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„WER BIN ICH?“Was uns authentisch machtVon Dr. Helmut Knoblauch

Wir alle möchten authentisch sein. Wir sehnen uns nach Authen-tizität – wie auch nach Freiheit

und Glück. Es ist unsere Suche nach der eigenen Identität, nach unseren inneren Ho- nungen und Träumen für unser Leben und Sein. Und diese sehen wir bedroht von unse-ren Lebensumstän-den, au. auchenden Schwier igkeiten und Hindernissen und auch von unse-ren eigenen Ängs-ten und Masken. Es scheint eine schier unendliche Reise zu sein, deren Ziel sich eher immer weiter entfernt, als dass wir ihm näher kämen. Eine wahre Odyssee.

Odysseus auf der Suche nach der Identität

Der Mythos der Odyssee des griechischen Dichters Homer handelt von dieser Suche. Der Held Odysseus be/ ndet sich auf der

Rückfahrt vom Trojanischen Krieg und muss eine Reihe von Abenteuern beste-hen, ehe er seine Frau Penelope wieder in die Arme nehmen kann. Diese Heimreise des Odysseus dient hier als ein symboli-

scher Zugang zu der eigenen Identität. Odysseus wird vom Schicksal immer wie-der die Frage gestellt:

„Wer bist du?“. Bei der reinen

Frage bleibt es nicht, es werden in diesem Mythos Antworten in Form von extremen, auferlegten Prüfun-gen gefordert. Wie wenn das Schicksal erproben möchte, ob

sich der Held noch an seine Bestimmung, sein Ziel erinnert oder ob er, abgelenkt vom Reiz beziehungsweise der Gefahr der Umstände, auf seine wahre Identität vergisst.

Die zweite Frage, die das Schicksal stellt, ist, ob Odysseus auch in schwierigen Augen-blicken zu seinem Wesen als Mensch stehen kann. Die Abenteuer seiner Heimreise sind

Um groß zu sein, sei ganz:

entstelle und verleugne nichts,

was dein ist. Sei ganz in jedem

Ding. Leg, was du bist, in dein

geringstes Tun. So glänzt in

jedem See der ganze Mond,

denn er steht hoch genug.

FERNANDO PESSOA, ALBERTO CAEIRO

Ein authentischer Mensch wirkt „echt“. Er vermittelt das Bild einer geradeaus lebenden Person, die ungekünstelt und selbstbewusst ihr Leben lebt. Authentizität klingt toll. Aber sie hat auch ihren Preis. Sie kann nicht erkau. , sie muss erkämp. werden.

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die Proben für seine Menschlichkeit. Ähnli-ches können wir auf uns übertragen und uns in herausfordernden Augenblicken fragen:

„Bin ich ein Mensch? Warum lasse ich zu, dass äußere wie auch innere Umstände dies verhindern?“

Der Mangel an AuthentizitätWarum ist es so schwer, geradeaus zu

leben, ungekünstelt und selbstbewusst? Von alleine fallen uns die Eigenscha. en eines authentischen Lebens nicht in den Schoß.

Liegt hierin der Stolperstein für ein ange-passtes Leben, dem Gegenteil der Authen-tizität?

Angepasst an die soziale und wirtscha. li-che Mode unserer Zeit versinken wir gerne in der Monotonie unseres Alltags. Ohne viel Aufregung stellt höchstens das Wochenende mit der Aussicht auf ein ersehntes Freizeit-vergnügen eine willkommene Abwechslung unseres horizontalen Zeitgefühls dar.

Die Angst vor Veränderung, seien diese beru0 icher oder privater Natur, bestimmt unser Denken, Fühlen und unsere Hand-lungen. Angst wovor? Vor morgen, vor einer drohenden Katastrophe, die vielleicht nie eintreten wird? Kann ich Angst vor einem Leben haben, dessen Ziele ich nicht kenne?

Authentizität bedeutet auch, sich und seiner Ziele sicher zu sein. Allein der Weg dorthin ist unsicher, er besteht aus Aben-teuern und Risiken. Unser Held Odysseus ist einer, der diesen Weg gegangen ist.

