Seminararbeiten und dann als Wan-derausstellung unter dem Motto „Mathematik zum Anfassen“ begann, ist heute ein Science Center mit rund 150.000 Besuchern pro Jahr. Insgesamt waren schon über 1,4 Millionen Gäste im Gießener Mathematikum.

Albrecht Beutelspacher ist seit 1988 Professor für Geometrie und Diskrete Mathematik an der Justus-Liebig-Universität Gießen und präsentiert sein Fach gerne auch einer breiten Öffentlich-keit. Er ist Autor von Fachliteratur ebenso wie von populärwissenschaftlichen Büchern, Hör-funksendungen und anschaulichen Kolumnen zur Mathematik und wurde schon mehrfach aus-gezeichnet. So erhielt er im Jahr 2000 als erster

Preisträger den Communicator-Preis der Deut-schen Forschungsgemeinschaft für seine „her-ausragenden Leistungen in der Vermittlung sei-ner Wissenschaft in die Öffentlichkeit“. Für seine erfolgreichen Aktivitäten auf dem Gebiet der Wissenschaftskommunikation für Mathematik zeichneten jetzt die Kollegen Prof. Beutelspacher mit dem Titel „Mathemacher des Monats“ aus.

[  KURZ BERICHTET  ]

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Prof. Dr. Albrecht Beutelspacher, der „Mathe-macher des Monats November 2012“ im Mathematikum. Foto: Franz Möller

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50 Justus-Liebig-Universität Gießen

Abb. 1: Ein Blick hoch und über drei Stockwerke hinaus: Die Eingangsfassade der Universitätsbibliothek Gießen, die seit 1983 im Philosophikum I angesiedelt ist. Foto: Franz E. Moeller

was war und was wird400 Jahre universitätsbibliothek Gießen

Von claudia Martin-konle

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 51

Was war und was wird

Das Buch und sein Haus – das ist im Jubiläumsjahr einer Bi-bliothek ein nahe liegender

Betrachtungsgegenstand. Der Blick zurück zeigt Traditionsreiches, über Jahrhunderte Gewachsenes und plötz-lich Verlorenes. Wechselfälle, Zäsur, Wiederaufbau und Kontinuität. Der Blick nach vorn macht nur spekula-tiv den Horizont aus: Brauchen wir noch Regale, braucht der universitäre Wissensspeicher noch einen Ort? Das Wissen um die digitale Transformati-on, das Wissen, dass nicht mehr der physische Bestand einer Bibliothek ihre Nützlichkeit bestimmt, erzwingt Fragen nach dem Selbstverständnis und einer Standortbestimmung.

1612: 1000 Bände als Grundstock

Der Zugang von etwa 1000 Bänden, die Landgraf Ludwig V. im Jahr 1612 in Straßburg kaufte und der Universi-tät Gießen schenkte, war nicht unvor-bereitet. Fünf Jahre lehrte man bereits an der Universität ohne eine ausge-wiesene Bibliothek, vorgesehen waren im Kollegiengebäude am Brandplatz aber bereits zwei Räume dafür. 1611 gab der fürstliche Baumeister Martin Kersten zwei Tische, vier Bänke und acht offene Bücherschränke in Auf-trag. So vorausschauend und planvoll verlief der weitere Bestandsaufbau nicht. Die finanzielle Ausstattung blieb über die nächsten zwei Jahrhun-derte karg, und die nennenswerten Bestandszuwächse in qualitativer und quantitativer Hinsicht waren Schen-

kungen, Vermächtnisse und adminis-trative Zuweisungen.

Exemplarisch für die Schenkungen mag hier der Name Senckenberg ge-nannt werden: Im Jahr 1800 verdop-pelte sich der Bücherbestand der Uni-versitätsbibliothek Gießen durch das Vermächtnis von Renatus Carl Frei-herr von Senckenberg, dem Sohn von Heinrich Christian von Senckenberg. 16.000 Bände vorwiegend juristi-scher und historischer Literatur, über 900 Handschriften (siehe Abb. 2) und eine Urkundensammlung, dazu noch ein herrschaftliches Haus gingen in den Besitz der Universität über.

Während das Senckenberg’sche Erbe gut dokumentiert ist, gibt die Herkunft des wertvollsten Stückes der UB Gie-ßen – das Kölner Evangeliar (Abb.  3) – bis heute Rätsel auf. Wie und wann diese kostbare, mit Gold und Purpur ausgemalte Pergamenthandschrift, die um das Jahr 1000 in Köln entstand, nach Gießen gelangte, weiß man nicht.

Information – Geschriebenes, Ge-drucktes, Gemaltes – auf welchem physischen Träger auch immer ist das klassische Medium einer wissen-schaftlichen Bibliothek gewesen. Ein Blick in die Sondersammlungen der UB Gießen zeigt die Bandbreite: As-syrische Keilschrifttafeln um 1800 v. Chr. beschrieben, finden sich eben-so wie eine Sammlung von antiken Tonscherben, so genannte Ostraka, oder die international bekannten Pa-pyrussammlungen (siehe Abb. 4), die mit 2500 Fragmenten die fünftgrößte Sammlung in Deutschland ist.

im Jahr 1607 gründete landgraf

ludwig V. von hessen-Darmstadt

die universität Gießen als neue lan-

desuniversität. fünf Jahre später

kaufte er 1000 Bücher in straßburg

und legte damit den Grundstock für

die universitätsbibliothek. Vor 400

Jahren begann also die Geschichte

der uB Gießen: Grund genug für

einen rück- und einen ausblick.

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Martin-Konle

Die Bibliothek blieb über nahezu 200 Jahre Untermieterin in verschie-denen Universitätsliegenschaften. Die steigende Buchproduktion und die Entwicklung der Wissenschaft und der Universität ließen die Be-stände wachsen und die Benutzung ansteigen. Platznot für Bücher und Leserschaft wurde zum drängenden Problem und führte schließlich zu ei-nem Neubau.

1904: Das erste eigene Bibliotheksgebäude

Das beeindruckende Jugendstilgebäu-de an der Einmündung Kepler- und Bismarckstraße (Abb. 5) wurde 1904 eingeweiht. 40 Jahre lang bis zur Zer-

störung durch alliierte Flugzeuge am 11. Dezember 1944 beherbergte der dreigeteilte Komplex aus Magazin-, Verwaltungs- und Benutzungstrakt etwa 800.000 Bände. 90% der Bände und sämtliche Korrespondenzen ver-brannten nach der Bombardierung. Übrig blieben ausgelagerte wertvolle Sammlungen und u.a. die Dubletten im Keller. Diese Zäsur prägt die Uni-versitätsbibliothek Gießen bis heute: zum einen durch empfindliche Be-standslücken bei der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, zum anderen durch die verloren gegangenen Akten, die die Bestandsgeschichte dokumen-tierten.

So gestaltete sich beispielsweise die Recherche nach „Raubgut“, also nach

Büchern, die während der NS-Zeit in die Gießener Bibliothek gelangten, weil sie von ihren Eigentümern unter Zwang veräußert werden mussten oder von Behörden beschlagnahmt oder enteignet wurden, äußerst schwierig. Etwa 800 Bände konnten nach müh-samer Durchsicht der Bestände als mutmaßliches „Raubgut“ – oftmals als „Geschenk“ deklariert – identifiziert und separiert werden. Die Aufarbei-tung dieses düsteren Kapitels doku-mentiert die Ausstellung „Raubgut“, die bis zum 15. Februar 2013 in der Universitätsbibliothek zu sehen ist.

Nach einem provisorischen Betrieb in der UB-Ruine und einer Übergangs-zeit in der Ludwigstraße 19 bezog die Bibliothek erst im Jahr 1959 ein neu-es Gebäude in der Bismarckstraße (Abb. 6), das aber schon bald zu klein für die wiedererstarkende Volluniver-sität war.

1983 siedelte die Universitätsbi-bliothek dann ins Philosophikum I um (Abb. 1 und 7). Mit diesem Neu-bau vollzog sich auch ein Paradig-menwechsel: Während Bibliotheks-bestände bislang überwiegend magaziniert und somit für den Le-sewilligen verschlossen aufbewahrt wurden, ist seitdem die „Freihand-Aufstellung“ die Regel: Die Leser bewegen sich zwischen den Regalen

Abb. 2: Elsässisches Trojabuch: Die durchgehend farbig illustrierte Handschrift entstand um 1418 in einer elsässischen Werkstatt. Ihr Inhalt ist eine deutschsprachige Fassung der Geschichte des Trojani-schen Krieges. Zu sehen ist hier König Priamos in Troja. Renatus Carl von Senckenberg schenkte die Handschrift mit dem Nachlass seines Vaters Heinrich Christian von Senckenberg im Jahr 1800 der Universitätsbibliothek.Quelle: UB Gießen, Hs 232

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 53

Was war und was wird

und suchen selbstständig heraus, was sie interessiert.

21. Jahrhundert: steinern oder/und virtuell?

Die 3,9 Mio. Bände, die sich heute in UB, Zweig- und Fachbibliotheken in Gießen befinden und zu etwa 80% frei zugänglich sind, sind aber nur noch eine Säule der Literaturversorgung. Der digitale Wandel entmaterialisiert die Bibliotheken, und die hybride In-formationswelt fordert neue Organisa-tions- und Geschäftsmodelle.

Ohne den Zugang zu elektronischen Zeitschriften, Datenbanken und ande-ren digitalen Quellen ist eine Univer-

sität heute nicht mehr lebensfähig, und die Breite des Zugangs ist ein entscheidender Wettbewerbsfaktor. Lizenzbedingungen, Konsortial- und Allianzlösungen sind strategisches Tagesgeschäft.

Hinzu treten die Virtualisierung der Benutzungsdienste und die Ent-wicklungsplanung hinsichtlich neuer Dienstleistungen für beispielsweise virtuelle Forschungsumgebungen.

Die Profilierung der digitalen Dien-ste ist daher eine wesentliche Zu-kunftsaufgabe, z.B.: • der Ausbau der „Giessener Elektro-nischen Bibliothek“ (GEB) – der zen-trale Open-Access Publikations- und Dokumentenserver der Universität;

Abb. 3: Kölner Evangeliar: Diese wohl wertvollste Handschrift der Universitätsbibliothek entstand 995 oder 996 in Köln und enthält den Text der vier Evangelien. Sie wurde vom damals gerade fünfzehnjährigen König und späteren Kaiser Otto III. (980-1002) selbst in Auftrag gegeben. Hier dargestellt ist der Anfang des Matthäus-Evangeliums mit dem Stammbaum Jesu Christi (Liber generationis). Bei den vier Personen in den Medaillons handelt es sich oben um den König selbst. Die weiteren sind die Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln. Wie und wann die Handschrift in die Universitäts-bibliothek gelangte, ist noch immer nicht genau geklärt.Quelle: UB Gießen, Hs 660

Abb. 4: Cicero-Papyrus: Eines der bedeutendsten Stücke der Papyrus-sammlungen ist der Cicero-Papyrus. Es ist der einzige bislang bekannte Text von Marcus Tullius Cicero (106-43 v.Chr.), der auf einer Papy-rusrolle erhalten ist. Er wurde nicht allzu lange nach seinem Tod auf das Stück geschrieben und enthält einen kurzen Teil aus einer seiner Reden. Den Papyrus vermachte der Gießener Altphilologe Karl Kalbfleisch (1868-1946) gemeinsam mit seiner privaten Papyrussammlung testamentarisch der Universitätsbibliothek.Quelle: UB Gießen, P. Iand. inv. 210

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Martin-Konle

Uhr. Neben der hohen Nutzung von E-Books und E-Journals wächst auch die klassische Ausleihe kontinuierlich weiter: Im Jahr 2012 wird sie in Gie-ßen die Millionengrenze übersteigen.

Eine Universitätsbibliothek des 21. Jahrhunderts kann kein bloßes Bü-cherbehältnis sein. Sie bleibt physi-scher Wissensspeicher und ist gleich-zeitig digitaler Campus, sozialer Raum und Lernort in zweierlei Sinn. „Be-standsvermittlung“ im Sinne der Be-ratung und Unterstützung der Studie-renden, ist durch die Virtualisierung mehr denn je notwendig. Die Entwick-lung von Informationskompetenz wird eine Kernaufgabe bleiben.

Das Haus muss sich auf die Rah-menbedingungen einstellen. Der in

Die virtuelle macht allerdings die „stei-nerne“ Bibliothek bislang keineswegs überflüssig. Nie waren die Bibliothe-ken stärker nachgefragt, und zu Hoch-Zeiten findet man in den Leseräumen keinen freien Platz. Auslastungsspit-zen sind nach einer Erhebung im Jahr 2011 überraschenderweise auch an den Wochenenden festzustellen. Die Bibliotheken sind mehr denn je zen-trale Lern- und Arbeitsorte, in denen sowohl das stille Studieren als auch das lebhafte Diskutieren in Gruppen-arbeitsräumen möglich sein soll – und das möglichst täglich und rund um die

• die Unterstützung der Open- Access-Initiative der Wissenschaft durch einen Publikationsfonds der Justus-Liebig-Universität und mit Förderung durch die Deutsche For-schungsgemeinschaft;• die Digitalisierungsoffensive: Der bibliothekseigene Server DIGISAM – „Digitale Giessener Sammlung“ – ist 2011 in Betrieb gegangen. Dabei han-delt es sich um einen leistungsfähigen Server zur hochwertigen Präsentation von Digitalisaten, z.B. der unikalen Bestände aus den Sondersammlun-gen.

Abb. 5: Magazin, Verwaltungs- und Benutzungstrakt gliedern das große Jugendstilgebäude in der Kepler-/ Bismarckstraße, das 1904 von der Bibliothek bezogen wurde. Die Zerstörung 1944 führte zum Verlust von 800.000 Bänden. Foto: Bildarchiv der UB

Abb. 6: Die zerstörte Bibliothek wich einem modernen Neubau. Das funktio-nal und ästhetisch beeindruckende Gebäude – der Benutzungstrakt im Vordergrund ist der Silhouette eines aufgeschlagenen Buches nachempfun-den – prägt seit 1959 bis heute die Bismarckstraße. Der Magazinturm wird weiterhin von der UB genutzt.Foto: Bildarchiv der UB

Die autOrin

claudia Martin-konle, Jahrgang 1965, Ausbildung zur Diplom-Bibliothekarin an der Universitätsbibliothek Gießen, Studium der Germanistik und Psychologie an der Justus-Liebig-Universität, Ab-schluss M.A. 1996; Bibliotheksreferendariat von 2001 bis 2003 an

der UB Marburg. Seit 2003 als Fachrefe-rentin wieder an der UB Gießen, hat sie 2006 die Leitung der Zweigbibliothek im Philosophikum II übernommen. Die Bib-liotheksdirektorin ist u.a. für die Arbeits-bereiche Öffentlichkeitsarbeit / Ausstel-lungen und Informationskompetenz im Bibliothekssystem der Universität Gießen verantwortlich.

