Wer ist wer? Einfach zweimal - Gueti Gschichte · GIANNINA TENTI voneinander getrennt. Jetzt leben...

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SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 66 Einfach zweimal einmalig 44 Jahre waren die eineiigen Zwillinge ANGELA und GIANNINA TENTI voneinander getrennt. Jetzt leben sie im Tessin wieder zusammen. Und erschaffen neue Zwillinge: Duplikate lebender Personen – als Marionetten. Ihr Puppenhaus In Bedigliora TI be- wohnen die Zwil- linge ein 400-jähri- ges Haus. Dessen Fassade haben sie mit Marionetten bemalen lassen. Wer ist wer? Giannina, rechts, und Angela Tenti, links, beide 68. Oder … ist es doch genau umgekehrt?

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Einfach zweimal

einmalig44 Jahre waren die eineiigen Zwillinge ANGELA und

GIANNINA TENTI voneinander getrennt. Jetzt leben sie im Tessin wieder zusammen. Und erschaffen neue Zwillinge:

Duplikate lebender Personen – als Marionetten.

Ihr Puppenhaus In Bedigliora TI be-wohnen die Zwil-linge ein 400-jähri-ges Haus. Dessen Fassade haben sie mit Marionetten bemalen lassen.

Wer ist wer? Giannina, rechts, und Angela Tenti, links, beide 68. Oder … ist es doch genau umgekehrt?

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Die Zwillinge als

Vierlinge Sie lassen sich als Puppen tanzen

Zwei mal zwei Die Schwestern haben von sich selber Marionet-ten angefertigt. «Wir schauten beim Basteln in den Spiegel.»

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Detailgenau Hände, Arme, Füsse und Gesicht der Marionet- ten werden aus Schubimehl ge-formt und bemalt.

Saubere Sache Über dem Schütt-stein sägt Gianni-na Puppenkörper-teile aus Sperrholz zu. Das Sägemehl wird runtergespült.

Das Geheimnis Jede Tenti-Puppe verfügt über einen funkelnden Blick. Die Augen sind mit Swarovski-Stei-nen belegt.

StichprobeAngela an der Näh-maschine. In je- der Puppe stecken gut 50 Stunden Arbeit. Verkaufs-preis: 1000 Franken.

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Heizerin Der plötzliche Win-tereinfall im Tessin kühlt die Stube aus. Giannina feuert den offenen Kamin ein.

Eintracht Die Schwestern har-monieren wie ein al-tes Ehepaar – einzig das ewige Gezanke und Gechifle fehlt.

Wesen an Fäden Das ganze Haus ist voller kindsgros- ser Marionetten. Rechts zappelt Pippi Langstrumpf.

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TEXT MARCEL HUWYLER FOTOS REMO NÄGELI

M anche Geschich-ten sind so aus-sergewöhnlich und selten – wie halbmeterhoher

Neuschnee im Südtessin. Beides finden wir an dem Tag

im kleinen Dorf Bedigliora.Seit gestern schneit es. Kleb-

rige, flockige, fette Fetzen, als zerrupfe man einen Panettone. In den Tessiner Talschaften sorgt der Schnee für Chaos. Der Bahn-verkehr in die Nordschweiz ist gesperrt, kilometerlang stauen sich die Autos. In Bedigliora oben ist von alledem nichts zu spüren.

Das Dorf im Malcantone, im feinhügeligen Hinterland Luga-nos, liegt durchgefroren da. Der Schnee pudert jeden Laut zu. In den Gassen und den jahrhunder-tealten Steinhäusern kauert die Kälte. Die Leute verfeuern Holz in den of enen Kaminen ihrer Stuben, die Schornsteine auf den Dächern pafen wie Brissago-Zigarren. 218 Menschen leben in Bedigliora.

Kein Ticinese verlässt bei dem Wetter sein Haus. Nur die Zug e-zogenen wagen sich ins Freie, die Deutschen und die Deutsch-schweizer – und le gemelle, wie sie im Dorf heissen. Die Zwillinge.