Die OdysseeHomers Odyssee handelt von der müh-

samen Heimfahrt des Odysseus aus Troja zurück nach Ithaka, seiner Heimat. Zehn Jahre dauerte der Kampf zwischen den Grie-chen und den Trojanern. Nach dem Sieg über Troja macht sich Odysseus mit seinen zwölf Schi- en auf die Heimreise. Odysseus und seine Männer haben auf ihrer Reise zahlreiche Abenteuer zu bestehen. Während sie in der Göttin Athene eine Mitstreiterin haben, sind viele Wirrnisse auf die Feind-seligkeit des Meeresgottes Poseidon zurück-zuführen. Erst nach zehnjähriger Irrfahrt kehrt Odysseus allein nach Ithaka zurück.

Auf seiner Heimfahrt begegnet er dem Zyklopen Polyphem, tri1 auf den Wind-gott Aiolos, verliert einen Großteil seiner Mannscha. beim Aufeinandertre- en mit den kannibalischen riesigen Laistrygonen und verbringt ein ganzes Jahr auf der Insel der Zauberin Kirke. Auch der Abstieg in die Unterwelt des Hades bleibt ihm nicht erspart, wo ihm der verstorbene Seher Teiresias sein weiteres Schicksal weissagt und ihn vor drohenden Gefahren warnt. Vorbei an der Insel der Sirenen steuert er sein letztes, übrig gebliebenes Schi- durch die von den beiden Ungeheuern Charyb-dis und Skylla bewachte Meerenge. Dieser

Gefahr glücklich entronnen, stranden er und seine Gefährten auf der Insel 2 rinakia. Dort schlachten seine erschöp. en Männer trotz seines ausdrücklichen Verbotes Rinder des Sonnengottes Helios und werden als Strafe von den Meereswogen verschlungen. Alleine setzt Odysseus seine Fahrt fort und erreicht das Land der Kalypso, bei der er sieben Jahre bleibt. Erst das Eingreifen der Götter ermöglicht seine weitere Heimreise Richtung Ithaka, wo er nach zwanzigjähriger Abwesenheit eintri1 .

Wer bin ich?Der Mythos handelt von geistigen Prinzi-

pien, die in jedem Menschen angelegt sind. Er handelt davon, wie die Welten entstanden sind, wie die Dinge, und damit auch die

Menschen, auf die Welt gekommen sind. Er berichtet vom Fall des Menschen in die Materie und auch von der notwendigen Rückkehr des Menschen zu seinen geis-tigen Ursprüngen. Durch die Weitergabe der Mythen in Form von Erzählungen, Gesängen oder Tänzen werden wir an unser Schicksal und an unsere Aufgaben erinnert.

Odysseus muss eine lange Reise auf sich nehmen, um wieder heimkehren zu können. Bisweilen scheint die Heimat schon zum Greifen nahe, ehe ein widriges Schicksal sie wieder seinen Augen entreißt. Aber er hat ein Ziel, Ithaka, wo seine Frau Penelope als Symbol für seine Seele, seinen spirituellen Teil, lebt. Dorthin zieht es ihn zurück. Die Sehnsucht des Odysseus liegt nicht in dieser Welt, er muss jedoch durch diese Welt gehen, um zu sich selbst zurückzu/ nden.

Darin besteht auch unsere erste Suche: Womit identi/ ziere ich mich? Was ist mir wichtig im Leben? Ist es mein neues Auto, ein Kleid, meine Wohnung, meine Ver-gnügungen, meine Suche nach Macht und Ein0 uss in der Gesellscha. ?

Odysseus kennt die Antwort: Er will zurück in seine Heimat, er will seine unsterbliche Seele wieder/ nden. Trotz sei-ner starken Identi/ kation gerät er trotzdem immer wieder in die Falle des Vergessens. So müssen sogar die Götter einmal helfend einspringen und ihn aus den Verlockungen der Kalypso befreien.

Wohin gehe ich?Der Mythos erzählt, dass jeder Mensch

eine Heimat hat. Diese wohnt als Sehn-sucht, als Suche nach dem Unendlichen in uns. Neugierig blicken wir den Tatsachen der Welt ins Auge – sind sie vielleicht das Ziel meiner Suche? Verstohlen mustern wir andere Menschen und wählen sie bisweilen auch zu unseren Partnern und Lebensge-fährten – sind sie der Endpunkt meiner Sehnsüchte?

Auch Odysseus meint, in vielen Zwi-schenstationen seine Bestimmung gefun-den zu haben. Fasziniert bleibt er bei der einen und anderen Blume entlang seines Weges stehen und vergisst, dass sein Weg Entwicklung bedeutet. Und dies heißt eine stetige Veränderung seiner selbst.

Je weiter wir unsern Blick

zur Vergangenheit wenden,

desto weniger ! nden wir

Vortäuschungen, Scheinwerke.

