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26 Ideen und Informationen Philippinen Geschichte Wechselvolle Kolonialgeschichte(n) – windungsreiche Identitätssuche Eine Notiz vorab oder Die Inseln, die sie mein(t)en Rainer Werning & Mary Lou U. Hardillo „Philippinen“? Philippinen! – Was nach einem westeuropäischen Thronfolger benannt wurde, war ein spanisches Konstrukt, das nach annähernd 350-jähriger Herrschaft von der aufstrebenden Weltmacht USA fünf Jahrzehnte lang gemäß ihrem Ebenbilde modelliert wurde. Zwischendurch mussten die Filipinos – von US-Politikern „kleine braune Brüder“ genannt – eine knapp dreijährige Tyrannei der Kaiserlich-Japanischen Truppen erdulden. 70 Jahre nach Gründung der Dritten Philippinischen Republik am 4. Juli 1946 sind die Filipinos noch immer mit Problemen konfrontiert, die dem Großteil der Men- schen ein Leben in Selbstbestimmung und Würde – fernab von Armut, Korruption und Gewalt – vorenthält. Unterdrückung, Revolten und bewaffneter Widerstand sind eine Konstante in der Geschichte des Inselreichs. Aber ebenso auch vielfältige Entwürfe, das alltägliche (Über-)Leben mit Witz, List und Humor zu meistern. Spaniens Außenposten im Fernen Osten (1571-1898) Lange vor Ankunft der westlichen „glo- bal players“ des 16. Jahrhunderts, den Seemächten Spanien und Portugal, unterhielten jene Inseln, die später nach dem spanischen Thronfolger und König Philipp II. benannt und als „Philippinen“ in das iberische Imperium eingegliedert wurden, rege Handelskontakte mit China, Japan, Kontinentalsüdostasien und dem westindischen Gujarat. Aus dem Nahen und Mittleren Orient gelangten in West-Ost-Richtung arabi- sche Geistliche und Handelsreisende via Gujarat, Malakka und Sumatra in den Süden der „Philippinen“, wo auf Jolo und im Kernland Mindanaos, in Maguindanao, der Islam Fuß fasste und erste muslimische Sultanate entstanden. Gewürzmanie mit Kreuz und Schwert Zuvörderst war es der Run auf Gewürze, der neben Spaniern und Portugiesen auch reiche Kaufmannsgilden in anderen Teilen Europas dazu bewog, Schiffsexpeditionen Beziehungen zwischen chinesischen Händlern und den Einwohnern der philippinischen Inseln © Liwag-Kotte

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Wechselvolle Kolonialgeschichte(n) – windungsreiche Identitätssuche

Eine Notiz vorab oder Die Inseln, die sie mein(t)en

Rainer Werning & Mary Lou U. Hardillo

„Philippinen“? Philippinen! – Was nach einem westeuropäischen Thronfolger benannt wurde, war ein spanisches Konstrukt, das nach annähernd 350-jähriger Herrschaft von der aufstrebenden Weltmacht USA fünf Jahrzehnte lang gemäß ihrem Ebenbilde modelliert wurde. Zwischendurch mussten die Filipinos – von US-Politikern „kleine braune Brüder“ genannt – eine knapp dreijährige Tyrannei der Kaiserlich-Japanischen Truppen erdulden.

70 Jahre nach Gründung der Dritten Philippinischen Republik am 4. Juli 1946 sind die Filipinos noch immer mit Problemen konfrontiert, die dem Großteil der Men-schen ein Leben in Selbstbestimmung und Würde – fernab von Armut, Korruption und Gewalt – vorenthält. Unterdrückung, Revolten und bewaffneter Widerstand sind eine Konstante in der Geschichte des Inselreichs. Aber ebenso auch vielfältige Entwürfe, das alltägliche (Über-)Leben mit Witz, List und Humor zu meistern.

Spaniens Außenposten im Fernen Osten (1571-1898)Lange vor Ankunft der westlichen „glo-bal players“ des 16. Jahrhunderts, den Seemächten Spanien und Portugal, unterhielten jene Inseln, die später nach dem spanischen Thronfolger und König Philipp II. benannt und als „Philippinen“ in das iberische Imperium eingegliedert wurden, rege Handelskontakte mit China, Japan, Kontinentalsüdostasien und dem westindischen Gujarat. Aus dem Nahen und Mittleren Orient gelangten in West-Ost-Richtung arabi-sche Geistliche und Handelsreisende via Gujarat, Malakka und Sumatra in den Süden der „Philippinen“, wo auf Jolo und im Kernland Mindanaos, in Maguindanao, der Islam Fuß fasste und erste muslimische Sultanate entstanden.

Gewürzmanie mit Kreuz und SchwertZuvörderst war es der Run auf Gewürze, der neben Spaniern und Portugiesen auch reiche Kaufmannsgilden in anderen Teilen Europas dazu bewog, Schiffsexpeditionen

Beziehungen zwischen chinesischen Händlern und den Einwohnern der philippinischen Inseln © Liwag-Kotte

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zu finanzieren. In diesem Sinne waren die Anfänge des westlichen Kolonialismus auf den „Philippinen“ buchstäblich „gepfeffert“. Die Gewürzsuche überzeugte auch die herrschende Elite Spaniens, die schließlich, durch die in Augsburg ansässige Fugger-Familie finanziell unterstützt, eine Mannschaft von Seeleuten unter Ver-trag nahm. Diese sollte unter der Leitung eines portugiesischen Kapitäns und Navigators Segel setzen, um die legendären Gewürze zu finden. Die Taten dieses Mannes, dessen spanischer Name Ferdinand Magellan war und dessen Leben aus-gerechnet auf den „Philippinen" endete, hat der Schriftsteller Stefan Zweig in sei-ner 1938 erstmals erschienenen Novelle „Magellan – Der Mann und seine Tat“ einfühlsam beschrieben.

Die spanischen Konquistadoren, die ab 1521 als erste Europäer in das Land kamen, trafen auf keinen organisierten Widerstand. Der insulare Charakter des Landes ermöglichte es ihnen, ihren Einfluss über den Großteil der Inseln auszuweiten und schrittweise zu festi-gen. Die sozialen und politischen Ein-heiten, die sie vorfanden, waren aus 30 bis 100 Familienverbänden bestehende Gemeinschaften – sogenannte Baran-gay – was wörtlich übersetzt „Bootsla-dung“ heißt. Benannt nach den Ausle-gerbooten, mit denen Siedler aus dem

heutigen Malaysia und Indonesien angelandet waren. In diesen Barangay, so jedenfalls ist von spanischen Historiografen überliefert, genossen Frauen eigen-ständige Rechte und waren als Priesterinnen, Heilerinnen und mit religiösen Ritu-alen betraute Personen – „babaylan“ in den Visayas oder „catalonan“ unter den Tagalog – gesellschaftlich hochgeachtet.

Zurückdrängen der „Moros“Den seit 1380 in Süd-Nord-Richtung bis zum heutigen Manila an Einfluss gewonne-nen Islam vermochten die spanischen Kolonialherren, die 1571 Manila zum Haupt-sitz ihrer Regentschaft über die Inseln erkoren hatten, nie vollständig zurückzudrän-gen. Vor allem Mindanao und die weiter südlich gelegene Sulu-See waren und blieben bis zirka 1900 eine Domäne mit überwiegend muslimischer Bevölkerung. Dort waren mit den Sultanaten von Jolo und Maguindanao streng hierarchisch gegliederte Gesellschaften entstanden, die mit den Nachbarregionen regen Handel trieben und auch waffentechnisch so ausgerüstet waren, dass sie militärischem Druck der Spanier trotzen konnten. Diese schimpften die Muslime im Süden des Archipels verächtlich „Moros“ (Mauren, Mohren) – in Anlehnung an die Zeit der Conquista.

