Werden diese Bilder der Außenwelt abgebildet (mehr oder...
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Die Welt ist voller Bilder. Was für eine Welt ist das? So selbstverständlich es zu
sein scheint, wenn man von einer Welt der Bilder spricht, so wenig selbstver-
ständlich ist manches, wenn man es in Frage stellt.
Jeder kennt Bilder, die mit diversen Realitäten der Außenwelt verbunden sind.
Werden diese Bilder der Außenwelt abgebildet (mehr oder weniger „gekonnt“
dargestellt), dann ist das Ergebnis ein gegenständliches Bild. In der Kunsttherapie
sind solche Bilder üblich (Bild 1).
Bild 1
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Es gibt andere Bilder, die keine Außenwelt, sondern psychische Innenwelt oder
eine geistige Welt vermitteln.
Bild 2
Was ist das Gemeinsame dieser beiden völlig unterschiedlichen Bildphänomene?
Beide sind Sprache. Keine begriffliche, sondern eine visuelle Sprache. Deshalb
kann man sagen: Die Sprache der Bilder, die Bildsprache ermöglicht zweierlei
Formen des Ausdrucks und der Mitteilung: Der Ausdruck über die gegenständ-
lichen Bilder der objektiven Außenwelt und der Ausdruck über eine subjektive
Innenwelt, die sich nicht abbilden lässt.
Wir Menschen teilen uns die Erde auf der und mit der wir leben, mit an-
deren Lebewesen. Das ist eine triviale Tatsache. Eine andere, weniger triviale Tat-
sache ist, dass der Mensch das einzige (und aus dieser Sicht einzigartige) Lebewe-
sen ist, das Bilder schaffen kann. Alle übrigen Lebewesen – und das sind ziemlich
viele – können das nicht und machen es auch nicht.
Menschen können Bilder erschaffen. Alle Bilder, diejenigen mit denen wir
die äußere Welt abbilden und diejenigen, die Ausdruck einer nicht sichtbaren
Innenwelt sind, wirken sich auf den psychischern und kognitiven Zustand aus. Bil-
der sprechen uns an; sie haben eine Wirkung. Bilder „sagen“ (vermitteln) uns
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etwas. Und weil sie uns Unterschiedliches, Vielfältiges, Oberflächliches, Intimes,
Sinnvolles und Bedeutungsloses sagen können, deshalb sind sie eine Form von
Sprache. Bilder sind Bildsprache.
Im Alltag wird Sprache tendenziell mit der begrifflichen Sprache in
Zusammenhang gebracht. Tatsächlich ist es aber so, dass ein großer Teil unserer
Kommunikation nicht auf der begrifflichen Sprache, sondern auf Bildsprache be-
ruht. Die diversen Medien liefern uns dafür eindrückliche Beispiele und auch die
Werbung nutzt die suggestive Wirkung bildsprachlicher Aussagen. Wenn eine
solche Aussage besonders gut gelungen ist, wie dieses Beispiel zeigt (Bild 3), dann
ergänzt sich die gegenständliche Bildsprache mit der Wortsprache.
Bild 3
Aber auch die unbewussten Botschaften, die wir über unseren Körper vermitteln,
die Körpersprache, beruht auf Bildern. Auch das ist eine Form von Bildsprache
(Bild 4).
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Bild 4
Was ist der wesentliche Unterschied zwischen einer Bildsprache und der auf Wor-
ten beruhenden Sprache?
Die Bildsprache vermittelt sich über das Sehen. Die Begriffssprache vermit-
telt sich über das Lesen, Sprechen und Hören. Die Bildsprache ist sinnlich,
unmittelbar und existentiell. Technisch formuliert: Bildsprache ist analog, Begriffs-
sprache ist digital und sequentiell. Im Unterschied zur Ganzheitlichkeit der Bild-
sprache ist die Wortsprache eine auf Zeichen beruhende Abstraktion von sinnlich
wahrgenommenen, gegenständlichen Bildern. Anders gesagt: In der Begriffsspra-
che beschreiben wir mit Hilfe von Worten, was wir über das sinnliche Sehen von
Bildern erlebt haben. Deshalb ist die Bildsprache unmittelbarer als die Begriffs-
sprache, die das bildhaft Erlebte mit Hilfe von Zeichen codiert und damit begriff-
lich kommunizierbar macht.
Ein Kind, im vorsprachlichen Stadium seiner Entwicklung, erlebt die wahr-
genommenen Bilder existentiell. Benennen kann es diese Bilder aber noch nicht;
das kommt später dazu; erst danach kann es Kind mittels der erlernten Codierun-
gen der Begriffssprache über unmittelbar erlebte Bilder reden. Später lernt es eine
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weitere Form der Codierung dazu: Das Schreiben. Dann kann das Kind auch
schreiben, was es denken und reden kann.
Sowohl die gegenständlichen wie die gegenstandsfreien Bilder sprechen
ohne den Umweg der begrifflichen Sprache zu uns. Sie sprechen uns an oder auch
nicht. Manchmal, in ganz besonderen Situationen, kann man ein Bild ohne jede
Beteiligung von Sprache wahrnehmen – also präverbal. Meistens ist die Bild-
wahrnehmung jedoch mit einem unbewussten begrifflichen Denken verbunden.
