Wenn Schmerzen im Gedächtnis bleiben

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Chronische Erkrankung Schmerzmessung Schmerz- management KEYWORDS Die Zunahme der Auf- tretenshäufigkeit und Intensität von Schmer- zen über die Zeit hin- weg wird als Chronifi- zierung bezeichnet Unerwünschter Lernprozess Wenn Schmerzen im Gedächtnis bleiben Rund fünf bis acht Millionen Menschen in Deutschland sind von chronischen Schmerzen betroffen, die sie in ihrem Alltag, in Beruf und in ihrer Freizeit einschränken. Dies bedeu- tet nicht nur individuelles Leid, sondern verursacht auch hohe Kosten. Aktuelle Kennt- nisse zum Chronifizierungsprozess können dazu beitragen, dieser Entwicklung schon im Vorfeld zu begegnen. S chmerz wird von der International Association for the Study of Pain (IASP) richtungweisend definiert als „ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder potenti- eller Gewebeschädigung einhergeht oder in Begrif- fen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“ Dabei wird nicht zwischen akuten und chronischen Schmerzen unterschieden. Diese Unterscheidung ist allerdings essenziell, da sie wichtige Implikationen für das Behandlungsziel hat. Akuter Schmerz dauert Sekunden bis Wochen, ist meist an erkennbare Aus- löser gebunden und besitzt dadurch eine bedeutende Warn- und Schutzfunktion für den Organismus. Chronische Schmerzen dagegen haben keine Warn- und Schutzfunktion mehr, können intermittierend (z. B. Migräne) oder dauerhaft auftreten, ihre Auslö- ser sind unbekannt und vielschichtig oder bekannt, aber nicht therapierbar. Lautet das Therapieziel bei akutem Schmerz Schmerzfreiheit mithilfe von Schonung, Behandlung der Schmerzursache und/oder zeitbegrenzter anal- getischer Behandlung verschieben sich die Behand- lungsziele bei chronischen Schmerzen: Im Vorder- grund steht hier der bessere Umgang des Patienten mit Schmerzen, die Minderung der schmerzbedingten Beeinträchtigungen und nicht zuletzt der Schmerzen selbst durch den Abbau schmerzunterstützender Fak- toren. Was ist chronischer Schmerz? Eine Zunahme der Auftretenshäufigkeit und Inten- sität von Schmerzen über die Zeit hinweg wird als Chronifizierung bezeichnet. Trotz der Bedeutsamkeit dieses Prozesses für die Beschreibung von Schmerzen und Schmerzstörungen ist er wissenschaftlich nicht präzise defniert. Bisher werden Schmerzen als chro- nisch bezeichnet, wenn sie zeitlich länger andauern. In Forschung und Praxis hat sich hierfür ein Zeitraum von sechs Monaten durchgesetzt („Sechsmonatekri- terium“). Bislang werden Schmerzen als chronisch bezeichnet, wenn sie zeitlich länger andauern. In Forschung und Praxis hat sich in der Zwischenzeit das Sechsmonatekriterium durchgesetzt. Erfassung chronischer Schmerzen Zeitkriterium. Die Definition von chronischen Schmerzen anhand lediglich eines Zeitkriteriums wird dem Konzept von Schmerz als vielschichtigem Geschehen nicht gerecht. So berücksichtigt die De- finition nicht, ob der Schmerz klinisch bedeutsam ist, beispielsweise aufgrund einer hohen Intensität und/oder Häufigkeit und/oder wegen schmerzbe- dingter Einschränkungen. Zudem hat sich das Zeit- kriterium im Vergleich zu anderen Chronifizierungs- kriterien als ein wenig bedeutsamer Prädiktor zum Beispiel für Arbeitslosigkeit, Depression, Medika- mentengebrauch und Arztbesuche erwiesen. In den Versuchen, Chronifizierung messbar zu machen, müssen daher weitere Dimensionen herangezogen werden. Chronifizierungsgrade. Das international bekanntes- te Verfahren, um das Ausmaß der Chronifizierung zu erfassen, ist der Graded Chronic Pain Status.von von Korff und Kollegen. Er bedient sich einer Kom- bination der Faktoren „Schmerzintensität“ (gering, hoch) und „schmerzbedingte Beeinträchtigung“ (ge- ring, stark), sodass Patienten einem von vier Chro- nifizierungsgraden zugeordnet werden. Die Eingruppierung der Patienten in eine der vier Klassen gilt als sehr guter Prädiktor für Arbeitslosig- keit, Depressivität oder häufige schmerzbezogene Arztbesuche sowohl zum Zeitpunkt der Erfassung des Chronic Pain Status als auch ein Jahr später. Die Chronifizierungsgrade nach von Korff sind Bestand- teil des Deutschen Schmerzfragebogens, der bei der DOI: 10.1007/s00058-014-0230-9 14 PflegeKolleg Chronische Schmerzen Heilberufe / Das Pflegemagazin 2014; 66 (2)

