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Universität Salzburg Fachbereich Politikwissenschaften und Soziologie Abteilung Soziologie und Kulturwissenschaften PS Wissenschaftliches Schreiben LV-Nr.: 122.113 WS 2016/17 LV-Leiter: Mag. Dominik Gruber Proseminararbeit Tiere als Akteure in der Soziologie - von der Tiervergessenheit zum Humanimalismus? vorgelegt von

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Universität Salzburg

Fachbereich Politikwissenschaften und Soziologie

Abteilung Soziologie und Kulturwissenschaften

PS Wissenschaftliches Schreiben

LV-Nr.: 122.113

WS 2016/17

LV-Leiter: Mag. Dominik Gruber

Proseminararbeit

Tiere als Akteure in der Soziologie- von der Tiervergessenheit zum Humanimalismus?

vorgelegt von

Sabine Duscher

Matrikelnummer: 0621480

sabine. [email protected]

abgegeben am 28. Februar 2017

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 3

2. Das Selbstbild der Soziologie – und warum Tiere darin keinen Platz haben 42.1 Die Soziologie als Humanwissenschaft 4

2.2 Die Soziologie untersucht „moderne Gesellschaften“ 7

3 Handelnde Tiere 83.1 Voraussetzungen 8

3.2 Menschen und Tiere treten in Beziehung 10

4. Fazit 12

Literaturverzeichnis 13

Eigene Anmerkungen zur Arbeit 16

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1. Einleitung

Ganz egal, ob man Tiere mag oder von sich behauptet, sie nicht zu mögen, Tiere

spielen in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen eine bedeutende Rolle. Vielen

Menschen ist der Faktor Tier in ihrem alltäglichen Leben auch bewusst, anderen

dagegen eher weniger. Vor allem beim Thema Fleischkonsum haben moderne

Gesellschaften vielschichtige Verdrängungsmechanismen und Routinen entwickelt,

um das Konsumgut Tierprodukt vom Lebewesen Tier zu trennen (Joy 2014, S. 19-

23).

Tiere dienen also als Nahrung, man stellt die verschiedensten Produkte aus ihnen

her, nutzt sie als Versuchstiere in der wissenschaftlichen und industriellen

Forschung, als Begleiter und Helfer in Arbeitsprozessen, hält sie als Sozialpartner in

der Familie oder erfreut sich am Anblick freilebender Wildtiere - und natürlich haben

sie auch vielfältig Eingang in unsere Symbolsysteme gefunden (vgl. Otterstedt 2012,

S. 17). Doch obwohl sie von großer Bedeutung in ökonomischer, sozioemotionaler

und kultureller Hinsicht sind, war die Beschäftigung mit der Mensch-Tier-Beziehung

in den Gesellschaftswissenschaften und vor allem der Soziologie lange Zeit

geradezu verpönt (Thieme 2015, S. 1). Erst langsam beginnt auch die Soziologie

sich für die Thematik „Tier“ zu öffnen, wobei die Anzahl der Publikationen mit genuin

soziologischem Hintergrund weiterhin hinter dem anderer

gesellschaftswissenschaftlicher Fachbereiche zurücksteht. So zeigt eine Analyse von

Gerbasi et al., dass der Anteil an Dissertationen im Fach Soziologie mit dem

Themenbereich Human-Animal Studies (HAS) in den Jahren 1980 bis 1999 bei

lediglich 4% lag (vgl. Wiedenmann 2015, S. 261). Und während man im

englischsprachigen Raum bereits zahlreiche Studiengänge bzw. Fachbereiche für

HAS findet, muss man sich in der deutschsprachigen Studienlandschaft noch mit

einzelnen Vorlesungen (z.B. Ringvorlesung an der Uni Innsbruck seit WS 2012/13),

im Bestfall Symposien oder Arbeitsgruppen und nur sehr vereinzelt mit

Studienschwerpunkten wie dem interdisziplinären Masterstudiengang Human-Animal

Interactions der VetMed Wien zufrieden geben (Chimaira 2016).

Woran liegt es nun, dass Tiere trotz ihrer deutlichen Präsenz in unserer Gesellschaft

von der Soziologie eher stiefmütterlich behandelt werden und man gar von einer

„humansoziologischen Tiervergessenheit“ (Wiedenmann 2015, S. 257) sprechen

kann?