Dort, wo im Jahr 1521 die erste katholische Messe auf den Philippinen abgehalten wurde, ließ Ferdin-and Magellan ein Kreuz aufstellen. © Aline Jung

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Manila war seit 1571 die prunkvolle Zitadelle kastilischer Macht und Grandezza. Dort residierten die Generalgouverneure, mit Ordern versehen von der Zentralre-gierung, die über den langen Seeweg des in Mexiko beheimateten Vizekönigs ihre Adressaten in Südostasien erreichte. Durch die Encomienda und geschickte Einbe-ziehung der indigenen Eliten (datu) hatten die Spanier ein ausgeklügeltes System der Kontrolle und Beherrschung entwickelt, das, trotz immer wieder aufflackernder Revolten, die gesamte Kolonialepoche überdauerte. Die einzige ernsthafte Bedro-hung der spanischen Herrschaft zwischen 1571 und deren Ende im Jahre 1898 stell-ten Soldaten des zwischenzeitlich erstarkten britischen Empire dar.

Während des interkontinental geführten Siebenjährigen Krieges (1756-63) gelang britischen Truppen – unterstützt von indischen Sepoys – der Coup, Manila von 1762 bis 1764 zu besetzen. Eine herbe Schlappe für das stolze Spanien. Und gleichzeitig eine günstige Gelegenheit für rebellische Ilokanos im Norden der Hauptinsel Luzon, in kalkuliertem Zweckbündnis mit Briten Front gegen die Spanier zu machen. Das allerdings schlug fehl, weil die Briten keine Unterstützungstruppe schickten. Doch die Märtyrer von damals – allen voran Diego und Gabriela Silang – sind bis heute vielen Filipinos in liebevoller Erinnerung. Schließlich zeigten sie die Verwundbarkeit der Kolonialherren und vermittelten einen Vorgeschmack auf den später siegrei-chen Kampf gegen die Spanier.

Skulptur von Gabriela Silang © F. Marquardt

Am 19. März 1731 wurde María Josefa Gabriela Cariño Silang, kurz Gabriela Silang, in Santa, einer Ortschaft in der nordphilippinischen Pro-vinz Ilocos Sur, geboren. Historiker betrachten sie als erste Filipina, die während der spanischen Kolonialherrschaft eine Revolte gegen die ver-hassten Besatzer anführte. Als aktives Mitglied der Aufständischen unter Diego Silang, ihrem Ehemann, übernahm sie nach dessen Tod vier Monate lang die Führung der Gruppe, die für die Befreiung der Provinz Ilocos von der spanischen Gewaltherrschaft zu den Waffen gegriffen hatte, bis man auch sie gefangen nahm und die gerade mal 32-Jährige am 20. September 1763 in der Stadt Vigan hängte. Gabriela Silang galt als ebenso resolute wie furchtlose und kühne Frau, die auch die Kunst des Reitens beherrschte. Kein Wunder, dass sich in Erinnerung an und Rückbe-

sinnung auf diese mutige Frau das im Frühjahr 1984 entstandene philippinische Frauennetzwerk den Namen GABRIELA gab. Übrigens ganz im Einklang mit der närrischen Vorliebe der Filipinos für Akronyme: Das Wort steht nämlich für General Assembly Binding Women for Reforms, Integrity, Equality, Leadership

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and Action. Frei ins Deutsche übertragen: Generalversammlung von Frauen, ver-bunden im Geiste von Reformen, Integrität, Gleichberechtigung, Führung und Tat-kraft. Die Benediktinerschwester Mary John Mananzan, Direktorin des Institute of Women's Studies am St. Scholastica College in Manila und zeitweilig nationale Vorsitzende von GABRIELA, schrieb einmal: „Wir haben eine kollektive und subver-sive Erinnerung an unsere equality – Gleichberechtigung. Dies ist keine westliche, sondern unsere eigene Tradition, die wir aus der Vergangenheit zurückbringen, in die Zukunft transportieren und zu neuem Leben erwecken wollen.“

Encomienda und GaleonenhandelDie Encomienda war ein Rechtstitel, der einem Encomendero – einer Person des Vertrauens oder einer Persönlichkeit mit hervorragenden Verdiensten oder auch Mönchsorden – mit der Maßgabe verliehen wurde, ein bestimmtes Gebiet nach eigenem Gusto zu beherrschen. Dies konnte relativ milde verlaufen, doch in der Regel wurde die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten tributär geschröpft und mittels der ihr eingetrichterten neuen Religion auf unbedingten Gehorsam und ein verheißungsvolles Leben im Jenseits eingeschworen. Darüber hinaus war die Masse der Bevölkerung zu zeitweiligem Frondienst verpflichtet und hatte einen Teil ihrer landwirtschaftlichen Erzeugnisse zu niedrig angesetzten Preisen an die Kolonialver-waltung abzuführen.

Es waren vor allem die Encomenderos in Gestalt von Mönchen und/oder Mönchsorden, die wegen ihrer ausbeu-terischen Praktiken – mitunter erbittert – bekämpft wurden. Und ebenso harsch schlugen sie ihrerseits gegen ihre Wider- sacher zurück. Vor allem der aus ver-gleichsweise gutsituierten Verhältnissen stammende Freiheitskämpfer und Arzt, der später unter der US-amerikanischen Besatzung zum Nationalhelden der Fili-pinos erkorene Dr. José Rizal, bekam das am eigenen Leib zu spüren. In sei-nen Schriften „Noli me tangere“ und „El Filibusterismo“ hatte Rizal mit spitzer Feder die Unterdrückung und das bigotte Gebaren des Klerus gegeißelt. Doch auch in seinem Falle erwies sich das Schwert letztlich als mächtiger denn die Feder. Die konstruierte Anklage, Rizal sei der eigentliche Kopf und Rädelsführer einer umstürzlerischen Verschwörung gewe-sen, kostete dem Mann das Leben. Am 30. Dezember 1896 ließ die spanische Kolo-nialbehörde das gerade einmal 35-jährige Jungtalent erschießen.

Im heutigen Rizal-Park erinnert eine Skulptur an die Hinrichtung des späteren Nationalhelden José Rizal am 30. Dezember 1896 durch philippinische Solda-ten der spanischen Kolonialregierung. © WGT e.V.

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Dabei hatte sich Rizal zeit seines Lebens lediglich für die Vertretung seiner Heimat in der spanischen Nationalversammlung eingesetzt. Strikt hatte er dafür plädiert, Unabhängigkeit nur mit friedlichen Mitteln anzustreben. Für ihn war ein grund-legender Wandel nur von oben, nicht aber mit revolutionärer Waffengewalt von unten denkbar. Einen solchen Weg verfolgte seit 1896 indes mit Andres Bonifacio ein aus ärmlichen Verhältnissen stammender, sich autodidaktisch weitergebildeter Lager- arbeiter und Führer des Geheimbundes Katipunan. Ein Akronym, das in vollständiger Übersetzung „Oberster, altehrwürdiger Rat der Söhne der Heimat“ bedeutete.

Die Tragik Bonifacios lag in seiner Klassenherkunft begründet. Er wurde von Gesin-nungsgenossen, die eine höhere Bildung als er genossen hatten, ausgebootet und innerhalb der eigenen Organisation des Verrats geziehen und hingerichtet. So war es dem selbsternannten Katipunan-„Supremo“ Emilio Aguinaldo vorbehalten, am 12. Juni 1898 die Unabhängigkeit von Spanien zu verkünden. Dass dieser Revolutio-när der ersten Stunde wenig später unter den Schutzmantel der „allmächtigen und wohlwollenden Vereinigten Staaten von Amerika“ schlüpfte und sich der neuen Kolonialmacht andiente, war bezeichnend für das Verhalten des Gros der philippini-schen Elite gegenüber ausländischen Herren.