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Chronische Erkrankung Schmerzmessung Schmerz- management

KEYWORDS

Die Zunahme der Auf-tretenshäufigkeit und

Intensität von Schmer-zen über die Zeit hin-

weg wird als Chronifi-zierung bezeichnet

Unerwünschter Lernprozess

Wenn Schmerzen im Gedächtnis bleiben

Rund fünf bis acht Millionen Menschen in Deutschland sind von chronischen Schmerzen betroffen, die sie in ihrem Alltag, in Beruf und in ihrer Freizeit einschränken. Dies bedeu-tet nicht nur individuelles Leid, sondern verursacht auch hohe Kosten. Aktuelle Kennt-nisse zum Chronifizierungsprozess können dazu beitragen, dieser Entwicklung schon im Vorfeld zu begegnen.

Schmerz wird von der International Association for the Study of Pain (IASP) richtungweisend definiert als „ein unangenehmes Sinnes- und

Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder potenti-eller Gewebeschädigung einhergeht oder in Begrif-fen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“

Dabei wird nicht zwischen akuten und chronischen Schmerzen unterschieden. Diese Unterscheidung ist allerdings essenziell, da sie wichtige Implikationen für das Behandlungsziel hat. Akuter Schmerz dauert Sekunden bis Wochen, ist meist an erkennbare Aus-löser gebunden und besitzt dadurch eine bedeutende Warn- und Schutzfunktion für den Organismus. Chronische Schmerzen dagegen haben keine Warn- und Schutzfunktion mehr, können intermittierend (z. B. Migräne) oder dauerhaft auftreten, ihre Auslö-ser sind unbekannt und vielschichtig oder bekannt, aber nicht therapierbar.

Lautet das Therapieziel bei akutem Schmerz Schmerzfreiheit mithilfe von Schonung, Behandlung der Schmerzursache und/oder zeitbegrenzter anal-getischer Behandlung verschieben sich die Behand-lungsziele bei chronischen Schmerzen: Im Vorder-grund steht hier der bessere Umgang des Patienten mit Schmerzen, die Minderung der schmerzbedingten Beeinträchtigungen und nicht zuletzt der Schmerzen selbst durch den Abbau schmerzunterstützender Fak-toren.

Was ist chronischer Schmerz? Eine Zunahme der Auftretenshäufigkeit und Inten-sität von Schmerzen über die Zeit hinweg wird als Chronifizierung bezeichnet. Trotz der Bedeutsamkeit dieses Prozesses für die Beschreibung von Schmerzen und Schmerzstörungen ist er wissenschaftlich nicht präzise defniert. Bisher werden Schmerzen als chro-nisch bezeichnet, wenn sie zeitlich länger andauern. In Forschung und Praxis hat sich hierfür ein Zeitraum

von sechs Monaten durchgesetzt („Sechsmonatekri-terium“). Bislang werden Schmerzen als chronisch bezeichnet, wenn sie zeitlich länger andauern. In Forschung und Praxis hat sich in der Zwischenzeit das Sechsmonatekriterium durchgesetzt.

Erfassung chronischer SchmerzenZeitkriterium. Die Definition von chronischen Schmerzen anhand lediglich eines Zeitkriteriums wird dem Konzept von Schmerz als vielschichtigem Geschehen nicht gerecht. So berücksichtigt die De-finition nicht, ob der Schmerz klinisch bedeutsam ist, beispielsweise aufgrund einer hohen Intensität und/oder Häufigkeit und/oder wegen schmerzbe-dingter Einschränkungen. Zudem hat sich das Zeit-kriterium im Vergleich zu anderen Chronifizierungs-kriterien als ein wenig bedeutsamer Prädiktor zum Beispiel für Arbeitslosigkeit, Depression, Medika-mentengebrauch und Arztbesuche erwiesen. In den Versuchen, Chronifizierung messbar zu machen, müssen daher weitere Dimensionen herangezogen werden.

