Weiterbildungswiderstand - Eine kritische Theorie der ... · Veröffentlicht mit der Unterstützung...

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Daniela HolzerWeiterbildungswiderstand

Pädagogik

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Daniela Holzer (Assoz. Prof. Dr.) lehrt und forscht im Fachbereich Erwachsenen-und Weiterbildung an der Universität Graz. Aus kritisch-theoretischer Perspekti-ve widmet sie sich in ihren Forschungen gesellschaftskritischen Analysen derErwachsenen- und Weiterbildung.

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Daniela Holzer

WeiterbildungswiderstandEine kritische Theorie der Verweigerung

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2017, transcript Verlag

Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, BielefeldLektorat: Verena Hauser, WienSatz: Justine Buri, BielefeldDruck: Majuskel Medienproduktion GmbH, WetzlarPrint-ISBN 978-3-8376-3958-2PDF-ISBN 978-3-8394-3958-6

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Inhalt

1. Einleitung | 11

2. Ankerpunkte: Kritische Theorie und kritische Bildungswissenschaft | 212.1 Grundlinien der Kritischen Theorie | 22

2.1.1 Neuer Wein in alten Schläuchen | 222.1.2 Vom Leiden über Dialektik, Kritik und Reflexivität zur Abschaffung von Leid | 27

2.2 Exkurs: Kritische Theorie und Poststrukturalismus – ein »Geschwister«-Streit | 322.3 Ähnliche Wege trotz differenter Theoriebezüge: kritische Bildungswissenschaft | 41

2.3.1 Exkurs: Begriffe in disziplinärer Uneinigkeit | 422.3.2 Von Aufschwüngen, Abschwüngen und Neubelebungen | 462.3.3 Ein schwieriges Verhältnis: Kritische Theorie und (Erwachsenen-)Bildung | 51

3. Negativ-dialektisch denken und lesen | 553.1 Lücken und Herausforderungen | 59

3.1.1 Theoriebildung »passiert einfach«? | 603.1.2 (Fehlende) Kritische Methodologie und Methoden | 653.1.3 Methodologie und Methode negativ-dialektischen Denkens und Lesens | 71

3.2 Das Was und das Wie von kritischer Kritik und kritischer Reflexion | 753.2.1 Vorangestellt: Denken | 763.2.2 Kritische Kritik: immanent, ideologie- und selbstkritisch | 843.2.3 (Selbst-)Reflexion und Selbstkritik | 973.2.4 Erste methodische Überlegungen: Denken und Verhältnisse in Bewegung bringen | 100

3.3 Negative Dialektik: Essenzielle Momente und erste methodische Fragmente | 103

3.3.1 (Negative) Dialektik | 1063.3.2 Negation und das Negative | 112

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3.3.3 Nichtidentisches | 1183.3.4 Konstellationen | 1213.3.5 Geistige, sinnliche, leibliche, emotionale Erfahrung | 1283.3.6 Ergänzung: Möglichkeiten und Utopie | 133

3.4 Exkurs: Egon Schiele als negativer Dialektiker | 1393.5 Radikale, negative Bildungstheorie | 141

3.5.1 Radikale Kritik und Selbstreflexion | 1423.5.2 Negativität und Handlungsoffenheit | 1433.5.3 Gesellschaftskritische, eingreifende Theorie und Praxis | 145

3.6 Negativ-dialektisch denken und lesen: ein Methodenentwurf | 1493.6.1 Zur Navigation – prozesshafte Entwicklung von Aneignungen und Anwendungen | 1513.6.2 Methodische Unmethode | 1593.6.3 Unmethodische Methode | 167

3.7 Einmal Wüste und retour | 184

4. Widerstand in (Weiter-)Bildungskontexten | 1874.1 Widerstand gegen (Weiter-)Bildung gesellschaftskritisch betrachtet | 191

4.1.1 Prolog: Leo N. Tolstoi: »Gedanken über Volksbildung« | 1934.1.2 Hundert Jahre Leere? | 1964.1.3 Paul Willis: »Spaß am Widerstand – Learning to Labour« | 1984.1.4 Henry A. Giroux: »Theory and Resistance in Education« | 2024.1.5 Dirk Axmacher: »Widerstand gegen Bildung« und Arbeiten von Wolfgang Huge | 2074.1.6 Axel Bolder und Wolfgang Hendrich: »Fremde Bildungswelten« | 2174.1.7 Daniela Holzer: »Widerstand gegen Weiterbildung« | 2244.1.8 Versatzstücke und Splitter in weiteren Forschungen | 226