So bedeutsam das Encomienda-System für die interne Verwaltung war, so notwen-dig war die Sicherung der „Nabelschnur“, die pazifische Seeroute nach Mexiko, wo bis 1821 der spanische Vizekönig residierte. Im mexikanischen Acapulco setzten Galeonen ihre Segel gen Westen, um Manila mit allem zum Unterhalt der Kolonie Notwendigen zu versorgen. Dann nahmen die Schiffe Kurs auf südchinesische Städte, um dort gegen begehrtes mexikanisches Silber Luxusgüter wie Seide und Porzellan an Bord zu nehmen. In umgekehrter Richtung fand diese kostbare Fracht mit Manila als Zwischenstopp über Mexiko und den Atlantik im „Mutter-land“ Spanien ihre Endabnehmer.

Fanal von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“Der Vorsprung der Dampf- vor der Segelschifffahrt und vor allem die Eröffnung des Suezkanals (1869) trugen zu spektakulären Steigerungen des Handelsvolumens bei. Haupthandelsprodukte und äußerst begehrt waren Zucker, Kaffee, Tabak und Abaka (auch als Manilahanf bekannt). Letzteres war als Grundmaterial für Seile und Tauwerk rege nachgefragt. Die Eingliederung der Philippinen in den Weltmarkt hatte weitreichende Folgen: Nicht nur verkürzte sich drastisch die Reisezeit zwi-schen dem „Mutterland“ und dessen Kolonie. Auch eine wachsende Zahl von Ilust-rados, gebildeter und reformfreudiger Filipinos – darunter der erwähnte Dr. Rizal –, vermochte in größerer Zahl und häufiger als jemals zuvor nach Spanien und in andere europäische Länder zu reisen.

Mit dem brisanten Nebeneffekt, dass eine sozial brodelnde und aufrührerische Grundstimmung in den Philippinen buchstäblich mit den Idealen der europäischen

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Aufklärung, des Liberalismus sowie der Französischen Revolution „munitioniert“ wur-den. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!" – das war allen herrschenden Eliten welt-weit ein Gräuel. Die Erhebung rebellischer Filipinos war lediglich eine Frage der Zeit. 1896 war es soweit, dass offen der Spanisch-Philippinische Krieg begann, dessen Ende 1898 auch dem einst blühenden spanischen Imperium den Todesstoß versetzte. Was als spanisches Erbe blieb, war eine Mischung aus zutiefst Profanem und Religiösem – Katholizismus, Fiestas, Machismo, Großgrundbesitz und spanische Familiennamen, während Spanisch nur von einer dünnen Oberschicht gesprochen wurde.

Große weite Welt – Vermächtnisse der USA (1898-1946)

„Geradewegs hinter den Philippinen liegen Chinas schier unermessliche Märkte. Wir werden unseren Teil in der Mission unserer von Gott geschütz-ten Rasse bei der Zivilisierung der Erde beitragen. Wo werden wir die Abnehmer unserer Produkte finden? Die Philippinen geben uns einen Stützpunkt am Tor zum Osten.“

Der aus dem US-Bundesstaat Indiana stammende republikanische Senator Albert Jeremiah Beveridge am 9. Januar 1900 in einer Rede vor dem US-Kongress.

Bis Ende des 19. Jahrhunderts waren amerikanische Siedler bis an die Westküste vorgedrungen. Seit etwa 1890 wurde es laut um den Stillen Ozean. Die Weite dieses größten Weltmeeres beflügelte zunehmend hitzigere Debatten: Sollten die Ameri-kaner dieses Meer – mit Berufung auf den Herrn – zur amerikanischen See machen? Diese Streitfrage spaltete die Vereinig-ten Staaten in sogenannte „Isolationis-ten“ und „Interventionisten“ oder auch „Imperialisten“. Erstere meinten, die USA genügten sich selbst und ihr Terri-torium stelle einen ausreichend großen Binnenmarkt dar. Die Befürworter eines Imperialismus hingegen wollten im Wettstreit mit den europäischen Kolo-nialmächten ja nicht zu kurz kommen.

Der einzige Konkurrent der aufstre-benden Vereinigten Staaten war Spa-nien, das sich seit dem 16. Jahrhundert in Südamerika, in der Karibik und in den Philippinen als Kolonialmacht fest-gesetzt hatte. Um 1900 jedoch war Spaniens Imperium beträchtlich geschrumpft, frühere Kolonien wie

Emilio Aguinaldo verkündete am 12. Juni 1898 vom Balkon seines Hauses in Cavite die Unabhängigkeit der Philippinen. © Aline Jung

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Mexiko und Argentinien längst unabhängig. Glühende Imperialisten wie der erwähnte Senator Beveridge, die letztlich in Washington obsiegten und den Ton angaben, interessierte nicht, dass der philippinische General und damalige Revoluti-onär Emilio Aguinaldo bereits am 12. Juni 1898 die erste Republik Asiens ausgerufen hatte. Pech für die Filipinos; die Unabhängigkeit war kurzlebig, weil sie im Ausland keine Unterstützung fand. Die Fernostflotte der U.S. Navy hatte Wochen zuvor bin-nen weniger Stunden am 1. Mai 1898 die maroden spanischen Kriegsschiffe in der Manila-Bucht außer Gefecht gesetzt. Doch erst Ende Juni betraten US-amerikani-sche GIs philippinischen Boden – ein unabhängiges Land. Auf der Friedenskonfe-renz in Paris wurde im Dezember 1898 vereinbart, dass Washington den Spaniern als Trostpreis für den Verlust der Philippinen 20 Millionen Dollar zahlte.

„Wohlwollende Assimilierung“Zur sogenannten „wohlwollenden Assimilierung“ gehörte, dass die neuen Besatzer auf den Philippinen das amerikanische Englisch als Amtssprache im Bildungs-, Geschäfts- und Verwaltungsbereich durchsetzten und willfährigen „kleinen brau-nen Brüdern“ das Studium in den USA ermöglichten. Außerdem bauten die US-Militärs dort die größten Flotten- und Luftwaffenstützpunkte außerhalb der Vereinigten Staaten auf.

Die amerikanischen Militärs betraten im Sommer 1898 ein unabhängiges Land. Die Bevölkerung leistete auch den neuen Kolonialherren erbitterten Widerstand. Um diesen zu brechen, begannen amerikanische Truppen mit der sogenannten „Befrie-dung“ der Inseln: Die Folge war der Amerikanisch-Philippinische Krieg. Er begann Anfang Februar 1899 und endete nach offizieller Geschichtsschreibung am 4. Juli 1902. Im Süden indes, in der Sulu-See und auf der Insel Mindanao, deren Bevölke-rung vorwiegend muslimisch war und die die Spanier abschätzig „Moros“ genannt hatten, dauerte die „Befriedung“ bis 1916.

Während des Amerikanisch-Philippinischen Krieges erprobte die Kolonialmacht neue Methoden der „Aufstandsbekämpfung“, die in späteren Kriegen in Korea, Vietnam, Laos und Kambodscha „verfeinert“ wurden – von Nahrungsmittelblocka-den bis hin zum „strategic hamletting“, der Errichtung „strategischer Weiler“. Ziel war es, die Zivilbevölkerung von potenziellen „Aufrührern“ zu trennen.

Im Mutterland selbst war diese Art der Außenpolitik heftig umstritten. Scharfe Pro-teste gegen den Krieg in den Philippinen hagelte es seitens der Antiimperialisti-schen Liga der Vereinigten Staaten von Amerika1. Deren Vizepräsident, der Schrift-steller Samuel Langhorne Clemens alias Mark Twain schrieb im New York Herald:

1 Die in Opposition zum US-Kolonialismus gegründete Anti-Imperialist League hatte etwa 30.000 Mitglie-der. Zu ihren prominentesten Vertretern zählten neben Mark Twain (1835-1910) auch Jane Addams (1860-1935; Sozialreformerin, Pazifistin, Friedensnobelpreisträgerin 1931), Carl Schurz (1829-1906; Poli-tiker, Senator 1869-1875), William James (1842-1910; Psychologe und Philosoph), Samuel Gompers (1850-1924; Gewerkschaftsführer) sowie Andrew Carnegie (1835-1919; Industrieller).