Chronifizierungsgrade. Das international bekanntes-te Verfahren, um das Ausmaß der Chronifizierung zu erfassen, ist der Graded Chronic Pain Status.von von Korff und Kollegen. Er bedient sich einer Kom-bination der Faktoren „Schmerzintensität“ (gering, hoch) und „schmerzbedingte Beeinträchtigung“ (ge-ring, stark), sodass Patienten einem von vier Chro-nifizierungsgraden zugeordnet werden.

Die Eingruppierung der Patienten in eine der vier Klassen gilt als sehr guter Prädiktor für Arbeitslosig-keit, Depressivität oder häufige schmerzbezogene Arztbesuche sowohl zum Zeitpunkt der Erfassung des Chronic Pain Status als auch ein Jahr später. Die Chronifizierungsgrade nach von Korff sind Bestand-teil des Deutschen Schmerzfragebogens, der bei der D

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Deutschen Schmerzgesellschaft erhältlich ist (www.dgss.org/deutscher-schmerzfragebogen/). Einen ähn-lichen Ansatz verfolgen auch andere Verfahren wie das Migraine Disability Assessment.

Mainzer Stadienmodell der Schmerz-Chronifizierung. Im deutschen Sprachraum wird häufig das Mainzer Stadienmodell der Schmerz-Chronifizierung (Mainz Pain Staging System) eingesetzt, in dem aus vier Ach-sen ein Gesamtchronifizierungsstadium ermittelt wird:

▶ Stadium I: akuter, subakuter und intermittierender Schmerz

▶ Stadium II: chronischer Schmerz ▶ Stadium III: lang andauernder chronischer Schmerz

Verschiedene Studien ergaben einen positiven Zusammenhang zwischen dem Chronifizierungssta-dium und Depressivität, schmerzbedingten Beein-trächtigungen bei Verrichtungen des alltäglichen Lebens und Arbeitsunfähigkeit. Allerdings wird die Zuordnung zu einem Chronifizierungsstadium auch durch die Schmerzlokalisation beeinflusst. So können z. B. Kopfschmerzpatienten im Vergleich zu Patienten mit Rückenschmerzen aufgrund der schmerzdiagno-setypischen Merkmale nur ein geringeres Chronifi-zierungsstadium erreichen.

Das SchmerzgedächtnisBeteiligte Gehirnareale. Chronische Schmerzen sind mit funktionellen und strukturellen Veränderungen vor allem der neuronalen Netzwerke verbunden, die an der Schmerzverarbeitung beteiligt sind. Diese Veränderungen werden häufig unter dem Begriff des „Schmerzgedächtnisses“ zusammengefasst, weil sie durch unterschiedliche Lernprozesse vermittelt wer-den.

Bei der Schmerzempfindung wird zwischen fol-genden Komponenten unterschieden:

▶ sensorisch-diskriminativ (Wahrnehmung von Reiz-ort, -stärke, -dauer und Art des Reizes),

▶ kognitiv-emotional (Schmerzbewertung vor dem Hintergrund individueller Erfahrungen, Stim-mungen, Erwartungen und Gefühlen) und

▶ behavioral (Bewertung des Schmerzes auf Verhal-tensebene)

Dementsprechend ist das Schmerzempfinden mit der Aktivierung bestimmter Gehirnareale assoziiert, die folgenden Mechanismen zugeordnet werden:©

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▶ sensorische Schmerzverarbeitung und Schmerz-inhibition

▶ Aufmerksamkeitsprozesse/kognitive Verarbeitung, ▶ emotionale Verarbeitung und ▶ motorische Reaktionen

Dieses Netzwerk aus unterschiedlichen Gehirnregi-onen wird oft als „Schmerzmatrix“ bezeichnet. Die bei chronischem Schmerz veränderte Aktivität der der „Schmerzmatrix“ zugeordneten Gehirnareale ist das Resultat neuronaler Umbauprozesse (Plastizität) infolge wiederholter Schmerzerfahrung und/oder bestimmter Krankheitsprozesse und Schädigungen wie z. B. einer Nervenverletzung, die zu neuropathi-schen Schmerzen führt. Letztlich handelt es sich bei diesen Veränderungen vermutlich um die Folge des Zusammenwirkens bereits vor der Erkrankung be-stehender Anfälligkeiten (Vulnerabilitäten) und der neuronalen Umbauprozesse infolge wiederholter Schmerzerfahrungen.