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 55

Was war und was wird

Planung befindliche, großzügige An-bau an die Universitätsbibliothek in Gießen wird neue Möglichkeiten schaffen. Er wird bislang verstreute Bestände zusammenführen (vorgese-hene Kapazität: 780.000 Bände), ruhi-ge und lebhafte Arbeitszonen bieten und Multimedialität gewährleisten. Die geplante Position des Anbaus mit Ausrichtung zur „Neuen Mitte“ zwi-schen den Philosophika I und II unter-stützt eine Strategie der Verknüpfung dieser beiden Campus-Areale in Gie-ßen: Die Universitätsbibliothek wird dann der einzige Bibliotheksstandort im Campus Kultur- und Geisteswis-senschaft sein.

Die drei Trends – die introvertierte, die extrovertierte und die virtuelle Bi-bliothek – , die derzeit die Bibliotheks-welt umtreiben, sind auch in Gießen virulent.

Das Haus, das Buch und das Digita-le – warum nicht? •

kOntakt

claudia Martin-konle, M.a. Leiterin der Zweigbibliothek im Philosophikum II Justus-Liebig-Universität Karl-Glöckner-Straße 21 F 35394 Gießen [email protected]

Abb. 7: Künftige Studentengenera-tionen werden wahrscheinlich die Universitätsbibliothek anders wahrnehmen. Die Planungen im Rahmen der Campusentwicklung für einen An- und späteren Erweite-rungsbau im Philosophikum I sind im vollen Gange. Foto: Barbara Zimmermann

Das Bibliothekssystem in Zahlen (Stand: 31.12.2011)

Gesamtbestand 3.922.413 Bände

Erwerbungsetat 3.326.884 €

Bestand Zugang an Bänden 74.933

Laufende Zeitschriftentitel

• gedruckt 4.117

• elektronisch 31.135

Handschriften und Autographen 2.723

Nachlässe 87

Giessener Elektronische Bibliothek/ Dokumente

7.393

Benutzung Öffnungsstunden pro Woche • Universitätsbibliothek 101,5

Anzahl Nutzerarbeitsplätze 1.499

Computerarbeitsplätze 226

Aktive Nutzer 33.325

• Universitätsangehörige 27.233

• außeruniversitäre Nutzer 6.092

Zugriffe auf elektronische Kataloge 3,2 Mio.

Entleihungen Entleihungen gesamt 930.458

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56 Justus-Liebig-Universität Gießen

Die Prager Journalistin Milena

Jesenská ist einem breiteren Pub-

likum weder als autorin noch als

widerständlerin bekannt. Dabei hat

sie in mehreren Prager Zeitschrif-

ten publiziert, bewegte sich in den

kreisen der literarischen avant-

garde des „café arco“ und später

der künstler/-innen-Vereinigung

„Devětsil“ (‚neunkraft’), die rege

kontakte zum Dessauer Bauhaus

unterhielt. als frau bürgerlicher

herkunft, die zum Beginn des

20. Jahrhunderts eine gymnasiale

Bildung genoss, engagierte sie sich

für die kommunistische Bewegung,

bis sie die Gleichschaltungsstrate-

gien des Parteiapparats durchschau-

te. im aufkommenden nationalso-

zialismus legte sie als redakteurin

der angesehenen kultur-politischen

Zeitschrift „Přítomnost“ (‚Gegen-

wart’) ein Bekenntnis zur subjek-

tiven politisch-moralischen Ver-

antwortung und zum widerstand

ab, das sie selbst auch in die Praxis

umsetzte. wie hat sich Milena Je-

senská zur widerständlerin entwi-

ckelt? Dies ist eine frage, die aus

der Perspektive der Biografi e- und

widerstandsforschung deshalb

interessiert, weil erkenntnisse über

die Bedingungen widerständiger

Praxis im kontext fortwährender

Bedrohungen der Menschlichkeit

hoch aktuell sind.

Jenseits von furcht: Milena JesenskáZur widerständigen Praxis der Prager Journalistin gegen den nationalsozialismus

Von Lucyna Darowska

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 57

Jenseits von Furcht: Milena Jesenská

Diese Zeilen schrieb Milena Jesenská am 30. März 1938, nach dem Anschluss Öster-

reichs, etwa ein Jahr vor dem Ein-marsch der deutschen Wehrmacht in die Tschechoslowakei. Sie arbeitete in dieser spannungsvollen politischen Zeit in der Redaktion der renommier-ten Prager kultur-politischen Zeit-schrift „Přítomnost“. Sie schrieb po-litische Artikel, Reportagen, Analysen zur aktuellen Entwicklung des Natio-nalsozialismus in Deutschland und zu den Reaktionen europäischer Staaten. In ihren politischen Urteilen und in ihren subjektiven Positionierungen war Milena Jesenská entschieden und klar. Sie sind es vor allem, die sie als eine historisch und politisch wichti-ge weibliche Figur auszeichnen. Vie-les aus ihrem Leben ist allerdings bis jetzt unbekannt. Jedoch vor allem ihr journalistisches Werk bietet eine brei-te Fläche für Interpretationen und dis-kursive Auseinandersetzung. Bevor einige grundlegende Publikationen zu Milena Jesenská erschienen sind (u.a. Černá 1985, Wagnerová 1995, Jirásko-vá 1996), wurde sie lange Zeit in litera-rischen Kreisen im westlichen Europa

vorrangig als Objekt, als Geliebte und Adressatin von Franz Kafkas „Briefen an Milena“ bekannt gemacht. In der kommunistischen Tschechoslowakei war sie als politische Feindin aus der „Erinnerungsarbeit“ zunächst ausge-schlossen, weil sie sich vom Kommu-nismus distanziert hatte.

Das Spannungsverhältnis zwischen Biografie und Widerstand kann frucht-bar in die Frage komprimiert werden, die sich am New Historicism Stephen Greenblatts orientiert und lautet: Wie ist Milena Jesenská zur Widerständle-

rin Milena Jesenská geworden? „Wi-derständige Praxis“ kann sich hier womöglich treffender als der Begriff des Widerstandes auf verschiedene Arten individueller und kollektiver Praxis beziehen. Bei diesem Ansatz geht es also um die Analyse biogra-fischer Zusammenhänge, die in der Auseinandersetzung eines Individu-ums mit der Welt auf die Entwicklung seines widerständigen Potenzials hin-weisen.

Jugenderfahrungen und empathie

Milena Jesenská wurde am 10. August 1896 in Prag geboren. Der Wohlstand und bürgerliche Status ihrer Fami-lie ermöglichten ihr materielle Sta-bilität in einem sicherlich zum Teil liebevollen Elternhaus. Margarete Buber-Neumann, die am letzten Ort des Lebens von Milena Jesenská, im Konzentrationslager Ravensbrück, mit ihr eng befreundet war, überlieferte in ihren Erinnerungen Hinweise auf ein herzliches Verhältnis zwischen Mile-na und ihrer Mutter. Darüber hinaus ist bekannt, dass sich Milena Jesens-ká an der Pflege ihrer schwerkranken Mutter längere Zeit bis zu deren Tod (wahrscheinlich) ein Jahr vor ihrem Abitur (1915) intensiv beteiligte. Es erscheint schlüssig, dass diese Zu-

Das „Café Milena“ in Prag, das inzwischen nicht mehr existiert.

„Im Wirtshaus sitzen die Leute und debattieren. Was wird England tun, wie wird sich Frankreich verhalten, was unternimmt Hitler? In der Tat, das sind dringende und wichtige Fragen. Sie brennen uns allen unter den Nägeln, nicht an sie zu denken, ist unmöglich. Aber vor allem müssen wir uns über etwas anderes im klaren sein: dar-über, was wir selbst tun werden. Nicht im internationalen, sondern im privaten Maßstab mit dem Radius von dreieinhalb Straßen, dem Nachhauseweg und einer Zweizimmerwohnung mit Küche. Wir müs-sen wissen, was wir gerade auf dem Stück Erde, auf dem wir leben, und an dem Platz, an dem wir arbeiten, tun werden.“

(Jesenská 1996a: 166f.; 30.3.1938 – Herv.: L.D.)

Milena JesenskáQuelle: Verlag „Neue Kritik“, mit freundlicher

Genehmigung

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Darowska

wendung und Mühe bei dem jungen Mädchen, das sich ohnehin die Welt sensibel aneignete, ein besonders em-pathisches Verhältnis zu Menschen herausgebildet haben. Dies entspricht den Forschungsergebnissen der New Yorker Psychoanalytikerin und For-scherin Eva Fogelman (1995), die fest-stellte, dass die von ihr interviewten Retter und Retterinnen, die jüdischen Menschen Hilfe leisteten, über ein ausgeprägtes Empathievermögen ver-fügten. Mehrere von ihnen hatten den Verlust einer nahen Person erlitten.

Das Verhältnis zwischen Milena Je-senská und ihrem Vater scheint ambi-valent gewesen zu sein. Der in der na-tionalen Emanzipationsbewegung der Tschechen engagierte Jan Jesenský

war für seine Tochter eine politische Vorbildfigur. Sowohl das Bewusst-sein ihrer nationalen Zugehörigkeit als auch eine würdige widerständige Haltung waren die zentralen Aspekte der widerständigen Praxis von Mile-na Jesenská, die sie selbst mit ihrem Vater in Verbindung brachte und lite-rarisch verarbeitete. Vermutlich war Jan Jesenskýs Verhältnis zu ihr lie-bevoll, klar und fair und zugleich au-toritär. Beide verbrachten auf langen Spaziergängen in der Natur viel Zeit miteinander. Lebenslang hielt Milena Jesenská an der Strategie fest, see-lischen Schmerz durch Bewegung, durch das „Laufen“ in der Natur oder einfach auf der Straße lindern zu wol-len. Eine andere Strategie war eine Art „Ausdehnung“ des eingeengten seelischen Raumes, z.B. durch einen Blick aus dem Fenster oder eine Lüge oder, noch wirksamer, durch eine in-nige Verbindung mit einem anderen Menschen.

Gewalt und normdistanz

Ein weiterer aktiver, aber destrukti-ver Ausweg aus dem Schmerz war der Gedanke an Suizid oder sogar ein Suizidversuch. Diesen Weg hat-Milena Jesenská (mindestens) zwei-mal gewählt, und mehrmals hat sie ihn in ihren Feuilletons und Briefen thematisiert. Im Zusammenhang mit einem Schwangerschaftsabbruch und Suizidversuch kam es zu einem Über-griff Jan Jesenskýs auf die subjektive Selbstbestimmung seiner Tochter. Im Jahr 1917 ließ Jan Jesenský, der Zahn-arzt und Kieferchirurg in Prag war, mit Hilfe eines anderen Arztes seine Tochter in die psychiatrische Klinik Veleslavin einweisen. Bei der Aufnah-me wurden bei der jungen Frau mehre-re ernsthafte medizinische Diag nosen gestellt: „Paranoia“, „Melancholie“ und „moral insanity“ (Kienzle 1991, Kouřímská 6, Dokumentarfilm), also „moralischer Irrsinn“.

Blick auf den Hradschin mit Burg in Prag.Foto: Stefan Bauer

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 59

Jenseits von Furcht: Milena Jesenská

Tatsächlich hatte Milena Jesenská in ihrer Jugend ein prekäres Verhält-nis zu einigen Normen, was weder für einen Vater, noch für die Gesellschaft irrelevant sein kann. Sie verletzte das Eigentumsrecht ihres Vaters, indem sie u.a. sein Geld ohne seine Zustim-mung ausgab. Sie stahl, wobei wenig Genaues in den Quellen, eher Anekdo-tenhaftes, dazu zu finden ist. Sie log, wobei sie sich darin wohl kaum von anderen Menschen unterschied. Das Problematischste scheint jedoch die Tatsache gewesen zu sein, dass sie sich aus der Perspektive des Vaters nicht in den richtigen Mann verlieb-te. Der Mann ihrer Wahl Ernst Pollak überlieferte jedenfalls diese Begrün-dung in einem Brief an Willy Haas:

„[...]heute früh ist M. in einem Auto mit Gewalt ins Sanatorium Veleslavin geschafft worden, bis sie ihr Wort gibt, mit mir nie mehr zu sprechen. Was Sa-natorium bedeutet, wissen Sie; früher sagte man Kloster oder Gefängnis.“ (Pollak, 20.6.1917, in: Neue Rund-schau Heft 2/1991: 175)

Max Brod deutete die Motivation Jan Jesenskýs aus seiner antisemiti-schen Haltung heraus:

„Auch Milenas Mann war Jude, was die heftigsten Konflikte mit ihrem Vater ausgelöst hatte, der als besonders na-tionalistisch eingestellter Tscheche auf der politischen Bühne stand.“ (Brod 1974, Über Franz Kafka: 191) Und auch Kafka schrieb 1920 in einem Brief an Jesenská:

„Natürlich, daran ist gar kein Zwei-fel, zwischen Deinem Mann und mir ist vor Deinem Vater gar kein Unterschied, für den Europäer haben wir das gleiche Negergesicht [...].“ (Kafka 1995, Briefe an Milena: 182; 4.8.1920)

Eine der Rationalisierungen des Antisemitismus war die national-poli-tisch motivierte Protesthaltung gegen die in der Habsburger Monarchie in vieler Hinsicht, u.a. wirtschaftlich, privilegierte Stellung der deutschen Bevölkerung. Nicht selten wurde

dabei Deutschsein mit Jüdischsein gleichgesetzt.

Milena Jesenská blieb acht Monate bis März 1918 in der Anstalt. Der durch die Anwendung von Gewalt vollzoge-ne Bruch in der Beziehung zwischen dem Vater und der Tochter setzte sich in den nächsten Jahren auch in Wien, wohin Milena Jesen ská und Ernst Pollak nach ihrer Heirat emigrierten, fort und belastete sie seelisch sehr. Diese Gewalterfahrung forderte sie jedoch zugleich zu einer widerständi-gen Haltung heraus. Letztendlich hat sie ihr Vorhaben – trotz Psychiatrie und Isolation – durchgesetzt und ihre Liebe zu Ernst Pollak nicht verleugnet, auch wenn die Liebesbeziehung durch diesen dramatischen Konflikt mit dem Vater und durch den Ortswechsel gra-vierende Brüche erlitt.