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„Sehr sorgfältig habe ich den Vertrag von Paris gelesen und ich erkannte, dass wir keineswegs beabsichtigen, die Philippinen zu befreien, sondern deren Bevölkerung zu unterwerfen. Wir gingen dorthin, um zu erobern, nicht um zu erlösen. Wie ich es sehe, sollte es unsere Freude und unsere Pflicht sein, die Bevölkerung zu befreien und sie ihre eigenen Probleme auf ihre eigene Art lösen zu lassen. Ich bin dagegen, dass der Adler seine Kral-len auf ein anderes Land setzt.“

Commonwealth als ZwischenstadiumZunächst von einer US-Militärregierung verwaltet, ging Washington später dazu über, an die Spitze der Exekutive auf den Inseln einen Gouverneur zu stellen. Die legislative, mit begrenzten Befugnissen ausgestattete Versammlung wurde mit Filipinos besetzt, die im Geiste der Kolonialmacht erzogen worden waren und sich deren Idealen mehr als den sozialen Forderungen ihrer eigenen Landsleute nach Land und Reis verpflich-tet fühlten. Zu diesen Führungspersönlichkeiten zählten Manuel L. Quezon und Sergio Osmeña von der Nationalistischen Partei. Quasi als Lohn für deren Ergebenheit fasste Washington den Entschluss, den Philippinen Mitte der 1930er Jahre einen Common-wealth-Status und ihnen nach einer Übergangszeit von zehn Jahren die Unabhängig-keit zu gewähren. Keine andere imperiale Macht hatte jemals eine derart konkrete Roadmap für die Unabhängigkeit eine ihrer Kolonien verkündet.

Erster Präsident des Commonwealth wurde Manuel L. Quezon, sein Stellvertreter war Sergio Osmeña. Die Philippinen genossen nunmehr weitgehend innere Autono-mie, allerdings mussten die in Manila verabschiedeten Gesetze weiterhin vom Wei-ßen Haus und dem US-Senat gebilligt werden. Auch behielten die USA die Kontrolle über sämtliche wichtigen Industrien der Inseln und kontrollierten nach wie vor den Handel mit solchen Exportprodukten wie Zucker, Hanf und Kopra. Der amerikani-sche Hochkommissar hatte derweil die Oberaufsicht über Finanzen, Verteidigung und internationale Beziehungen.

Ein großes soziales Problem blieben auch während der Commonwealth-Ära extrem ungleiche Boden- und Besitzverhältnisse und daraus resultierende Armut der über-wiegend bäuerlichen Bevölkerung. Was den Tagelöhnern, landwirtschaftlichen Arbei-tern und Kleinbauern unter den Nägeln brannte, waren Pachtraten, die in einigen Regionen des Landes Abgaben von bis zu 75 Prozent ihrer durchschnittlichen Ernteer-träge vorsahen. Wenngleich die Commonwealth-Regierung unter Präsident Quezon die politische Brisanz dieser Probleme erkannte und Ende der 1930er Jahre eine umfassende Sozialreform ankündigte, blieben tatsächliche Veränderungen aus.

Die Folge: Widerstand und Protest gegen die Regierung radikalisierten sich. Im Jahr 1938, als sich die Sozialistische Partei mit der Kommunistischen Partei (PKP) verei-nigt hatte, verband die PKP die soziale Forderung nach einer Land- und Agrarreform mit dem politischen Appell, die Landesverteidigung zu stärken, um gegen einen potenziellen japanischen Angriff gewappnet zu sein.

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Wie die Briten in Singapur, so hielt sich auch der US-Generalstab in den Philippinen unter dem Oberbefehl von Douglas MacArthur für unbesiegbar. MacArthur hatte die in der Bucht von Manila gelegene Insel Corregidor mehrfach als „unbezwing-bare Festung“ gepriesen. Beide irrten gewaltig.

Das Denkmal in Manilas Altstadt erinnert an die über 100.000 Männer, Frauen und Kinder, die 1945 während des Befreiungskampfes der von den Japanern besetzten Stadt ihr Leben verloren. © WGT e.V.

Japanisches Intermezzo und „unab-hängig“ mit Tokios Segen (1941-45)In einer Zangenbewegung landeten bereits einen Tag nach dem Angriff auf Pearl Harbor, am 8. Dezember 1941, Truppen der Kaiserlich-Japanischen Armee auf Mindanao und in Nordlu-zon. Wenig später fielen die ersten Bomben auf Manila, das am 2. Januar 1942 eingenommen wurde. Von hier aus eröffneten die japanischen Ver-bände ihre Offensive gegen die beiden letzten Bastionen der USAFFE – die Festungsinsel Corregidor in der Manila- Bucht und den Bergdschungel auf der

Bataan-Halbinsel. Auf Corregidor und Bataan erlitten die USAFFE hohe Verluste, während sich Präsident Quezon und General MacArthur nach Australien abgesetzt hatten. Der Kapitulation der philippinisch-amerikanischen Truppen am 9. April 1942, dem sogenannten „Fall von Bataan“, folgte der Todesmarsch von 76.000 Kriegsgefangenen, darunter etwa 10.000 US-Soldaten, ins über 100 Kilometer ent-fernt gelegene Camp O'Donell und andere japanische Konzentrationslager in und um Capas in der Provinz Tarlac.

Ebenfalls im Zentrum der Insel Luzon, der traditionellen Reiskammer des Landes, und unweit von Capas entfernt hatte sich fast zeitgleich mit dem „Fall von Bataan“, am 29. März 1942, eine bewaffnete Formation gebildet, die sowohl während des Krieges als auch im ersten Nachkriegsjahrzehnt von sich reden machte – die auf Initiative der Kommunistischen Partei gegründete Antijapanische Volksarmee (kurz: Hukbalahap beziehungsweise Huk). Ihre Ziele: bewaffneter Widerstand gegen die japanischen Besatzer; Kampf für die Unabhängigkeit des Landes und die Umwäl-zung der ungleichen Boden- und Besitzverhältnisse.

Im Namen des Volkes – die HukbalahapEine der ersten Maßnahmen der Hukbalahap bestand darin, die Bevölkerung in ihren Operationsgebieten zu bewaffnen. So entstanden auf lokaler Ebene Vereinte Barrio-Verteidigungskorps als Form kollektiver Selbstverteidigung. Da zahlreiche Grundbesitzer wegen der Kriegswirren ihren Grund und Boden verlassen hatten und nach Manila geflüchtet waren, gelang es den Huks vielerorts reibungslos, diese Lände-

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reien Pachtbauern zu überlassen oder gemeinschaftlich zu bewirtschaften. Wo diese populäre Maßnahme nicht möglich war, setzten sich bewaffnete Huk-Verbände zumindest für die Senkung exorbitanter Pachtabgaben und Wucherpraktiken ein. Ein weiterer Schritt der Guerilla bestand darin, die politischen und Verwaltungsstrukturen auf dem Lande umzukrempeln und eine effektive Gegenregierung zu bilden.

Geschätzte Kollaborateure – geknechtete Kollaborateure Es gab auch Kräfte in der Gesellschaft, die strikt antiamerikanisch, gleichzeitig aber betont projapanisch eingestellt waren. Deren Führer hatten früher die Amerikaner als aufständische Offiziere beziehungsweise als Mitglieder sozialrevolutionärer Bewegungen bekämpft. Um sie scharten sich paramilitärische Freiwilligenverbände wie Bisig-Bakal ng Tagala (Eiserner Arm der Tagalen). Nach dem Krieg wurden die Überlebenden und Sympathisanten dieser Organisationen öffentlich geächtet oder als Kollaborateure ins Gefängnis geworfen. Kollaborateure aus den Reihen der poli-tischen und christlichen Elite hingegen wurden mit Glacéhandschuhen behandelt und nahezu ausnahmslos amnestiert.

