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Werkausgabe Nelly Sachs: Die Worte für die Wunden | Frankfurter Rundschau Zahlen sprechen oft für sich. Auch diese: 1933 lebten 160.000 Juden in Berlin. Von ihnen wurden 55.000 ermordet, 7.000 nahmen sich das Leben, 90.000 emigrierten und 8.000 überlebten die NS- Vernichtungspolitik. Zu denen, die 1940 in letzter Minute flohen, gehörten die damals 48-jährige Nelly Sachs und ihre 68- jährige Mutter. Selma Lagerlöf, der Nelly Sachs Gedichte und Erzählungen von sich geschickt hatte, hatte sich für eine Aufnahme der beiden Frauen in Schweden eingesetzt. Behütet war Nelly Sachs im großbürgerlichen Ambiente einer assimilierten jüdischen Familie im wilhelminischen Berlin aufgewachsen. Zur Idylle ihrer Kindheit gehörten ein Reh im Garten der Villa und eine Edelsteinsammlung mit einem Amethysten, wie "ein Veilchenbeet so dicht gefüllt". Als der Vater, erfolgreicher Fabrikant und Erfinder, liberal und musisch begabt, 1930 starb, fühlte sich Nelly Sachs fortan für die kränkelnde Mutter verantwortlich. Eine Zwangsvermögensabgabe, die Plünderung der Wohnung durch SA- und SS-Leute, schließlich die "Entjudung" des Grundstücks entzogen den Frauen nach und nach die Existenzgrundlage. Die Zahlung einer "Reichsfluchtsteuer" führte zur völligen Verarmung. Nelly Sachs hatte bereits den Einberufungsbefehl zum Arbeitsdienst erhalten, als sie die rettende Einreisegenehmigung für Schweden bekam. Schreiben in der "Kajüte" Mittellos trafen Mutter und Tochter im Mai 1940 in Stockholm ein. Nach einer jahrelangen Existenz in provisorischen Unterkünften bezogen die beiden Frauen 1948 ein Einzimmer- Appartement, in dem sie fortan wohnten. Nelly Sachs lernte Schwedisch, übersetzte schwedische Lyriker und schrieb nachts in der kleinen, von ihr "Kajüte" genannten Küchenecke eigene Gedichte. Sie schrieb sie, "wie die Nacht sie mir gereicht hat", nämlich meist im Dunkeln, um die Mutter nicht zu wecken. Schreiben bedeutete für sie Überleben. Mit 17 hatte sie die Liebe zu einem Mann erfasst, dessen Namen sie nie nannte, der 1943 ermordet wurde und als "toter Bräutigam" ihr Werk durchzieht. In ihm sah Nelly Sachs die "eigentliche Quelle ihres späteren Schaffens", wie sie später erzählte.

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Werkausgabe Nelly Sachs: Die Worte für die Wunden | Frankfurter Rundschau

Zahlen sprechen oft für sich. Auch diese: 1933 lebten 160.000 Juden in Berlin. Von ihnen wurden 55.000 ermordet, 7.000 nahmen sich das Leben, 90.000 emigrierten und 8.000 überlebten die NS-Vernichtungspolitik. Zu denen, die 1940 in letzter Minute flohen, gehörten die damals 48-jährige Nelly Sachs und ihre 68-jährige Mutter. Selma Lagerlöf, der Nelly Sachs Gedichte und Erzählungen von sich geschickt hatte, hatte sich für eine Aufnahme der beiden Frauen in Schweden eingesetzt.

Behütet war Nelly Sachs im großbürgerlichen Ambiente einer assimilierten jüdischen Familie im wilhelminischen Berlin aufgewachsen. Zur Idylle ihrer Kindheit gehörten ein Reh im Garten der Villa und eine Edelsteinsammlung mit einem Amethysten, wie "ein Veilchenbeet so dicht gefüllt". Als der Vater, erfolgreicher Fabrikant und Erfinder, liberal und musisch begabt, 1930 starb, fühlte sich Nelly Sachs fortan für die kränkelnde Mutter verantwortlich.

Eine Zwangsvermögensabgabe, die Plünderung der Wohnung durch SA- und SS-Leute, schließlich die "Entjudung" des Grundstücks entzogen den Frauen nach und nach die Existenzgrundlage. Die Zahlung einer "Reichsfluchtsteuer" führte zur völligen Verarmung. Nelly Sachs hatte bereits den Einberufungsbefehl zum Arbeitsdienst erhalten, als sie die rettende Einreisegenehmigung für Schweden bekam.