4.2 Übergänge | 2304.2.1 Themenhefte: Begriffswandel und unverbundenes Nebeneinander | 2314.2.2 Widerstände in (psychologischen) Lerntheorien – Peter Jarvis, Knud Illeris, Klaus Holzkamp, Peter Faulstich und ein Exkurs zu Frigga Haug | 240

4.3 Vollständiger Wechsel des Fokus: Lernwiderstände und der Verlust des Kritischen | 250

4.3.1 Thomas H. Häcker: »Widerstände in Lehr-Lern-Prozessen« | 2524.3.2 Peter Faulstich, Petra Grell: Lernwiderstände | 2544.3.3 Anke Grotlüschen: widerständiges Lernen und Interessetheorie | 258

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4.3.4 Melanie Franz: Organisationstheoretischer Widerstand und Widerstand als Lernanlass | 2614.3.5 Versatzstücke und Splitter in weiteren Forschungen | 262

4.4 Widerstand als Bildungsziel | 2664.4.1 (Erwachsenen-)Bildung zwischen Anpassung und Widerstand | 2674.4.2 Widerstand durch Bildung, Bildung durch Widerstand | 271

4.5 Forschungslinien, Anknüpfungspunkte und Leerstellen | 278

5. Ausflüge in Nachbardisziplinen | 2915.1 Widerstandsforschung: Hype und Entwicklungen | 295

5.1.1 Widerstands- und Protestforschung | 2965.1.2 Erweiterung des Begriffs und Dominanz von Poststrukturalismus und Cultural Studies | 299

5.2 Widerstand in Unternehmen: divergierende Interessen | 3035.2.1 Widerstand managen | 3035.2.2 Critical Management Studies und Organizational Misbehaviour | 312

5.3 Politische, gesellschaftstheoretische und philosophische Diskurse | 3185.3.1 Juristische und demokratietheoretische Fragen des Widerstandsrechts | 3195.3.2 (Ziviler) Ungehorsam | 3235.3.3 Widerstand als moralphilosophische Dimension von Vernunft | 3275.3.4 Verweigerung und Revolution | 3315.3.5 (In-)Direkter Kampf gegen Herrschende oder ein diffuses Gegenüber | 3345.3.6 Exkurs: Bartleby und seine Verehrer_innen | 3395.3.7 Subjektivierung und Widerstand: Alltagshandeln mit subversiver Garantie? | 340

5.4 Mitzunehmende Gepäckstücke | 352

6. Weiterbildungswiderstand jenseits bisheriger Eingrenzungen: eine negativ-dialektische Lesart | 3596.1 Umkreisungen von Worten | 365

6.1.1 Benennungsvielfalt und Konnotationen | 3656.1.2 Erneuerte Begriffspraxis: Weiterbildungswiderstand | 370

6.2 Weiterbildungswiderstand als negativ-dialektisches Widerspruchsverhältnis | 375

6.2.1 Die Dialektik von Weiterbildung und Weiterbildungswiderstand | 3756.2.2 Die Widersprüchlichkeit des Weiterbildungswiderstands | 3836.2.3 (Gegen-)Gegen-Gegenbewegung | 388

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6.3 Weiterbildungswiderstand als Negation | 4006.3.1 Ein- und Entgrenzungen | 4026.3.2 Wider die Positivierung | 4046.3.3 Das »Nicht-« als Normbruch | 4096.3.4 Die Negation nicht-beruflicher Erwachsenenbildung | 410

6.4 Interessenlagen | 4146.4.1 Manifestationen von Interessengegensätzen | 4156.4.2 Weiterbildungswiderstandsinteresse | 421

6.5 Antagonist_innen | 4436.5.1 Das Gegenüber des Weiterbildungswiderstands | 4446.5.2 Die (potenziell) Widerständigen | 448

6.6 Handlungen und Praktiken: Widerstand in allen Farben und Formen | 453

6.6.1 Widerständige Handlungsdimensionen | 4556.6.2 Facetten weiterbildungswiderständiger Praxis lesbar machen – der Kontext | 466

6.7 Kritischer Weiterbildungswiderstand | 472

7. Essayistische Skizzen und Miniaturen | 483

8. Literatur | 507

9. Anhang | 555

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Egon Schiele, Herbstbaum in bewegter Luft (»Winterbaum«), 1912Leopold Museum, Wien

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Philosophie ist das Allerernsteste, aber so

ernst wieder auch nicht.