Dieser Zusammenhang ist derart selbstverständlich, daß man sich eine andere
Form der Bildwahrnehmung gar nicht vorstellen kann.
Unsere Umwelt ist eine Welt existentieller, begrifflich benennbarer und so-
mit benannter Bilder. Wir sind von Bildern umgeben: Von Autos, Häusern, Ge-
sichtern, Blumen, Bäumen, Werkzeugen, Landschaften, Tieren, Menschen und
und so weiter (Bild 5). Und jedes gegenständliche Bild ist verknüpft mit persönli-
chen Erfahrungen. Deshalb sehen wir ein solches Bild nicht so wie es erscheint: Es
ist von Projektionen der damit verknüpften unbewussten Erfahrungen überlagert.
Bild 5
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Wenn wir unsere natürlichen Möglichkeiten des Sehens künstlich (mit Hilfe
technischer Instrumente) erweitern, eröffnet sich uns eine weitere gegenständliche
Welt. Dann sehen wir auch die Haare von Taufliegen, wir sehen kosmische Nebel
und sogar die Aktivität des Gehins (Bild 6).
Bil 6
Wenn wir gegenständliche Bilder der Realität sehen, dann sehen wir etwas, das
offensichtlich vorhanden“ ist. Und weil es vorhanden ist, deshalb kann man es
abbilden und darstellen. Dieses Darstellen des Realen, war für lange Zeit eine
Domäne handwrklicher Maler, die man seit der Renaissance Künstler nennt.
Im Unterschied zu den realen gegenständlichen Bildern der Außenwelt,
sind künstlich geschaffene gegenständliche und gegenstandsfreie Bilder mit einem
mehr oder weniger bewußten oder unbewußten, psychischen und gedanklichen
Ausdruck desjenigen verbunden, der sie geschaffen hat (Bild 7). Jedes vom Men-
schen erzeugte Bild ist das Resultat seines individuellen Bildausdrucks. Je nach
der intendierten Absicht beim gegenständlichen Darstellen, tritt dieser individuelle
Aspekt mehr oder weniger in den Vordergund oder Hintergrund.
Bei einer klassisch-naturalistischen Darstellung ist dieser individuelle Aspekt des
Erlebens kaum von Bedeutung. Diese Bilder waren zur damaligen Zeit ein Med-
ium zum Vermittteln sichtbarer Realität. In der klassischen akademischen Traditi-
on galt ein Bild dann als „Kunstwerk“, wenn die äußere Wirklichkeit so datail-
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getreu als möglich, abgebildet war. Abweichungen waren geächtet und wurden
sogar als „entartet“ bezeichnet.
Bild 7
Die vom Menschen geschaffenen gegenständlichen Bilder sind sind entweder ge-
genständlich realistisch oder abstrakt. Der Begriff „abstrakt“ wir in der bildenden
Kunst häufig unsachgemäß, das heißt: phänomenologisch falsch angewendet. Ab-
strakt ist ein Bild nämlich nur dann, wenn das Objekt der gegenständlichen Dar-
stellung vereinfacht, reduziert und formal auf das wesentliche beschränkt abge-
bildet wurde (Bild 8). Alle anderen Bilder, die keine Abbildungstendenz erkennen
lassen, sind gegenstandsfrei. Ein abstraktes Bild haftet am Objekt, ein gegen-
standsfreies nicht.
Die Abstraktion betreffend, sind zwei Motivationen zu unterscheiden: In der bil-
denden Kunst ist die Abstraktion gewollt; in der Kinderzeichnung (Bild 9) oder in
der Kunsttherapie (Bild 10) ist die Abstraktion jedoch nicht gewollt; sie kommt
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dadurch zustande, weil das abzubildende Motiv nicht besser als vereinfacht darge-
stellt werden konnte (Bild 9).
Bild 8 / Bild 9 / Bild 10
Eine weiteres, der gegenständlichen Bildsprache zugehörige Gestaltungsvariante,
ist das surreale Bild. Ein solches Bild ist weder gegenständlich naturalistisch, noch
ist es ein vom Gegenständlichen abstrahierter Ausruck. Als „surreal“ wäre ein
Bild dann zu bezeichnen, wenn dessen gegenständliche Elemente aus denen es
besteht, unvereinbar mit den sensorischen Erfahrungswelt der gegenständlichen
Realität sind. In surrealen Bildern zeigen sich bizarre Phantasiewelten, die deshalb
bizarr erscheinen, weil die Kombination der gegenständlichen Elemente mit der
Alltagsealität unvereinbar sind. Den surrealen Bildern in der bildenden Kunst
(Bild 11) entspricht die gegenständliche Collage in der Kunsttherapie (Bild 12).
Phänomenologisch lassen sich vier Ausdrucks- und Gestaltungsormen der Bild-
sprache unterscheiden:
- Gegenständlich naturalistisch,
- gegenständlich surreal,
- subjektiv abstrahieren und
- gegenstandsfrei.
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Bild 11 / Bild 12
Kommen wir wieder auf die von Menschen geschaffenen Bilder zu sprechen.
Das Abbilden und Darstellen dessen, was man realistisch gegenständlich sehen
kann, wurde in der bildenden Kunst erst in der klassischen Malerei verwirklicht.