Anstelle existierender politischer Parteien schufen die japanischen Militärbehörden Anfang Dezember 1942 die Einheitsbewegung Kapisanan sa Paglilingkod sa Bagong Pilipinas (kurz: Kalibapi), die Gesellschaft im Dienste für die Neuen Philippinen. Diese unterstand der direkten Kontrolle der japanischen Militärverwaltung und wurde von ihr genutzt, um die Philippinen in die „Unabhängigkeit“ zu entlassen. Im Juni 1943 verkündete die Kalibapi, die wesentlich auf Manila beschränkt blieb, die Gründung der Vorbereitungskommission für die Philippinische Unabhängigkeit mit Dr. José P. Laurel als Präsidenten. Diese Kommission erarbeitete eine neue Verfas-sung, die Anfang September von einer Nationalversammlung ratifiziert wurde. Deren Generalversammlung wählte dann Ende desselben Monats Laurel zum Präsi-denten der neuen Republik der Philippinen und Benigno S. Aquino (den Großvater des am 30. Juni 2016 nach sechs Jahren aus dem Amt geschiedenen Präsidenten Benigno S. Aquino III.) zu ihrem Sprecher.

Offiziell blieb Laurel Präsident von Japans Gnaden vom 14. Oktober 1943 bis zum 15. August 1945, als er von seinem japanischen Exil aus die japanische Besatzung für beendet erklärte. Wie kein anderer politischer Clan auf den Inseln verkörperten die Laurels bedingungsloses Paktieren mit den jeweils Mächtigeren. Unter den Spaniern waren sie zu Ehren gelangt, die US-Amerikaner hofierten sie ebenso ungeniert wie die neuen japanischen Kolonialherren. Um sodann wieder ihre Herzen im Takte mit den transpazifischen Siegern schlagen zu lassen. Trotz Laurels Kollaboration mit Japan zeigten die Sieger Erbarmen. Und trotz des Laurel zur Last gelegten Hochver-rats wurde ihm kein Haar gekrümmt. Im Gegenteil: 1951 zog er erneut in den Senat der mittlerweile auch von den USA unabhängig gewordenen Dritten Republik der Philippinen ein.

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Als General Douglas MacArthur sein früheres Versprechen „Ich werde zurück-kehren“ wahrmachte und nach großen japanischen Verlusten im Pazifik sowie im östlichen Teil der Philippinen am 20. Oktober 1944 in Begleitung von Sergio Osmeña, dem Nachfolger des im August 1944 im US-Exil verstorbenen Präsidenten Manuel Quezon, auf der Insel Leyte an Land ging, betrat er ein verwüstetes Land.

Zerstörung Manilas – Entwaffnung der GuerillaVon allen Kriegshauptstädten während des Zweiten Weltkriegs hatte nur Warschau höhere Schäden als Manila erlitten. Um die Jahreswende 1944/45 rückte der Krieg immer näher an die Hauptstadt. Es dauerte fast den gesamten Februar 1945, bis nach äußerst verlustreichen Straßen- und Häusergefechten die Entscheidungsschlacht in der Nähe des alten spanischen Stadtzentrums Intramuros ausgefochten wurde. Was später als „Befreiung“ Manilas gepriesen wurde, war ein Gemetzel, in dessen Verlauf binnen weniger Tage etwa 100.000 Zivilisten ihr Leben verloren hatten.

Während des Krieges waren nicht weniger als 260.000 Filipinos in unterschiedlichen Guerillaorganisationen aktiv. Ein noch größerer Teil der Bevölkerung hatte sich heimlich im antijapanischen Untergrund engagiert. Die mit Abstand größte und bedeutendste Guerillaorganisation war die Hukbalahap unter der Führung von Luis Taruc. Etwa 30.000 Huk-Kämpfer kontrollierten auf dem Höhepunkt der Kampf-handlungen den größten Teil der Insel Luzon.

Umso größer war das Entsetzen der Huks, als der erste Befehl des USAFFE-Chefs MacArthur nach der verlustreichen Einnahme Manilas und noch vor der Kapitula-tion Japans an ihre Adresse gerichtet war: die Waffen unverzüglich zu strecken. Andernfalls galten sie als „gesetzlos“ und wurden wie „Banditen“ behandelt. Nur vereinzelt erhielten Huk-Kämpfer eine Anerkennung für ihre Dienste oder die Chance, sich in die regulären philippinischen Streitkräfte zu integrieren. USAFFE- Veteranen hingegen wurden Jobs in der philippinischen Militärpolizei angeboten, ausgerechnet jenem Teil der philippinischen Sicherheitskräfte, der von den Japa-nern zur Kontrolle des Hinterlandes eingesetzt worden war. Ein Dauerkonflikt zwi-schen den alt-neuen Machthabern und der Guerilla war programmiert. Folgerichtig benannte sich die Hukbalahap Ende der 1940er Jahre um in Volksbefreiungsarmee (kurz: HMB), die seitdem die Regierung und US-Truppen auf den Inseln bekämpfte.

Jenseits des Sternenbanners – 1946 gewährt Washington die langersehnte UnabhängigkeitIm Gegensatz zur harschen Behandlung der nationalistischen Partisanen wurden die Wohlhabenden und Mitglieder der herrschenden Elite von MacArthurs Stab glimpf-lich behandelt. Auf solche Kräfte stützte sich die US-Politik, um mit ihnen nicht nur die Commonwealth-Regierung wieder herzustellen, sondern das Land in die Unab-hängigkeit zu führen. Allerdings eine beschränkte Unabhängigkeit; gleichzeitig wahrte Washington durch ein Bündel bilateraler Verträge und Abmachungen seine grundlegenden politischen, wirtschaftlichen und militärischen Interessen. Das

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gelang schon deshalb geschmeidig, weil der verschlagene und mit einem mächtigen Ego ausgestattete MacArthur alles für seinen politischen Darling Manuel Roxas in die Waagschale geworfen hatte.

Roxas, vor dem Krieg Politiker und ehemaliger Brigadegeneral in der Armee, war wäh-rend der japanischen Okkupation ein hochrangiges Mitglied des Marionettenregimes. Ihm oblag unter anderem die Aufgabe, die japanischen Truppen mit Reis zu versor-gen. Nach dem Krieg wurde Roxas zunächst zusammen mit weiteren etwa 5.000 Kolla-borateuren von US-Militärs gefangengenommen, um schon bald auf Anweisung von Präsident Osmeña und General MacArthur wieder auf freien Fuß gesetzt zu werden. So war in des Generals Sicht das Stützen von Roxas ein cleverer Schachzug: Letzterer war wegen seiner dubiosen Vergangenheit jederzeit erpress- und manipulierbar.

Kriegsveteranen und Bürger zweiter Klasse

„Ich, [Name], schwöre feierlich, den Vereinigten Staaten von Amerika vollauf Ver-trauen zu schenken und ihnen Gefolgschaft zu leisten (…) dass ich ihnen ehren-wert und treu gegen alle ihre Feinde dienen werde (…) die Befehle (…) des Präsi-denten der Vereinigten Staaten und der mir übergebenen Offiziere befolge (…) und mich gemäß der Richtlinien und Konventionen des Kriegsrechts verhalte“.

Solche und ähnliche Treueide hatten über eine Viertel Million Filipinos vor und nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor geleistet und damit ihr Schicksal an das der US-Streitkräfte gekoppelt. Im Gegenzug für diese Loyalität, zu der US-Präsi-dent Franklin D. Roosevelt die Filipinos nachdrücklich aufgefordert hatte, stellte die Regierung in Washington den philippinischen Soldaten nach Kriegsende dieselbe Behandlung wie die ihrer amerikanischen Waffengefährten in Aussicht. Doch bereits im Februar 1946 wurde im US-Kongress der Rescission Act (Aufhebungsver-trag) verabschiedet und von Präsident Harry S. Truman unterzeichnet, der genau das Gegenteil beinhaltete.