(Adorno 1966/2003: 26)

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1. Einleitung

Er ist still, unauffällig, weitgehend unsichtbar. Er ist störend, lästig, irritierend. Er ist einsam, kaum artikuliert, teilweise unbewusst. Er ist negierend, wider-sprüchlich, unauflöslich. Er ist vielfältig, beweglich, unterschiedlichst inte- ressiert. Weiterbildungswiderstand hat viele Facetten, die es zu entdecken gilt.

Weiterbildung ist kein neutraler Raum. Sie ist besetzt, vereinnahmt, um-kämpft. Manches Ringen antagonistischer Interessen tritt offen zu Tage, während andere Kämpfe unsichtbar und eher unauffällig bleiben. Weiterbil-dungswiderstand tritt zumeist in unspektakulärem Gewand auf, verschwin-det in seiner häufigen Unscheinbarkeit hinter offensichtlicheren Anliegen und rutscht zumeist unter die Wahrnehmungsschwelle. In manchen Erschei-nungsformen wird er in der Erwachsenen- und Weiterbildung von Lehrenden als Störung des Kurs- und Lerngeschehens getadelt, in stillen Unterlassungen, schweigendem Abwenden, unartikuliertem Entziehen tritt er aber nicht auf den ersten Blick hervor, bleibt in Form von Nicht-Teilnahme sogar weitgehend unbemerkt. Erst eine Perspektive, die Weiterbildungsabstinenz nicht lediglich strukturellen Verhinderungen zuschreibt, sondern solche Unterlassungen als eigenlogisches und subjektiv beeinflussbares, sogar sinnvolles Handeln re-konstruiert, eröffnet eine Betrachtungsweise, dass Erwachsenen- und Weiter-bildung nicht bei allen auf jenes hohe Interesse und jene Bereitschaft stößt, die unterstellt oder normativ erwartet wird. Obwohl vereinzelte Forschungen vorliegen und in der Fachliteratur gelegentliche Erwähnungen aufzustöbern sind, bleibt Weiterbildungswiderstand dennoch ein weitgehend vergessenes Moment. Er kann aber als Ausdruck subjektiver Bedürfnisse jenseits verordne-ter Lernzwänge, als Relevanz von Lebenswelten jenseits der Erwachsenen- und Weiterbildung oder als Problematisierung von Themen und Gestaltungen or-ganisierter Lehr-Lern-Prozesse gelesen werden. Er öffnet eine wissenschaftli-che und praktische Perspektive, sowohl Weiterbildungsabstinenz als auch Vor-gänge in Lehr-Lern-Situationen differenzierter zu beleuchten, als dies bisher erfolgt ist. Es gilt daher, ihn auf die Bühne zu holen, ihm einen angemessenen Raum in der wissenschaftlichen und praktischen Fachöffentlichkeit zu ver-schaffen und ihn aus dem Dunkel erklärter Irrelevanz hervortreten zu lassen.

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Weiterbildungswiderstand12

Weiterbildungswiderstand kratzt am Image der Erwachsenen- und Wei-terbildung, werden doch deren kolportierte Sinnhaftigkeit, Nützlichkeit und Unumgänglichkeit in Zweifel gezogen, wenn Erwachsene sich entziehen, sich abwenden oder sich offen verweigern, ob nun in Form von Abstinenz oder in-nerhalb von Lehr-Lern-Prozessen. Widerständig handelnde Erwachsene stellen in Frage, ob Teilnahme und Lernen tatsächlich jene Bedeutung haben, die ih-nen gesellschaftlich derzeit verliehen wird und die von der Erwachsenen- und Weiterbildung mit gepflegt und vorangetrieben, selten aber hinterfragt wird. »Ob wir dem Trend zu einer beschleunigten Umwälzung des wissenschaftlich geprägten Berufswissens in Form von life-long-education, Umschulung, be-ruflicher und betrieblicher Weiterbildung folgen wollen, ist ein Problem, das in Erwachsenenbildungsprozessen wohl die größten Chancen hat, nicht gestellt zu werden« (Axmacher 1990a: 216). In gewissem Sinn bildete die Arbeit von Axmacher (1990 a) einen Auftakt dafür, dass Widerstand gegen (Weiter-)Bil-dung nicht mehr einfach ignoriert werden konnte. Auch im deutschsprachigen Raum können nun weder Wissenschaft noch Praxis weiterhin daran festhal-ten, dass Erwachsenen- und Weiterbildung unumwunden von allen gutgehei-ßen und freudestrahlend in Anspruch genommen wird, sondern sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich gegen zunehmenden Weiterbildungsdruck und -zwang auch Widerstand formiert. Seit Axmachers »Auftakt« gibt es ver-einzelte Auseinandersetzungen mit Widerstand gegen (Weiter-)Bildung (z.B. Bolder/Hendrich 2000), in den letzten Jahren auch eine Diskussion von Wi-derständen in Lehr-Lern-Situationen (z.B. Faulstich/Grell 2005); umfassende-re und die heterogenen Zugänge zusammenführende Widerstandsforschun-gen, insbesondere aber intensivere theoretische Überlegungen bleiben im Feld der Erwachsenen- und Weiterbildung aber aus.

