Werner Rother - Die Kunst Des Streiten Argumentieren Und Diskutieren

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    GOLDMANNS GELBE TASCHENBCHERBand 1366

    Werner Rother, Die Kunst des Streitens

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    Zu diesem Buch

    Das Streiten, Argumentieren und Diskutieren bt der Mensch, seit er der

    Sprache mchtig ist. Kein Wunder also, wenn man sich schon seit der Antike

    mit der Frage beschftigt hat, wie man am besten streitet, um Erfolg zu

    haben und selber mglichst ungeschoren zu bleiben.

    Werner Rother hat die Formen und Inhalte des Streitgesprchs fr unsere

    Zeit neu durchdacht; er untersucht die geistigen Waffen, mit denen

    sprachliche Gefechte der verschiedensten Art gefhrt werden knnen - sei es

    mit Florett oder schweren Sbeln. Dabei nimmt er seinen Ausgang von den

    praktischen Erfahrungen und Beobachtungen des Alltags, die berall dort

    gemacht werden knnen, wo heute gestritten und argumentiert wird: im

    Gerichtssaal wie in der Straenbahn, bei Behrden wie in der Familie, beiBetriebsversammlungen, im Hausflur oder in der Waschkche.

    Der Verfasser zeigt, wie man mit Ehren fechten soll. Er will damit

    auch denen ein wenig helfen, welchen immer erst hinterher einfllt, was sie

    htten sagen sollen. Er betont dabei, da auch zum rechten Diskutieren

    Gewissen und Verantwortung gehren. An einem Musterfall zeigt er zum

    Schlu noch einmal gesammelt die Mglichkeiten der streitbaren

    Erwiderung.

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    WERNER ROTHER

    Die Kunst des Streitens

    G

    WILHELM GOLDMANN VERLAGMNCHEN

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    Dieses Buch wird unter der Bedingung verkauft, da es ohne Zustimmung des Verlages weder inLeihbchereien eingestellt noch gewerbsmig weiterverkauft, vermietet oder auf hnliche Weisegenutzt wird. Die vom Verlag gewhlte Ausstattung darf weder durch einen festen Einband noch

    durch einen besonderen Umschlag noch in sonstiger Weise verndert werden.

    7023 Made in Germany 3. Auflage. Genehmigte Taschenbuchausgabe. DieOriginalausgabe ist im Gnter Olzog Verlag, Mnchen, erschienen. Umschlag-entwurf: Ilsegard Reiner. Gesetzt aus der Linotype-Garamond-Antiqua.

    Druck: Presse-Druck Augsburg. Verlagsnummer 1366 Wo/Stebook v1.02002 produced by ratte

    ISBN 3-442-01366-6

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    Inhaltsverzeichnis

    Regeln und Figuren des Geisteskampfes 7

    Begriffe der Logik9

    Trugschlsse 10

    Zweck einer modernen Streitkunde 10

    Ob und wann man streiten soll 11

    Arten und Umstnde der geistigen Auseinandersetzung 16

    Der Streit mit Schimpf werten 16

    Der Streit mit Argumenten 18

    Voraussetzungen der ntzlichen Diskussion 19Schlssigkeit der Begrndung und Qualitt der Argumente 23

    Die Mglichkeiten, gegnerische Argumente zu widerlegen 27Das Bestreiten von Tatsachen 29

    Der Streit um die Kausalitt 32

    Unterscheiden und Zergliedern 37

    Vergleichen 42Der Hinweis auf das eigene Verhalten des Gegners 45

    Die Retourkutsche 47

    Die Argumente ad maiorem, ad minorem, e contrario 49

    Die Allgemeinverbindlichkeit des Arguments 51

    Die Wirkung der Summierung 55

    Die Widerlegung ad absurdum 57

    Die Entstellung gegnerischer uerungen 61

    Die zwei Seiten einer Sache 63Das Sowohl-Als-Auch 68

    Das Ausweichen ins Allgemeine 70

    Der Streit um Wenn und Aber 73

    Das Ausweichen ins Besondere 75

    Die Verurteilung mit Sammelbegriffen 83

    Die Zitierung von Autoritten 86

    Die Beanstandung der Fragestellung 89

    Die Taktik, hinter das gegnerische Argument zu kommen92

    Die Taktik der Verwirrung 98

    Die Taktik, dem anderen recht zu geben 100

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    Zum ueren Verlauf der Diskussion 101Ob man sich auf eine Debatte einlassen mu 101