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Dieser Frage möchte die vorliegende Arbeit zumindest in Ansätzen nachgehen und

einige der zugrundeliegenden Ursachen für die fehlende Auseinandersetzung

ansprechen. Im Speziellen soll die Handlungstheorie nach Max Weber als Beispiel

dafür verwendet werden, dass auch Tieren gegenüber wie einem menschlichen

Akteur sozial gehandelt werden kann – und Tiere wiederum auf Menschen handeln.

2. Das Selbstbild der Soziologie – und warum Tiere darin keinen Platz haben

2.1 Die Soziologie als Humanwissenschaft

Im wörtlichen Sinne ist die Soziologie die Lehre von den Mitmenschen, abgeleitet

vom lateinischen Wort socius (Gefährte) bzw. dem griechischen logos (Lehre von)

(Pries 2016, S. 23). Sie beschäftigt sich mit den sozialen Verflechtungsbeziehungen

zwischen den Menschen, mit ihren Beziehungen zu der sie umgebenden Umwelt und

zu sich selbst (vgl. Pries 2016, S. 30).

Soziologie versteht sich nach Max Weber selbst als die Wissenschaft, „welche

soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen

Wirkungen ursächlich erklären will“ (Weber 1967, zit. nach Pries 2016, S. 32). Nimmt

man einführende Lehrbücher der Soziologie zur Hand, kann man darin lesen, dass

Handeln und soziales Handeln vorrangig oder sogar exklusiv den Menschen

zugeschrieben wird (vgl. Wiedenmann 2015, S. 264).

Soziologie ist ihrem Verständnis nach also eine reine Humanwissenschaft, während

Tiere als reine „Reiz-Reaktions-Maschinen“ gelten (Pries 2016, S. 23).

Gutjahr/Sebastian (2013, S. 59) führen an, dass die Ursache für dieses

„Ausklammern“ der Tiere aus dem Sozialen auch im westlichen Natur-Kultur-

Dualismus zu suchen ist, der Tiere dem „Natürlichen“ und nicht der „Kultur“ zuordnet

und eine klare Trennung zwischen Menschen und Tieren vollzieht. Sie verwenden

nach Dunlap/Catton (1993, zit. nach Gutjahr/Sebastian 2013, S. 59) auch den Begriff

des „Human Exemptionalist Paradigm“ welches angibt, dass sich der Mensch seine

außergewöhnliche Stellung durch die Befreiung von allen Naturzwängen erarbeitet

hätte.

Ebenso zeigen neuere Begrifflichkeiten wie „nicht-menschliche Tiere“ für Metazoa1, 1 Metazoa sind vielzellige Tiere.

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die nicht der Gattung Homo angehören, „Karnismus“ (der Verzehr von bestimmten

Tieren wird als ethisch vertretbar betrachtet) oder „Speziesmus“ (die Diskriminierung

von Individuen aufgrund ihrer Artzugehörigkeit), dass sich aufgrund einer in unserer

westlichen Gesellschaft vorherrschenden Ideologie eine tiefgreifende Trennung

zwischen Tier und Mensch ergab, die bislang wenig hinterfragt wurde (Joy 2014, S.

34) und die auch in die Theorien der Soziologie einfließt.

Menschen erheben sich sinngemäß über die Tiere und die sogenannten

Alleinstellungsmerkmale des Menschen sollen dies begründen: Der aufrechte Gang,

der Werkzeuggebrauch, die Dominanz des Auge-Hand-Feldes, die kognitiven

Fähigkeiten, die Weltoffenheit, die Etablierung von Normen und die Fähigkeit zur

Empathie und zur Reflektion von Erwartungserwartungen usw. (vgl. Pries 2016, S.

61-65).

Die Annahme, dass nur Menschen vorausschauend und mit einem subjektiven Sinn

im Bewusstsein handeln können und Tieren diese Fähigkeiten fehlen, hat sich aber

durch zahlreiche naturwissenschaftliche Arbeiten zumindest als hinterfragenswert

herausgestellt (Pries 2016, S. 61). Bewusstes soziales Handeln und das Antizipieren

der Folgen bestimmter Handlungen gibt es auch bei Tieren und in Tiergruppen, als

Beispiele seien hier die hoch sozialen Rabenvögel oder Wölfe und Hunde genannt

(vgl. Kotrschal, S. 157-161). Ob Tiere sinnhaft, also bewusst mittels subjektivem Sinn

sozial handeln können, möchte ich unter Punkt 3 weiter ausführen.