Zündfunken für eine TheorieentwicklungWoran entzündete sich der Funke, der mich bewegte, mich eingehend mit Wi-derstand gegen (Weiter-)Bildung auseinanderzusetzen? Ich beschäftigte mich bereits vor einigen Jahren erstmals intensiver mit diesem Themenfeld (vgl. Holzer 2004) und es ist seither nie ganz aus meinem Blickfeld verschwunden. Aus einem kritischen Erkenntnisinteresse heraus verfolgte ich einzelne Ge-danken zuweilen weiter, insbesondere die Spur, Weiterbildungswiderstand als kritische Praxis zu betrachten. In den letzten Jahren ist eine Verschärfung von Weiterbildungsverpflichtungen und von Lern- und Weiterbildungszumutun-gen wahrzunehmen. Kaum noch hinterfragbar und durchschaubar ist lebens-langes Lernen als unumgängliche, quasi »naturgesetzliche«, zumindest aber jenseits gesellschaftlicher Einflussnahmen fortschrittslogische Notwendigkeit besiegelt. Die dahinterliegenden Interessen werden zwar kaum verschleiert, vielmehr wird sogar direkt ausgesprochen, dass kapitalistischer Wettbewerb und ökonomischer Fortschritt angestrebt werden. Allerdings werden die ge-

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1. Einleitung 13

sellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen als Strukturdeterminis-men dargestellt, denen wir nur noch folgen können, auf die aber angeblich keine Einflussnahme möglich ist. Unausgesprochen bleibt, dass die verspro-chenen individuellen Erfolge, sei es Erwerbsarbeitssicherung oder gesell-schaftliche Teilhabe qua Weiterbildung, lediglich Lockmittel sind, um jede_n zu motivieren, eigenständig die Ware Arbeitskraft weiterzuentwickeln, um sie am »freien« Markt zu verkaufen und jenen Mechanismen zuzuführen, die an-dere daraus Mehrwert abschöpfen lassen. Der »Fetisch« Bildung, also dessen quasireligiöse Verehrung als wertvolles, nützliches, brauchbares, emanzipato-risches Gut, ist aber bereits Grundlage der Konstitution der bürgerlich-kapita-listischen1 Gesellschaft und dementsprechend noch tiefer in unserem Denken verankert als das berufliche Brauchbarkeitslernen. Weiterbildungswiderstand entzieht diesen Beteuerungen einige Grundlagen, indem er in Frage zu stellen droht, dass Lernen und Bildung nicht per se für alle gut und wünschenswert sind, dass Weiterbildungs- und Lernbedürfnisse nicht so groß sind, wie es die Weiterbildungspraxis erhofft und die Weiterbildungswissenschaft als Legiti-mation für ihr Tun braucht, und dass sich die Nützlichkeit und Sinnhaftigkeit für viele nicht so recht einstellen will. An diesen Verhältnissen entzündete sich der Funke, Weiterbildungswiderstand nochmals in den Blick zu nehmen und genauer zu erkunden, ob und wie angesichts dessen Widerstand noch denkbar ist.

Das Vorhaben bestand zunächst eigentlich darin, bereits in Forschungen angesprochene Motive, Hintergründe, Entscheidungs- und Handlungsmög-lichkeiten von Weiterbildungswiderstand zu erkunden, weil ich sowohl in Stu-dien zu Weiterbildungsbeteiligung als auch in jenen zu Weiterbildungsabsti-nenz und in Arbeiten zu Lernwiderständen noch ausdifferenzierbare Aspekte entdeckte. Mit dem Eintreten in das Themenfeld öffneten sich aber ständig neue Türen zu weiterführenden und komplexeren Denkmöglichkeiten, die mich dazu verführten, mich einer Theorie von Weiterbildungswiderstand zu widmen, da eine solche bislang erst in Ansätzen ausformuliert ist.