Vorher hat man das nicht gekonnt und nicht gekannt. Das ist noch nicht lange
her. Erst in der Renaissance wurden die Gesetze der Zentralperspektive entdeckt
und auf das gegenständliche Abbilden der Realität angewendet. Das hat mit einer
Bewusstseinsentwicklung zu tun.
Aufgrund spezieller Funktionen des Gehirns, hat der Mensch im Laufe seiner
Entwicklungsgeschichte ein psychologisches, auf sich selbst bezogenes ich-
zentriertes Sehen entwickelt. Der Mensch wird nämlich keinesfalls mit diesem ich-
zentrierten Sehen geboren – er muss es erst lernen. Dieses Lernen des ich-
zentrierten Sehens erfolgt in einem psychosozialen Kontext, der das Gehirn des
heranwachsenden Kindes so organisiert, dass es dieses ich-zentrierte Sehen
entwickelt.
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Der Mensch befindet sich von Geburt an in einer sensorischer Wechselwirkung
mit der Außenwelt. Sein Sehen-Lernen der Welt erfolgt also keineswegs isoliert
und nur auf den Sehsinn bezogen, sondern das Sehen findet in einem
unmittelbaren Zusammenhang mit dem Tasten, Riechen, Schmecken und Hören
statt. Gleichzeitig mit diesem komplexen, mit den übrigen Sinnen vernetzten
Sehen lernt das Kind aber bald, diese komplexen, Erfahrungen seiner
Bildwahrnehmungen auf sich selbst zu beziehen und sprachlich zu benennen.
Dadurch entsteht eine psychoneurologische Gleichzeitigkeit von Bildsprache und
Begriffsprache, der auf einem gelernten Gegensatz zwischen Ich und Gegenstand
beruht.
Wenn jemand ein gegenständlich naturalistisches Bild zeichnen oder malen will,
dann benötigt er dazu nicht nur dieses angelernte ich-zentrierende Sehen, er
benötigt vor allem eine geeignete Projektionstechnik, um die dreidimensionalen
Bilder der Außenwelt auf einem zweidimensionalen Flächenraum
wirklichkeitsgetreu darstellen zu können. Das ist schwierig. Sie müssen nämlich
Ihr ich-bezogenes zentralperspektivische Sehen geometrisieren und dann auf den
Flächenraum übertragen. Erst dadurch erreichen Sie die Illusion einer Abbildung,
bei der ein gezeichneter oder gemalter Gegenstand genau mit der Realität
übereinstimmt.
Filippo Brunelleschi der im 15. Jahrhundert in Florenz gelebt und gewirkt hat gilt
als Entdecker dieses geometrisierenden Sehens und der damit verbundenen
Technik der Zentralperspektive. Er entdeckte die mathematisch geometrischen
Gesetze der zentralperspektivischen Darstellung und legte damit auch den
Grundstein für eine mathematische Interpretation der gesehenen Welt. Es gibt die
Beschreibung eines optischen Experiments mit dessen Hilfe Brunelleschi seinen
Zeitgenossen die Zentralperspektive demonstriert hat.
Brunelleschi Zentralperspektive Bild 18
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Es bestand aus einem von Brunelleschi gemalten Bild und einem silbernen
Spiegel. In die Mitte des Bildes hat er ein Loch gebohrt durch das man durchsehen
konnte. Die Spiegelung des zentralperspektivisch gemalten Bildes vermischte sich
optisch mit dem Sehen der Realität, und zwar so, dass zwischen künstlichem Bild
und realem Bild kein Unterschied zu erkennen war. Die Schemazeichnung zeigt
diesen Zusammenhang.
Die Entdeckung der Zentralperspektive ist von der Entwicklung des
Ichbewusstseins nicht zu trennen. Die Geometrisierung des Sehens ist mit einer
Spaltung von Mensch und Welt verbunden, mit einem unbewussten Erleben des
getrennt Seins von Ich und Objekt. Tiefenpsychologisch entspricht dies der Geburt
des Ich aus dem Uterus des Selbst. Es ist der Prozeß einer Abkehr aus der
matriachal erlebten Ganzheit der Welt und der Beginn des patriachal
kontrollierenden Ich.
Dieser Aspekt der Kontrolle läßt sich sehr anschaulich anhand der damals
entwickelten Geräte zum Verstehen und zur Konstruktion der Zentralperspektive
veranschaulichen.
Perspektive Konstruktion 1 Bild 19
Perspektive Konstruktion 2 Bild 20
Pausenbild 21
Das Prinzip dieser Entwicklung beruht auf der Idee geradlinig verlaufender
Sehlinien, die – das muß man klar erkennen - eine geometrische Abstraktion sind.
Diese Gerasdlinigkeit erscheint uns selbstverständlich. Das ist sie aber keineswegs,
wenn man bedenkt, dass unser gesamter Organismus nirgendwo von geometrisch
geraden Linien geprägt ist. Auch das Auge mit dessen Hilfe wir sehen, ist ein
kugeliger Körper in dem sich nirgendwo eine gerade Linie befindet.
Schema des Augapfels Bild 22
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Es ist es bemerkenswert wie gut es uns gelungen ist unser Gehirn auf geometrisch
gerade Linien zu programmieren und diese Form des zentralperspektivischen
Sehens zu etablieren.