Wiedenmann bezeichnet die Émile Durkheim zugeordnete Doktrin, „Soziales nur aus

Sozialem zu erklären“ und Tiere als der Natur zugehörig dabei außen vor zu lassen,

als eine Art soziologisches „Reinheitsgebot“ (Wiedenmann 2015, S. 265) und auch

Birgit Mütherich findet deutliche Worte: „(...) so ist eine Überzeugung bis heute

weitgehend Konsens: Dass Soziologie ein Synonym für Humansoziologie darstellt,

dass die Soziologie es mit der menschlichen Gesellschaft, mit dem menschlichen

Handeln, mit menschlichen AkteurInnen, Gruppen und Sozialbeziehungen, mit

menschlichen Ungleichheitsordnungen, Stigmatisierungsprozessen, Wertsystemen

und Deutungsschemata zu tun hat. Eine Soziologie der Mensch-Tier-Beziehungen,

erst recht eine universelle oder Tiersoziologie wäre demnach eine Art

Denkunmöglichkeit oder allenfalls Gegenstand eines anderen Fachs.“ (Mütherich

2015, S. 1).

Als man begann, die Soziologie Ende des 19. Jahrhunderts als eigene Wissenschaft

zu etablieren, war eine genaue Definition des Gegenstandsbereichs natürlich

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notwendig. Es ist naheliegend, dass man Tiere weiterhin eher anderen Disziplinen

überließ und sich auf die Sozialbeziehungen des Menschen - eben zwischen

Menschen - als Kernbereich konzentrierte. Wie bereits erwähnt, sah auch die

Biologie zur damaligen Zeit Tiere nur als Reiz-Reaktions-Maschinen, und der

radikale Behaviorismus, der Tieren echte Emotionen und zum Teil

Schmerzempfinden abspricht, ist ein Konzept aus der ersten Hälfte des 20.

Jahrhunderts, das noch heute nachwirkt. So dauern bspw. die Debatten darüber, ob

Fische und Krebstiere Schmerzen empfinden oder ein Verhalten, das auf Schmerz

hindeutet, quasi nur „mechanisch“ abspulen, noch immer an. Erst kürzlich erkannte

allerdings das Verwaltungsgericht Berlin die Leidensfähigkeit von Hummern an und

fällte am 15. Februar 2017 ein richtungsweisendes Urteil (vgl. Pressemitteilung

Bundestierärztekammer 2017). Denn aus rechtlicher Sicht sind Tiere in Deutschland

schon seit 1990 zwar keine „Sache“ mehr und sie werden sogar durch ein

Tierschutzgesetz eingeschränkt geschützt, sie stehen aber noch immer im Eigentum

einer Person und werden wie eine Sache behandelt: „Tiere sind keine Sachen. Sie

werden durch die besonderen Gesetze geschützt. Auf sie sind die für die Sachen

geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden, soweit nicht etwas anderes

bestimmt ist.“ (§90a BGB Tiere).

Es wäre der Seriosität einer jungen Gesellschaftswissenschaft vermutlich nicht

zuträglich gewesen, hätte sie Tiere als handlungsfähige Akteure mit in ihren

Forschungsbereich aufgenommen, wenn Tiere im Allgemeinen bis heute nicht als

Individuen wahrgenommen wurden.

Zur Abgrenzung gegenüber anderen gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen war

dieser Ausschluss alles Tierlichen in der Soziologie also vermutlich zweckmäßig, was

jedoch nicht bedeutet, dass keine Weiterentwicklung und eine Ausdehnung

soziologischer Theorien auf Tiere als Akteure möglich ist. Betrachtet man einige

Äußerungen bedeutender Soziologen der Gründungszeit, wird darüberhinaus

deutlich, dass sehr wohl auch an Tiere gedacht wurde, wie in den nächsten

Abschnitten erläutert wird.