Lücken und LeerstellenWas fehlt, ist ein umfassendes und komplexes Verständnis von Weiterbil-dungswiderstand in all seinen möglichen Facetten, Ausdrucksformen und Bedeutungen. Vorhandene Arbeiten liefern wertvolle Einblicke, wählen aber spezifische Ausschnitte, integrieren kaum konsequent andere vorhandene For-schungen im Feld und stellen wenig Verbindungen zu anderen philosophi-schen, sozial- und politikwissenschaftlichen Widerstandsforschungen her, ob-

1 | Obwohl die bürgerliche Gesellschaft bislang ausschließlich eine kapitalistische ist

und umgekehrt, verwende ich den Doppelbegrif f, um sowohl auf die kulturelle als auch

ökonomische Dimension dieser Gesellschaftsform hinzuweisen.

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Weiterbildungswiderstand14

wohl diese gerade in den letzten Jahren zahlreiche relevante Erkenntnisse über stille und unauffällige Widerstandsformen erbracht haben. Mit den jeweiligen Schwerpunktsetzungen, den engen Eingrenzungen von Widerstand und der Unverbundenheit der Forschungen wird aber der Eindruck erweckt, Wider-stand sei in Bildungskontexten ein zu vernachlässigendes Element, da er nur ein Randsegment der potenziellen oder realen Weiterbildungsteilnehmenden betreffe. In der Erwachsenen- und Weiterbildung stellte sich kein durchgän-giger und breiter Diskurs über Widerstand ein. Nicht zuletzt deshalb fanden nicht nur kaum Weiterentwicklungen statt – es blieb bei Inselforschungen –, sondern ist Weiterbildungswiderstand als Begriff und Handlung nicht in der Fachöffentlichkeit verankert. Statt auf geteilten und bekannten Erkenntnissen fußende neue Denkmöglichkeiten und empirische Studien zu betreiben, bleibt es bei einer verschwommenen Vorstellung davon, was unter Widerstand in Bil-dungszusammenhängen verstanden werden könnte, und beginnt jede Diskus-sion neuerlich weitgehend bei null. Dies verhindert eine Weiterführung der Gedanken und differenziertere Erforschung. In meinem Vorhaben stellte ich mir daher die Aufgabe, lose Stränge zusammenzuführen, vorhandene Frag-mente aufzuspüren, weiteren Spuren zu folgen und sie in eine integrierte Dis-kussion zu verbinden. Ein solches Anliegen trifft auf die Schwierigkeit, dass Weiterbildungswiderstand vor allem in der unsichtbaren Handlungsform der Unterlassung auftritt und noch dazu mit »Denkverboten« belegt ist. Ich richte meinen Blick – zuweilen stur – auf genau dieses Übersehene und »Undenk-bare«, wähle die Perspektive auf das Widerständige und die Widerständigen und suche nach potenziell weiteren Widerständen. Eine solche integrierende und über bislang Erforschtes hinausgehende Perspektive macht deutlich, dass Widerstand in Bildungskontexten kein randständiges Phänomen ist, wie bis-herige Forschungen vielleicht den Eindruck erwecken, sondern in vielen Fa-cetten die gesamte Erwachsenen- und Weiterbildung durchzieht. Widerstand gegen (Weiter-)Bildung ist ein – absichtlich oder unabsichtlich – vergessenes und übersehenes Phänomen.

Weiterbildungswiderstand theoretisch zu fassen, lässt sich allerdings nur in Fragmenten verwirklichen, denn Theorie ist kein Wurf, der sich in einem Buch und von einer Person bewerkstelligen lässt. Einem kritisch-theoretischen Verständnis folgend ist Theorie auch nicht abseits der Praxis zu stellen. Sie wird »nicht durch einen einmaligen Akt zur Theorie. Eher kann Theorie als eine Serie von Äußerungen begriffen werden« (Demirović 2001: 168), die ihre Gültigkeit auch daran misst, ob und wie sie in die Praxis eingeht. Sie bedarf Weiterentwicklungen, Verfeinerungen, Ergänzungen und der Kritik. Gleich-wohl tritt Theorie aber an, einen Gegenstand »angemessen kompliziert zu ma-chen« (Steinert 2007a: 176). Erkenntnisgewinn dient einem »Naivitätsverlust« (ebd.: 177). Theorie hat jedoch auch immer Aspekte des Unwahren, ist Versuch und Entwurf und bedarf empirischer Ergänzungen. Zugleich gilt aber: »Ohne