Weil wir dieses geometrisierende Sehen gelernt haben, kann man sich nur schwer
vorstellen kann, dass es auch noch eine andere Perspektive gibt als diejenige, die
auf geraden Linien beruht. Deshalb zeige ich Ihnen zwei Beispiele für eine
kurvenlineare Perspektive in der keine geraden Linien vorkommen.
Kurvenlineare Perspektive Bild 23
Kurvenlineare Perspektive Bild 24
Obwohl wir – wie ich vermute – die Außenwelt kurvenlinear wahrnehmen,
konstruieren wir eine Geometrie geradliniger Perspektive. Vielleicht können Sie
sich vorstellen, dass kurvenlineare Perspektiven der physiologischen Realität des
Auges angemessener wären.
Pausenbild 25
Dass das perspektivische Sehen, egal ob es zentralperspektivisch oder kurvenlinear
ist in jedem Fall einen komplizierten cerebralen Entwicklungs- und Lernprozeß als
Grundlage hat erkennen wir daran, daß zum Beispiel Menschen aus
Stammeskulturen, die noch keine zivilisatorische Konditionierung hinter sich
haben eine typisch aperspektivische Darstellung der Objekte bevorzugen.
Aperspektive Elefant Bild 26
Pausenbild 27
Es hat eine Zeit gegeben, und es gibt sie immer noch wo man meint, einen
wirklichen Künstler vor sich zu haben, wenn er einen Gegenstand so zeichnen
und malen kann, wie es der zentralperspektivischen Konstruktion der Realität
entspricht, die jeder von uns sieht. Genau gesehen wird dies aber nicht durch
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Kunst, sondern durch eine spezielle Technik möglich. Diese Technik der
objektiven gegenständlichen Malerei hat ihren besonderen Stellenwert als
realistische gegenständliche Bildsprache durch die Erfindung der Fotografie
verloren.
Eich komme nun zu einer interessanten Variante des gegenständlich
naturalistischen Bildes: Das gegenständlich surreale Bild.
Schauen wir uns zunächst drei Beispiele gegenständlich surrealer Bilder an:
Gegenständlich surreal 28
Gegenständlich surreal 29
Gegenständlich surreal 30
Gegenständlich surreal alle 31
Das gemeinsame Merkmal solcher surrealer Bilder ist darin zu sehen, dass man
gegenständlich real gemalte Objekte aus ihren natürlichen Kontext willkürlich in
ungewohnter Kombination zusammenfügt. Die gegenständlichen Objekte sind
zwar realistisch, der Kontext ist es aber nicht. Das bildnerische Grundmuster
surrealer Bilder ist demnach gegenständlich und folgt mehr oder weniger den
zentralperspektivischen Regeln.
Wenn Sie verschiedene Fotografien zerschneiden, die nichts anderes abbilden
können als die Realität, und diese Teile dann beliebig zusammenfügen, dann
haben Sie dem Prinzip nach ein surreales Bild. Mit der heutigen Computertechnik
lassen sich solche surreale Bilder vollkommen fotorealistisch und
zentralperspektivisch korrekt herstellen, wie die nächsten drei Beispiele zeigen:
Gegenständlich surreales Computerbild Bild 32
Gegenständlich surreales Computerbild Bild 33
Gegenständlich surreales Computerbild Bild 34
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Pausenbild 35
Wie bereits angedeutet, ist die realistisch abbildende gegenständliche Bildsprache
relativ jung und wegen ihrer technischen Kompliziertheit nur Wenigen verfügbar.
Auch wenn jeder in der Schule die geometrischen Regeln des
zentralperspektivischen Sehens gelernt hat, wird er in späteren Jahren trotzdem
nicht zentralperspektivisch zeichnen können.
Jetzt wende ich mich einer anderen, wesentlich älteren Form der Bildsprache zu,
einer Ursprache des bildnerischen Ausdrucks, der sich inzwischen bis zu 50.000
Jahren zurückverfolgen lässt: Die abstrahierende Bildsprache.
Abstrahieren bedeutet reduzieren, vereinfachen, weglassen. Die ältesten
Zeichnungen und Malereien, die wir kennen, nämlich die steinzeitlichen
Höhlenmalereien: das sind Abstraktionen. Die Menschen damals haben sich zwar
auch an den Bildern der äußeren Welt orientiert; aber in ihren Bildschöpfungen
haben sie das, was sie dreidimensional gesehen haben abstrahiert wiedergegeben.
Man kann auch sagen: Sie haben sich auf das Wesentliche beschränkt.
Höhlenmalerei Bild 36
Höhlenmalerei Bild 37
Höhlenmalerei Bild 38
Wie Sie sehen, in der abstrahierenden Bildsprache werden die Objekte der
gegenständlichen Bildwelt in reduzierter und vereinfachter Form dargestellt.
Pausenbild 39
Diese Form der Bildsprache wird oft missverstanden. Auch in Kunstzeitschriften,
die es eigentlich wissen sollten, wird nämlich der Begriff der abstrakten Malerei
oftmals so angewendet als würde es sich dabei um Bilder handeln, die keine
gegenständlichen Objekte zeigen. Das ist jedoch falsch. Jedes abstrahierte Bild
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stellt Objekte der Außenwelt dar und ist demzufolge das Resultat einer am
Gegenstand orientierten Darstellung.