    Die Hufung von Argumenten 102

    Das Zurckhalten guter Grnde 103

    Die Auswahl der Argumente 105Die gegenseitige Behinderung der Grnde 106

    Die uere Form des Diskutierens 107

    Die Schdlichkeit perfekter Formulierung 108

    Der Humor beim Streiten 110

    Die Gefahr, lcherlich zu wirken 111

    Die Beanstandung der Form 114

    Die Taktik des Persnlichnehmens 114

    Die Ausdauer beim Streiten 116Ma und Ziel des Streitens 117

    Die Einteilung der Mittel 118

    Die Kunst, dem Gegner eine Brcke zu bauen 119

    Die Vermeidung allgemeiner Feststellungen 120

    Die captatio benevolentiae 122

    Die Verhandlung mit Abgesandten 123

    Bundesgenossen und Isolation 124

    Ein Musterfall 126

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    Regeln und Figuren des Geisteskampfes

    Wer einem Fuballspiel oder einem Boxkampf zusieht, ohne vonSport etwas zu verstehen, sieht bekanntlich nur die Hlfte von dem,was vorgeht. Er erblickt durcheinanderlaufende Spieler oderaufeinander einschlagende Mnner und bemerkt auch, wenn Torefallen oder ein Boxer zu Boden mu. Aber er wei niemals, warumdie anderen Zuschauer Ah oder Pfui rufen; denn die Einzelheiten derHandlung und Bewegung, die dem Spiel erst Farbe und Hintergrund

    geben, gehen ihm verloren. Die Feststellungen der Fachleute, diehier von Angriffen, Deckungen, Kombinationen, Paraden oderTricks sprechen, hlt er womglich fr leeres Gerede, durch das diean sich zuflligen Vorgnge ber Gebhr wichtig genommenwerden.

    Diese Laienauffassung wird in Fragen des Sports niemandanerkennen. Zu wissen, wie es gemacht wird, ist die Strke des

    Sachverstndigen. Auch ist auf diesem Gebiete die Zahl derFachkundigen gro, und diejenigen, die berhaupt nichts von derSache verstehen, befinden sich in der Minderheit.

    Bei geistigen Auseinandersetzungen, es handle sich umfreundschaftliche Diskussionen oder um ernste Polemiken, ist diesesVerhltnis leider umgekehrt. Obwohl die Dinge, um die es hierbeigeht, oft von grter allgemeiner Wichtigkeit sind, versteht es nureine kleine Anzahl Menschen, den Verlauf eines Meinungskampfes

    auf seine technischen Einzelheiten hin zu beurteilen und Strke undSchwche der Positionen richtig abzuschtzen. Die meisten, dieeinen solchen Streit verfolgen, nehmen hier ihrerseits nur einunerfreuliches Knuel von Beschuldigungen, Beteuerungen,Ausreden und mehr oder weniger zutreffenden Grnden wahr undwenden sich von diesem verwirrenden Anblick gern mit derBemerkung ab, da die ganze Streiterei ja doch keinen Zweck habe,

    da Lgner und Betrger dabei mit Notwendigkeit die Oberhandgewnnen und da ein anstndiger Mensch solchenAuseinandersetzungen am besten aus dem Wege gehe.

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    Dieser Standpunkt ist bis zu einem gewissen Grade verstndlich.Sind nicht schon die Anlsse und Gelegenheiten, bei denen sichMenschen mit Waffen des Geistes bekmpfen, unbersehbar? Kann

    man sich nicht mit einer Unzahl ganz verschiedenartiger Gegner -mit fremden und nahestehenden Leuten, mit mtern undOrganisationen, mit Gott und der Welt und genaugenommen sogarmit sich selber streiten? Findet nicht schon beim Lesen eines Buches,beim Anhren einer Rede oder beim Betrachten eines Plakates einestille Auseinandersetzung mit dem Gebotenen statt? Wie soll manhier Regeln und Unterschiede erkennen? Und hat man sich nicht,was besonders die Propaganda betrifft, nach verbreiteter Ansichtberhaupt damit abzufinden, da der Mensch unserer Zeit denbermchtigen Krften der Beeinflussung und Meinungsbildungmehr oder weniger hilflos ausgeliefert ist, so da es zwecklosscheint, sich ber das Wie und Warum noch Gedanken zu machen?

    Natrlich wre es, wie gerade die letzte Erwgung zeigt,zumindest recht wnschenswert, wenn jedermann - auch der vonNatur Sanftmtige - einige Grundregeln des Geisteskampfes kennen

    und beherrschen lernte. Vielleicht kehrte dann bei vielen, die sichgegenwrtig ohne Ziel und Richtung im Widerstreit der Standpunkteund Interessen treiben fhlen, eine gewisse Standfestigkeit desUrteils und das Vertrauen in die eigene Einsicht zurck.Voraussetzung wre allerdings, da derartige Grundstze desStreitens und Argumentierens berhaupt nachweisbar und zuerlernen wren.