In der Psychiatrie hat Milena Jesen-ská den Un-sinn der restriktiven me-dizinischen Methoden ihrer Zeit beob-achtet und am eigenen Leib erfahren. Je nach Härte des „Falls“ ähnelten sie in einigen Aspekten der späteren Ordnung des Konzentrationslagers Ravensbrück. Isolation stand im Mit-telpunkt. Bei Milena Jesenská ging es um die Bekämpfung einer Liebes-

beziehung, bei einem anderen Pati-enten, von dem sie später berichtete, handelte es sich um ein Verbot jegli-cher Kontakte zu anderen Menschen, auch Bücher waren ihm verwehrt. Und bei jedem Versuch, diesem Men-schen aus seiner desolaten Lage zu helfen, musste sie mit Isolationshaft rechnen. In einem Brief an Max Brod 1920 reflektierte Milena Jesenská (in deutscher Sprache): „Nur ist Psychia-trie eine entsetzliche Sache, wenn sie mißbraucht ist, anormal kann alles sein und jedes Wort ist neue Waffe für den Quäler.“ (Jesenská, 21.7.1920, in: Brod 1974: 196)

Die Erfahrung früher Normdistanz, die mit Restriktionen einherging, und ihr Streben nach Selbstbestimmung, brachten Milena Jesenská ganz sicher in Situationen von Ohnmacht, wofür ihre Suizidversuche stehen. Ernst Pollak macht dies deutlich in einem anderen Brief an Willy Haas: „[…] bekräftigen Sie die Hoffnung eines Zurückfindens, von der einzig ihr Le-ben sich erhält, das ich selbst dreimal vom Selbstmord zurückgerissen habe.“ (Pollak 19.11.1916, in: Neue Rund-schau Heft 2/1991: 174)

Zugleich erfuhr Milena Jesenská auch Handlungswirksamkeit: Womög-lich aus der Reflexion über die Ver-bindung von Norm und Gewalt mobi-lisierte sie ihre Kräfte und passte sich weder der Norm, noch dem Willen des Vaters an. Dennoch half Jan Jesenský seiner Tochter immer wieder.

Das Wien, in das Milena Jesenská und Ernst Pollak nach der Heirat, die am 14. März 1918 stattfand, übersie-delten, war nach dem Ersten Welt-krieg von wirtschaftlicher Stagnation und Hyperinflation gezeichnet. Mile-na Jesenská hatte, wie viele Frauen in dieser Zeit, keinen Beruf. Ernst Pollak trug als Angestellter der Österreichi-schen Länderbank wenig oder gar nichts zu ihrem Unterhalt bei. Gina Kaus, die Schriftstellerin, die wie die beiden in den literarischen Kreisen der

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Darowska

Wiener Moderne verkehrte und mit Milena befreundet war, beschreibt in ihren Erinnerungen Milena Jesenskás Kollisionen mit dem Rechtssystem:

„Sie [Milena-L.D.] hatte bares Geld aus einer Lade gestohlen. Wir nahmen ihr einen Anwalt – was keine große Sa-che war, denn der Anwalt war ebenfalls ein Freund von uns, und Milena amü-sierte ihn sehr. Bei der Verhandlung sagte sie, sie habe das Geld gestohlen, um sich hübsche Kleider zu kaufen.

`War ich in erotische Krise´.Sie bekam eine kurze Gefängnisstra-

fe, dann lebte sie wieder unter uns, und keiner von uns trug ihr das Vergehen nach.“ (Kaus 1979, Und was für ein Leben: 55)

Für die Interpretation dieser Norm-verletzung scheint entscheidend, was Hannah Arendt in ihrem Moralkonzept vertrat, und zwar die Unterscheidung zwischen der Übertretung und dem „skandalon“, einer Straftat im Sinne eines Verbrechens (Arendt 2007, Über das Böse: 98). Aus der Perspektive von Milena Jesenskás biografischer Ent-wicklung wird deutlich, dass Norm-verletzungen zwar immer wieder zu ihrer Alltagspraxis gehörten, dass sie aber zugleich den Anspruch verfolgte, das wirklich Böse (im Sinne Hannah Arendts) zu verhindern. Und es kam

Schulzeit und auch danach bewegte sich Milena zudem in Kreisen der Pra-ger literarischen Moderne, überwie-gend im Milieu des „Café Arco“, das ein starkes kreatives und bürgerliche Konventionen destabilisierendes Po-tenzial entfaltete. Charakteristisch für das „Café Arco“ war, dass sich neben den deutsch-jüdischen dort auch eini-ge tschechische Schriftsteller trafen. Diese vorsichtige Annäherung wurde von zweisprachigen Schriftstellern wie Franz Werfel, Max Brod, Otto Pick und Rudolf Fuchs gefördert. Später, in Wien, verkehrte Milena Jesenská in den literarischen Kreisen, die vorran-gig das „Café Central“ und das „Café Herrenhof“ als Orte ihrer intellektuel-len Diskurse wählten.

Die Freundschaften, Netzwerke, li-terarischen Kreise und Bildungsinhal-te können als potenzielle Freiräume interpretiert werden, die ein Gegenge-wicht zu den restriktiven institutionel-len Bedingungen der Schulen dieser Zeit boten. Sie waren für die spätere politisch-moralische Ausrichtung des Denkens von Milena Jesenská wesent-lich. Eine „ausnehmend deprimierende Institution, etwas wie eine Kreuzung von Kloster und Besserungsanstalt“ nennt Kafkas Biograf Ernst Pawel das österreichische Gymnasium dieser Zeit (Pawel 1986, Das Leben Franz Kafkas: 57), und Stefan Zweig be-nennt in seinen Erinnerungen an die Schulzeit „menschliche Lieblosigkeit“, „nüchterne Unpersönlichkeit und das Kasernenhafte des Umgangs“ (Zweig 2006, Die Welt von Gestern: 46f.).

Mit diesen widersprüchlichen – emanzipatorischen und reproduk-tiven – Effekten der institutionellen Bildung kann möglicherweise die Tat-sache erklärt werden, dass Bildung, auch akademische Bildung, Menschen nicht daran gehindert hat, zu Massen-mördern zu werden. Milena Jesenská thematisierte auch diese strukturelle Gewalt, sie schrieb vom „Ersticken

eine Zeit, in der die Distanz zu kol-lektiven Normen zur Bedingung für eine subjektive Entscheidung für eine widerständige Praxis gegen kollektive Verbrechen wurde.

Die ambivalenz von Bildung und die handlungswirksamkeit

Die existenzielle Not und Milena Je-senskás Handlungs- und Lösungs-orientierung „verhalfen“ ihr in Wien zu einem großen Schritt: Sie begann literarische Texte zu übersetzen und Artikel für Prager Zeitschriften zu schreiben. Zuerst publizierte sie über-wiegend in der angesehenen Kultur-Zeitschrift „Tribuna“, später schrieb sie für die national-liberale Zeitschrift „Národní listy“. Sie erlebte Jahre des Erfolgs und konnte berufliche Sicher-heit als Journalistin und Übersetzerin erlangen.

Eine wesentliche Voraussetzung hierfür war ihre in Prag absolvierte gymnasiale Bildung, die Frauen gera-de erst ermöglicht worden war. Ihr an-schließendes Studium (der Medizin, mit dem Wechsel zur Musik) brach sie zwar ab, aber ihre humanistische Bildung regte insgesamt ihr ästhe-tisches Empfinden an und förderte eine reflexive Haltung. Am Ende der

Die autOrin

lucyna Darowska, Dr. rer. soc., in Tarnobrzeg (Polen) aufgewach-sen, Studium der Englischen Philologie an der Universität War-schau und der Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Mitarbeiterin der Universität Bielefeld. Zu ihren Publika-

tionen gehören: Widerstand und Biogra-fie. Die widerständige Praxis der Prager Journalistin Milena Jesenská gegen den Nationalsozialismus, Bielefeld: transcript (2012) sowie (mit Claudia Machold und Thomas Lüttenberg (Hg.): Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität, Biele-feld: transcript (2010).

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 61

Jenseits von Furcht: Milena Jesenská

schen Staates beizutragen. Die Ehe, die schon von Destruktivität gezeich-net war, zerfiel.

Politischer widerstand

Zwischen 1933 und 1936 arbeite-te Milena Jesenská vor allem in der Redaktion der Partei-Illustrierten „Svět práce“ (‚Welt der Arbeit’) und schrieb auch für die kommunistische Kulturwochenzeitschrift „Tvorba“ (‚Das Schaffen’). Jana Černá erinnert in ihrer Biografie von Milena Jesen-ská an deren Mutter als eine leiden-schaftliche Kommunistin. Milena Jesen ská, schon in den Jahren davor durch persönliche Beziehungen zum Grafen Franz Xaver Schaffgotsch, zu Alice Rühle-Gerstel und deren Mann Otto Rühle mit kommunistischen und sozialistischen Ideen in Verbindung gekommen, hoffte wie Tausende Men-schen, die Idee der Gerechtigkeit und eine Zukunft ohne Herrschaft und Ausbeutung bald verwirklichen zu können. Die Praxis entwickelte sich je-doch in eine andere Richtung. Jaromír Krejcar kehrte desillusioniert aus der Sowjetunion zurück. Und auch in Pra-ger Parteikreisen mehrten sich die Er-

vor Schmerz“, „an den Pranger gestellt werden“, von den Lehrenden, die sich „in erniedrigendem Ton“, „überheb-lich“ und mit „schmerzenden Worten“ an die Schülerinnen wenden (Jesen-ská 1996b: 32f.; 15.7.1915). Im Kontext ihrer späteren widerständigen Hal-tung im Nationalsozialismus ist von Bedeutung, dass sie, ähnlich wie im Fall der psychiatrischen Anstalt, nicht dem praktischen Realismus (oder Ra-tionalismus) der Unterordnung und Anpassung an die mehrheitlich legi-timierten Normen folgte, obwohl sie es versuchte. Sie entwickelte dagegen eigene Vorstellungen von Erziehung und suchte einen emotionalen Halt bei ihrer Lehrerin Albína Honzáková.

Bildung gepaart mit literarischem Talent ermöglichten ihr später nach der Rückkehr aus Wien eine journa-listische Karriere als Redakteurin bei der liberalen Zeitung „Národní listy“ (‚Nationale Blätter’).

Nach der Trennung von Ernst Pollak heiratete Milena Jesenská 1927 den bekannten Architekten Jaromír Krej-

car. Beide waren in den Kreisen der tschechischen Avantgarde des „Devětsil“ engagiert. Diese bedeuten-de Vereinigung von Künstlerinnen und Künstlern bekannte sich zum Marxis-mus, wurde aber schon 1923 von der Kommunistischen Partei angegrif-fen. Die Liebesbeziehung mit Jaromír Krej car und diese Phase ihres Lebens verglich sie später mit einem Tanz. Eine schwere Krankheit kurz vor der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter beendete diese glückliche Phase. Die Tochter Jana-Honza kam gesund zur Welt, aber Milena Jesenská blieb für mehrere Jahre durch Krankheit und schmerzlindernde Behandlung mit Morphium belastet. Sie verlor ihre Tä-tigkeit als Redakteurin.

Jaromír Krejcar ging, wie viele über-zeugte Aktivisten und Aktivistinnen, in die Sowjetunion, um als Architekt zum Aufbau des ersten kommunisti-

Milena bewegte sich in Kreisen der Prager literarischen Moderne, vor allem im „Café Arco“.Foto: privat

Auch später in Wien verkehrte Milena Jesenská in literarischen Kreisen, die sich besonders im „Café Central“ trafen.Foto: privat

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faschistischen Kooperation aufrief, so hat sie nach der Besetzung Prags den Angriff politisch verurteilt, aber nicht im Sinne einer nationalen Ideologie missbraucht. In diesem Verständnis schrieb sie z.B. 1937 über die Flücht-linge aus Nazi-Deutschland:

„Es sind fremde Menschen, sie spre-chen eine fremde Sprache, und sie kom-men aus einem fremden Land. Aber ei-nes haben wir gemeinsam: beim Wort Hakenkreuz zieht sich uns das Herz mit den gleichen Gefühlen zusammen.“ (Jesenská 1996a: 159; 27.10.1937)

Die Besetzung Prags durch die Wehrmacht am 15. März 1939 war eine nationale Tragödie, deren Aus-maß durch die Appeasement-Politik Englands und Frankreichs noch ver-größert wurde. Obwohl Milena Je-senská ahnte, dass ein Überleben in Prag wenig wahrscheinlich war, zö-gerte sie mit der Ausreise. Evžen Klin-ger, dessen Flucht Milena organisiert hatte, schrieb am 21. August 1939 von London an William und Stefanie Schlamm, dass er für Milena ein Vi-sum nach England besorgt habe. Aber „Milena will solange nicht gehen, bis sie zu Hause irgendwie arbeiten kann.“ (Klinger, 21.8.1939)

Milena Jesenská wollte auch nach der Besetzung Prags die Zeitschrift „Přítomnost“ erhalten. Trotz Kontrol-len des Presse-Bevollmächtigten und mit der Gestapo im Rücken gelang es ihr, mehrdeutige Texte zu veröf-fentlichen, was sowohl anstrengend als auch gefährlich war. Der Chefre-dakteur Ferdinand Peroutka wurde gleich nach dem Einmarsch der Nazis verhaftet. Nach seiner Entlassung war er kaum mehr arbeitsfähig. Milena Jesenská, die praktisch die Redak-

v. 25.2.1965: 365) Auch Zygmunt Baumann macht klar, dass im Fall des Sieges des Nationalsozialismus, „kraft seiner Autorität befunden wor-den [wäre], im Holocaust seien keine fundamentalen/natürlichen Gesetze mißachtet und kein Verbrechen gegen Gott und die Menschlichkeit begangen worden. Früher oder später hätte ver-mutlich das Zwangsarbeitssystem zur Disposition gestanden, wobei man die Entscheidung sicherlich nach rationa-len Kriterien getroffen hätte.“ (Bau-mann 2002, Dialektik der Ordnung: 21) Aus der damaligen Perspektive der Mehrheitsnorm war keineswegs selbstverständlich, den Nationalsozi-alismus mit dem „Bösen“ in einen di-rekten Zusammenhang zu setzen.

Als einer patriotisch sozialisierten Tschechin konnte es Milena Jesenská nicht schwer fallen, die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Wehr-macht zu verurteilen. Außergewöhn-lich ist, dass sie sich weder durch die nationalistische Ideologie vereinnah-men, noch durch opportunistische Pragmatik überzeugen ließ und dass sie nach eigenständigem Urteil han-delte. So wie sie sich für politische Flüchtlinge einsetzte, wie sie – ent-gegen der kommunistischen Ideolo-gie – zur parteiübergreifenden anti-

fahrungen von Denunziation, ideologi-scher Verdummung, Hierarchisierung und Totalisierung.