Nicht nur die Kriegsveteranen wurden betrogen und zu Bürgern zweiter Klasse degradiert. Auch das ebenfalls von US-Präsident Roosevelt im August 1943 abgege-bene Versprechen, die Philippinen in den Genuss einer vollen Entschädigung der angerichteten Kriegsschäden kommen zu lassen, wurde nie eingehalten. Statt-dessen konnten sich die USA auf ihnen von der neuen Regierung in Manila gewährte „parity rights“, also Gleichheitsklauseln, verlassen – ein David-Goliath-Ver-hältnis. Außerdem wurden Amerikanern in den Philippinen ein Freihandel mit den USA für acht Jahre garantiert, während die Peso-Dollar-Parität von 2 zu 1 festgesetzt wurde und eine Änderung des Wechselkurses nur mit US-Zustimmung erfolgen konnte. In Roxas’ Amtszeit fiel auch die Entscheidung, den USA den Unterhalt und Ausbau militärischer Stützpunkte – darunter Clark Air Field und Subic Naval Base – zu gestatten und ihnen dafür ausreichend Land auf der Basis eines 99 Jahre währenden Pachtvertrags zur Verfügung zu stellen.

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Als in den Philippinen zehn Monate nachder Kapitulation Japans das Sternenban-ner eingeholt wurde und sich das Land für die endgültige Unabhängigkeit am 4. Juli 19462 rüstete, saßen alte Politiker in neuen Sätteln und gaben Großgrundbe-sitzer und wohlhabende Geschäftsleute wie vor dem Krieg erneut den Ton in Verwaltung, Wirtschaft und Politik an. Die knapp fünf Jahrzehnte US-amerika-nischer Herrschaft hinterließen weitaus nachhaltigere Spuren als die nahezu 350 Jahre währende Kolonialära der Spanier. Ein flächendeckendes Grundschulsystem wurde eingeführt und das amerikanische Englisch als Unterrichtsmedium in Schu-len, Colleges und Universitäten veran-kert. Und ungleich stärker als unter den Spaniern mussten die Filipinos als „kleine

braune Brüder" erleben, wie die USA in sämtliche Poren ihres gesellschaftlichen, poli-tischen und wirtschaftlichen Lebens eindrangen und eine gefügige, ihren Interessen dienende lokale Elite heranzogen.

Die Nachkriegsära (1946-1965)Das erste Jahrzehnt der jungen Republik war gekennzeichnet durch politische Unruhen und Guerillaaktivitäten. Die Huk-Bewegung hatte sich in Volksbefrei-ungsarmee umbenannt und strebte eine volksdemokratische Ordnung an. Erst Mitte der 1950er Jahre gelang es im Rahmen koordinierter philippinisch-amerika-nischer Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen (Counterinsurgency) unter Führung des CIA-Verbindungsmanns Edward G. Lansdale, den Huks das Rückgrat zu bre-chen und sie militärisch zu besiegen. Gleichzeitig fanden größere Umsiedlungs-programme statt, wobei Huk-Kombattanten im Falle ihrer Kapitulation der Besitz von ein bis zwei Hektar regierungseigenen Bodens auf der südlichen Insel Minda-nao in Aussicht gestellt wurde. Mindanao galt zu der Zeit als „Land der Verhei-ßung", und die Insel erlebte nach den 1930er Jahren den zweiten größeren Schub zuwandernder (christlicher) Siedler aus Luzon und der Visaya-Inselgruppe.

Die ungebrochen enge Zusammenarbeit zwischen Manila und Washington in (außen-)politischen und militärischen Belangen währte bis zu Beginn der 1990er Jahre. Mit dem Fall der Berliner Mauer, dem Auseinanderbrechen der Sowjet-

2 Bezeichnend für den neokolonialen Status des Landes war, dass ausgerechnet dessen Unabhängigkeits-tag mit dem US-amerikanischen zusammenfiel. Erst Mitte der 1960er Jahre erklärte die Regierung unter Diosdado Macapagal den 12. Juni zum Nationalfeiertag – den Tag, an dem Emilio Aguinaldo 1898 die Unabhängigkeit ausgerufen hatte. Der 4. Juli wird heute schlicht als Tag der Republik begangen.

Der US-amerikanische Soldatenfriedhof mit Gedenkstätte in der Nähe der Stadt Makati ist der größte Friedhof für amerikanische Gefallene in der Region. © Liwag-Kotte

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union sowie der Räumung der einst von Moskau kontrollierten Militärbasis in Cam Ranh Bay (Vietnam) entfiel aus Sicht Washingtons die Notwendigkeit, in den Phil-ippinen fortgesetzt eigene militärische Stützpunkte zu unterhalten.

Marcos – Kriegsrecht – „People Power“ (1965-1986)Widerstand, Protest und bewaffnete Konflikte brachen Ende der 1960er Jahre erneut aus. Auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges bewies Manila einmal mehr Vasallentreue gegenüber Washington und entsandte ein eigenes Kontingent zur Unterstützung des „großen Bruders“ nach Südvietnam. Um die zwischenzeitlich auf maoistischer Grundlage neuformierte Kommunistische Partei (CPP) und ihre Guerilla der Neuen Volksarmee (NPA) sowie die im Süden für staatliche Eigen-ständigkeit kämpfende Moro Nationale Befreiungsfront (MNLF) und die zahlrei-chen Privatarmeen einflussreicher Politiker und Geschäftsleute auszuschalten, verhängte der seit Ende 1965 amtierende Präsident Ferdinand E. Marcos am 21. September 1972 landesweit das Kriegsrecht.

Innenpolitisch bedeutete dieser drakonische Schritt, dass das Parlament aufgelöst und die Medien an die Leine gelegt wurden. Bürgerliche Oppositionelle wurden weggesperrt, andere Widerständige erschossen. Der Präsident regierte fortan mit Dekreten und Exekutivordern. Den erbittertsten Widerstand leisteten lange die NPA und MNLF. Mit Letzterer konnte Marcos allerdings am 23. Dezember 1976 ein Friedensabkommen unterzeichnen, nachdem im Süden des Landes – vor allem auf der Insel Jolo – die Jahre davor offener Bürgerkrieg geherrscht hatte.

Außenpolitisch regte sich kaum Protest, weil im ideologisch aufgeheizten Klima der West-Ost-Blockkonfrontation Stabilität und Ordnung höher veranschlagt wurden als die Wahrung von Menschenrechten. In den USA ging zudem die Sorge um, dass mit dem Fall von Vietnam die Nachbarstaaten wie Dominosteine umkippen und kommunistisch würden. Neben den Philippinen herrschte auch in Südkorea Kriegs-recht. Und in Indonesien hatte Ex-General Suharto seit 1965 von einem Putsch pro-fitiert, dessen hunderttausende Opfer bis heute als „Kommunisten“ geächtet sind.

„Wir lieben Ihr Festhalten an demokratischen Prinzipien und am demo-kratischen Prozess und werden Sie nicht in Isolation zurücklassen.“

US-Vizepräsident George H. W. Bush am 30. Juni 1981 anlässlich eines Toasts auf seinen Gastgeber Präsident Marcos in Manila – zit. nach: „Philippines: Together Again“ in TIME Magazine vom 13. Juli 1981.

Mord im MorgengrauenDie Wende erfolgte, als Marcos’ größter politischer Herausforderer, der frühere Senator Benigno „Ninoy“ Aquino, bei seiner Rückkehr aus zeitweiligem US-ameri-kanischen Exil am 21. August 1983 erschossen wurde – an hellichtem Tage, als er gerade dem auf Manilas Flughafen gelandeten Jet entstiegen war. Es war dies ein

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Tabubruch gemäß dem Motto „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“. Der Aquino-Mord elektrisierte die Mittelschicht und Teile der Oberschicht. Bis zum Sturz von Marcos in den bewegten wie bewegenden Tagen vom 22. bis zum 25. Februar 1986 verging kaum ein Tag, an dem nicht Demonstrationen oder Protest-märsche gegen den Diktator stattfanden.