    Bei nherer Betrachtung des vielfltigen Stoffes zeigt sich indieser Beziehung vieles Neue und Schwierige, zugleich aber auchvieles Trstliche. Allen geistigen Kontroversen - das kann zunchstfestgestellt werden -, mag es sich um solche im privaten oderffentlichen Leben, auf hherer oder niederer Ebene, aufwissenschaftlichem, politischem, gerichtlichem, wirtschaftlichemoder einem beliebigen anderen Gebiet handeln, ist es gemeinsam,da sie in bestimmten gedanklichen Bahnen verlaufen und unter

    Anwendung einer Reihe immer wiederkehrender dialektischerFiguren stattfinden. Es gibt hier Angriffszge, Paraden, Riposten,Finten, Fouls und Tiefschlge wie beim krperlichen Kampf, und esist von verstndlichem Vorteil, diese Bewegungen durchschauen und

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    ihnen begegnen zu knnen. Ein weites Arsenal geistiger Waffen tutsich dabei der sammelnden Beobachtung auf, welches aber zumGlck nicht unbersehbar, sondern in sich gegliedert und in Gruppen

    und Hauptfiguren einteilbar ist und wobei wesentliche undunwichtige, tiefgehende oder mehr oberflchliche Methodenunterschieden werden knnen.

    Auch wird dabei klar, da das Streiten und Argumentieren keineAngelegenheit der moralischen Strke oder des moralischenVersagens, sondern ein auf seine Art geistesnotwendiger,energieerzeugender Vorgang ist, der - wie es die Philosophen auchlngst wissen - der Auffindung der Wahrheit durch Zug undGegenzug und der dialektischen Ausbalancierung der Standpunkteund Interessen dient. Das Argumentieren ist mit dem Denkengroenteils identisch. Ob nun der denkende Mensch seineErwgungen im ueren Streit mit einem Gegner verficht oder ob erseine Gedanken und die mglichen Gegenargumente bei sich selbstprft, ist insoweit einerlei. Die denkerische Auseinandersetzung mitder Welt im groen oder im kleinen ist dem Menschen kraft seiner

    Natur aufgegeben. Alle Feststellungen und Unterscheidungen, diewir im Verlaufe unserer Untersuchung zu treffen haben, werdendaher die Grundprobleme des Denkens und Philosophierens streifen.Die Fragen in ihre vorhandenen Tiefen zu verfolgen, wird allerdingsnach Sinn und Zweck unserer Darstellung nicht mglich sein.

    Begriffe der Logik

    Zu erwhnen ist nur noch, da die folgenden Ausfhrungen in vielerBeziehung auf gewisse alte Begriffe und Einteilungen zurckfhrenmssen, die auf dem Gebiete der Logik seit Jahrhunderten blichsind. Es soll aber davon abgesehen werden, diese alten, meist schonvon Aristoteles herrhrenden Fachausdrcke in vollem Umfange zuverwenden, zu erlutern und zu klassifizieren und die oftmals rechtabstrusen Beispiele, die frher zur Erklrung dieser Begriffe dienten,

    vor dem modernen Leser wieder auszubreiten. Dem Menschenunserer Tage werden Ausdrcke wie pepitio principii oderignoratio elenchi nicht viel ntze sein. Denn die Benennung derlogischen Operationen mit Fachausdrcken ist nur dann von

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    praktischem Wert, wenn diese Ausdrcke allseits so bekannt sind,da man die Streitweise des Gegners dadurch in abgekrzter Weisekennzeichnen oder beanstanden kann. Das aber ist heute nicht mehr

    mglich. Der moderne Leser braucht eine neue Anleitung und neueBeispiele zu diesen Fragen.

    Trugschlsse

    Von geringem Interesse wrde brigens auch eine bersicht ber dievielerlei Arten von Trugschlssen sein, mit denen die Logik seit denSophisten zu glnzen und zu unterhalten wute. Zwar sind dieElemente dieser Fallazien auch in den Tuschungsmanvernunserer Zeit ab und zu wieder erkennbar; im groen und ganzenjedoch handelt es sich bei den Geistesbetrgereien der Gegenwartum andersgeartete Vorgnge, als sie in den absonderlichenhistorischen Trugschlssen vom Krokodil, vom Proze desProtagoras oder vom Lgner enthalten sind. Jeder einfache Mannwute und wei auch ohne besondere Belehrung, da es falsch ist,

    wenn man folgert: Was du nicht verloren hast, das hast du noch.Hrner hast du nicht verloren. Also hast du Hrner. DieseSophismen sind mehr theoretische Konstruktionen als praktischinteressant und werden im Leben kaum jemand irreleiten. Dagegenwrde es uns zum Beispiel interessieren, durch welche Mittel diePropaganda- und Reklametechnik unserer Zeit ihre anerkannteberredungswirkung erzielt und wie man demgegenber seinen

    eigenen Standpunkt behaupten kann.