Der auf dem XII. Plenum des Exe-kutivkomitees der Kommunistischen Internationale 1932 in Moskau ein-geleiteten Ideologisierung des Mar-xismus folgten Diffamierungen und Ausschlüsse aus der KPČ aller derje-nigen, die sich der Gleichschaltung nicht anpassten. Milena Jesenská, die die Redaktion der Zeitschrift „Tvorba“ leitete, wurde von ihrem Posten ent-fernt, da sie die Glaubwürdigkeit der Schauprozesse im Jahr 1936 in Frage stellte. Die ebenso diffamierten und exkludierten Parteioppositionellen Josef Guttmann und Záviš Kalandra verkehrten bei ihr und Evžen Klinger, ihrem neuen Lebensgefährten und Funktionär der Slowakischen Kom-munistischen Partei, und setzten ihre politischen Debatten fort. Milena Je-senská allerdings geriet in eine exis-tentielle Krise. Mit dem Wandel ihres Verhältnisses zum Kommunismus begann ihre politisch und moralisch motivierte widerständige Praxis. Wie kann dieser gewagte Widerspruch, vollzogen im Bewusstsein der Folgen – der sicheren existentiellen Not und einer beruflichen Sackgasse – inter-pretiert werden?

Über-menschlicher widerstand

Zuweilen spricht man über den Wi-derstand gegen den Nationalsozialis-mus aus einer Erwartung heraus, als ob alle anständigen Menschen sich mit ihrem Handeln dem Bösen hätten widersetzen müssen. Schon Theodor Adorno hat deutlich gemacht, dass das, was Böse ist, sich einer sicheren Einschätzung aus der jeweils aktuel-len kollektiven Perspektive entzieht: „Zu unterstellen, daß man jemals zwei-felsfrei und unproblematisch wüßte, was das Gute ist, das selber ist, könn-te man sagen, bereits der Anfang des Bösen.“ (Adorno 2001, 28. Vorlesung

Joachim von Zedtwitz (1910-2001), der gemeinsam mit Milena Jesenská Antifaschisten und Juden zur Flucht verhalf.Foto: privat, mit freundlicher Genehmigung

der Familie von Zedtwitz.

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 63

Jenseits von Furcht: Milena Jesenská

tergrundzeitung „V boj“ (‚In den Kampf’) geschrieben und das „illegale“ Blatt verbreitet. Bei diesen Aktivitäten wurde sie verhaftet und nach Ravensbrück überführt.

Von Ravensbrück kehrte Milena Je-senská nicht mehr zurück. Sie starb dort am 17. Mai 1944. Auch hier, an diesem vom Tod gezeichneten Ort, setzte sie ihre widerständige Praxis fort, eingebunden in ein Helferinnen-Netzwerk. Die Häftlingsärztinnen und Krankenschwestern entwickelten Vorgehensweisen, die es ihnen er-möglichten, mit Hilfe von fingierten Temperaturkurven, gestohlenen Me-

tion übernommen hatte, wurde oft zum Presseamt vorgeladen und re-gelrecht verhört. In einer politisch depressiven und materiell dra-matischen Situation sah sie ihre subjektive Verantwortung auch darin, dass sie bedrohten Men-schen, vor allem Antifaschisten und Juden, zur Flucht aus dem Land verhalf. Zusammen mit Jo-achim von Zedtwitz organisierte sie deren Reisen bis zur polnischen Gren-ze, wo die Flüchtenden von Grenzfüh-rern abgeholt und über die Grenze gebracht wurden. Walter Tschuppik, der Herausgeber des „Prager Mon-tag”, und Rudolf Keller, der Heraus-geber des „Prager Tagblatts”, einer großen deutschsprachigen Zeitung, die stark von jüdischen Intellektuellen und deutschen Emigranten und Emig-rantinnen geprägt war, gelangten auf diese Weise in die Freiheit und konn-ten weiter emigrieren. Nach der Ein-stellung von „Přítomnost“ im August 1939 hat Milena Jesenská für die Un-

dikamenten und Informations-austausch untereinander, denen, die am stärksten von der Ver-nichtung bedroht waren, immer wieder zu helfen. Auf diese Weise trug Milena Jesenská zur Rettung mehrerer Frauen bei. Und auch hier waren die Strategien – Tar-nung, Lüge, Fälschung der Karteien – Strategien, die Leben retteten.

widerständige haltung als biografische entwicklung

In Ravensbrück versuchte Milena Je-senská eine würdige Haltung trotz der zutiefst entwürdigenden Prakti-ken der KZ-Aufseher/-innen und der Präsenz des Todes durchzusetzen. Diese Haltung zeigte sich darin, dass sie die allgegenwärtige Gefahr des To-des immer wieder in Kauf nahm, z.B. wenn sie vom Lagerarzt mit seinem Stöckchen berührt wurde und das Stöckchen „mitsamt Sonntags langem Arm zur Seite [schleuderte]“. (Buber-Neumann 1996: 237f.) Margarete Buber-Neumann, die von Stalin an die Nationalsozialisten ausgeliefert wor-den war, verfasste ein Dokument ihrer außergewöhnlichen Freundschaft mit Milena Jesenská an diesem Ort der Vernichtung. Der Ort deckte den Glau-ben an die Menschlichkeit zum Teil als Naivität auf. Mit diesem Dokument bewies Margarete Buber-Neumann jedoch, dass Menschlichkeit unter dramatisch schweren Bedingungen möglich, aber nicht selbstverständlich und womöglich nicht zufällig ist, son-dern sich biografisch unter bestimm-ten Voraussetzungen konstituiert.

Aus dem Konzentrationslager Ravensbrück kehrte Milena Jesenská nicht mehr zurück. Sie starb dort am 17. Mai 1944. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1985-0417-15/

CC-BY-SA

Auch nach der Besetzung Prags im März 1939 wollte Milena Jesenská die Zeitschrift „Přítomnost“ erhalten, doch diese wurde im August 1939 eingestellt. Heute existiert sie wieder in neuem Gewand.

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das es ihr nicht einfach gemacht hat, geholt. •

Ǻ literatur

Buber-Neumann, Margarete (1996): Milena, Kafkas Freundin. Ein Le-bensbild, mit einem Nachwort v. Gudrun Bouchard, Frankfurt a.  M.: Ullstein.

Jesenská, Milena (1996a): Alles ist Leben. Feuilletons und Reportagen 1919-1939, hg. u. mit einer biogr. Skizze vers. v. Dorothea Rein, Frank-furt a. M.: Neue Kritik.

Jesenská, Milena (1996b): „Ich hätte zu antworten tage- und nächtelang“. Die Briefe von Milena, hg.  v. Alena Wagnerová, Mannheim: Bollmann.

Klinger, Evžen: unveröffentlichter Brief an Willi und Steffi Schlamm v.: 21.8.1939, Deutsches Exilarchiv (1933-1945) der Deutschen Biblio-thek, Frankfurt a. M.

Salvesen, Sylvia (1992): Tilgi – Men Glem Ikke / Vergebt – doch vergesst nicht, Weimar, Sammlung MGR/StBG. – 2000/434. Bestände aus den Sammlungen der Mahn- und Ge-denkstätte Ravensbrück.

– Ihre Handlungen wurden durch ihren Herzensreichtum dirigiert. Sie ge-brauchten ihre Intelligenz, um selbst unter solchen Umständen das Unmögli-che möglich zu machen und ihre Ener-gie in positive Kraft für ihre Kamera-dinnen umzusetzen.“ (Salvesen1992: 46f – Herv.: L.D.)

Dies scheint Milena Jesenskás Ei-genschaften sehr treffend zu erfassen. Neben der physischen Kraft, die für ihre widerständige Praxis notwendig war, hat Milena Jesenská deutlich ge-macht, dass Menschlichkeit mit refl e-xiver Weltaneignung zu tun hat. Im Kontext einer konkreten historisch-politischen und kulturellen kollektiven Entwicklung verlieh sie ihrem Han-deln eine Bedeutung, die sich von den mehrheitlich getragenen rationalen Entscheidungen absetzte. Den Sinn für ihr Handeln hat sie aus einer tie-fen Verwobenheit zwischen scharfer Refl exion, Empathie, ihrer politischen Überzeugung von der Möglichkeit ei-ner gerechteren Welt, für die sie ge-kämpft hat, und der Liebe zum Leben,

Die Quintessenz dieser biografi schen Entwicklung schloss Franz Kafka in der Metapher eines (dekonstruktiven) Blicks, mit der er seine Interpretati-on von Milena Jesenskás Refl exivität 1920 zum Ausdruck brachte:

„Du hast einen durchdringenden Blick, das wäre aber nicht viel, […] aber Du hast den Mut dieses Blicks und vor allem die Kraft noch weiterzusehn über diesen Blick hinaus; dieses Weitersehn ist die Hauptsache und das kannst Du.“ (Kafka 1995, Briefe an Milena: 74)

Kafkas Eischätzung erscheint be-sonders im Kontext der Überlegungen von Silvia Salvesen zur widerständi-gen Haltung in Ravensbrück plausibel. Silvia Salvesen analysiert als ehema-lige Gefangene die Bedingungen für widerständiges Handeln im Konzent-rationslager und betont dabei die Fä-higkeit zur Refl exion und Empathie. Von tausend Frauen waren es etwa fünfzig, die mehr zu leisten vermoch-ten, als um das eigene Überleben zu kämpfen:

„[…] diejenigen, die trotz Not und Elend, Schmutz und Ungeziefer, Krank-heit und Tortur sowie Hunger und täg-lich mit dem Tod vor Augen, es dennoch schafften, sich über all das zu erheben.

Das Gebäude in der Kouřímská-Straße 6, in dem Milena Jesenská zuletzt gewohnt hat.Foto: privat

Lucyna Darowska: Widerstand und Biografi e. Die widerständige Praxis der Prager Journalistin Milena Jesenská gegen den Nationalsozialis-mus, Bielefeld: transcript (2012)

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 65

50 Jahre Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Justus-liebig-universität GießenJubiläumssymposium unter leitung von Prof. Dr. Johannes kruse

[  KURZ BERICHTET  ]

 Psychische und psychosomatische Störun-gen sind heute in aller Munde. Burnout, De-pression und psychosomatische Beschwer-

den sind der Grund Nummer eins bei vorzeitigen Berentungen in Deutschland. Seit 50 Jahren widmet sich die Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklini-kum Gießen der Forschung und Behandlung die-ser Störungen. Ihr 50-jähriges Bestehen feierte sie im Sommer 2012 mit einem Symposium zum Thema „Psychosomatische Medizin und Psycho-therapie gestern – heute – morgen“.

Im Jahr 1962 wurde Prof. Dr. Horst-Eberhard Richter zum Direktor der Klinik für Psychoso-matik und Psychotherapie ernannt und baute später das Zentrum für Psychosomatische Me-dizin zusammen mit Prof. Dr. Dieter Beckmann auf. Horst-Eberhard Richter baute den Lehr-stuhl und die Klinik zu einer der größten und bedeutendsten psychosomatischen Abteilungen in Deutschland aus. Die analytische Paar- und Familientherapie, die Familienforschung, psy-chosomatische Forschungsansätze, die Ent-wicklung des Gießen-Tests mit Prof. Dr. Elmar Brähler, die kulturwissenschaftlichen Arbeiten und das soziale Engagement, unter anderem für die Friedenbewegung, prägten diese Zeit.

Von 1992 bis 2008 übernahm Prof. Dr. Chris-tian Reimer die Professur und die Klinik. Er bau-te die Klinik weiter aus und integrierte stärker die klinische Psychosomatik. Die Lebensqualität in Gesundheitsberufen, Depression, Suizidali-tät, aber auch die Selbstpsychologie wurden in Gießen durch ihn vorangetrieben. Nach einer kommissarischen Übergangszeit unter der Lei-tung von Prof. Dr. Uwe Gieler übernahm Prof. Dr. Johannes Kruse im Jahr 2009 die Klinik. Sie wurde erweitert und umfasst jetzt 45 Behand-lungsplätze. Sie schließt nun eine Tagesklinik mit ein und verfügt über eine große psycho-somatische Ambulanz sowie einen Konsil- und Liaisondienst. Arbeits- und Forschungsschwer-punkte wurden ergänzt um die Themen Diabe-

tes mellitus, Psychotraumatologie, somatoforme Schmerzstörung und Versorgungsforschung.

Die Klinik ist einerseits als Psychosoma-tik der Region für die allgemeine wohnortnahe psychotherapeutische und psychosomatische Versorgung von Patienten mit psychischen und psychosomatischen Störungen verantwortlich, andererseits bietet sie spezifische Behandlungs-angebote überregional an, insbesondere in der Psychodermatologie und in der Behandlung von chronischen funktionellen Schmerzstörungen.

Die Gießener Psychosomatische Klinik hat schon seit Beginn den Anspruch gehabt, die Entwicklung der psychosomatischen Medizin und Psychotherapie in Deutschland mit zu prä-gen. An der Entwicklung der Gießener Psycho-somatik kann man einen Großteil der psychoso-matischen Theorieentwicklung, der empirischen Forschungen und der klinischer Versorgung ablesen. Die Gießener Psychosomatik hat we-sentlich dazu beigetragen, dass die psychoso-matische Medizin, aber auch die medizinische Psychologie und die medizinische Soziologie 1972 in die Approbationsordnung als eigene Fachgebiete aufgenommen wurden.

Prof. Dr. Horst-Eberhard Richter, der erste Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie, hier mit seinen Mitarbeitern in den 60er Jahren. Foto: Archiv

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soziale krisen und soziale kräftewie namibia mit den aiDs-waisen umgeht

Von Michaela Fink, Julia Erb und Reimer Gronemeyer

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 67

Soziale Krisen und soziale Kräfte

Die aiDs-epidemie und die daraus

resultierende aiDs-waisen-krise ist

in afrika ein entscheidender faktor

für gesellschaftliche umbruchpro-

zesse. experten schätzen, dass ge-

genwärtig über 15 Millionen kinder

und Jugendliche im alter bis zu 17

Jahren im sub-saharischen afrika

einen elternteil oder beide eltern

durch die immunschwäche verloren

haben. am institut für soziologie

der universität Gießen widmet sich

seit März 2012 ein dreiköpfiges

forscherteam der frage nach den

sozialen folgen der aiDs-waisen-

krise im südlichen afrika. am

Beispiel namibias wird der gesell-

schaftliche umgang mit dieser krise

untersucht. Geleitet wird das von

der Deutschen forschungsgemein-

schaft (DfG) finanzierte Projekt

„soziale krisen und soziale kräfte“

(2012-2015) von dem soziologen

Prof. reimer Gronemeyer, zum

team gehören Michaela fink und

Julia erb.

Die Zerstörung sozialer Zusam-menhänge, eine zunehmend klaffende Schere zwischen

Arm und Reich, die hohe Verbreitung von HIV/AIDS: Namibia, das seit 1990 unabhängige Land im Südlichen Afri-ka, hat mit einer Fülle von Problemen zu kämpfen. 13,1% der Bevölkerung im Alter von 15 bis 49 Jahren sind HIV-positiv. Eine der Konsequenzen ist die große Zahl von AIDS-Waisen, die im Land leben. Namibia weist die weltweit höchste Selbstmordrate auf – und das dürfte nicht zuletzt mit der Epidemie und ihren Folgen zusam-menhängen.