Wovon geht man beim Zeichnen oder Malen aus, wenn man gewollt oder
ungewollt abstrahiert? Man geht von einem gegenständlichen Bild der Realität
aus. Deshalb ist bei einem gegenständlich abstrahierten Bild immer noch der
Gegenstand anwesend. Die nächsten sechs Beispiele mögen das verdeutlichen:
Abstrahiertes Bild 40
In diesem Bild sehen Sie eine Studie von Oskar Schlemmer in der deutlich das
Bemühen zu erkennen ist, die gegenständliche Form zu vereinfachen und auf
wenige geometrische Grundelemente zu reduzieren.
Das nächste Bild ...
Abstrahiertes Bild 41
zeigt die maximale Reduktion auf das Wesentliche einer Gestalt, in der trotz ihrer
Vereinfachung aber immer noch der aufrecht stehende Mensch als Objekt der
Darstellung zu erkennen ist.
Die nächsten Bilder zeigen Abstraktionen aus der bildenden Kunst. Egal, wie
abstrahiert worden ist: In jedem Bild ist immer das Objekt, der Gegenstand zu
erkennen. Es gibt kein abstrahiertes gegenständliches Bild in dem kein Gegenstand
anwesend ist.
Abstrahiertes Bild 42
Abstrahiertes Bild 43
Abstrahiertes Bild 44
Abstrahiertes Bild 45
Pausenbild 46
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Die abstrahierende Bildsprache ist sehr subjektiv. Solche Bilder vermitteln eine
subjektiv erlebte Sicht auf die gegenständlichen Bilder der Welt. In abstrakten
Bildern vermittelt sich deshalb das dargestellte Objekt in seiner Bedeutsamkeit, die
es für seinen Schöpfer hat. Und zwar wesentlich deutlicher, als es bei einem
realistischen gegenständlichen Abbild der Fall wäre.
Wenn Sie von jemandem dazu aufgefordert würden, zum Beispiel einen Ihnen
nahe stehenden Menschen zu zeichnen, dann wird das Resultat mit Sicherheit
eine Abstraktion sein. Auch Kinder malen und zeichnen so lange abstrahierend,
bis man ihnen in der Schule beigebracht hat, dass diese Zeichnungen nicht
wirklich mit der Realität überein stimmen. Danach verlieren die Meisten die Lust
am Zeichnen und Malen.
Bei Psychologen und Therapeuten ist die Meinung ist weit verbreitet, dass beim
subjektiv abstrahierenden Zeichnen oder Malen so genanntes unbewusstes
Material sichtbar werden würde; das lässt sich infrage stellen. Es ist nämlich sehr
wahrscheinlich so, dass Ungeschicklichkeit und Unzulänglichkeit beim Gestalten
dafür ausschlaggebend sind, dass ein subjektiv abstrahiertes Bild so geworden ist,
wie es aussieht; und wenn es so ist: was wäre dann die unbewusste Botschaft? Die
Botschaft heißt: Ich habe es nicht besser gekonnt. Einerseits darf man also
bezweifeln, dass infolge einer handwerklichen Ungeschicklichkeit unbewusstes
psychisches Material erscheint. Andererseits kann man jedoch auch annehmen,
dass gerade deshalb Dinge sichtbar werden, weil man sie nicht bewusst
kontrollieren konnte.
Was wäre dann der psychologische Wert der subjektiv abstrahierenden
Bildsprache? Er findet sich vorrangig im Vorgang des Gestaltens selbst; er liegt in
der schöpferischen Handlung, in der bildschaffenden Funktion und weniger in der
Bedeutung, der möglicherweise damit verbundenen unbewussten Bildinhalte.
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Dass über die abstrahierende Bildsprache Emotionen und geistige Einstellungen
ins Spiel kommen, die sich verbal keinesfalls so unmittelbar und komplex
vermitteln lassen, wie es durch ein solches Bild möglich ist, das zeigt sich vor
allem in der Psychopathologie. Sei es in Form von Farbwahl, der Psychomotorik
der Linienführung oder in der abstrahierenden Vereinfachung der Formen: Über
diese Bildaspekte kommt es zu einer Übertragung von psychischen Inhalten, die
etwas über die subjektive Innenwelt des Handelnden aussagt.
Psychopathologie Bild 47
Psychopathologie Bild 48
Psychopathologie Bild 49
Aber nicht nur die erkrankte Seelenwelt zeigt sich über das Ausdrucksmedium der
abstrahierenden Bildsprache. Auch in der Psychotherapie ist sie ein hilfreiches
Mittel, um komplexe Botschaften auszudrücken, die sich der begrifflichen Sprache
entziehen.
Psychotherapie Bild 50
Psychotherapie Bild 51
Psychotherapie Bild 52
Pausenbild 53
Ich habe versucht deutlich zu machen, dass die abstrahierende Bildsprache das
zentralperspektivische Sehen unberücksichtigt lässt. Deshalb vermitteln solche
Bilder keine objektive Realität, sie sagen nichts über diese Realität aus, sondern
vermitteln eine subjektive Sicht der Realität. Trotzdem ist in einem abstrahierten
Bild immer noch an der abgebildete Gegenstand anwesend. Auch eine maximal
gegenständliche Abstraktion zeigt immer noch ein Objekt.