2.2 Die Soziologie untersucht „moderne Gesellschaften“

Thomas Lemke führt in seinem Essay „Die Natur der Soziologie“ an, dass für Karl

Marx und Herbert Spencer die „Natur“ (und damit die Tiere) und die „Gesellschaft“

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noch weitgehend zusammengehörten (2008, S. 4171). Erst mit Durkheim, Weber

und Simmel soll eine striktere Trennung zwischen Natur- und Sozialwissenschaften

stattgefunden haben, wobei Wiedenmann Max Weber noch ein gewisses

„Unbehagen“ attestiert, wenn es um die Beurteilung der tierischen Sozialität geht.

Weber erkannte wohl, dass „viele Tiere“ (und meinte damit vermutlich am ehesten

Kumpantiere wie den Hund, die Katze oder das Pferd) Emotionen wie Zorn oder

Liebe „verstehen“ und darauf „vielfach nicht ausschließlich mechanisch-instinktiv,

sondern irgendwie auch bewusst sinnhaft und erfahrungsorientiert“ reagieren, doch

unterließ er weitere Spekulationen und die Sache mit den Tieren lieber „völlig

unerörtert“ (Weber 1980, zit. nach Wiedenmann 2015, S. 267, Hervorhebung d.

Verfasser). Wie im vorangegangenen Abschnitt erwähnt, hätte alles andere auch

einen unseriösen Eindruck erwecken können und seine Zurückhaltung ist daher

nachvollziehbar, zumal sein interpretatorischer Ansatz der Analyse sozialer

Interaktionen und Beziehungen ohnehin auf gewisse Widerstände und den Vorwurf

der Unwissenschaftlichkeit traf (Thorpe et al. 2016, S. 14).

Aufgegriffen wurde das Thema auch Mitte der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts von

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die die „modernistisch-industrialistische

Ausgrenzung der Tiere aus der Gesellschaftstheorie“ kritisierten (Wiedenmann 2015,

S. 263).

Ein weiterer Aspekt für die „Immunisierung“ der Soziologie gegenüber der

„Tiersoziologie“, den Wiedenmann anführt, nennt er nach Robert Hettlage die

„‚industriesoziologische Schlagseite’ des soziologischen Gesellschaftsbildes“

(Hettlage 1988, zit. nach Wiedenmann 2015, S. 262). Soziologische Konzepte

beziehen sich fast ausschließlich auf moderne Industriegesellschaften und seien so

angelegt, dass sie von einer Weiterentwicklung und „Überwindung“ traditionaler

Gesellschaften ausgehen. Mit der Abkehr von alten bzw. primitiven Religionen, die

oft noch Totemtiere oder heilige Tiere und die entsprechenden Verhaltensnormen

kennen, geht auch der Respekt vor Tieren als Mitgeschöpf an sich verloren (vgl.

Wiedenmann 2015, S. 262). Während frühere Jäger- und Sammlerkulturen abhängig

von unbeeinflussbaren Umweltfaktoren wie Jahreszeiten, Witterung,

Tierwanderungen etc. waren und in einer animistischen Gesellschaft lebten, in der

man sich spirituell mit den Tieren verbunden sah, eventuell sogar von ihnen

abstammte, widmet man sich in der modernen, aufgeklärten Gesellschaft mehr dem

Diesseits (Kotrschal 2016, S. 154 f.).

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Mit dieser Industrialisierung der Lebenswelt einhergehend verschwinden

selbstverständlich auch Nutztiere immer mehr aus unserer Gesellschaft. Pferde und

Esel werden nicht mehr als Transportmittel genutzt, Nutztiere, die der

Fleischgewinnung dienen, verschwinden in großen Mastanlagen und Milchvieh sieht

man allenfalls noch in der Werbung auf der Alm stehen. Kritisiert wird an dieser

„Soziologie des Industrialismus“, dass sie „nicht nur die Umwelt- und Naturbezüge

gesellschaftlicher Prozesse aus den Augen verloren habe, sondern Tiere auch auf

bloße Objekte im Rahmen humansozialer Funktionsbezüge reduziert“ hat – und

damit zu ökonomischen Ressourcen (Wiedenmann 2015, S. 262ff.).