Sie kommen durch die rut-schige Hauptgasse, vorsichtig ei-nen Fuss vor den anderen setzend. Die Tenti-Schwestern, beide 68, geboren in Winterthur. Die zwei Eineiigen ähneln sich wie ein Ei dem anderen: Dasselbe erwar-tungs frohe Gesicht, der gwundri-ge Blick, das Haar haargenau gleich frisiert, ihr Schmunzeln, als hätten sie fortwährend einen Witz im Sinn. Sogar die Art, wie sie gehen, ihr Gang, ist gleich.

Doppelgängerinnen eben. Lediglich der eine oder andere

Leberfleck auf ihrer Stirn schaft punktuell etwas Einzigartigkeit.

Arm in Arm, gekleidet mit identi-schen Mänteln, Schals und Schu-hen (Lackschuhen!), unter ei-nem riesigen Regenschirm («un-ser Zwillingsschirm») trippeln die beiden, im Gleichschritt na-türlich, auf den Kirchplatz. Jede trägt – oh? – eine Gitarre bei sich.

Die Zwillinge. Geboren am Fasnachtsmontag des 7. März 1949 in Winterthur, nachdem sich ihre Eltern, Anna und Alfredo Tenti, erst den Narrenumzug in der Stadt angesehen hatten und dann, als die Wehen einsetzten, ins Spital gefahren waren. Dass sie Zwillin-ge bekommen, wissen sie nicht. Der Papà, gebürtiger Italiener und Besitzer des Feinkostladens Tenti am Untertor 19 in Winter-thur, hoft doch schwer auf einen Sohn (Aldo soll er heissen), als ge-gen neun Uhr abends ein Mäd-chen zur Welt kommt. Angela.

Man wartet auf die Nachgeburt. Stattdessen kommt zwanzig Mi-nuten später – noch ein Baby zur Welt. Erneut ein Mädchen. Gian-nina. Zwei Töchter, kein Sohn. Auf den Geburtsanzeigen steht spä-ter: «Häts kein Aldo me gha, so hämer halt zwei Meiteli gna.» Die Zwillinge präsentieren sich heu-te gern mit dem Spässchen: «Mein Name ist Angela, und das hier ist Giannina, meine Nachgeburt.»

Die Gitarren – die tragen sie unseretwegen durch den Schnee. «Wer uns besucht und die Hektik im Tal zurücklässt», beginnt An-gela, «wird von uns singend will-kommen geheissen», vervollstän-digt Giannina den Satz. Sie singen, begleitet von Gitarrenakkorden, ihr selbst komponiertes Lied «Be-digliora». Einmütig zweistimmig.

Und doch, bei aller Gleichheit, sagen sie, gebe es Unterschiede.

Angela ist die Anführende, Gian nina die Ausführende. An-gela ist extrovertiert, 1,62 Meter gross und steht früh auf. Gianni-na ist introvertiert, 1,60 gross und schläft morgens gern etwas länger.

Angela und Giannina – von Geburt weg ein Herz, eine Seele und eine DNA – lebten «unsägli-che 44 Jahre lang» voneinander getrennt, bevor sie erneut zusam-menfanden. Seit vier Jahren be-wohnen sie ein 400-jähriges Haus im Dorfkern. Der turmhohe Bau an der Piazza del Sasso 14 sticht ins Auge. Auf die bienenwachs-gelbe Fassade sind Marionetten gemalt. Die Gliederpuppen sind die Leidenschaft der Zwillinge.