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Nachdem wir uns bis jetzt mit der gegenständlich realen, der gegenständlich
surrealen und der gegenständlich abstrahierenden Bildsprache beschäftigt haben,
komme ich jetzt zur objektfreien Bildsprache.
Ich habe Ihnen gezeigt, dass jedes gegenständliche, gegenständlich surreale oder
gegenständlich abstrahierte Bild irgend etwas darstellt. Ein objektfreies Bild
dagegen ist völlig frei von gegenständlichen Inhalten. Wenn es aber nichts
Gegenständliches zeigt, was zeigt es dann?
Es zeigt Farben, Bewegungsspuren oder Formen. Diese bildnerischen Elemente
dienen bei einem ungegenständlichen Bild aber nicht mehr dazu etwas
gegenständliches abzubilden. Deshalb vermitteln es etwas, das in der
gegenständlichen Bildwelt der Außenwelt nicht existiert: Objektfreie Bilder zeigen
etwas Seelisches und Geistiges – sie zeigen Innenwelt.
In seinem Buch "Über das geistige in der Kunst", dem ein Manuskript aus dem
Jahr 1910 zugrunde liegt, hat Wassily Kandinsky genau davon gesprochen.
Buch Kandinsky Titel Bild 54
Die Holzschnitt-Illustrationen, die diesem Buch beigefügt sind zeigen nichts
Gegenständliches.
Buch Kandinsky Holzschnitt 1 Bild 55
Buch Kandinsky Holzschnitt 2 Bild 56
Diese Formen bilden keine bekannten gegenständlichen Objekte ab. Was zeigen
sie dann? Sie zeigen sich selbst.
Bei einem objektfreien Bildausdruck werden also die bildnerischen Mittel wie
Form, Farbe, Bewegung nicht mehr dazu verwendet, um etwas Gegenständliches
darzustellen. Das erste Bild dieser Art, das von Kasimir Malewitsch stammt, zeigt
nichts weiter als ein schwarzes Quadrat.
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Malewitsch schwarzes Quadrat Bild 57
Pausenbild 58
Inzwischen ist man es gewohnt solche Bilder zu sehen. Man kann sich deshalb
schwer vorstellen, dass sie das Ergebnis eines Bewusstseinsprozesses sind der
keineswegs einfach gewesen ist. Malewitsch hat dazu in seinem Suprematistischen
Manifest gesagt: "Der Aufstieg zu den gegenstandslosen Höhen der Kunst ist
mühselig und voller Qualen ... aber dennoch beglückend." Dass es diesen
ungegenständlichen Ausdruck, dass es die objektfreie Bildsprache bereits lange vor
Malewitsch außerhalb Europas gegeben hat, werde ich noch zeigen.
Was ist nun das Besondere an der objektfreien Bildsprache? Sie funktioniert
psychologisch und cerebral anders als der gegenständliche Bildausdruck. Das
müssen wir uns genauer betrachten, wenn wir es verstehen wollen.
Was sehen Sie, wenn Sie dieses Bild vor sich haben?
Zeichnung Würfel gegenständlich Bild 59
Sehr wahrscheinlich sehen Sie einen Gegenstand: Einen Würfel. Aber wie kommt
es dazu, dass Sie einen Würfel sehen? Das ist deshalb so, weil Ihr Gehirn gelernt
hat diese zwölf Linien mit einem dreidimensionalen Erfahrungsobjekt in
Verbindung zu bringen, das Sie irgendwann in Ihrem Leben kennen gelernt und
mit dem Wort "Würfel" in Zusammenhang gebracht haben. Aus diesem Grund
wird es Ihnen vermutlich sehr schwer fallen keinen Würfel zu sehen; es wird Ihnen
kaum möglich sein, das zu sehen, was wirklich zu sehen ist: Ein Netz von Linien.
Der Würfel, den Sie hier sehen ist ein gegenständliches Bild – ein Abbild. Dieses
gegenständliche Abbild wird derart automatisch von Ihrem Gehirn erzeugt, dass
es schwierig und nahezu unmöglich scheint, sich davon zu lösen.
Schauen Sie sich bitte jetzt dieses Bild an:
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Ungegenständlich organisierte Linien Bild 60
Auch dieses Bild besteht aus zwölf Linien. Allerdings sind sie völlig anders
angeordnet. Auch die Längen sind unterschiedlich und zwei Flächen sind mit
Tonwerten angefüllt. Jetzt hat Ihr Gehirn vermutlich Mühe einen vertrauten
Gegenstand zu sehen. Anders gesagt: Wenn Sie dieses Bild betrachten, können Sie
es vermutlich leichter objektfrei sehen.
Mit Hilfe dieses kleinen Experiments haben wir nun eine neuropsychologische
Definition für das gegenständliche und das ungegenständliche Bild gefunden.
Beim gegenständlichen Bild wird das, was Sie sehen vom Gehirn so organisiert,
dass Sie etwas Bekanntes wieder erkennen können. Beim objektfreien
ungegenständlichen Bild hat es das Gehirn sehr viel schwerer, das Gesehene so zu
organisieren, dass es einem bekannten Gegenstand entspricht.