    Zweck einer modernen Streitkunde

    Eine moderne Streitkunde wird also gut daran tun, von denpraktischen Erfahrungen und Beobachtungen ihren Ausgang zunehmen, die berall dort gemacht werden knnen, wo heutegestritten und argumentiert wird, und zwar durchaus ohne Rcksicht

    auf den Rang der Person oder die Dignitt der Sttte - imGerichtssaal wie in der Straenbahn, bei Behrden wie in derFamilie, bei Betriebsversammlungen, im Hausflur oder in derWaschkche. Diese Beobachtungen mssen auf ihre Bedeutung hin

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    untersucht und die Ergebnisse, in Hauptgruppen zusammengefat,vorgetragen werden. Dabei wird es ntig sein, auer den eigentlichlogisch-dialektischen Operationen auch eine Reihe von mehr

    uerlichen Verhaltensweisen zu behandeln, deren Kenntnis undBeachtung mitunter wesentlicher ist als die sachlicheGedankenfhrung.

    Damit wird denen, die es interessiert, gezeigt, wie man mitEhren fechten soll. Es mag den vielen ein wenig geholfen sein,denen immer erst hinterher einfllt, was sie htten sagen mssen;denn das sind durchaus nicht immer diejenigen, die unrecht habenoder deren Meinung zu hren unntz wre. Es soll denen Trost undErmutigung zugesprochen werden, die unter dem groen Mundanderer im und auer Hause leiden. Es soll einemkummergewohnten Zeitungsleser die Hand gereicht werden, wenn erunter der Sturzflut der zeitgenssischen Presseerzeugnisse denWunsch nach eigener kritischer Orientierung verspren sollte. Undes mag allen Personen, die privat oder von Berufs wegen ihrenStandpunkt in streitbarer Rede verfechten mssen, Auskunft gegeben

    sein, wie man sich vor schnden Gegnern behauptet.Indem aber auf diese Weise jedermann Kenntnis von den

    streithaften Regeln und zugleich die Anregung erhlt, auch aufgeistigem Gebiete vor einem mchtigen Feinde keinesfalls zuverzagen, mge - worauf sich auch in der groen Politik dieallgemeine Hoffnung grndet - letzten Endes der Vertrglichkeit undder Erhaltung des Friedens der Weg bereitet sein.

    Ob und wann man streiten soll

    Zunchst erhebt sich vor jedem Streit die Frage, ob man sichberhaupt streiten soll. Hierzu ist in aller Offenheit zu sagen, da imgroen und ganzen viel zu wenig gestritten wird und da dievolkstmliche Scherzrede, man solle nur keinen Streit vermeiden,durchaus das Richtige trifft.

    Ganz zu Unrecht sagen Leute, die bei diesem oder jenemgeistigen Gefechte einmal den krzeren zogen, da die ganzeStreiterei sowieso sinnlos sei. Mit einer so altklugen Feststellung,die das Ergebnis einer Diskussion berheblich vorwegnimmt, ohne

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    die Standpunkte selbst gehrig durchdacht und ehrlichdurchgefochten zu haben, kommt man der Sache nicht bei. DieseHaltung ist auch nicht zu verwechseln mit der eben geuerten

    Absicht, durch krftige Aufrstung des Geistes dem allgemeinenFrieden zu dienen. Denn es ist ein groer Unterschied, ob man sichnach tapferer Gegenwehr friedlich vergleicht oder ob man demGegner von vornherein kampflos das Feld berlt.

    Die allzu betonte und von vornherein bewiesene Friedfertigkeithat nmlich mit Sicherheit die Folge, da alle frechen undeigenntzigen, alle ruppigen und gedankenlosen Zeitgenossenermutigt werden, sich auf Kosten ihrer redlich gesinntenMitmenschen breitzumachen. Diese Gefahr einzudmmen, kann manaber billigerweise nicht allein vom Staat, von der Presse oder vonanderen Leuten verlangen, die die Sache gar nichts angeht. Man muvielmehr in erster Linie selbst bereit sein, in die Arena zu steigenund sich mit den Strern auseinanderzusetzen.

    Es wre aber deswegen nicht richtig, sich in jeder Situation undzu jeder Stunde gedankenlos auf einen Streit einzulassen. Ein Kampf

    mit Worten hat wie jeder andere Kampf den Sinn, den Gegner zubezwingen. Jeder mu sich also, ehe er die Warfen ergreift,zumindest einmal die Frage vorlegen, ob er berhaupt in der Lagesein wird, entweder als Sieger aus dem Gefecht hervorzugehen oderdem Gegner wenigstens ein paar treffende Hiebe zu versetzen.Mindestens das letztere mu zu erwarten sein. Wenn dies aber derFall ist, dann verpflichtet bereits die Aussicht auf einen beschrnkten

    Erfolg zur Aufnahme des Kampfes; denn auch die Kratzer und Risse,die dem Feinde zugefgt werden, knnen ihn veranlassen, beimnchstenmal anstndiger zu sein.