In jenen turbulenten Tagen besiegelte die sogenannte „People Power“ oder „Rosen-kranz-Revolution“ das jähe Ende der Marcos-Herrschaft. Manilas damaliger Erzbi-schof, Jaime Kardinal Sin, hatte über den Radiosender Radio Veritas die Gläubigen aufgerufen, gegen den Diktator meuternde Offiziere zu unterstützen. Etwa zwei Milli-onen Menschen bewegten sich in Richtung von Manilas Hauptschlagader, der Epifanio de los Santos Avenue (EDSA), wo sich die Meuterer um Verteidigungsminister Juan Ponce Enrile und Fidel V. Ramos, dem Vizechef der Constabulary (des Vorläufers der heutigen Nationalpolizei), verschanzt hielten. Die Szenen glichen einer gigantischen Open Air-Liturgie, wo Scharen von Gläubiger jeglichen Autoverkehr und potenzielles Anrollen von Panzern blockierten und Nonnen wie Priester den Meuterern, deren Zahl von Stunde zu Stunde anschwoll, Blumenkränze umhängten.

Regierungswechsel als gigantische Open Air-LiturgieZu People Power zählte eine vitale Zivilgesellschaft – darunter die einflussreiche Katholische Bischofskonferenz des Landes unter Führung von Kardinal Sin. Mit Juan Ponce Enrile und Fidel V. Ramos hatten zwei langjährige Marcos-Gefolgsleute dem Diktator die Treue aufgekündigt, die seinem Regime zuvor als bedingungslose Kriegsrechtsverwalter und Korsettstangen gedient hatten.

Marcos stürzte, weil das Ineinanderfließen zumindest dreier gewichtiger Faktoren – People Power, die Revolte eines bedeutsamen Teils der Streitkräfte beziehungsweise die buchstäblich fünf vor Zwölf vollzogene Abkehr hochrangiger Militärs vom Präsi-denten sowie ein gewieftes Krisenmanagement seitens der ehemaligen Kolonial-macht USA – sein Regime letztlich unterhöhlte. Was-hington hatte aus früheren Erfahrungen in Laos, Nikaragua und Iran gelernt, Despoten nicht länger mehr bis zur bitteren Neige zu unterstützen. Bereits vor Marcos' Fall hatten das amerikanische Außen- und Verteidigungsministerium Signale nach Manila ausge-sandt, dass dort Reformen überfällig seien.

Von Aquino zu Aquino (1986-2016)Marcos' Familie und eine Schar ihr treu ergebener Gefolgsleute wurden in der Nacht vom 25. auf den 26. Februar von der US-Luftwaffe ins Exil auf Hawaii aus-geflogen. Die Witwe des 1983 erschossenen Mar-cos-Rivalen, Corazon C. Aquino, beerbte den Diktator. „Cory“, wie Frau Aquino im Volksmund liebevoll Corazon Aquino © Siebert

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genannt wurde, war überschwänglich als Hoffnungsträgerin eines demokratischen Wandels gefeiert worden. Doch während ihrer Amtszeit, die im Sommer 1992 endete, blieben die meisten der von ihr angekündigten Reformvorhaben unvollendet.

Tragisch war der unter ihrer Obhut vollzogene Rechtsschwenk, paramilitärischen Vigi-lante-Gruppen (Bürgerwehren) ein staatliches Gütesiegel aufzudrücken und sie als „Verkörperung von People Power“ zu huldigen. Sie überlebte nur mehrere Putschver-suche seitens des Militärs dank ihres Generalstabschefs und späteren Verteidigungmi-nisters Fidel V. Ramos. Dieser hatte sich stets schützend vor die Präsidentin gestellt und eigentlich hinter den Kulissen die Strippen gezogen. Es entsprach nachgerade klassischer Dankesschuld (utang na loob), dass Ramos als Aquinos „Thronfolger“ aus-erkoren wurde und von 1992 bis 1998 selbst als Präsident amtierte.

Geläuterter General – geschasster Präsident – gehasste PräsidentinEinmalig in der Geschichte des Landes, musste Ramos' Nachfolger, der früher außer-ordentlich populäre Schauspieler Joseph E. Estrada, nach nur zweieinhalb Jahren sei-ner insgesamt sechsjährigen Amtszeit im Januar 2001 seinen Dienst quittieren. Est-rada, der zuvor als Vizepräsident und gleichzeitig als oberster Verbrechens- und Korruptionsbekämpfer amtiert hatte, strauchelte ausgerechnet über zahlreiche Kor-ruptionsaffären. Er wurde deshalb rechtskräftig verurteilt, doch bereits wenig später von seiner Nachfolgerin, Gloria Macapagal-Arroyo, amnestiert und rehabilitiert.

Die Amtszeit Frau Arroyos (2001-2010), in der allein über 1.200 außergerichtliche Hinrichtungen unaufgeklärt blieben, war für viele in- wie ausländische Analysten eine verlorene Dekade. Nach Marcos avancierte sie zum meistgehassten Präsiden-ten. Erst Ende Juli 2016 wurde Frau Arroyo nach mehrjähriger privilegierter Spitals-haft auf freien Fuß gesetzt, nachdem mehrere gegen sie angestrengte Rechtsverfah-ren letztinstanzlich vom Obersten Gerichtshof des Landes mangels Beweisen abgeschmettert wurden.

Vergelbter TraumAm 30. Juni 2010 beerbte Benigno „Noynoy" S. Aquino III., einziger Sohn der ein Jahr zuvor gestorbenen Expräsidentin Corazon C. Aquino, Frau Arroyo. Mit großen Vorschusslorbeeren trat er sein Amt an und verkündete, stets „den geraden Weg“ zu gehen. Den Wählern und Menschen im Lande machte er Mut und versicherte ihnen bei seinen ersten öffentlichen Auftritten immer wieder: „Ihr seid mein Boss“. Eine rhetorische Figur, die sich mit zunehmender Verweildauer Aquinos im Amt verschliss. Ab Mitte seiner Amtszeit im Sommer 2013 verlor der Präsident, der vor-zugsweise im gelben T-Shirt seiner regierenden Liberalen Partei auftrat, zunehmend an Glaubwürdigkeit und trudelte von einer Krise in die nächste. Korruptionsaffären und Bestechungsskandale häuften sich, das Krisen- und Katastrophenmanagement – vor allem bei dem verheerenden Taifun Haiyan (lokal als Yolanda bekannt) im November 2013 – geriet mächtig unter Beschuss und kleinere wie größere Massaker blieben aufgrund qualvoll langsam mahlender Justizmühlen ebenfalls unaufgeklärt.

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Trauerbeflaggung in Mamasapano Anfang 2015 © WGT e.V.

Dann kam der „schwarze Sonntag“ des 25. Januar 2015: Einer in den frühen Morgenstunden desaströs verlaufenen Antiterror-Kommandoaktion von Elite-einheiten der Philippinischen National-polizei in Mamasapano in der südlichen Provinz Maguindanao fielen allein 44 Polizisten zum Opfer. Dieser „Vorfall“ erhitzte die Gemüter dermaßen, dass der am 27. März 2014 international gepriesene Abschluss eines Friedensver-trages mit der Moro Islamischen Befrei-ungsfront (MILF) nicht umgesetzt wer-

den konnte. Dessen Kernstück nämlich, das Bangsamoro Grundgesetz, fand aufgrund einer hochgepeitschten islamophoben Stimmung schlicht kein notwendiges Quorum.