Im Innern ihres Heims woh-nen wohl hundert dieser Wesen an Fäden, alle kleinkindgross und selber gemacht. Noch hängen sie nur herum, gafen uns mit ihrem Funkelblick an. Zupft man jedoch an ihren acht Garnfäden, ists, als begännen sie zu leben! «Selbst-verständlich leben sie», Giannina ist leicht pikiert, «jede unserer Puppen hat eine Seele, und zwar eine gute.» Und der leuchtende Blick, verrät Giannina, sei das Markenzeichen der Tenti-Pup-pen: Die Augen jeder Marionette werden mit winzigen Swarovski-Steinen zum Strahlen gebracht.

Die Zwillinge beseelen ihre Wesen mit Namen und Titeln: die Schnecke Miranda, der Wald-mann Riccardo, Johnny der Träu-mer, die Grille Gümpi und Fun-ghino der Pilzbub. Andere Figu-ren haben echte Vorbilder: Pippi Langstrumpf, die Clowns Dimitri und Charlie Chaplin, TV-Wander-vogel Nik Hartmann oder der Da-lai Lama, der mit seinem unnach-ahmlichen Kicherlächeln aus ei-ner Küchenecke späht.

Die Spezialität von Angela und Giannina aber ist es, von Mit men-schen Marionetten anzufertigen. Die Zwillinge erhalten Fotos von Personen, oft Jubilare mit rundem Geburtstag, deren Ebenbild sie er-schafen. Doppelgänger aus Sagex, Sperrholz, Stof, Schubimehl, einer Menge Ösen und ein paar Metern Garn. Zwillinge – erschafen von Zwillingen.

Gut beschirmt Wer die Tentis be-sucht, wird musika-lisch begrüsst. Sie tapsen durch den Schnee auf den Kirchplatz San Rocco.

Nur Mädchen Das zweizeilige Gedicht auf der Geburtsanzeige verdeutlicht, wie gern Papà Tenti einen Sohn gehabt hätte.

Leben im Doppelpack 1954 kommen die zwei in den Kindergarten. Sie leben in ihrer eigenen Welt. «Die anderen Kinder störten uns.»

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Etwa die weiss beschürzte Marionette in der Küche mit dem borstigen Schnauz: Das sei Alfre-do, der Koch aus ihrem Lieblings-grotto. Oder Giovanni, puppege-wordener Freund der Familie, mit Tessiner Tracht und Handorgel, die auf Knöpfchendruck örgelt.

Es schneit noch immer. Im of-fenen Stubenkamin, der so breit und hoch ist wie ein Ponystall, schürt Giannina das Feuer. Bei Süssgebäck und mit Kandis gezu-ckertem Tee erzählen die zwei vom süss-bitteren Zwillingsleben.

Als Kinder störten sie andere Kinder nur. Sie lebten in ihrer ei-genen Welt, kommunizierten auf nonverbale Weise. «Wir brauch-ten keine Gspänli.» Das macht sie zu Aussenseitern. Die Mitschüler finden es doof, dass da zwei sind, die immer das Gleiche tragen, sa-gen und tun. «Das ist heute noch so», betont Angela, «es mag für Aussenstehende einfältig und kit-schig wirken, wenn wir zur glei-chen Zeit den Drang verspüren, aufs WC zu gehen. Aber so ist das nun mal mit uns Eineiigen.»

Sie sind gleichzeitig durstig, schläfrig, gelangweilt oder krank. In der Pfadi heisst Angela Teddy, Giannina ist Bär. Wahrgenommen werden sie aber nur im Doppel-pack. Als Teddybär. Als Giannina die Sek-Aufnahmeprüfung ver-haut, gibt sich Angela alle Mühe, ebenfalls durchzurasseln.

Die Eltern Tenti schuften Tag und Nacht in ihrem Feinkostla-den. Wenn Camions aus Italien bereits morgens um zwei Uhr Frischwaren anliefern, müssen beim Entladen auch die Zwillinge helfen. «Wir waren doch noch Kinder, man hat uns damals über-fordert», stellen sie rückblickend fest, ohne Verbitterung in ihren Stimmen, mit Wehmut aber.