Dieses Schicksal trifft aber nicht nur Tiere, sondern wie erwähnt generell „die Natur“

um uns herum und auch uns Menschen selbst. Die „innere Natur des Körpers“ und

die äußerlichen Umweltfaktoren werden zwar durch die Soziologie als soziale

Konstruktionen und kulturelle Schemata erklärt, aber nach Lemke nicht als etwas

begriffen, das im Austausch mit der Gesellschaft steht und diese mitunter formt (vgl.

Lemke 2008, S. 4173). Er fordert eine Abkehr vom nicht mehr zeitgemäßen

„anthropozentrischen Paradigma“ und die „Entwicklung eines postessentialistischen

Naturbegriffs“, um mit den Erklärungsmodellen der evolutionstheoretisch orientierten

Humanwissenschaften, der Soziobiologie und der Naturwissenschaften mitzuhalten.

Die Soziologie müsse zukünftig das Soziale (wieder?) als das „Resultat einer Ko-

Produktion von Gesellschaft und Natur begreifen“ (Lehmke 207, S. 4174f.).

3 Handelnde Tiere

3.1 Voraussetzungen

Soziales Handeln ist eines der Kernstücke der Soziologie und die Frage, was

soziales Handeln ausmacht, wurde und wird viel diskutiert (Pries 2016, S. 62).

Karl Marx ging davon aus, dass nur der Mensch eine klare Vorstellung vom Ergebnis

seiner Taten habe und selbst wenn die Biene einem menschlichen Baumeister beim

Bau ihrer Waben überlegen sei, sie könnte ihr Handeln und ihr Ziel nicht planen

(Pries 2016, S. 45). Heute würde er sich vielleicht wundern, welche kognitiven

Fähigkeiten man besonders staatenbildenden Insekten nachweisen kann. Sie sind

dazu in der Lage, selbst komplexe Aufgaben zu lösen, die mit ihrem eigentlichen

ökologischen Umfeld und ihrem natürlichen Verhalten nichts zu tun haben.

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„One hallmark of cognitive complexity is the ability to manipulate objects with a

specific goal in mind. Such ‚tool use’ at one time was ascribed to humans alone, but

then to primates, next to marine mammals, and later to birds. Now we recognize that

many species have the capacity to envision how a particular object might be used to

achieve an end.“ (Loukola et al., 2017).

Wie unter 2.1 angeführt, wurde lange Zeit davon ausgegangen, es würde sich bei

Tieren um reine Reiz-Reaktions-Maschinen handeln, die sich lediglich verhalten und

nicht bewusst handeln. Besonders für höhere Tiere, aber auch für einige Gruppen

der Vögel und nun eben auch zum Teil für Insekten scheint das nicht zuzutreffen. Sie

sind in der Lage, mehrere Handlungsschritte im Voraus zu planen und so komplexe

Probleme zu lösen (Pries 2016, S. 63). Bei einigen Primaten und Hunden ist

beispielsweise sogar ein sogenanntes episodisches Gedächtnis nachgewiesen, das

dem Individuen mentale Zeitreisen im eigenen Gedächtnis ermöglicht – und zwar

sowohl in die Vergangenheit, als auch in die Zukunft (Fugazza et al. 2016).

Für Max Weber ist Handeln immer mit einem subjektiven Sinn verbundenes Sich-

Verhalten und soziales Handeln richtet diesen subjektiven Sinn auf das Verhalten

anderer, es ist also ein bewusstes Sich-Verhalten unter Einbeziehung eines anderen

Akteurs. Mit dem Handeln soll bewusst eine Veränderung im eigenen Umfeld in

Gang gesetzt werden bzw. bewusst nicht in Gang gesetzt werden (vgl. Pries 2016, S.

63ff.).

Handeln ist demnach willentlich und beeinflussbar, der Handelnde entschließt sich

bewusst dazu, während das nicht-intentionale Widerfahrnis nach Wilhelm Kamlah

unwillkürlich und nicht abwendbar ist (Gabriel 2016).

Absichten und Motive sind von wesentlicher Bedeutung für die Definition und das

Verstehen von sozialem Handeln, genauso wie die Fähigkeit zur Empathie. Ohne die

Möglichkeit, sich in das Gegenüber einzufühlen und seine Absichten und Motive

nachzuvollziehen und deuten zu können, ist kein soziales Handeln möglich.