Das Land ist 22 Jahre nach seiner Unabhängigkeit und nach dem Ende des Befreiungskrieges von einem sozi-alen Frieden weit entfernt. Der Afrika-nist Henning Melber zieht ein bitteres Resümé:

„Es vergeht keine Woche, in der nicht Föten aus der Kanalisation gezogen oder anderswo entdeckt werden. Auch baby dumping, bei dem Neugeborene von ihren Müttern einfach durch Aus-setzung entsorgt werden und meist nicht überleben, gehört als fest stehen-der Begriff mittlerweile ebenso zum Alltagswortschatz wie street kids und sugar daddies. Kinder haben inzwi-schen oft noch nicht einmal das Teen-ageralter erreicht, bevor sie aus purer Not zum Verkauf ihres Körpers auf der Straße oder andernorts gezwungen werden. (…) Von dem Ausmaß an kri-mineller Aggression auch in Form von Mord und Körperverletzung und dem

Missbrauch von Frauen, die vom Klein-kind bis zur Großmutter vergewaltigt, gedemütigt und misshandelt werden, ganz zu schweigen.“ (afrika süd, Nr. 2, März/April 2012)

Es ist anzunehmen, dass insbeson-dere die Waisen gefährdet sind, Opfer von Missbrauch und Gewalt zu werden. Und das hat mit einem dramatischen sozialen Umbruch zu tun. Bislang wurden die meisten Waisen von ihren erweiterten Familien aufgenommen. Durch die Vielzahl der Erkrankten, Verstorbenen und Verwaisten geraten die familialen Strukturen gegenwär-tig immer deutlicher an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Darüberhinaus werden die Familienzusammenhänge durch Modernisierungsprozesse wie Arbeitsmigration, Landflucht und Ur-banisierung erschüttert. Die sozialen Verwüstungen sind nicht zu überse-hen. Dennoch wird im Umgang mit der AIDS-Waisen-Krise nach wie vor etwas von dem sozialen Reichtum sichtbar, der sich auf die Kraft der Fa-milie, die Nachbarschaft und die Sub-sistenzwirtschaft gründet.

In dem Projekt „Soziale Krisen und Soziale Kräfte“ wird gefragt, welche Antworten in Namibia auf die wach-sende Zahl von AIDS-Waisen gefun-den werden. Wir untersuchen mit Hilfe zahlreicher Interviews die Übergänge, die sich aus dem Wandel von einem traditionellen zu einem modernisierten Afrika ergeben: Wie verändert sich in Zeiten von AIDS und Modernisierung die Großfamilie, die ja traditionell Kinder im Baby Haven

„Wir befinden uns heute in der Mitte von Nirgendwo. Wo wir hingehen, das wissen wir nicht. Wo wir herkommen, dahin können wir nicht zurück.“

Agnes Tom Gründerin des „Baby Haven“ Waisenhaus in Katutura, Namibia

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Fink, Erb, Gronemeyer

die zentrale Instanz sozialer Siche-rung gewesen ist? Wir untersuchen traditionell-familiale, administrative, projektorientierte, nachbarschaftliche und zivilgesellschaftlich orientierte Ansätze, die als Reaktion auf die AIDS-Waisen-Krise erkennbar sind. Dabei interessiert uns die Frage nach dem in-novativen Potenzial, das mit der Krise verbunden ist. Denn es ist schon jetzt erkennbar, dass die zivilgesellschaftli-che Herausforderung, die diese Krise

bedeutet, auch neue soziale Kräfte, neue soziale Milieus und Unterstüt-zungsnetze entstehen lässt.

Wir verankern unsere Forschung darüberhinaus in einem breiteren Kontext, indem wir versuchen, den Wandel der Familienstrukturen zu beschreiben und den erkennbar ver-änderten Umgang mit Kindern. Der Vergleich zwischen Stadt und Land, zwischen traditionell und modern spielt dabei eine zentrale Rolle. Ob- wohl die Anzahl der Waisen in Na-

mibia hoch ist, scheinen alte und neue Sozialisationsformen recht gut zu funktionieren – verstörte oder verhaltensauffällige Kinder fallen keineswegs ins Auge. In diesem Zu-sammenhang untersuchen wir, was im Umgang mit den Kindern dort im Vergleich mit Europa anders ist.

Eine systematische kulturverglei-chende Anthropologie der Kindheit sprengt zwar den Rahmen des Projek-tes. Aber vor dem Hintergrund zuneh-mend problematischer und oft miss-lingender Sozialisationsbemühungen bei uns ist es spannend und eventuell hilfreich wahrzunehmen, was im Um-gang mit Kindern, speziell mit Waisen, in Namibia so anders ist. Das Phäno-men ADHS zum Beispiel, die Auf-

Bei einer Gesamtbevölkerung von 2,3 Millionen Menschen le-ben in Namibia nach Schätzungen von Experten 70.000 Kinder und Jugendliche, die einen Elternteil oder beide Eltern durch AIDS verloren haben. Insgesamt wird von 110.000 Waisen ausgegangen. In der Regel werden die Halb- und Vollwaisen zusammen gezählt mit gefährdeten und notleidenden Kindern, den OVC (orphans and vulnerable children). 250.000 OVC (0 bis 18 Jahre) werden in Namibia gezählt. Das entspricht ei-nem Bevölkerungsanteil von über 10 %. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums erreichen externe – staatliche und zivilgesellschaftliche – Unterstützungsangebote knapp 20 % der OVC.

Namibia – die AIDS-Waisen-Krise in Zahlen

Dem Forscherteam kommen langjährige, intensive Kontakte nach Namibia zugute, die aus früheren Forschungsarbeiten von Prof. Grone- meyer resultieren, und auch aus der Tätigkeit des Vereins „Pallium“. Dieser ist aus einem früheren DFG-Forschungsprojekt zu HIV/AIDS im Südlichen Afrika hervorgegangen und unterstützt seit 2004 Hilfsprojek-te für AIDS-Waisen in Namibia finanziell und durch Vermittlung von Praktikantinnen und Praktikanten (www.pallium-ev.com).

Großmutter Kathrina lebt in einem kleinen Wellblechhaus in Havana (Katutura) in Namibia.

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 69

Soziale Krisen und soziale Kräfte

merksamkeitsstörung, mit der wir es gegenwärtig in den westlichen Gesell-schaften zu tun haben, ist im afrikani-schen Kontext weitgehend unbekannt. Warum ist das so? Sind AIDS-Waisen traumatisierte Kinder, wie wir es bei uns in vergleichbarer Situation wohl annehmen würden? Es scheint so, als ob namibische Kinder emotional und was ihre Versorgung betrifft weitaus weniger an ihre leiblichen Eltern ge-bunden sind, als das bei uns der Fall ist. Ein namibisches Waisenkind kann durchaus gut in eine Großfamilie ein-gebettet sein.

Das Projekt setzt es sich zum Ziel, am Ende auch die Ergebnisse vor Ort zurückzugeben: Wir gehen davon aus, dass die Untersuchung herauszustellen imstande sein wird, welche staatlichen und zivilgesellschaftlichen Modelle im

Umgang mit dem Thema AIDS-Waisen förderlich sind – und welche Aufgaben die (deutsche) Entwicklungszusam-menarbeit in diesem Kontext wahr-nehmen könnte und sollte.

Wenn man den Versuch macht, erste Ergebnisse, die fast noch Hypothesen sind, zu formulieren, dann kann man sagen:• Es gibt drastische und folgenreiche Unterschiede zwischen Sozialisati-onskonzepten in Namibia und Euro-pa. „Erziehung“ ist in Namibia nicht elternspezifisch, sondern eingebettet in den Kontext der Großfamilie. Mut-

ter können Viele sein, vor allem alle Schwestern der Mutter werden auch „meme“, Mutter, genannt. Jeder, der da ist, der Zeit hat, der hinschaut, ist zuständig.• Das hat für AIDS-Waisen unüber-sehbare Folgen: Wenn ein Kind aus der Großfamilie herausfällt, verliert es gewissermaßen seine „Bodenhaf-tung.“ Waisenhäuser sind aus diesem Grund in Namibia – wie wohl generell im südafrikanischen Kontext – eine problematische, nur als äußerste Not-lösung verstandene Einrichtung. Erst die gegenwärtige Krise beschädigt das Modell Großfamilie, die schwä-cher wird. Daraus erwachsen zuneh-mend Beispiele für Vernachlässigung und Misshandlung.

Havana, ein Stadtteil von Katutura

Wasserzapfsäule. Mit einer Chipkarte kann man dort Wasser holen

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Fink, Erb, Gronemeyer

scher Geschwindigkeit. Eine geregelte Arbeit finden die wenigsten Zuwan-derer. Kleine informelle Geschäfte sichern vielen Bewohnern notdürftig das tägliche Überleben.

Die heute elfjährige Mirjam hat die ersten vier Lebensjahre im „Baby Ha-ven“, einem Waisenhaus in Katutura, verbracht. Ihre Mutter ist an AIDS ge-storben. Nach diesen Jahren hat ihre Großmutter das Mädchen zu sich ge-holt. Kathrina trägt einen Kittel, der mit Knöpfen und Wäscheklammern zusammengehalten wird. Ihr klei-nes Wellblechhaus besteht aus einem Raum, in dem sie mit ihrer Enkelin zu-sammenlebt. Sehr sorgfältig sind ihre wenigen Habseligkeiten an der Seite aufgeschichtet. Auf dem Boden liegt eine Matratze. Ein wackliger Plastik-stuhl wird vor die Hütte gestellt. Dort nimmt sie Platz. Wir sitzen auf Fels-brocken, von Zeit zu Zeit weht uns während des Interviews eine uringe-schwängerte Brise an. Die Nachbarn sind freundlich, so sagt sie. Sie nehmen für die Hütte keine Miete. Die könnte sie auch nicht bezahlen. Weil Kathrina vor Jahrzehnten aus Südafrika einge-wandert ist, hat sie keine namibischen Papiere, bekommt also nicht die Rente in Höhe von umgerechnet 50 Euro, die eigentlich allen über 60-jährigen Na-mibiern zusteht. So kann sie sich nur über Wasser halten, indem sie Wäsche für benachbarte Familien wäscht. Das bringt im Monat etwa 20 Euro, von de-nen sie mit Mirjam lebt. Davon kann sie einen Sack Maismehl kaufen, die beiden essen dann den ganzen Monat lang aus diesem Sack Mehl, mit dem Brei gemacht wird. Fleisch gibt es nie dazu, hin und wieder etwas Zucker oder Tee.

In zehn Meter Entfernung steht die Wasserzapfsäule. Mit einer Chipkarte kann man dort Wasser holen – wenn die Karte aufgeladen ist. Die Hütten hier haben keinen eigenen Wasseran-schluss, auch keine Elektrizität. Die

Die autOren

Michaela fink, Jahrgang 1973, Dr. phil., ist Soziologin und Lehr-beauftragte an der Universität Gießen. Mitarbeit in wissenschaftli-chen Forschungsprojekten zur Hospizbewegung und zu HIV/AIDS und AIDS-Waisen im Südlichen Afrika. Seit 2004 ist sie Vorstands-

mitglied von „Pallium – For-schung und Hilfe für soziale Projekte e.V.“. Von 2006 bis 2012 Aufbau und Koordina-tion des Ambulanten Kin-derhospizdienstes Gießen unter der Trägerschaft des Deutschen Kinderhospiz-vereins e.V.

Julia erb, Jahrgang 1981, M.A., ist Kunstpädagogin und Soziolo-gin. Seit 2006 ist sie aktiv im Bildungs- und Kulturaustausch mit dem südlichen Afrika, insbesondere bei der Planung und Reali-sierung von Ausstellungen zu sozio- und interkulturellen Themen

(www. tropes-on-display.org), seit 2008 kunstpäda-gogische und künstlerische Projektarbeit. Sie ist Her-ausgeberin der Zeitschrift „Palaver. Kleine Schriften zu den Tropen hier und an-derswo“.

reimer Gronemeyer, Jahrgang 1939, Dr. theol. und Dr. rer.soc., Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. In den letzten Jahren vor allem Forschungsprojekte zum Thema Hospiz und Palliative Care in Europa. Außerdem Forschungspro-jekte zu den sozialen Folgen von HIV/AIDS im Südlichen Afrika

und zum Thema „Saatgut und Sozialsystem in Tansa-nia und Namibia“. Reimer Gronemeyer ist Vorsitzen-der des Vorstands der „Ak-tion-Demenz. Gemeinsam für ein besseres Leben mit Demenz“.

Die schwierige Alltagssituation und die schnellen Veränderungen wer-den an diesen Konkretionen deutlich: Mirjam ist AIDS-Waise. Sie lebt bei ihrer Großmutter Kathrina in Havana. Havana ist ein Teil des ehemaligen Township Katutura bei Windhoek, was soviel bedeutet, wie „der Ort, an

dem wir nicht leben wollen“. Katutu-ra entstand während der südafrikani-schen Apartheidspolitik in den 1950er Jahren, als die schwarze Bevölkerung in die Außenbezirke der Hauptstadt zwangsweise umgesiedelt wurde. Die illegalen Siedlungen in Katutura wachsen gegenwärtig mit dramati-

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 71

Soziale Krisen und soziale Kräfte

gemeinschaftliche Wirtschaften auf: Die älteren Waisen beanspruchen in-nerhalb der Familie das Geld für sich.

Das Thema HIV/AIDS ist bei uns aus der Berichterstattung verschwunden oder kommt noch seltener vor als frü-her. Dabei brechen die sozialen Folgen der Epidemie im Südlichen Afrika erst jetzt richtig durch. Die Großfamilie, die bisher Vieles aufgefangen hat und die wichtigste Form sozialer Siche-rung war, wird von zwei Seiten her an-gefressen: Modernisierungsprozesse unterminieren sie von der einen Seite, die Folgen der Epidemie von der an-deren. Man wird sich auf verstörende Nachrichten gefasst machen müssen und zugleich aufmerksam beobach-ten, welche Antworten die namibische Zivilgesellschaft auf das Thema AIDS-Waisen findet. •

kOntakt

Prof. Dr. Dr. reimer Gronemeyer, Dr. Michaela fink, Julia erb M.a. Justus-Liebig-Universität Karl-Glöckner-Str. 21 E, 35394 Gießen Telefon: 0641 99-23204 [email protected]

haben gemeldet, dass auf einer nahe gelegenen Müllhalde zwei misshan-delte Kinder gefunden wurden: ein Junge im Säuglingsalter und ein etwa zwei Jahre altes Mädchen. Die Kinder werden in den „Baby Haven“ gebracht, wo sie erst einmal bleiben können. Die Polizei ermittelt, die Sozialarbeiterin-nen suchen nach Verwandten.