Sie sind geheimnisvoll

verschwunden. Nur die echten

künstlerischen Wesen bleiben,

d. h. die, die in dem Körper eine

Seele besitzen.

WASSILY KANDINSKY

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So verhalten auch wir uns, die wir uns in unendlich vielen Projekten verausgaben und vergessen, dass das Ziel nicht entlang des Weges zu suchen ist, sondern in uns liegt.

In dem, was ich als Mensch bin. Ein Projekt hat ein de/ niertes Ende, wie zum Beispiel der Bau eines Hauses oder die Erzie-hung unserer Kinder.

Die Heimfahrt des Odysseus endet nicht mit dem Wiedersehen seiner Penelope. Dies stellt ein Etappenziel dar, aber nicht das Ende seiner Reise.

Wenn in uns das Ziel unserer Suche liegt, so besteht der Weg dorthin aus Abenteuern und Konfrontationen. Dies deshalb, weil sie unsere Aufmerksamkeit für das Wesentliche schärfen, unsere Disziplin für den Einsatz unserer Mittel entwickeln lassen und damit Ordnung in unser Leben bringen. Daraus resultiert ein Leben voller Höhen und Tiefen mit großer Intensität.

Odysseus konnte seine Heimreise nur in jenen Momenten fortsetzen, wo er sich seines Menschseins bewusst war und auch danach handelte. Er entwickelte sich zu einem authentischen Menschen, der um seine Identität weiß, das Ziel seiner Suche

Aufrichtigkeit: Authentizität bedeutet, sich selber zu akzeptieren als der, der man ist. Mitsamt seinen Stärken und Schwächen. Gleichzeitig wohnt in diesem Menschen das Bedürfnis, sich zu verändern und seine Schwächen in Stärken umzuwandeln.

Ein authentischer Mensch weiß, dass er die Möglichkeit hat, sein Schicksal in die Hand zu nehmen und der nicht Opfer der Umstände sein zu müssen. Odysseus sieht sich nach seiner Rückkehr nach Ithaka noch einmal mit der Synthese seiner Schwächen konfrontiert: den Freiern, die um die Hand seiner Penelope anhalten. Mit seinen Pfeilen tötet er diese, symbolisch übersetzt mit der Schärfe seiner mensch-lichen Vernun. . Damit hat er alle seine menschlichen Möglichkeiten ausgelotet und ist wieder zu dem geworden, der er schon immer war. Ein Held, der sich selber wieder gefunden hat.

Wir sind also nicht die einzigen auf der Suche nach Identität. Im Leben authentisch zu sein, bedeutet allein auf einem Weg zu gehen, den wir mit allen anderen teilen. Mögen wir daher alle – mit Odysseus – Ithaka erreichen. ☐

kennt und dieses nicht aus den Augen ver-liert.

Authentisch seinDie Psychologen Michael Kernis und

Brian Goldman de/ nieren vier Eigenschaf-ten, die ein Mensch besitzen muss, um sich authentisch zu fühlen.

Bewusstsein: Ein authentischer Mensch kennt sich, seine Stärken und Schwächen. Durch Re0 exionen ist er in der Lage, seine Motive für eine Handlung einzuschätzen. Handle ich aus einer Emotion heraus oder ging dem eine wohlüberlegte Einschätzung der Situation mit ihren Möglichkeiten vor-aus?

Ehrlichkeit: Hier gilt es, die Welt so zu sehen, wie sie ist und nicht so, wie wir sie uns wünschen. Dazu zählen auch das ehr-liche Erkennen unserer Fehler und Schwä-chen und auch zu akzeptieren, wenn jemand uns auf sie aufmerksam macht.

Konsequenz: Ein authentischer Mensch hat Werte und handelt danach. Seine Moti-vation lautet nicht „Gefällt es mir?“ oder

„Welchen Vorteil bzw. Nachteil wird mir das bringen?“. Sein Motiv besteht in der Not-wendigkeit, in einer Situation zu handeln.

Eine Prüfung des Odysseus war, an der Insel der Sirenen vorüberzufahren. Es galt, sich von ihren Verlockungen nicht verführen zu lassen und den eigenen Weg fortzusetzen. Eine List half. Er ließ sich an den Schiffsmast fesseln und die Gefährten verschlossen ihre Ohren mit Wachs. Bild: © Larysa Golik, Die Odyssee 10, unter www.larysa-golik.de