Sensitivierungsprozesse. Einen besonderen Stellen-wert bei erfahrungsbedingten Veränderungen neh-men Sensitivierungsprozesse (Zunahme der Reakti-onsstärke bei wiederholter Darbietung desselben Reizes) ein. Diese führen zu einer verstärkten Akti-vierbarkeit des schmerzverarbeitenden Systems.

Dadurch erklärt sich beispielsweise, warum chro-nischer Schmerz häufig nur gering mit den physio-logischen Faktoren korreliert, die ihn ursprünglich auslösten. Sensitivierung findet an den Schmerzre-zeptoren (Nozizeptoren) statt (periphere Sensitivie-rung), aber auch in Rückenmark und Gehirn (zen-trale Sensitivierung). Eine krankhafte Sensitivierung äußert sich in einer erhöhten Schmerzempfindlich-keit, die durch dauerhaft erniedrigte Schmerzschwel-len (Hyperalgesie) und bei manchen Schmerzstö-rungen durch eine erhöhte Empfindlichkeit für Reize charakterisiert ist, die normalerweise keinen Schmerz hervorrufen würden (Allodynie). Erfolgt eine wie-derholte oder länger dauernde Schmerzstimulation, lässt sich eine Zunahme der erlebten Schmerzinten-sität beobachten. Dabei handelt es sich zunächst um ein normales, physiologisches Phänomen. Bei Pati-enten mit chronischen Schmerzen ist allerdings eine im Vergleich zu gesunden Personen deutlich stärkere Erhöhung der erlebten Schmerzintensität zu beobach-ten, die als Hinweis auf eine mit der Schmerzerkran-kung einhergehende zentrale Sensitivierung gilt.

Neben funktionellen Veränderungen wurden in den letzten Jahren zunehmend auch strukturelle Ge-hirnveränderungen bei chronischem Schmerz fest-gestellt. Im Vergleich zu Kontrollpersonen ist bei Schmerzpatienten das Volumen an grauer Substanz in den der „Schmerzmatrix“ zugeordneten Arealen reduziert. Eine erfolgreiche Schmerzbehandlung geht mit einer Normalisierung des Volumens an grauer Substanz in diesen Arealen einher.

Lernprozesse. Außer der Sensitivierung tragen auch andere Lernprozesse wie klassisches Konditionieren, operantes Konditionieren und Modelllernen zur Schmerzchronifizierung und zur Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses bei. Insbesondere Konditio-nierungsprozesse und Modelllernen bedingen Ver-änderungen der kognitiv-emotionalen und der be-havioralen Schmerzreaktion im Sinne einer Schmerz-gedächtnisbildung.

Schmerzchronifizierung geht mit einer zuneh-menden Angst vor Schmerzen einher, die durch klas-sisches Konditionieren erworben wird. Darunter versteht man die Verknüpfung von Schmerzempfin-dungen mit ursprünglich nicht mit Schmerzen ver-bundenen konditionierten Reizen. Als konditionierte Reize können von außen kommende Reize (extero-zeptive Stimuli) wie eine bestimmte Situation (z. B. Arbeitsplatz, Konflikt), Reize aus dem Bereich der Tiefensensibilität (propriozeptive Stimuli) wie eine bestimmte Bewegung (z. B. Gehen, Beugen), aber möglicherweise auch Signale aus dem Körperinneren (interozeptive Signale) wie eine beschleunigte Herz-rate fungieren. Diese lösen durch die wiederholte Kopplung mit einer Schmerzempfindung zunehmend Angst vor Schmerz aus. Eine schmerzbezogene anti-zipatorische Angst kann die später erlebte Schmerz-intensität und so wiederum Sensitivierungsprozesse verstärken.