Interviews und Gruppengespräche in Windhoek-Katutura, mit denen die Forschungsarbeit begonnen hat, las-sen schon jetzt erkennen: Regierungs-stellen – lokal und überregional – se-hen die dramatischen Entwicklungen, aber es geschieht wenig. Waisen steht ein government grant in Höhe von 200 Namibischen Dollar im Monat zu (das sind ca. 20 Euro). Viele bekommen dieses Geld nicht, und es reicht auch nicht, um ein Kind zu versorgen, in die Schule zu schicken etc. Da, wo es ankommt, bricht es nicht selten das

Großmutter hat keine solche Karte, sie bekommt Wasser von den Nachbarn, zum Kochen und zum Wäschewa-schen. Um Feuerholz zu finden, muss sie inzwischen sehr weit gehen, alles ist abgesammelt.

Die Enkelin wächst jetzt aus den Kleidern, die sie im „Baby Haven“ ge-schenkt bekommen hat, heraus. Wie das alles weitergehen soll, weiß die Großmutter nicht. Nach der Schule hilft Mirjam ihrer Großmutter. Sie ist eine gute Schülerin. Morgens vor der Schule und abends gibt es oshifima, den Maisbrei. Mehr nicht. Wir fragen die Großmutter, was sie bei der Erzie-hung für das Wichtigste hält. Respekt vor den Älteren, das sei die Hauptsa-che. Gesprochen wird Afrikaans. Kein Wort der Klage oder Anklage kommt ihr über die Lippen. Die Freundlich-keit der Nachbarn, die sich auch um Mirjam kümmern, wenn sie nicht da ist, erwähnt sie immer wieder.

Der „Baby Haven“ befindet sich im Katutura-Viertel Grysblock. Es ist spä-ter Abend am 19. Juli 2012. Ein Wagen hält vor dem kleinen Steinhaus. Zwei Sozialarbeiterinnen des Ministry of Gender Equality and Child Welfare bit-ten Lulu Tom, die Managerin des Wai-senhauses, mitzukommen. Anwohner

Waisenhaus „Baby Haven“, Katutura

„Baby Haven“-Gründerin Agnes Tom und ihre Tochter Lulu Tom, die Managerin.

Page 74: Spiegel der Forschung 2012-2

72 Justus-Liebig-Universität Gießen

Mehrwert europaZur finanzierung der eu-Politiken von 2014 bis 2020

Von Karin Pieper

Page 75: Spiegel der Forschung 2012-2

Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 73

Mehrwert Europa

Bis spätestens Mitte 2013 müssen

sich die Mitgliedstaaten der eu-

ropäischen union (eu) auf einen

neuen Mehrjährigen finanzrahmen

(Mfr) für den Zeitraum 2014 bis

2020 einigen. wie bei den vorheri-

gen Verhandlungen geht es hierbei

um Milliardenbeträge und um die

aushandlung der frage, welches

Politikfeld mit welchen summen

finanziell ausgestattet wird. Mit

Blick auf die andauernde finanzkri-

se einiger eu-Mitgliedstaaten stellt

diese aufteilung ein „kniffliges

spiel“ dar: einerseits geht es um die

umsetzung der wachstumsprämis-

se und um den eu-weiten solida-

ritätsgedanken, andererseits um

das mögliche festhalten an traditi-

onellen ausgabenstarken Politiken

wie die Gemeinsame agrarpolitik

(GaP). Der aufsatz beleuchtet aus

politikwissenschaftlicher sicht die

reichweite einer finanzaufteilung,

die einer innovativen und wachs-

tumsfördernden sowie einer solida-

rischen logik folgt.

Exemplarisch beleuchtet wer-den der zweitgrößte Finanz-posten, die EU-Strukturpolitik,

die ländliche Entwicklung als Teil der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) sowie die Energie- und die Erweite-rungspolitik. Dabei wird die deut-sche Perspektive inklusive der Betei-ligungsmöglichkeiten der deutschen Bundesländer dargestellt.

eu-kohäsionspolitik: instrument für wachstumsförderung oder finanzausgleich?

Die Europäische Kommission hat Mitte 2011 Vorschläge für den Mehr-jährigen Finanzrahmen (MFR), unter dem Titel „Ein Haushalt für Europa 2020“ mit einem Gesamt-ausgabenvolumen von rund 1.000 Mrd. Euro vorgelegt. Seitdem wird bei ausgabenträchtigen Haushaltsru-briken wie der EU-Kohäsionspolitik, für die ein Betrag von knapp 380 Mrd. Euro vorgesehen ist, über die räumliche Aufteilung und die inhalt-liche Schwerpunktsetzung auf Ebe-ne der Mitgliedstaaten, der Regio-nen und im Europäischen Parlament (EP) diskutiert. Seit dem Vertrag von Lissabon 2009 hat das Europäi-sche Parlament einen Machtzuwachs erfahren: Während der MFR ein-stimmig im Rat unter Zustimmung der Mehrheit der EU-Abgeordneten verabschiedet werden muss, gilt für die Verabschiedung der allgemeinen Bestimmungen zur Kohäsionspolitik

nunmehr das ordentliche Gesetz-gebungsverfahren. Somit gilt das EP neben dem Rat als gleichberechtigtes Organ der Entscheidungsfindung. Für die beteiligten Institutionen gilt es, diese Neuausrichtung der Machtver-hältnisse zu berücksichtigen.

Die EU-Kohäsionspolitik ist ein Po-litikfeld, mit dem als Ausdruck der Solidarität zwischen allen Mitglied-staaten und Regionen bereits seit den 1970er Jahren die Entwicklung von sozioökonomisch schwachen Ge-bieten unterstützt wird. Ziel ist es, durch Investitionen in die Infrastruk-tur und Förderung von Klein- und Mittleren Unternehmen (KMU) zur wirtschaftlichen und sozialen Kohä-sion in der gesamten EU beizutragen. Aktuell gilt die Kohäsionspolitik als Instrument zur Umsetzung der im Jahr 2010 verabschiedeten Europa 2020-Strategie, bei der es um die Förderung der Ziele eines intelligen-ten, nachhaltigen und integrativen Wachstums geht (Europäische Kom-mission 2010). Dazu werden 35,7% der EU-Haushaltsmittel für struktur-politische Maßnahmen im Sinne der Wachstums- und Beschäftigungs-strategie sowie zur Förderung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit eingesetzt. Rechnet man die Gelder der zweiten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) zur Erhaltung der natürlichen Ressourcen hinzu, so ergeben sich 40% der Haushaltsmit-tel, die hier genauer betrachtet wer-den.

Die Europaflagge vor der Europäischen Zentralbank.

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74 Justus-Liebig-Universität Gießen

Pieper

kostspielige neue förderregionen trotz nettozahler-lobby?

Bei den Verhandlungen zu den Finanz-posten argumentiert Deutschland aus Sicht der leistungsfähigeren Mitglied-staaten, der so genannten Nettozah-ler: Das bedeutet, dass es im Interesse Deutschlands ist, dass das EU-Budget nicht expandiert und dass die Gelder möglichst effizient eingesetzt wer-den. Die deutsche Verhandlungspo-sition resultiert auch aus dem bei der innerdeutschen Politik vorhandenen Bewusstsein um die Staatsverschul-dung des Bundes, aber auch der der Länder und Kommunen. Ein Beispiel belegt diese Problematik: So ist allei-ne das Bundesland Berlin mit 63 Mrd. Euro verschuldet und wird ab Ende 2019 ohne die zusätzlichen Fördergel-

tabelle: Mehrjähriger finanzrahmen (eu-28), 2014-2020, aus kommission 2012: ein haushalt für europa 2020, s. 16**Die Aktualisierung des ursprünglichen Kommissionsentwurfs aus dem Jahr 2011 berücksichtigt den beschlossenen Beitritt Kroatiens zum 1. Juli 2013 (in Mio. Euro – zu konstanten Preisen 2011)

Mittel für Verpflichtungen 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Summe

1. intelligentes und integratives wachstum, davon: soziale, wirt-schaftliche und territoriale Kohäsion

64.769

50.464

67.015

51.897

68.853

53.177

70.745

54.307

72.316

55.423

74.386

56.474

76.679

57.501

494.763

379.243

2. nachhaltiges wachstum: natürli-che ressourcen, davon: Marktbezo-gene Ausgaben und Direktzahlungen

57.845

42.363

57.005

41.756

56.190

41.178

55.357

40.582

54.357

39.810

53.371

39.052

52.348

38.309

386.472

283.051

3. sicherheit und unionsbürgerschaft 2.620 2.601 2.640 2.679 2.718 2.757 2.794 18.809

4. Globales europa 9.400 9.645 9.845 9.960 10.150 10.380 10.620 70.000

5. Verwaltung, davon: Verwaltungsausgaben der Organe

8.6227.047

8.7557.115

8.8727.184

9.0197.267

9.1497.364

9.3017.461

9.4477.561

63.16551.000

6. ausgleichszahlungen 27 0 0 0 0 0 0 27

MITTEL FÜR VERPFLICHTUNGEN INSGESAMT in BNE-%

143.282

1,10%

145.021

1,09%

146.400

1,08%

147.759

1,08%

148.690

1,07%

150.195

1,06%

151.888

1,06%

1.033.235

1,08%

MITTEL FÜR ZAHLUNGEN INSGESAMT in BNE-%

133.976

1,03%

141.175

1,06%

144.126

1,06%

138.776

1,01%

146.870

1,06%

144.321

1,02%

138.356

0,96%

987.599

1,03%

der aus dem dann auslaufenden Soli-darpakt Deutsche Einheit und einer verfassungsmäßig greifenden Schul-denbremse vor ganz neuen fiskalpoliti-schen Herausforderungen stehen. Eu-ropäische Solidarität finanzpolitisch abzubilden fällt vor diesem Hinter-grund auch dem Nettozahler Deutsch-land immer schwerer. Umso gewichti-ger ist es auch vor dem innerdeutschen Rechtfertigungsdruck der Politik ge-genüber der Öffentlichkeit, nicht nur eine möglichst hohe Mitteleffizienz auf EU-Ebene zu fordern, sondern gleich-zeitig möglichst hohe Rückflüsse aus dem deutschen EU-Budget durchzu-setzen. Der Weg dorthin wird jedoch differenziert betrachtet.

Bei den Verhandlungen und der Festlegung der deutschen Position zur Kohäsionspolitik gab es zwischen den Bundesländern und der Bundesregie-

rung eine Diskussion zur inhaltlichen Ausrichtung der Strukturpolitik: So-zioökonomisch stärkere Bundesländer wie Baden-Württemberg oder Bayern vertraten zusammen mit der Bundesregierung bei Bundesratsstel-lungnahmen die Ansicht, man solle vor allem auf die Wettbewerbsfähigkeit und auf Wachstumsbranchen setzen. Das bedeutet, dass in Wettbewerbs-regionen innovative und hochgradig produktive Unternehmen gefördert werden und dabei auch private Inves-titionen mobilisiert werden sollen. So-zioökonomisch reichere Bundesländer sprechen sich für die Wettbewerbs-regionen aus, da dieser Ansatz auch Maßnahmen zur Nutzung von Infor-mations- und Kommunikationstechno-logien (IKT) und der Verstärkung von Forschung und technologischer Ent-wicklung beinhaltet. Die Förderung

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 75

Mehrwert Europa

im Rahmen der Wettbewerbsregionen ermöglicht es den Bundesländern, ihren jeweiligen Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort international attraktiv auszugestalten und Investiti-onen und Fachkräfte anzuziehen.

Andererseits gab es auf Bun-desländerebene vor allem der sozioökonomisch schwächeren sowie fraktionsübergreifend im Europäischen Parlament Befürworter für die zusätzliche Einführung so ge-nannter Übergangsregionen. Dabei handelt es sich um ein so genanntes „Sicherheitsnetz“ für Regionen deren BIP 75 bis 90% des Durchschnitts der 27 EU-Mitgliedsstaaten (EU-27) be-trägt: Förderfähig sind somit die neuen Bundesländer und europaweit gesehen durch die Finanzkrise sozioökono-misch schlechter aufgestellte Regionen auch in Frankreich, Spanien und Itali-en. Dieser Finanztitel soll mit 40 Mrd. Euro ausgewiesen werden, was zirka 10% der für die EU-Kohäsionspolitik veranschlagten Gelder bedeutet (Eu-ropäische Kommission 2011). Zur Be-rechnung für diese Kategorie werden die regionalen BIP-Daten der letzten drei verfügbaren Jahre herangezogen. Für die Einführung dieser kostspieli-gen Förderkategorie steht aus Sicht des Europäischen Parlaments auch die Ar-gumentation, dass Regionen die Aus-wirkungen der Finanzkrise schultern müssen, obwohl sie keinen Einfluss auf fiskalpolitische Entscheidungen des Nationalstaates haben.

Im Rahmen des ordentlichen Ge-setzgebungsverfahrens gab es im ersten Halbjahr 2012 bei den Ab-stimmungen positive Voten im feder-führenden Ausschuss und im Plenum des Europäischen Parlaments. Nach aktuellem Stand wird die Kategorie der Übergangsregionen, mit der ein fairer und transparenter Beitrag zur europaweiten Solidarität der durch die Finanzkrise betroffenen Regionen ge-leistet wird, in die neue Förderkulisse integriert.

In dem veränderten System von För-derregionen sollen mit Hilfe der Förder-instrumente Europäischer Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) und dem Europäischen Sozialfonds (ESF) Wachstumsimpulse gesetzt werden bei gleichzeitigem Umsetzen von Maß-nahmen zum Rückgang der teilweise sehr hohen (Jugend-) Arbeitslosigkeit. Während im EU-27-Durchschnitt die Jugendarbeitslosenquote bei 23% liegt, ergibt sich für Spanien der Wert 53% (August 2012, Deutschland: 8 %, nach Eurostat 138/2012), bei steigen-der Tendenz in den letzten Monaten. Somit sind Investitionen in Bildung und Forschung sowie in die Weiterbil-dung vorgesehen sowie Maßnahmen zur KMU-Förderung z.B. durch unter-nehmensnahe Dienstleistungen und Netzwerkbildung in funktionierenden Wirtschaftsbereichen.