    Hier winken zumal dem einfachen Mann, wenn er sich mit groenHerren streiten mu, berraschende Chancen. Denn dem Groen istes oftmals peinlich, sich mit einem Kleinen auf Biegen oder Brechenanlegen zu mssen. Er verliert, zumal wenn er wiederholt mitKleinigkeiten vor der ffentlichkeit gegen Schwchere auftritt, das

    Ansehen. Es gibt dann die sprichwrtlich bekannten Pyrrhus-Siege,die nicht allein dem Pyrrhus zu Ehren so sprichwrtlich gewordensind, sondern deshalb, weil sie eine typische und in allen Kmpfenwiederkehrende Situation anzeigen, die der Erfahrene zu vermeiden

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    sucht. Tapfere Gegenwehr macht sich also auch dann bezahlt, wennsie nur auf eine ernsthafte Verwundung, nicht auf eine vlligeBesiegung des Feindes hinausluft.

    Um die Erfolgsaussichten eines Streites beurteilen zu knnen,mssen vor allem die beiderseitigen Waffen geprft werden. Diesesind auch im geistigen Kampfgetmmel recht verschieden. Die einenfechten mit dem Florett, die anderen hauen mit dem Knppel. Dieeinen stechen mit Nadeln, die anderen kmpfen mit Latten oderSteinen. Diese Unterschiede mu man rechtzeitig zu erkennensuchen. Obendrein kommt es auch noch darauf an, wer zuschaut oderden Kampf beurteilt. Wenn der wenigstens etwas von der hohenFechtkunst versteht, kann man den Kampf mit ungleichen Waffenimmerhin aufnehmen. Im brigen aber empfiehlt sich Vorsicht. Werbemerkt, da ihn einer mit dem bekannten Lehm beschmeit, derdarf nicht hoffen, diesen mit seinem feinsinnigen Pusterohr aus demFelde schlagen zu knnen. Und wer sich aus irgendwelchen triftigenGrnden nicht auf einen Kampf mit faulen pfeln einlassen kann,fr den ist es allerdings besser, er verlt in diesem Falle den

    Kampfplatz, ohne sich zu wehren.In gewissen Ausnahmesituationen, die der Gegner selbst

    geschaffen hat, kann auch das Nicht-Streiten und Nicht-Diskutierendie richtige Waffe der geistigen Auseinandersetzung sein. Wennmoderne Machthaber, denen an der totalen Gleichschaltung ihrerUntertanen gelegen ist, ab und zu belieben, zur freien Diskussionaufzufordern, dann steht meistens von vornherein fest, da eine

    solche Meinungsuerung an den bestehenden Zustnden durchausnichts ndern, sondern nur die Gegner des Regimes erkennbarmachen soll. Hier ist allerdings das Stillesein die einzige richtige Artder Erwiderung.

    Es gibt ferner auch hinsichtlich des Inhaltes einer Diskussion eineReihe von Themen, ber die man sich nicht streiten sollte. Hier liegt

    es in der Eigenart der Sache selbst, da durch eine streithafteErrterung nichts gewonnen werden kann. Leider gehren einigedieser Themen gerade zu den beliebtesten im volkstmlichenWortgefechte.

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    Da ist etwa der Streit um erwiesene Wohltaten. Kein Menschvermag je zu beurteilen und kein Gericht (auer dem Jngsten)knnte entscheiden, ob ein Ehemann seiner Frau im Laufe einer

    zwanzigjhrigen Ehe mehr Gutes getan hat als sie ihm. Mit dervollstndigen Aufzhlung, selbst wenn sie gelnge, wre noch nichtsber Wert und Motiv der Wohltaten gesagt, und derjenige, der alleeigenen guten Handlungen flieender aufzuzhlen wei als derandere, mu deshalb noch lange nicht der Bessere sein. Das ist auchganz in der Ordnung, denn gute Werke soll man um ihrer selbstwillen tun und nicht, um sie spter als Argumente gegen den anderenverwenden zu knnen.

    Ebenso nutzlos ist es, ber Tiefe und Gre von Gefhlen undEmpfindungen zu streiten; denn sowenig man sicher ist, ob der eineMensch Grn genauso sieht wie der andere, so wenig kann jemalsfestgestellt werden, ob Eindrcke und Erlebnisse von dem einenstrker oder schwcher empfunden werden als von dem anderen. Obsie also tiefer getroffen war, als er sie eine Gans nannte, oder ob erheftiger litt, als sie ihm seine alte Pfeife in den Ofen warf, wird

    niemals objektiv entschieden werden knnen.Man hte sich daher, solche Streitigkeiten zu beginnen. Man scheuesich aber auch hier nicht, energisch zu erwidern, wenn manangegriffen wird.