Schreiben in der "Kajüte"

Mittellos trafen Mutter und Tochter im Mai 1940 in Stockholm ein. Nach einer jahrelangen Existenz in provisorischen Unterkünften bezogen die beiden Frauen 1948 ein Einzimmer-Appartement, in dem sie fortan wohnten. Nelly Sachs lernte Schwedisch, übersetzte schwedische Lyriker und schrieb nachts in der kleinen, von ihr "Kajüte" genannten Küchenecke eigene Gedichte. Sie schrieb sie, "wie die Nacht sie mir gereicht hat", nämlich meist im Dunkeln, um die Mutter nicht zu wecken. Schreiben bedeutete für sie Überleben. Mit 17 hatte sie die Liebe zu einem Mann erfasst, dessen Namen sie nie nannte, der 1943 ermordet wurde und als "toter Bräutigam" ihr Werk durchzieht. In ihm sah Nelly Sachs die "eigentliche Quelle ihres späteren Schaffens", wie sie später erzählte.

Aber sie sah sich auch als die Bewahrerin der Erinnerung an die Verbrechen der Shoa. Es muss doch, schrieb sie 1946, "eine Stimme erklingen", einer müsse "die blutigen Fußspuren Israels aus dem Sande sammeln und sie der Menschheit aufweisen". Als Mittel zur Bewältigung dieser Aufgabe diente ihr die Sprache. Doch ihre Sprache war eine durch die NS-Lügenpropaganda missbrauchte Sprache.

Vor der Folie tödlichen Schweigens musste sie neue kühne Wege gehen. Wäre sie Maler, heißt es in ihren "Briefen aus der Nacht", würde sie "das Steinerne des Steines malen", "das Wesen des Leidens in einem Fischauge zwischen Leben und Tod". "Hingabe ist der neue Pinsel", meinte sie - Hingabe, um "die Wunde lesbar zu machen".

Dass sie das zu einer singulären Dichterin machte, zeigen nun die ersten beiden Bände einer Werkausgabe. Sie versammeln alle seit 1940 in Schweden entstandenen Gedichte und Gedichtzyklen in chronologischer Reihenfolge. Unter den von Ariane Huml und Matthias Weichelt kenntnisreich kommentierten Dichtungen sind viele bislang unpublizierte von großer Schönheit.

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Hauptherausgeber aller vier Bände - Band III mit den szenischen Dichtungen und Band IV mit Prosa und Übertragungen sind in Vorbereitung - ist der aus Göteborg stammende Autor Aris Fioretos. Er ist auch Kurator der großen Wanderausstellung, die anlässlich des 40. Todestags der Dichterin gestern Abend im Jüdischen Museum Berlin eröffnet wurde. In einer begleitenden Bildbiographie schildert Fioretos Leben und Werk der Dichterin. Das Buch basiert auf umfassenden Archiv-Recherchen sowie Gesprächen mit Freunden. Zusammen mit einer Bibliographie stellt es eine vorzügliche Ergänzung zu den beiden Gedichtbänden dar.

Von ihnen enthält der erste außer Zeittafel, Register und Nachwort auch ein Verzeichnis von Nelly Sachs´ zwischen 1921 und 1939 in Deutschland veröffentlichten Dichtungen. Nur ein Verzeichnis, denn der noch ganz der Romantik verhaftete Ton jener Texte bewog die Dichterin, keine Neupublikation zuzulassen. Als die 75-Jährige 1966 als erste deutschsprachige Dichterin den Nobelpreis für Literatur erhielt, geschah das in Anerkennung ihres Werks, das mit "ergreifender Kraft" vom Schicksal der Opfer erzählt. Ihr gelang das Schwierigste: die Verwandlung des Grauenhaften und des Leidens in Poesie.

Die lähmende Erfahrung einer Hausdurchsuchung durch die Gestapo kommt in einem Gedicht aus dem Zyklus "Sternverdunkelung" von 1949 in äußerster Verknappung zum Ausdruck: "Schritte der Henker/über Schritten der Opfer,/Sekundenzeiger im Gang der Erde,/Von welchem Schwarzmond schrecklich gezogen?" Die chronologische Lektüre der Gedichte zeigt, wie ihr anfänglich diskursiver Charakter allmählich von einer vieldeutigeren, rätselhaften Sprache abgelöst wird. In einem der späten Gedichte heißt es: "Im Krankensaal/Im Bergkristallfenster/Blutverloren in andere Zeit/Hockt Geist - schaut aber blind/Erde bis zum Hals -".

Copyright © FR-online.de 2010Dokument erstellt am 24.03.2010 um 15:08:04 Uhr