Unruhiger SüdenSo bleibt bis heute ein Frieden in Südostasiens ältester Konfliktregion ein frommer Wunsch. Schlimmer noch: Immer unverhohlener agieren der dschihadistische IS (Islamischer Staat) und Gesinnungsgenossen der Abu Sayyaf im Süden des Landes. Gründungsmitglieder der Abu Sayyaf hatten einst als Mujahedin in Afghanistan gegen die sowjetischen Besatzungstruppen gekämpft. Trotz mehrerer Großoffen-siven philippinischer Eliteeinheiten und US-Spezialkräfte in der Region gelang es nicht, die auf Kidnapping und Lösegelderpressung spezialisierte Abu Sayyaf aufzu-reiben. In Deutschland stand sie im Sommer 2000 wochenlang im Zentrum medialer Aufmerksamkeit, als neben der Göttinger Familie Wallert auch andere westliche Geiseln von der Abu Sayyaf gekidnappt und erst nach Zahlung hoher Lösegelder wieder auf freien Fuß gesetzt worden waren.

Bittere Enttäuschung, Wut, Zynismus und Frustration waren während des Wahl-kampfs im Frühjahr 2016 allerorten vernehmbar. Ein idealer Nährboden für viele Unzufriedene, Aquino und seine Liberale Partei an den Urnen gnadenlos abzustra-fen und das Heil in einem „Messias mit Maschinenpistole“ zu suchen – dem langjäh-riger Bürgermeister von Davao City, Rodrigo R. Duterte.

„Alle, die meine Order befolgen und (Drogenhändler und andere Kriminelle) exekutieren, können sich auf mich und mich allein berufen. (…) In Ausübung der Pflicht und gemäß eures Mandats genießt ihr meine hundertprozentige Unterstützung. Ich werde es nicht zulassen, dass ihr dafür ins Gefängnis kommt. Ich werde eher der Erste sein, der hinter Gittern landet.“

Der seit dem 30. Juni 2016 amtierende Präsident Rodrigo R. Duterte anlässlich einer Rede vor Angehörigen der Streitkräfte und Nationalpolizei in Zamboanga City – zit. nach: The Philippine Daily Inquirer (Manila) vom 21. Juli 2016.

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Dunkler Auftakt einer angeblichen Lichtgestalt (2016-?)Am 4. Juli 2016 gedachten die Filipinos der Unabhängigkeit vor 70 Jahren. Doch auch nach sieben Dekaden harrt eine Fülle von Problemen dringlich einer Lösung: grassierende Armut und Gewalt; Landflucht und interne Kolonisierung; Korruption und Bestechung; Durchsetzung einer den Namen verdienenden Land- und Agrarre-form; Beilegung bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und muslimischen Rebellengruppen und der kommunistischen Guerilla der Neuen Volksarmee; eine dauerhafte Friedenslösung im Süden des Landes; ungesühnte Morde; Ende einer im In- wie Ausland wiederholt attackierten Kultur der Straffrei-heit, interne Machtkämpfe zwischen widerstreitenden politischen Clans und Famili-endynastien sowie mitunter aufbrechende innermilitärische Reibereien.

Der am 30. Juni vereidigte 16. Präsident der Philippinen, Rodrigo R. Duterte, den seine Freunde kurz „Rody“ oder „Digong“ nennen, ist mit dem Credo angetreten, vor allem Korruption, Kriminalität und das Drogenproblem im Lande binnen weni-ger Monate „auszumerzen“. Eines ist schon jetzt gewiss: Er ist die mit Abstand schil-lerndste und kontroverseste Person, die jemals in den Malacañang-Palast zu Manila einzog. Für seine Fangemeinde ist „Rody“ der verkörperte Heilsbringer – darüber hinaus der erste Präsident, der aus Mindanao stammt. Er geriert sich als volksnaher Tribun und zelebriert gern Machoallüren, indem er gelobt, die Bastionen des ver-hassten „imperialen Manila“ zu schleifen.

Für seine Gegner und Kritiker ist Duterte hingegen ein „Soziopath“ und „unmanier-liches Großmaul“. Nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen werfen dem neuen Präsidenten vor, Todesschwadronen während seiner langjähri-gen Zeit als Bürgermeister von Davao zumindest toleriert, wenn nicht gar tatkräftig selbst unterstützt zu haben.

Jedenfalls ist das Tempo beängstigend, mit dem seit Dutertes haushohem Wahlsieg am 9. Mai 2016 außergerichtliche Hinrichtungen durchgeführt wurden. Die Opfer waren bislang tatsächliche oder vermeintliche Drogendealer, allesamt „kleine Fische“, über deren Leichen meist ein Pappschild mit der Aufschrift „Ich bin ein Pus-her“ gelegt wurde. Bis Ende Juli (der Fertigstellung dieses Texts) sind bereits über 298 solcher Opfer zu beklagen3. Sollte sich eine gängige Kultur der Straffreiheit mit einer staatlich gegängelten und gleichzeitig abgesegneten „Kultur des Exekutierens“ verschränken, ramponiert dies zutiefst das Image eines farbenprächtigen, lebens-frohen Landes und seiner politischen Führung.

3 Diese Zahl stammt von der Philippinischen Polizei PNP selbst, andere Quellen sprechen von über 400 Toten.

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Mary Lou U. Hardillo ist Ethnologin, Publizistin, Dolmetscherin, Übersetzerin, interkulturelle Trainerin und Philippinen-Dozentin an der Akademie für Interna-tionale Zusammenarbeit (AIZ) in Bad Honnef. Sie war Vorsitzende von BABAY-LAN, einem europaweiten Netzwerk sozialpolitisch engagierter Filipinas, und ist langjährige Vorsitzende des Philippine Women's Forum Germany e.V.

Dr. Rainer Werning, Sozialwissenschaftler und Publizist mit dem Schwerpunkt Südost- und Ostasien, befasst sich intensiv mit den Philippinen seit 1970 und verbrachte dort lange Zeit zu Studienzwecken und für Recherchen. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zum Thema sowie Philippinen- und Korea-Dozent an der AIZ (Bad Honnef) und war in den vergangenen Jahren u.a. Lehrbeauftragter an den Universitäten Bonn und Osnabrück.

Literaturhinweise und Links:

• Stefan Zweig (1983): Magellan – Der Mann und seine Tat. Frankfurt a.M. (25. Aufl.)

• Bernhard Dahm (1988): José Rizal: Der Nationalheld der Filipinos. Göttingen

• Rainer Werning & Mary Lou U. Hardillo (Hg./1991): Philippinen – Paradies in Aufruhr. Berlin

• Stefan Rohde-Enslin (1992): Östlich des Horizonts – Deutsche Philippinenforschung im 19. Jahrhundert. Münster

• Mary Lou U. Hardillo (Hg./2000): TransEuroExpress – Filipinas in Europe (Deutsch, Englisch & Tagalog). Unkel/Bad Honnef

• Rainer Werning (2010): Programmierter Dauerkonflikt? Die Suche nach einem tragfähigen Frieden in den Südphilippinen, in: Internationales Asienforum Vol. 41, No. 3-4, S. 303-322. Freiburg i. Br.; http://crossasia-journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/iaf/article/view/17

• Rainer Werning (2011): Krone, Kreuz und Krieger – Europäische Vermächtnisse in den Philip-pinen (dtsch./engl.). Essen

• Peter Priskil (Hg./2014): Der unbekannte Mark Twain – Schriften gegen den Imperialismus. Freiburg i.Br.

• Niklas Reese & Rainer Werning (Hg./2014): Handbuch Philippinen – Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur. Angermünde (5. Aufl.)

• Rheinisches JournalistInnenbüro/Recherche International (Hg./2014): ‚Unsere Opfer zählen nicht' – Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg. Bonn (5. Aufl. & Lizenzausgabe) – darin vor allem das Asien-Kapitel.

• https://www.liportal.de/philippinen.html

• http://dp-freunde.de/comm/

• http://pinayskaleidoscope.blogspot.de/2010/07/wunschkinder-status-und-rolle.html