Bezugspersonen können den Chronifizierungsprozess beeinflussenDie Bedeutung der operanten Konditionierung von Schmerzverhalten für die Schmerzchronifizierung wurde bereits in einem der ersten verhaltensorien-tierten Schmerzmodelle, dem operanten Schmerz-modell von Fordyce betont. Danach nehmen Schmerzverhaltensweisen wie Klagen, Seufzen, Schonhaltung durch positive Verstärkung (z.B. Auf-

▶ Bisher werden Schmerzen dann als chronisch definiert, wenn sie über einen Mindestzeitraum von drei beziehungsweise sechs Monaten auftre-ten. Dieses Zeitkriterium beschreibt den Chroni- fizierungsprozess, also die zunehmende Auftre-tenshäufigkeit und Intensität von Schmerzen, allerdings nur unzureichend.

▶ Chronifizierung wird mehrdimensional erfasst; z. B. durch die Berücksichtigung von Beeinträchtigun-gen durch die Schmerzen und die Intensität. Ver-schiedene Lernprozesse tragen zur Chronifizie-rung von Schmerzen bei, da sie Veränderungen an den neuronalen Netzwerken vermitteln, die in die Schmerzverarbeitung involviert sind.

FA Z IT FÜ R D I E PFLEG EIn die Schmerzverar-beitung sind neuronale

Netzwerke involviert.

Eine krankhafte Sensitivierung äußert

sich in einer erhöhten Schmerz-

empfindlichkeit.

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Patienten, deren Partner mit sehr viel Fürsorge auf den Schmerz reagieren, sind beeinträchtigter.

Dr. Judith KappesserAbteilung für Klinische Psychologie Justus-Liebig-Universität Otto-Behaghel-Str. 10F 35394 Gießen [email protected]

Prof. Dr. Christiane HermannAbteilung für Klinische Psychologie, Justus-Liebig-Universität Otto-Behaghel-Str. 10F 35394 Gießen [email protected] Literatur bei den Verfassern

merksamkeit, Zuwendung) oder negative Verstärkung (z.B. kurzfristige Schmerzreduktion durch Schonen oder Vermeiden von Konflikten) in ihrer Auftretens-häufigkeit zu. Gleichzeitig können gesunde Verhal-tensweisen wie körperliche Aktivitäten, aktives Be-wältigungsverhalten nur unzureichend positiv ver-stärkt werden und treten folglich seltener auf. Eine wichtige Rolle spielen hierbei Bezugspersonen und ihre Reaktion auf Schmerzäußerungen des Patienten. Beispielsweise sind Patienten beeinträchtigter, deren Partner mit sehr viel Fürsorge und Aufmerksamkeit auf den Schmerz reagieren.

Wenn Patienten schmerzbezogene Ängste entwi-ckelt haben, können diese ähnlich wie bei der patho-logischen Angst durch negativ verstärktes Vermei-dungsverhalten aufrechterhalten werden. Vielfach halten die Reduktion des Schmerzes, aber auch die Reduktion der Angst vor dem Schmerz Einschrän-kungen von körperlichen und sozialen Aktivitäten aufrecht. Aufgrund des Vermeidungsverhaltens wer-den Patienten in immer geringerem Ausmaß belast-bar und fühlen sich isoliert.

Daraus ergeben sich grundsätzlich zwei therapeu-tische Ansätze. Ein wichtiges Ziel ist der Aktivitäts-aufbau durch eine systematische Verstärkung von körperlicher Aktivität und bewältigendem Verhalten, beispielsweise durch die Modifikation des Verhaltens von Bezugspersonen. Liegen ausgeprägte schmerz-bezogene Ängste vor, bietet sich die systematische Konfrontation mit gefürchteten Bewegungen und körperlichen Aktivitäten analog zur Konfrontations-therapie bei Angststörungen an.

Soziales Lernen oder Modelllernen ist ein weiterer Lernprozess, der die Schmerzchronifizierung fördern kann. Durch die Beobachtung der Schmerzreaktion von anderen, insbesondere Bezugspersonen, werden die eigene Reaktion auf Schmerz, die kognitiv-emo-tionale Bewertung von Schmerz sowie komplexe Verhaltens- und Bewältigungsmuster erlernt und moduliert. Beispielsweise kann Angst vor Schmerz durch stellvertretende Konditionierung erworben werden. Durch soziales Lernen könnten beispielswei-se auch Kinder Erwartungen erwerben, wie die Um-welt auf Schmerz einer Person reagiert, und dann das spätere eigene Verhalten in Schmerzsituationen mo-dulieren. Dies könnte ein Faktor sein, der zur vielfach dokumentierten familiären Häufung von chronischen Schmerzproblemen beiträgt.

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