Tatsache ist, dass wir bei diesem Bild, das vom Gehirn als gegenständlicher
Würfel interpretiert wird
Zeichnung Würfel gegenständlich Bild 61 (Duplikat von 59)
lediglich ein Netz von zwölf Linien vor uns haben, und keinen Würfel. Das sagt
uns: Unser Gehirn interpretiert diese Linien zu etwas, was sie nicht sind, sondern
zu sein scheinen.
Pausenbild 62
Das menschliche Bedürfnis, das Bedürfnis des konditionierten Gehirns in
objektfreien Bildern etwas zu sehen, was den bekannten gegenständlichen Bildern
entspricht, wird zum Beispiel bei einem tiefenpsychologischen Testverfahren
benutzt, das unter dem Namen "Rorschachtest" bekannt ist. In den drei
Bildbeispielen, die Sie hier sehen ist nichts Gegenständliches abgebildet. Jedes
Bild ist mit Absicht objektfrei und stellt nichts dar. Allerdings nutzt man das
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Bedürfnis des Gehirns, bekannte Muster, das heißt gegenständliche Bilder zu
entdecken, um daraus Botschaften aus dem Unbewussten abzuleiten.
Rorschachtest Bild 63
Rorschachtest Bild 64
Rorschachtest Bild 65
Wenn Sie solche Bilder sehen, dann beginnen Sie zu projizieren. Das heißt: Sie
sehen in diese Bilder etwas hinein, was in den Bildern gar nicht vorhanden ist.
Wenn es aber nicht in den Bildern vorhanden ist – woher kommen dann die
gegenständlichen Bilder, die Sie sehen? Sie kommen aus Ihrem Gehirn, das die
objektfreien Muster – genau so wie beim Würfel – so organisiert, dass Sie etwas
Bekanntes erkennen können.
Pausenbild 66
Die Botschaft, die wir aus diesen Phänomenen bekommen, heißt: Es ist
keineswegs einfach und selbstverständlich, die objektfreie Bildwelt so zu betreten
und sehen, ohne dass man etwas Gegenständliches mit hinein nimmt und so sieht,
wie sie wirklich ist. Wenn man aber objektfreie Bilder nicht so sehen kann, wie sie
sind – nämlich frei von gegenständlichen Bildern, dann können diese Bilder auch
ihre geistigen Botschaften nicht vermitteln. Was können das für Botschaften sein?
Die objektfreie Bildsprache spricht zu uns aus einer geistigen Dimension. Das
wollen wir uns jetzt näher betrachten.
Die Wurzeln der ungegenständlichen Bildsprache liegen keineswegs in der
bildenden Kunst. Sie finden sich in zum Teil seltsamen spirituellen Strömungen.
Zum Beispiel berichtet der Arzt Justinus Kerner in einer Veröffentlichung aus dem
Jahr 1829 über "Die Seherin von Prevorst" über eine medial veranlagte Frau, die
im Zustand von Trancezuständen eine eigentümliche seelische Schrift entwickelt
hatte.
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Schriftbild Prevorst Bild 67
Wenn Sie sich diese Liniengebilde genau betrachten können Sie sehen, dass es
sich – ganz ähnlich wie bei einer Handschrift – um gegenstandsfreie
Bewegungsspuren handelt. Sie sind unmittelbarer Ausdruck einer psychischen
Dynamik, die frei von Bedeutungen ist. Ich habe vorhin die Handschrift erwähnt.
Handschrift Bild 68
Wenn Sie bei diesen Handschriften den Zeichencharakter ignorieren und nur auf
die Linien achten aus denen die Zeichen bestehen, dann sehen Sie ebenfalls nur
noch Bewegungsspuren, die nichts bedeuten. Aber: Sie haben eine Wirkung. Und
darauf kommt es an.
Ganz ähnlich verhält es sich bei den Farb-Formgebilden, die von den Theosophen
Anni Besant und Leadbeater in dem Buch "Gedankenformen" aus dem Jahr 1908
veröffentlicht worden sind. Diese Bilder sind von einer medial veranlagten Frau
gemalt worden, die imstande war die Gedanken von Menschen zu sehen. Auch
hier handelt es sich um eine objektfreie Bildsprache, die nichts Gegenständliches
darstellt.
Gedankenform Bild 69
Gedankenform Bild 70
Gedankenform Bild 71
Diese objektfreie Bildsprache reicht weit in die Menschheitsgeschichte zurück.
Wir finden sie bereits ungefähr eintausend Jahre vor Christus bei den chinesischen
Taoisten zur Bannung von Geistern, wie die folgenden drei Bilder zeigen:
Taoismus Bild 72
Taoismus Bild 73
Taoismus Bild 74
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Es gab objektfreie Bilder auch im indischen Tantrismus, der ebenso lange zurück
reicht:
Tantrismus Bild 75
Tantrismus Bild 76
Tantrismus Bild 77
Tantrismus Bild 78
Wir finden den objektfreien Bildausdruck ebenso in der jüdischen Kabbala zur
Beschwörung geistiger Wesenheiten:
Kabbala Bild 79
Kabbala Bild 80
Kabbala Bild 81
Eine weitere sehr interessante Variante des objektfreien Ausdrucks finden wir in
unserem Zeitalter in den verschiedenen durch Psychodrogen herbei geführten
experimentellen Zuständen in denen der Betreffende gezeichnet hat:
Psychodrogen Bild 82
Psychodrogen Bild 83
Psychodrogen Bild 84
Psychodrogen Bild 85
Pausenbild 86
Dass die gegenständlich reale Welt eine Komnstruktion unseres Gehirns ist, zeigt
sich anhand des folgendes Beispiels.