Noch heute schwärmen sie von ihrem damaligen Kindermäd-chen Erika. Diese habe das Musi-sche und Handwerkliche in ihnen

geweckt. Selbst mit neunzig Jah-ren besuchte Erika die Zwillinge noch im Tessin. Sie hatte in eine vermögende Familie in Köln ein-geheiratet und konnte es sich leis-ten, mit dem Taxi anzureisen. Der Fahrpreis betrug 2000 Euro.

Nach der Realschule machen beide Tenti-Schwestern im elter-lichen Betrieb eine Lehre als Verkäuferin. Dann, mit zwanzig Jahren, beginnt, was Giannina als «tote Zeit» bezeichnet. Die Zwil-linge werden zum ersten Mal in ihrem Leben getrennt.

Angela heiratet. Und zieht weg. Mit ihrem Mann wohnt sie in

Mailand, 220 Kilometer von Gian-nina entfernt. Das Heimweh nach der fehlenden Hälfte ist gross. Im ersten Jahr ihrer Trennung telefo-nieren die Zwillinge kein einziges Mal miteinander. Zu sehr würde es sie schmerzen, die Stimme der anderen zu hören. Stattdessen schreiben sie sich täglich Briefe.

Mit 23 heiratet auch Giannina und bleibt mit ihrem Mann in Winterthur wohnen. Beide Zwil-linge leben nun in einer Art Drei-erbeziehung. «Wie erklärt man ei-nem Ehemann, dass die Zwillings-schwester genauso wich tig ist?», fragt Giannina. Und Angela be-kennt: «Mein erster Gedanke am Morgen galt immer Giannina.»

220 Kilometer Distanz – und doch haben die Zwillinge zur glei-chen Zeit Migräne, in derselben Nacht schlecht geschlafen, und ei-nes Morgens fallen sie gar simultan in Ohnmacht. Ihre Ärzte ordnen zeitgleich eine Darmspiegelung an. Und als Angela 2004 wegen Gallen-steinen im Spital liegt, wird tags da-rauf auch Giannina hospitalisiert – wegen Gallensteinen.

Ihre beiden Ehemänner sind mittlerweile gestorben. Die Pen-sionierung nehmen die Zwillinge zum Anlass, ihren Alltag wieder miteinander zu teilen – in Bedi-gliora. Eine Rückkehr in die Deutschschweiz kommt für Ange-la nie infrage, «weil ich zu italie-nisch parkiere. Zu unpräzise.»

Angela ist bodenständiger und zuständig fürs Finanzielle. Giannina ist verträumter und zu-ständig fürs Fotografieren.

Manchmal haben sie nachts Träume. Die gleichen natürlich. Sie träumen, sie seien plötzlich allein, suchen verzweifelt ihren Zwilling und finden ihn nicht. «Irgendwann wird eine von uns allein sein», sagt Angela. «Wir sprechen oft über den Tod», sagt Giannina. Es werde weitergehen, auch allein. Sie sind sich sicher: Die Kraft des verstorbenen Zwil-lings lebe in seiner anderen Hälf-te weiter.

Angela ist robuster, weitsich-tig, und wäre sie eine Marionette, «dann wohl ein Wichtel». Gianni-na ist zarter, noch weitsichtiger, und wäre sie eine Marionette, «dann wohl eine Fee».

Schliesslich holen sie ihre Zwillinge. Eine Angela-Mario-nette und eine Giannina-Mario-nette. Unter den Kleidern tragen die Puppen BHs. Giannina ist in Sachen Mode die Mutigere, drum ist nur der BH ihrer Puppe mit rosa Spitze verziert. Die zwei kichern ob diesem Detail, gluck-sen, erklären, sie seien wohl so Lustige, weil sie an einem Fas-nachtsmontag zur Welt kamen.

Angela und ihre Nachgeburt Giannina. Einfach zweimal ein-malig, diese beiden.

Gleichzeitig leiden sie an Gallensteinen

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