Einen neuen Schwerpunkt bildet die Förderung von energetischer Gebäudesanierung: Voraussichtlich mindestens 20% der Mittel werden für Energieeffizienz und erneuerbare Energien veranschlagt. Zudem ist eine stärkere Fokussierung auf nachhalti-ge Stadtentwicklung vorgesehen. Die Zweckbindung sieht aus Sicht des Eu-ropäischen Parlaments u.a. vor, beste-hende Programme zur Förderung des Kapazitätsaufbaus und Erfahrungs-austauschs zu den integrierten Maß-nahmen für eine nachhaltige Stadtent-wicklung zu nutzen. Mithilfe dieser Förderlinie besteht die Möglichkeit, kleinteilige Projekte im Quartiersma-nagement auch in Metropolstädten mit Klimaschutzzielen und somit den

Europäische Kommission (2011): S. 16

16 |

Simulation der Förderfähigkeit 2014-2020Pro-Kopf-BIP (KKS), Index EU27=100

< 75 (weniger entwickelte Regionen)

75 – 90 (Übergangsregionen)

>= 90 (stärker entwickelte Regionen)

Kanarische Inseln

Guyana

Azoren Madeira

GuadeloupeMartinique

La Réunion

© EuroGeographics Association for the administrative boundaries

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76 Justus-Liebig-Universität Gießen

Pieper

Zielen der Europa 2020-Strategie zu verbinden (Europäische Kommission 2011).

Ein weiterer Vorteil ist, dass eine Sockelförderung für den ESF, also für beschäftigungsfördernde Programme, festgelegt ist. Dies be-deutet für die beantragenden Stellen wie lokalen Beschäftigungsinitiativen und Arbeitsvermittlungsagenturen, dass konsequent Qualifi zierungspro-gramme beantragt werden müssen. In der Vergangenheit sind diese Förder-programme z.B. in den neuen Bundes-ländern nicht komplett ausgeschöpft worden, da sie von den beantragenden Behörden und Instanzen teilweise als zu kompliziert angesehen wurden. Grundsätzlich geht es statt eines pas-siven Anspruchsdenkens der Adressa-ten bei diesen Programmen um For-men der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Mit dieser Sockelförderung wird nun an die Eigeninitiative der lokalen und regionalen Akteure appelliert, um die Schlagkraft von Bildungs- und Ausbil-dungsangeboten, also vor allem die Bekämpfung der Jugendarbeitslosig-keit und die Wiedereingliederung ju-gendlicher Arbeitssuchender im Sinne der Europa 2020-Strategie zu verbes-sern. Die Zielgruppe können Existenz-gründer sein, die über begleitende Coaching-Maßnahmen in Beschäfti-gung gebracht werden (Berliner Se-natsverwaltung 2012).

novum: Grenzüberschreitender ausbau von energienetzen

Eine Begründung für die letztendliche Durchsetzung der Übergangsregionen ist sicherlich die Einführung des neu-

en Finanztitels Connecting Europe Facility (CEF) mit 40 Mrd. Euro von 2014 bis 2020. Im Sinne einer Verbes-serung der Telekommunikation, Ener-gie- und Verkehrsinfrastruktur wird ein verstärkter grenzüberschreitender Ausbau von Energienetzen gefördert. Dies dient zum einen dazu, den EU-Binnenmarkt für Energie bis 2014 zu gewährleisten. Zum anderen wird mit Infrastruktur in hoher Qualität ein Beitrag zu einer energieeffi zienten In-dustriepolitik geleistet, erneut im Sin-ne der Europa 2020-Strategie. Konkret kann die Verbesserung der Energie-effi zienz und der Energieversorgungs-sicherheit durch den Bau und die Modernisierung von grenzübergrei-fenden Transport- und Verteilernetzen für Strom, Erdgas und Erdöl sowie der Infrastruktur für die Speicherung von Erdgas und Erdöl und der Flüssiggas-Infrastruktur geleistet werden.

Für Deutschland ist dieser neue Finanztitel vorteilhaft, da der Staat geographisch zentral gelegen ist und somit an der Schnittstelle von vielen Transeuropäischen Netzen (TEN) in den Bereichen Energie, Verkehr und Informations- und Telekommunikati-onstechnologie liegt. Zu diesen Ver-kehrskorridoren zählt beispielsweise die Binnenwasserstraße von Amster-dam nach Berlin – über Enschede, den Dortmund-Ems-Kanal, den Mit-

tellandkanal, Hannover und Magde-burg.

Trotz aktueller Bedenken hinsicht-lich eines gegebenenfalls zu zentra-listischen Verfahrens der Projektver-gabe, das über Brüssel abgewickelt werden soll, und einer möglichen Vor-abfestlegung von Trassen kann über die Verdichtung eines Politikfelds wie der Energiepolitik eine sukzessive Vergemeinschaftung entstehen: Das Politikfeld Energiepolitik war bis zum Vertrag von Lissabon nationalstaat-lich ausgerichtet und ist erst seit 2009 auf europäischer Ebene verankert. Ein kooperatives Vorgehen kann die Ak-teure motivieren, den europäischen Mehrwert zu erkennen und somit den vormals hochgehaltenen Souveräni-tätsgedanken aufzugeben zugunsten eines gemeinsamen, also vergemein-schafteten Vorgehens.

Ein Vorläufer für strategische In-vestitionen könnten die im Rahmen des Wachstumspakts angedachten EU-Projektbonds in Höhe von 4,5 Mrd. Euro für grenzüberschreitende Infrastruktur darstellen. In der Pilot-phase, von der Europäischen Kommis-sion Ende Juli 2012 mit einer Laufzeit bis Ende 2013 genehmigt, wird die Europäische Investitionsbank (EIB) als zusätzliches Finanzinstrument zur Mobilisierung von Investitionen eingesetzt. Somit kommt es bei EU-

14 |

ARCHITEKTUR DER KOHÄSIONSPOLITIK

2007-2013 2014-2020

Ziele Zielvorgaben Regionen-kategorie

Fonds

Konvergenz EFREESF

Investieren in Wachstum und Beschäftigung

Weniger entwickelte Regionen

EFREESF

Konvergenz Phasing-out

Übergangs-regionen

Regionale Wettbewerbsfähigkeit und BeschäftigungPhasing-in

Kohäsionsfonds Kohäsionsfonds

Regionale Wettbe-werbsfähigkeit und Beschäftigung

EFREESF

Stärker entwickelte Regionen

EFREESF

Europäische territoriale Zusammenarbeit

EFRE Europäische territoriale Zusammenarbeit

EFRE

Tabellen und Schaubilder

BUDGET FÜR DIE KOHÄSIONSPOLITIK NACH 2013 (PREISE VON 2011)

Kohäsionsfonds *68,7 Mrd. EUR

Stärker entwickelte Regionen53,1 Mrd. EUR

Zusammenarbeit11,7 Mrd. EUR

Zusätzliche Zuweisung für Regionen in äußerster Randlage

und nördliche Regionen0,9 Mrd. EUR

Connecting Europe Facility für Verkehr, Energie und IKT

40 Mrd. EUR

Weniger entwickelte Regionen162,6 Mrd. EUR

Übergangsregionen39,0 Mrd. EUR

INSGESAMT 336 Mrd. EUR

Connecting Europe Facility für Verkehr, Energie und IKT 40 Mrd. EUR

INSGESAMT 376 Mrd. EUR

* Der Kohäsionsfond wird zweckgebunden 10 Milliarden EUR für die neue Connecting Europe Facility bereitstellen.

Budget für die Kohäsionspolitik nach 2013, aus: Kommission (2011): Kohäsionspolitik 2014-2020. Investie-ren in Wachstum und Beschäftigung, S. 14

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 77

Mehrwert Europa

der grundsätzlich kleinteilige Ansatz der Förderprogramme, bei dem lokale und regionale Gebietskörperschaften in Querschnittspolitiken wie Umwelt-schutz, Kultur und Bildung zusammen-arbeiten. Denkbar ist beim Austausch von Best Practise-Ansätzen, dass das deutsche Erfolgsmodell dualer Ausbil-dungssysteme in anderen EU-Staaten erprobt wird.

europa in der welt

Einige transnationale Programme agieren an der Schnittstelle zu Staaten der Europäischen Nachbarschaftspoli-tik wie der Ukraine sowie mit Beitritts-kandidaten wie Kroatien und Serbien. Somit wird bei Themen wie Energie-

netze und Umwelt-schutz

Projektbonds zu einer Flexibilität hinsichtlich öffentlicher und privater Kofi nanzierungsinstrumente: Auf na-tionaler Budgetbasis nicht realisierba-re Großprojekte können auf europäi-scher Ebene durchgeführt werden.

fokus auf territorialen Zusammenhalt seit dem Vertrag von lissabon

Bis zum Vertrag von Lissabon galten der wirtschaftliche und soziale Zu-sammenhalt als die Hauptachsen der EU-Kohäsionspolitik. Seit dem Vertrag von Lissabon wird diese aktive Rolle beim Abbau von Ungleichgewichten und Entwicklungsdefi ziten um die ter-ritoriale Dimension ergänzt. Nach der Aufwertung der territorialen Zu-sammenarbeit

Ähnlich ist die Rolle der Gelder in Höhe von zirka 16 Mrd. Euro, die im Rahmen der Europäischen Nach-barschaftspolitik (ENI-Programm) eingesetzt werden. Dabei geht es um Hilfsprogramme zur wirtschaftlichen und politischen Annäherung an die EU bei gleichzeitigem Unterstrei-chen der demokratischen Werte und „knallharter“ kompromissloser Um-setzung von Sanktionsmaßnahmen (Wirtschaft, Visa-Einschränkungen), falls notwendig. Mitgedacht werden muss bei diesem Finanztitel der neue institutionelle Unterbau für die Koor-dination der EU-Außenpolitik: Der Eu-ropäische Auswärtige Dienst (EAD) mit Sitz in Brüssel ist seit Anfang 2011 arbeitsfähig und setzt als Arbeitsstab der Hohen Vertreterin der Europäi-schen Union die externen Politikbe-reiche der EU wie humanitäre Hilfe,

Gemeinsame Außen- und Sicher-heitspolitik und den Einsatz von EU-Sonderbeauftragten um.

aufbrechen von traditionen bei der Gemeinsamen agrarpolitik (GaP)?

Die GAP stellt mit 366 Mrd. Euro (42%) in der aktuellen Finanzperio-de den größten Ausgabenbereich dar. Das Politikfeld ist in zwei Säulen auf-geteilt: Während bei der ersten Säule, die 80% der Förderungen ausmacht, gegenwärtig Subventionen in Form von Direktzahlungen und marktbe-zogenen Ausgaben gewährt werden, fallen unter die zweite Säule (20%) Förderprogramme im Rahmen des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER).

Bei der GAP zeichnet sich eine Re-form dahingehend ab, dass statt einer reinen Subventionspolitik Zuschüsse im Bereich der ersten Säule nur bei Eigeninitiative der Benefi zienten und mit Umweltaufl agen gekoppelt ge-währt werden. Zudem kommt es zu

werden die drei bisherigen Förderlini-en verstetigt mit einem fortge-führten Schwerpunkt zugunsten der grenz-überschreitenden Kooperation (73%). Neben der interregionalen themenori-entierten Kooperation zwischen Regio-nen (6%), wird die transnationale, also großfl ächige Kooperation (21%) wie beispielsweise im Ostseeraum fortge-setzt (Europäische Kommission 2011). Um die Durchführung der Programme zu verbessern und entsprechend Ver-waltungshemmnisse zu reduzieren, setzt man auf einen weiteren Ausbau des so genannten Europäischen Ver-bunds für Territoriale Zusammenar-beit (EVTZ). Das heißt, dass zukünftig auch Nicht-EU-Staaten wie z.B. Norwe-gen im Rahmen der Ostseekooperation an diesem prozeduralen Rechtsinst-rument teilnehmen können. Positiv ist

eine Solidarität über die Grenzen der EU hinweg gezeigt. Dabei wird die transnationale Kooperation der Do-nauanrainer auch im Rahmen des Instruments für Heranführungs-hilfe (IPA, zukünftig mit rund 12,5 Mrd. Euro) fi nanziert. Gleichzeitig leisten diese Programme einen Bei-trag zur nachhaltigen Umsetzung von gutnachbarschaftlichen Bezie-hungen auf dem Westbalkan und der konsequenten Förderung von gutem Regierungshandeln. Dies beinhaltet die Unterstützung von effektiven Ver-waltungsstrukturen, von guten Rah-menbedingungen für ausländische Di-rektinvestitionen sowie den Rückgang der politischen und wirtschaftlichen Korruption z.B. durch eine Kooperati-on im Grenzschutz und die Bekämp-fung von Schmuggelaktivitäten.

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78 Justus-Liebig-Universität Gießen

Pieper

einer Aufwertung der zweiten Säule, also den Programmen zur ländlichen Entwicklung mit 90 Mrd. Euro (gut 30%) (European Commission 2012). Der ländliche Raum umfasst 80% der EU-27. Daher wurden die „Ökologisie-rung“ der Direktzahlungen und vor al-lem die Aufwertung der zweiten Säule, also u.a. Maßnahmen zur Erhaltung der räumlichen Ausgewogenheit und Klimamaßnahmen schon seit länge-rem gefordert. Die Neuausrichtung scheiterte jedoch stets an der Veto - position und dem „Juste-retour-Denken“ Frankreichs: Die Franzosen möchten ihre an die EU abzuführen-den Beträge durch finanzielle Rück-flüsse über die GAP kompensieren.

Während die französische Regie-rung diese Forderung grundsätzlich bestätigt, scheint eine neue Priorisie-rung von Zukunftsaufgaben denkbar zugunsten der umwelt- und beschäf-tigungspolitischen Wirksamkeit der GAP. Auch das Europäische Parla-ment, das seit dem Vertrag von Lissa-

nationale Denken und Handeln z.B. dadurch gestärkt, dass sie sich für Kooperationsformate wie den Ostsee-raum eingesetzt haben.

Auch durch interregionale Regionen-büros in Brüssel, beispielsweise von Hessen, Emilia-Romagna, Aquitaine und Wielkopolska, kommt es zu einer Bündelung der Interessen und gemein-samen Durchsetzung gegenüber u.a. der EU-Kommission und dem Europä-ischen Parlament. Im günstigsten Fall wird dabei ein politisches Nischenthe-ma gefunden und inhaltlich durch regi-onale Expertise untermauert. Dies war bei den norddeutschen Bundesländern bei der Integrierten Meerespolitik der Fall. In diesem Fall arbeitet die Europä-ische Kommission die Reaktionen der Bundesländer aus Legitimationsgrün-den mit in ihre Ausarbeitungen ein.

Denkbar sind auch Allianzen zum geplanten Rahmenprogramm für Forschung und Innovation „Horizont 2020“ (in Höhe von 80 Mrd. Euro), mit dem das Kernziel der Europa 2020-Strategie unterstrichen wird, dass die EU-Mitgliedstaaten mindes-tens 3% des BIP für Forschung und Entwicklung aufwenden sollen (Euro-päische Kommission 2010).