Katze psychotisch Bild 87
Sie sehen eine Reihe von Bildern einer Katze, die im Verlauf eines sogenannten
psychotischen Schubs gezeichnet worden sind. In diesem Verlauf ist deutlich zu
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erkennen, wie sich die gegenständliche Konstruktion der sogenannten Realität des
Objekts immer mehr auflöst, bis nur noch objektfreie Strukturen vorhanden sind.
Pausenbild 88
Ich fasse nun zusammen, was ich Ihnen bisher gesagt und gezeigt habe und
versuche es auf das Wesentliche zu reduzieren.
Es gibt eine gegenständliche und eine objektfreie Bildsprache. Der wesentliche
Unterschied wird anhand der Linie deutlich. Denn eine Linie ist ein Form
bildendes Element. Wenn Sie gegenständlich zeichnen, dann benutzen Sie die
Linie, um etwas abzubilden. Wenn Sie nicht gegenständlich zeichnen, dann
benutzen Sie die Linie nicht mehr dazu ein Objekt zu formen und darzustellen.
Damit Sie einen Eindruck von der Ausdrucksvielfalt objektfreier Linien
bekommen, die kein Objekt abbilden, zeige ich Ihnen jetzt eine Serie von acht
Zeichnungen in denen nichts anderes als Linien zu sehen sind. Diese Zeichnungen
hat ein Künstler vor ca. 45 Jahren gemacht als er sich mit der Frage beschäftigt
hat: Was kommt dabei heraus, wenn man eine einfache Linie zeichnet, ohne
damit etwas zeichnen zu wollen?
Objektfreie Linie 1 Bild 89
Objektfreie Linie 2 Bild 90
Objektfreie Linie 3 Bild 91
Objektfreie Linie 4 Bild 92
Objektfreie Linie 5 Bild 93
Objektfreie Linie 6 Bild 94
Objektfreie Linie 7 Bild 95
Objektfreie Linie 8 Bild 96
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Vielleicht fragen Sie sich, nachdem Sie diese ungegenständlichen Linienbilder
gesehen haben: Na und? Was soll mir das sagen? Ich würde Ihnen diese Frage
nicht beantworten können.
Pausenbild 97
Ich sehe das inzwischen so: Ob eine objektfreie Zeichnung etwas bedeutet oder
nicht, ist völlig unerheblich. Viel wichtiger ist folgendes: Was würde mit Ihnen
geschehen, wie würden Sie sich fühlen, was würden Sie denken, was würden Sie
erfahren, wenn Sie selbst ungegenständlich zeichnen?
Was würde in Ihnen vorgehen, wie würde sich Ihr Gehirn organisieren, wenn Sie
sich auf eine solche objektfreie Bildsprache einlassen? Dieses sich Einlassen würde
nämlich damit zu tun haben, dass Sie bereit sind sich auf das Unbekannte in Ihnen
einzulassen. Es würde bedeuten, dass Sie sich nicht mehr an das gegenständlich
Bekannte klammern, dass Sie loslassen müssen, um sich einer völlig unbekannten
seelisch geistigen Dynamik hingeben zu können.
Aufgrund dieser Zusammenhänge ist das Zeichnen, ist das Gestalten von Bildern
ein sehr nützliches und hilfreiches Medium, wenn es darum geht den Menschen
mit sich selbst zu konfrontieren. Deshalb gibt es einen Beruf der sich
"Kunsttherapie" nennt. Um als Kunsttherapeut oder -therapeutin tätig sein zu
können, muß man sich mit den verschiedenen Formen der Bildsprache vertraut
gemacht haben. Und nicht nur das. Man muß auch die Muster der verbalen
Kommunikation kennen mit denen wir uns im Alltag unbewußt manipulieren. Im
besten Fall hat man gelernt, wie man die diversen Aspekte der Bildsprache mit der
Technik einer konstruktiven verbalen Sprache einander ergänzend anwendet. Und
warum sollte man das machen? Um an der seelisch geistigen Ästhetisierung des
Menschen arbeiten zu können. Denn das Ziel der Evolution kann nicht sein, daß
wir uns nur noch als konsumierende Spezies sehen – das Ziel der menschlichen
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Existenz liegt sowohl beim Einzelnen, wie als Gesellschaft in der Kultivierung
seiner schöpferischen Anlagen.
Kunsttherapie ist eine Vision. Sie hat - aus meiner Sicht der Zusammenhänge - mit
Kasimir Malewitsch begonnen der in seinem bedeutsamen suprematistischen
Manifest gesagt hat: "Die Selbstverständlichkeit der Tatsache, daß die bildende
Kunst bildend und nicht nachbildend ist, scheint demnach noch lange nicht
erkannt zu sein, so daß das Wesentliche der Kunst der Gesellschaft unzugänglich
bleibt. Ein Künstler, der nicht imitiert, sondern schafft – bringt sich selbst zum
Ausdruck; seine Werke sind keine Spiegelbilder der Natur, sondern neue
Tatsächlichkeiten, die nicht weniger bedeutend sind als die Tatsächlichkeiten der
Natur selbst."