Empathie und altruistisches Verhalten ist bei Menschenaffen, Hunden, Schweinen,

Ratten, Mäusen, Raben und anderen Tieren gut beschrieben und durch Versuche

belegt (Kaplan 2016, o. Seitenangabe). Sogar ein Gefühl für Fairness ist

nachgewiesen. So stellen Hunde die Kooperation mit dem Menschen ein, wenn sie

ungerecht behandelt werden – und Kooperation ist eindeutig zweckgerichtetes,

soziales Handeln von Individuen, die ein gemeinsames Ziel erreichen wollen (Range

et al. 2008). Eine bewusste Kooperation inkludiert die Kosten-Nutzen-Abwägung und

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das Vertrauen in den anderen Akteur, dass die Kooperation zum Nutzen beider

Seiten ausfällt. Reine Reiz-Reaktions-Maschinen, die sich lediglich verhalten, wären

dazu nicht in der Lage.

Dass Tiere weiter über grundlegende Emotionen verfügen, die auch wir Menschen

haben, ist ein evolutionäres Faktum (Puppe 2008).

3.2 Menschen und Tiere treten in Beziehung

Im vorangegangenen Abschnitt wurde deutlich gemacht, dass viele Tiere über die

kognitiven und emotionalen Ressourcen verfügen, um sozial handlungsfähige

Akteure zu sein. Befragt man Menschen zu ihrem Bezug zu Tieren und zur Natur,

zeigt sich wenig überraschend, dass die Beurteilung einer bestimmten Tierart vom

kulturellen Hintergrund einer Person abhängt (ist ein Tier bspw. Haustier, Nutztier,

Schädling?). Die Beziehung zu einem Tierindividuum hängt dagegen von den

gemachten Erfahrungen im Alltag und besonders in der Kindheit ab (vgl. Otterstedt

2012, S. 19). Kinder zeigen eine besondere Zuneigung zu Tieren, was mit dem

Begriff der angeborenen Biophilie beschrieben wird. Die von Edward O. Wilson

formulierte Biophilie-Hypothese meint damit „the innate tendency to focus on life and

lifelike processes“ (Edward O. Wilson 2003, S. 1), die auf alle Kulturkreise zutrifft.

So zeigen beispielsweise Kinder und Erwachsene mit unsicherem Bindungsmuster

Unsicherheit und Misstrauen im Umgang mit anderen Menschen, Tieren begegnen

sie dafür in aller Regel mit Freude und Vertrauen (Kotrschal 2016, S. 47).

Der Mensch-Tier-Kontakt wird von vielen Menschen generell als wichtig angesehen,

da der Umgang mit Tieren einen positiven Einfluss auf das Befinden und die

Gesundheit hat. Tiere werden nicht nur als Nahrungs- und Rohstoffquelle betrachtet,

sondern als Arbeits- und Sozialpartner und als wichtiger Teil des ökologischen

Gleichgewichts. Menschen empfinden Tiere also durchaus als Subjekt und

Persönlichkeit, als Akteur (vgl. Otterstedt 2012, S. 19).

Kotrschal bezeichnet den Hund als häufigen Kleingruppen- und Familienersatz, der

Menschen durch die Erfüllung wechselseitiger sozialer Grundbedürfnisse letztlich ein

identitätsstiftendes Gefühl der emotionalen „Heimat“ gibt (vgl. Kotrschal 2016, S.

71ff.).

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Von Seiten der Menschen finden sich also wenige Hemmungen, zumindest

Haustiere mehr oder weniger wie menschliche Bindungspartner zu behandeln und in

sie die Erwartung zu setzen, diese Beziehung würde auf Wechselseitigkeit beruhen.

Was genau Tiere denken und fühlen, wenn sie mit Menschen interagieren, lässt sich

natürlich nicht sagen. Aber auch beim Menschen bleibt es oft beim Versuch einer

Deutung, insofern sollte das kein Hemmnis darstellen. Der subjektive Sinn einer

Handlung kann erst durch die Analyse der Situation und des Handlungsrahmens

gedeutet werden (Pries 2016, S. 68). Soziale Rahmen nach Goffman sind

„Deutungsschemata für Ereignisse, an denen ‚Wille, Ziel und steuerndes Eingreifen

einer Intelligenz, eines ‚intelligenten Lebewesens’, in erster Linie eines Menschen,

beteiligt sind’“ (Goffman 1980, zit. nach Wiedenmann 2015, S. 266).