    Nicht nur auf die spezielle, sondern auch auf die kollektive Wirkung

    des streitbaren Widerstandes darf man vertrauen, auf den Umstandalso, da die Kampfbereitschaft aller Guten eine allgemeine, vielfachbewiesene Macht ist, mit der gerechnet werden kann. Wenn auchEigennutz und Skrupellosigkeit in vielen Fllen Erfolg erringen, sobleibt die Kraft der Gerechtigkeit dennoch erhalten und weiterhinwirksam. Das ist auch den belttern nicht gleichgltig. Auch vonihnen haben die wenigstens so viel Dickfelligkeit, da es ihnenabsolut nichts ausmachte, wenn sie von allen Seiten her harte

    Entgegnungen und tatbereite Miachtung fnden.Der Widerstand der Anstndigen aber ist eine Energie mit

    ausgesprochener Zeitznderwirkung - keine Sache frkurzgeschlossene Augenblickskmpfer, sondern eine stillwirkende

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    elementare Kraft, deren Erfolg immer viel spter auftritt, als es denBsen lieb ist. Man darf auf ihr Bestehen im Kampfe vertrauen, auchwenn man zunchst keine Ergebnisse sehen sollte. Damit aber der

    Kampf gegen Unrecht, Betrug und Eigennutz allgemein undandauernd sei, mu jeder auf seinem Gebiete bemht sein, ihnaufzunehmen und zu bestehen. Wer sich dieser Pflicht entzieht,handelt nicht friedlich und menschenfreundlich, sondern eigenntzigund verantwortungslos.

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    Arten und Umstndeder geistigen Auseinandersetzung

    Der Streit mit Schimpfworten

    Die urtmlichste und gewissermaen ehrwrdigste Form dergeistigen Auseinandersetzungen besteht darin, da sich dieKombattanten mit einem reichhaltigen Sortiment gutsitzenderSchimpfwrter belegen. Diese Art des Meinungsaustauschs hat sich

    ber lange Jahrtausende hin der allergrten Beliebtheit erfreut, undnur unserem verweichlichten Zeitalter und der ausgetretenen Stufeunserer Zivilisation war es gem, sie in Mikredit zu bringen undauf ihre Anwendung in unbegreiflichem Edelsinn selbst dann zuverzichten, wenn ein rpelhafter Gegner von sich aus wieder mit ihranfngt.

    Die erfindungsreiche und bildstarke Beschimpfung des

    Widersachers ist etwas Groartiges. Sie hat, auch wo sie nicht dieSchnheit homerischer Diktion erreicht, den unschtzbaren Vorteil,da sie die Seele des Sprechers leichtmacht und dem Gemtdenselben Triumph gewhrt, als liege der Feind bereits besiegt amBoden.

    Der Nachteil des Verfahrens liegt indes in der schnellenErschpfung der Mglichkeiten der Auseinandersetzung, die alsnchste Steigerung nur noch die handgreifliche Einwirkung

    briglt. Verbietet es sich aus irgendeinem Grunde, in dieses letzteStadium einzutreten, dann fhrt die unbedachte Anwendung derBeschimpfungstaktik allerdings zu einer baldigen Abstumpfungdieses Mittels. Das kann, wenn man aus der Verteidigung herausschimpft, ja gerade der Sinn der Sache sein. Gefhrlich ist es nur, mitder Beschimpfung zu beginnen, ohne weitere Machtmittel in petto zuhaben.

    Grundstzlich ist jedermann zu empfehlen, sich frberraschungsflle eine Anzahl gutgeprgter Kraftausdrckezurechtzulegen. Die Gelegenheiten zu ihrer Verwendung sind immodernen Massenstaat sehr mannigfaltig. Sie ergeben sich

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    namentlich dort, wo grere Menschenmengen in verdrielicherStimmung beisammen sind - in der Straenbahn, inErholungszentren, beim Anstehen in Geschften oder an

    Schaltern, beim Warten in Gastwirtschaften oder bei gemeinsamerunerfreulicher Arbeit.Bei solchen Gelegenheiten ist es vorteilhaft, auf jede grobe

    Anpflaumung sofort eine krftige Gegenrede bereit zu haben, welche- das verlangt das Hebelgesetz - immer um einen Grad strker seinmu, als die des Angreifers.

    Natrlich ist diese Unterweisung insoweit ein Notbehelf. Dierichtige Schlagfertigkeit, die ein bles Wort des Gegners schnell undmit so berraschender Formulierung auer Kraft setzt, da keinGegeneinwand mehr mglich ist, kann nicht gelehrt werden. Dochwird die Beherrschung einiger passender Gattungswrter jedenfallsvor schmhlicher Wehrlosigkeit bewahren und dem anderen denfrechen bermut vertreiben.