Bei den umfassenden Finanzmit-teln, die im Sinne der „geteilten Mit-telverwaltung“ überwiegend dezentral umgesetzt werden, ist ein verantwor-tungsvoller Umgang mit den Finanz-mitteln durch effektiv arbeitende Verwaltungsstrukturen auch auf der regionalen Ebene zwingend notwen-dig. Dazu werden möglichst zum 1. Ja-nuar 2014 Partnerschaftsvereinba-rungen zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten geschlossen. Die Verantwortung für die Investitions-schwerpunkte der EU-Förderprogram-me liegt in Deutschland nicht prioritär bei der nationalen Regierung, sondern als Spezifikum eines Föderalstaates bei den Bundesländern (Senatsver-waltung Berlin 2012). Aus diesem

bon als gleichberechtigter Partner mit dem Rat über die GAP entscheidet, hebt die große Bedeutung der zweiten Säule hervor.

Es zeigt sich, dass in der anhalten-den Finanzkrise ein europaweites Umdenken möglich ist, bei dem auch traditionelle, ausgabenträchtige Titel einer Revision hin zu mehr Ressour-ceneffizienz unterzogen werden.

regionen haben etwas zu sagen: Verbindungsbüros und Partnerschaftsvereinbarungen

Im Vorfeld der Festlegung der Aus-gabenschwerpunkte gab es eine von der Europäischen Kommission orga-nisierte öffentliche Konsultation. Dort wurde offen unter aktiver Beteiligung von deutschen Vertretern aus Bundes-ländern und EP-Abgeordneten über Konzeptionen und Vorschläge auch zur EU-Kohäsionspolitik diskutiert. Zudem haben deutsche Vertreter im Ausschuss der Regionen das trans-

Die autOrin

karin Pieper, Jahrgang 1970, Studium der „Europäischen Studi-en“ in Osnabrück und Amsterdam. Promotion 2004 an der Uni-versität Osnabrück als Stipendiatin eines DFG-Graduiertenkollegs zum Thema „Regionalpolitik in Ungarn und Polen. Zwei Staaten im EU-Beitrittsprozess“. Von 2005 bis 2008 Wissenschaftliche Mit-arbeiterin am Arbeitsbereich Politik, Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin; 2009 Angestellte an der Arbeitsstelle für Inter-nationale Beziehungen und transatlantische Beziehungen am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin sowie von 2009 bis 2010 Dozentin und Koordinatorin des Jean Monnet Centre of Excellence „The EU and its Citizens“ an der Arbeitsstelle für Europäische In-

tegration, Freie Universität Berlin. Von 2010 bis 2012 Vertretung der Professur für „Internationale Integra-tion mit besonderem Bezug auf das Östliche Europa“ am Institut für Politikwis-senschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen.

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012 79

Mehrwert Europa

für die Kohäsionspolitik abgestimmt werden.

Vor dem Hintergrund der Herausfor-derungen, die sich für alle 27 EU-Staa-ten aus der lang anhaltenden Finanz- und Wirtschaftskrise ergeben, sowie der Durchführungsbestimmungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes wird das Einnahmesystem verhandelt. Da Deutschland als unverändert größ-ter Nettozahler 20% zum EU-Finanz-rahmen beiträgt, hat es, wie zuvor aufgezeigt, ein besonderes Interesse an einer sinnvollen Begrenzung der Gesamtausgaben.

Um die Entscheidung über den Mehrjährigen Finanzrahmen zu ver-einfachen, hat die Europäische Kom-mission als „Bonbon“ für die Netto-zahler den Vorschlag vorgelegt , dass

schrieben. Die Kohäsionspolitik als ausgewiesene Querschnittspolitik ver-schreibt sich etlicher dieser bereichs-übergreifenden Grundsätze.

einnahmen

Mit Stand Herbst 2012 ist zu sagen, dass alle inhaltlichen Vorarbeiten und Quotierungen sowie mögliche geographische Geltungsbereiche auf einem noch nicht verabschiedeten EU-Finanzrahmen beruhen. Der Verhand-lungsmarathon, bei dem es hauptsäch-lich darum geht, was die einzelnen EU-Mitgliedstaaten beitragen und he-rausbekommen, wird sich erfahrungs-gemäß noch bis in die erste Hälfte 2013 hinziehen. Erst dann kann über die inhaltlichen Verordnungsvorschläge

Grund ist eine gute so genannte „Eu-ropafähigkeit“ auch der regionalen und lokalen Verwaltungsbehörden notwendig. Entsprechend qualifizierte Akteure können qualitativ hochwertige EU-Förderprogramme im Sinne einer Mehrebenen-Governance planen und durchführen. Das Europäische Parla-ment vertritt demzufolge den Stand-punkt, dass europaweit regionale und lokale Behörden in allen Planungspha-sen in den politischen Prozess einbezo-gen werden sollen.

Zur „geteilten Mittelverantwortung“ gehört auch, dass Verwaltungsbehör-den bereits bei der Planung detailliert angeben müssen, welche Ziele mit dem jeweiligen Förderprogramm erreicht werden sollen. Diese vorab festgeleg-ten Zielmarken werden abschließend von unabhängigen Behörden geprüft. Wenn eine Förderregion z.B. EFRE-Unterstützung für Informations- und Kommunikationstechnologie erhält, muss abschließend die Anzahl der Personen, die Breitbandzugang mit mindestens 30 MBit/s haben, trans-parent gemacht werden. Ähnliches gilt z.B. für die Stadtentwicklung: Hier muss die Personenzahl mitgeteilt wer-den, die in Gebieten mit integrierten Stadtentwicklungsstrategien lebt.

Die Ausgestaltung und Umsetzung der Kohäsionspolitik geschieht nicht zuletzt mit Blick auf die ebenfalls neu im Vertrag von Lissabon aufgenomme-nen Querschnittsklauseln (Art.  9 ff. AEUV) und Aspekte der Grund-rechtecharta: So sind die nachhalti-ge Entwicklung, der Umweltschutz, soziale Aspekte, Gleichstellung von Mann und Frau sowie das Recht auf ordnungsgemäße Verwaltung festge-

Förderung von Erneuerbaren Energien/Windradentwicklung, The National Renewable Energy Centre (NAREC), Blyth, UKFoto: Henning Finck

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80 Justus-Liebig-Universität Gießen

Pieper

In welchem Rahmen soll eine euro-paweite Solidarität greifen? Deutlich wurde, dass es bei der Ausgestaltung des EU-Finanzrahmens nicht um eine Transferunion geht, also nicht um das Schaffen von starren Abhängigkeits-verhältnissen; vielmehr geht es bei der Umsetzung der EU-Ziele Wachstum und Beschäftigung um die diverse Un-terstützung von Eigeninitiativen und Innovationsstrategien vor allem auf re-gionaler Ebene. Bei den Querschnitts-politiken steht somit die Förderung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit unter Berücksichtigung von Aspekten der wirtschaftspolitischen Steuerung im Vordergrund. Dabei werden struk-turelle Differenzen, also spezifische wirtschaftliche und soziale Problem-lagen sowie territoriale Besonderhei-ten berücksichtigt: Im ordentlichen Mitent scheidungsverfahren hat sich das Europäische Parlament nachhaltig für die neue Förderkategorie der Über-gangsregionen eingesetzt.

Spätestens im ersten Halbjahr 2013 müssen die Mitgliedstaaten unter iri-scher Ratspräsidentschaft eine Eini-gung über die Finanztitel finden. Diese einstimmige Verabschiedung des MFR ermöglicht in der EU-Kohäsionspolitik den unterzeichnenden nationalen und vor allem regionalen Behörden der Partnerschaftsvereinbarungen die konkrete Ausgestaltung der jeweiligen strategischen Investitionsschwerpunk-te für die folgenden sieben Jahre auf der Grundlage von belastbaren Zahlen. Gerade bei sektoralen und territorialen Querschnittspolitiken wie der Kohäsi-onspolitik, der Gemeinsamen Agrar-politik, aber auch der Energiepolitik ist es bei einem koordinierten Planungs-prozess wichtig, dass die beteiligten Akteure den europäischen Mehrwert herausstellen und vermitteln. Nur dann kann das Grundanliegen der Finanzie-rung durch die EU begründet werden, nämlich durch die Verwirklichung von gemeinsam vereinbarten EU-Zielen ei-nen Beitrag zur Verbesserung der Le-

der EU-Haushalt, gemessen an sei-nem Anteil am Bruttonationaleinkom-men (BNE) der EU-Staaten nach 2014 durchschnittlich nur noch 1,08 % be-tragen soll (2013: 1,12 %) (European Commission 2012). Zum Vergleich: Diese von den Mitgliedstaaten abzu-führenden Beträge sind nur ein Fünf-zigstel von dem, was einzelne EU-Mit-gliedstaaten ausgeben.

Zudem schlägt die Europäische Kommission vor, die Beiträge der Mit-gliedsländer u.a. durch eine neu ein-zuführende Finanztransaktionsteuer zu verringern. Nach Berechnungen des für Haushaltsfragen zuständigen polnischen EU-Kommissars Janusz Lewandowski werden mit Hilfe der Fi-nanztransaktionssteuer Mehreinnah-men von jährlich 54 Mrd. Euro für den EU-Haushalt projektiert.

In der aktuellen Förderperiode hat-ten einige Staaten Probleme mit der notwendigen Kofinanzierung von EU-Förderprogrammen: Während die Ko-finanzierungsquoten je nach Förder-region zwischen 50 und 85% liegen, konnte z.B. Griechenland nicht alle Gelder der Kohäsionspolitik abrufen. Um einer zukünftigen Überlastung der nationalen Haushalte vorzubeu-gen, wird die maximale Obergrenze pro Staat von derzeit 3,79 % auf vor-aussichtlich 2,5 % des BNE herabge-setzt. Insgesamt werden durch diesen Mechanismus die Nettozahler der EU entlastet und der Rahmen der Gesamt-finanzen wird begrenzt.

solidargemeinschaft der eu-27: ja; transfergemeinschaft: nein

Bei der Neuordnung der EU-Finanzen und der damit verbundenen Investi-tionsprioritäten geht es um globale He-rausforderungen und das Besetzen von neuen Themen, die wie beispielsweise die Energiepolitik seit dem Vertrag von Lissabon auf der EU-Agenda stehen. Gleichzeitig geht es um die politische Gewichtung von Ausgabenbereichen:

bensqualitäten der Bürgerinnen und Bürger zu leisten. •

Ǻ literatur

Berliner Senatsverwaltung für Wirt-schaft, Technologie und Forschung (2012): Berlin 2020. Strategischer Rahmen für EFRE und ESF 2014 bis 2020 in Berlin. 05.06.2012

Europäische Kommission (2010): Mitteilung der Kommission: Europa 2020 – Eine Strategie für intelligen-tes, nachhaltiges und integratives Wachstum, KOM(2010) 2020 endg. 03.03.2010. Brüssel.

Europäische Kommission (2011): Ko-häsionspolitik 2014-2020. Investie-ren in Wachstum und Beschäftigung. Generaldirektion Regionalpolitik. Luxemburg.

European Commission (2012): Amen-ded proposal for a Council Regulation laying down the multiannual financial framework for the years 2014-2020. COM(2012) 388 final; 2011/0177 (APP), 06.07.2012. Brüssel.

Experteninterviews: geführt in den EU-Institutionen Europäisches Par-lament, Europäische Kommission, Ausschuss der Regionen und in der Ständigen Vertretung der Bundesre-publik Deutschland bei der Europä-ischen Union sowie in Vertretungen von Bundesländern bei der Europä-ischen Union; Oktober 2011, März und September 2012, Brüssel

Zu den Antragsberatungen im Euro-päischen Parlament; vgl. Ausschuss-unterlagen der Ständigen Ausschüs-se: http://www.europarl.europa.eu/committees/de/parliamentary-com-mittees.html

kOntakt

Dr. karin Pieper Justus-Liebig-Universität Institut für Politikwissenschaft 35394 Gießen Telefon: 0641/99-23110 [email protected]

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musiktheaterGroßes HausDER FREISCHÜTZCarl Maria von Weber

Großes HausVIKTORIA UND IHR HUSARPaul Abraham

Großes Haus | Konzertante AufführungOBERTOGiuseppe Verdi

Großes HausFOSCAAntônio Carlos Gomes

Großes HausAGRIPPINAGeorg Friedrich Händel

Großes HausKOMMILITONEN! (DE)Peter Maxwell Davies

Großes HausREISE INS GLÜCKmit den SCHMACHTIGALLEN hin und weg

Großes HausCABARET (WA)John Kander und Fred Ebb

TiL-studiobühneI WANNA BE LOVED BY YOUTitus Hoffmann

tanztheaterGroßes HausDORNRÖSCHENTarek Assam

Großes HausHEMINGWAYS PARTYDavid Williams und Tarek Assam

TiL-studiobühneHYPNOTIC POISON – Dinge, die ich keinem erzählteTarek Assam

TiL-studiobühneSIDDHARTHA Tarek Assam und Mirko Hecktor

TiL-studiobühneHAUSRAT (WA)Tarek Assam

TiL-studiobühneGIFTLot Vekemans

KASPAR HÄUSER MEERFelicia Zeller

MEDEA. STIMMENChrista Wolf

LENZ. FRAGMENTE (UA)Katharina Gericke

NORDOST (WA)Torsten Buchsteiner

AMERIKA (WA)Franz Kafka

ENTEN VARIATIONEN (WA)David Mamet

KÖNIG ÖDIPUS (WA)Bodo Wartke nach Sophokles

DIE WANZE (WA)Paul Shipton

kinder- und jugendtheaterGroßes HausPEER UND GYNTPaul Maar und Christian Schidlowskyfür alle ab 6 Jahren

TiL-studiobühneDER LÖWE, DER NICHTSCHREIBEN KONNTEMartin Baltscheit | für alle ab 5 Jahren

TiL-studiobühneORPHEUSAndreas Mihan und Teresa Rinnfür alle ab 8 Jahren

TiL-studiobühneDIE VERWIRRUNGENDES ZÖGLINGS TÖRLESSRobert Musil | für Jugendliche und Erwachsene

TiL-studiobühneDU, DU & ICH Theo Fransz | für alle ab 10 Jahren

TiL-studiobühneBRUNDIBARHans Krása | für alle ab 10 Jahren

TiL-studiobühneVON EINEM, DER AUSZOG,DAS FÜRCHTEN ZU LERNENSKART Schröppel Karau Art Repetition Technologiesfür alle ab 8 Jahren

TiL-studiobühneSPIEGLEIN, SPIEGLEIN... (WA)Magrit Bischof und Werner Bodinekfür alle ab 4 Jahren

TiL-studiobühneCLYDE UND BONNIE (WA)Holger Schober | für Jugendliche und Erwachsene

TiL-studiobühneAMOR & PSYCHEMit dem Jugendclub-Tanz

schauspielGroßes HausOTHELLOWilliam Shakespeare

Großes HausIHRE VERSION DES SPIELSYasmina Reza

Großes HausDIE VERFOLGUNG UND ERMORDUNG JEAN PAUL MARATS...Peter Weiss

Großes HausKINDER DER SONNEMaxim Gorki

Großes HausEISENSTEINChristoph Nußbaumeder

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