Motive zu ergründen und zu verstehen kann schon beim Menschen zu

Missverständnissen und Fehlinterpretationen führen, beim Tier ist es unter

Umständen noch schwieriger und bedarf gegebenenfalls einer gut durchdachten

Versuchsanordnung. Wie zu Beginn dieser Ausführung jedoch erwähnt, handeln

Menschen auf Tiere durchaus sozial und nehmen intersubjektiv ein gemeinsames

Verständnis für bestimmte Dinge und Handlungen an. Und Tiere tun das auch. So ist

die an den Hund gerichtete Frage: „Möchtest du diesen Ball?“, nicht nur

hypothetisch, denn der Hund reagiert auf diese ihm bekannte Phrase durch

Körpersprache und/oder Vokalisation entweder mit Zustimmung oder Ablehnung. Wir

haben es hier also mit wechselseitigen Erwartungen und Erwartungserwartungen

und den dazugehörigen Handlungen zu tun, also mit sozialem Handeln.

Einige wenige Soziologen gingen schon sehr früh vergleichsweise unbekümmert

davon aus, dass Tiere und Menschen soziale Beziehungen eingehen. Geiger

analysiert beispielsweise die Tier-Mensch-Beziehung und kam dabei zur Ansicht,

„dass eine solche Beziehung auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung als

‚Du-Evidenz’“ möglich sei. Er schreibt den Tieren „Subjektqualität“ zu, eine

„Niveauspannung“ gäbe es lediglich zwischen den kognitiven und psychischen

Fähigkeiten eines Subjekts (Geiger 1931, zit. nach Gutjahr/Sebastian 2013, S. 63f.).

Teutsch greift diesen Ansatz später auf und meint, von einer „sozialen Beziehung

zwischen einem Menschen und einem Tier könne gesprochen werden, wenn (...)

eine gegenseitige oder zumindest einseitige Du-Evidenz gegeben sei“ (Teutsch

1975, zit. nach Gutjahr/Sebastian 2013, S. 64).

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Anders als Marx mit seinem Bienenbeispiel scheinen sie Recht zu behalten – Tiere

können handlungsfähige soziale Akteure sein.

4. Fazit

Obwohl sich in der Soziologie immer wieder einzelne Vertreter fanden, die Tiere als

Akteure in soziologische Theorien und Untersuchungen einführen wollten, wurden

diese Ansätze in der Regel ignoriert und gerieten in Vergessenheit. Diese

Verdrängung der Tiere und der Natur ist symptomatisch für unsere moderne

Gesellschaft, sie führt allerdings in vielen Bereichen zu großem Leid bei Tier und

Mensch.

Der Mensch formt sich seine Umwelt und die Natur selbst und verändert damit nicht

nur seine eigenen Lebensbedingungen, sondern auch die aller Tiere und Pflanzen

auf dieser Welt. „Natürliche“ Natur gibt es mittlerweile nicht mehr, allein schon durch

den menschgemachten Klimawandel haben wir die Erde und das Leben darauf

maßgeblich verändert. Aus Eigeninteresse sollte der Mensch in seinem Handeln die

Natur und damit auch die Tiere berücksichtigen, denn ohne sie kann er nicht

existieren. Dazu muss er beginnen, wieder umzudenken, und das trifft auch auf die

Soziologie zu. Selbst wenn die Soziologie noch eine vergleichsweise junge

Wissenschaft ist, sie muss sich in einer sich rasch verändernden Welt stetig

weiterentwickeln, um lebendig zu bleiben und Ernst genommen zu werden. Zu dieser

Weiterentwicklung gehört beispielsweise, Teilbereichen der Soziologie, wie der

Umweltsoziologie oder einer „Tiersoziologie“ im Sinne der Human-Animal Studies,

mehr Raum und Bedeutung zu geben. Die Natur und die Tiere machen noch immer

einen bedeutenden Teil unseres modernen Lebens und des Sozialen aus und sollten

entsprechend als Forschungsgegenstände dienen. Möglichkeiten für

Forschungsansätze gäbe es genügend, sie sind so vielfältig wie unsere Beziehung

zu den Tieren.

Literaturverzeichnis

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