    Aus gebildeten Kreisen kommt hier gewhnlich der Einwand, einsolcher Streit mit Schimpfwrtern sei unsachlich und fhre zu

    nichts. Die Einstellung, die dieser Ansicht zugrunde liegt, ist sehrgefhrlich und hat das Gute in der Welt schon viele wertvollePositionen gekostet. Einen erfolgreichen und zugleich geistighochstehenden und sthetisch genureichen Streit zu fhren, istnmlich nicht so einfach, wie es diese Auffassung stillschweigendvoraussetzt, und vor allem immer von der Bedingung abhngig, dader Gegner ebenfalls auf guten Geschmack hlt. Tut der das nicht, so

    hat der Edle nur die Wahl, entweder vornehm das Feld zu rumenoder aber krftig mit gleicher Mnze zu erwidern. Hat er sich zumletzteren ein- oder zweimal energisch aufgerafft, so wird erbemerken, da man ihn auf Grund bewiesener Ruppigkeit von Stundan hflicher behandelt.

    Ganz verkehrt ist vor allem die Ansicht, man drfe sich vomGegner die Art der Polemik nicht aufzwingen lassen und nicht aufdas Niveau hinabsteigen, das der andere mit seinen Angriffen

    erkennen lt. Was sollte aus der zivilisierten Welt werden, wenndieses kurzsichtige Argument Schule machte?

    Ist nicht alle Bekmpfung und Bestrafung von belttern einHinabsteigen auf deren niedere Art, ein Heimzahlen mit gleicher

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    Mnze, welches das Gesetz nur deshalb erlaubt, weil es zur Abwehrgleicher oder schlimmerer Bosheiten des anderen erfolgt?

    Warum zum Teufel also entschlieen sich Staatsmnner, die aus

    dem gegnerischen Lager seit Jahr und Tag auf das heftigstebeschimpft werden, nicht dazu, ihren Mund zu einem breiten Stromgleich saftiger Entgegnungen zu ffnen? Zumal wenn das Publikumzum groen Teil aus Leuten besteht, die ihrerseits der urwchsigenForm der Auseinandersetzung noch vollauf zugetan sind? Wie sehrwrde es zur Beseitigung internationaler Verwicklungen und zurAusrumung folgenschwerer Miverstndnisse beitragen, wennStrenfrieden in krftiger Form gesagt wrde, was sie sind und wassie im Falle weiteren bel Verhaltens zu erwarten haben!

    Und warum soll es eigentlich unsachlich sein, jemanden, der einBetrger ist, auch als solchen zu bezeichnen? Es ist doch imGegenteil die sachlich einzig richtige Benennung dieses Menschen,sofern man die Mastbe der Moral noch fr allgemeinverbindlichansieht.

    Halte also jedermann an der erprobten Weisheit fest, da auf

    einen groben Klotz ein Keil von gleicher Qualitt gehrt, undentnehme jeder aus der Tiefe seiner Erinnerung und aus denBereichen, in denen er noch fest mit seinem Volkstum verwurzelt ist,die passenden Erwiderungen fr beschimpfende berflle. Er wirddamit die stille Achtung aller aufrechten Zeitgenossen gewinnen.

    Der Streit mit Argumenten

    Der eigentliche Meinungskampf allerdings, wie er mit Kunst undVerstand betrieben sein will, ist etwas anderes als die bloeBeschimpfung. Der Streit mit Schimpfwrtern ist gewissermaen dasEndstadium der Auseinandersetzung, in dem durch das Kraftwortdas Fazit eines langen streithaften Durchdenkens des Falles gezogenwird. Es kann einerseits als zeitsparende Abkrzung anzusehen sein,wenn mit den Worten Du Depp! dieses Ergebnis, kurz formuliert,

    vorweggenommen wird. Andererseits ist dieses Verfahren allzusummarisch, weil es die Grnde der Feststellung vermissen lt, diekennenzulernen fr das Publikum gerade interessant ist. Mit derFrage nach den Grnden beginnt aber eben die eigentliche lebendige

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    Diskussion um den ganzen Fall, in der sich der Streiter behauptenmu, wenn ihm seine Kraftausdrcke nicht schlielich selber zumNachteil gereichen sollen.

    Die Kunst des Streitens, die sich hier entfaltet und die deneigentlichen Gegenstand unserer berlegung bildet, erweist sich imwohlerwogenen und gebten Gebrauch der Gesichtspunkte, Grnde,Erwgungen und Beweise - der einzelnen Bausteine also, aus denensich eine Diskussion zusammensetzt und durch die die berwindungdes Gegners vollzogen werden mu. Sie zeigt sich auerdem in dernotwendigen bersicht ber die Methoden und Phasen des Kampfesund in der Fhigkeit, zur rechten Zeit die richtigen Argumente bereitzu haben.

    Voraussetzungen der ntzlichen Diskussion

    Dabei besteht zunchst ein sehr wesentlicher Unterschied darin, ob

    eine dritte Stelle da ist, die den Streit entscheidet, oder ob dieAuseinandersetzung nur zwischen den beiden Widersachern selbststattfindet. Im ersteren Falle braucht es jeder Partei nicht so sehr umdie berzeugung des Gegners als um die Gewinnung des Richtendenund Entscheidenden zu tun zu sein. Zu diesem mu gesprochenwerden, mag auch rein uerlich der Gegner angeredet sein. DieAnsicht des Richtenden ist die entscheidende. Natrlich mu diese

    Schiedsperson, wenn das Verfahren sinnvoll bleiben soll, ihrerseitswillens und in der Lage sein, die von beiden Parteien vorgebrachtenGrnde sachlich und unbefangen zu prfen und die bessereDarlegung zu erkennen. Fehlt es an dieser notwendigenVoraussetzung - was leider gar nicht so selten der Fall ist -, ist alsoder Richter unfhig oder voreingenommen, prft er nicht nach derSache, sondern nach der Person, dann allerdings braucht man sichber den Wert der Argumente keine Gedanken zu machen und mu

    seine Aufmerksamkeit nur darauf richten, wie man mit seinenAusfhrungen die Bemntelung der im brigen willkrlichenEntscheidungen erleichtern oder erschweren kann.

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    Besteht eine solche richtende und entscheidende Stelle nicht,dann wird die Sache dadurch keineswegs einfacher. Die Gegner sindin diesem Falle darauf beschrnkt, sich ihre Argumente gegenseitig

    zur Kenntnis zu bringen und es zu erreichen, da der eine demStandpunkt des anderen freiwillig beipflichtet. Wer das Leben kennt,wei aber, da diese ideale Bedingung ntzlicher geistigerAuseinandersetzung, die edle Bereitschaft also, sich gegebenenfallsden besseren Grnden des Gegners zu fgen, in der rauhen Praxisfast niemals vorkommt. Das hat wiederum einen persnlichen undeinen sachlichen Grund.

    Was das Persnliche betrifft, so ist es jedem Menschen zugute zuhalten, da er hin und wieder recht behalten will. Das Bewutsein,recht zu haben, ist vor dem Walten des Schicksals oft genug derletzte Trost und gewhrt dem menschlichen Selbstgefhl auch imUnglck noch eine Sttze. Darum gesteht niemand gern ein, da erauf dem Holzwege war. Vor allem verbieten das gesellschaftlichePrestige und die Zugehrigkeit zu einer Krperschaft oder Gruppestrikte ein solches Nachgeben. Man mte sich sonst vor der eigenen

    Anhngerschaft den Standpunkt des Feindes zu eigen machen - eineunmgliche Situation.

    Der ganze Parlamentarismus ist zwar auf dem idealen Postulataufgebaut, da sich die Vertreter des Volkes (nicht der Parteien!)gegenseitig durch gute Grnde vom Richtigen und Zweckmigenberzeugen und auf diese Weise dem vernnftigsten Vorschlag zurstaatlichen Verwirklichung verhelfen sollen. Kann dieser Forderung

    aber jemals Genge getan werden? In Wirklichkeit ist es Sache derSelbstachtung und der Fraktionsdisziplin, da man an demStandpunkt, den man einmal bezogen hat, unter allen Umstndenfesthlt.

    Schon aus Grnden dieser persnlichen, vom menschlichenSelbstgefhl her bestimmten Umstnde wre also ein Streit derMeinungen ganz aussichtslos und ohne Sinn, womit sich auch alleweiteren Ausfhrungen ber die Kunst des Streitens erbrigten. Zum

    Glck besteht hier aber ein wirksames Korrektiv, mit dem gerechnetwerden kann. Auch dort nmlich, wo eine entscheidende dritteInstanz offiziell nicht existiert, bildet sich etwas hnliches in andererWeise heraus. Die Umstehenden nmlich, das Publikum, die

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    Gesellschaft, die ffentliche Meinung oder wie man es sonst nennenwill, sind immer in irgendeiner Form anwesend. Jeder Streitendemu im privaten wie im ffentlichen Bereich mit dem Bestehen

    dieser Instanz rechnen, die sich in Gestalt von Verwandtschaft oderNachbarschaft, von Kollegen, Presse oder diplomatischem Corpsprsentiert und beobachtend und mitunter auch eingreifend diePositionen der Streitenden beurteilt.

    Mit diesem kollektiven Medium, auf dem sich der Wellenschlagdes Argumentierens berhaupt erst entfalten kann, hat es aber eineschwierige Bewandtnis. Auch die erfahrensten Politiker undPublizisten sind in der Voraussage der Reaktionen des kollektivenRichters niemals sicher. Oft genug nimmt diese Macht berhauptkeine Notiz von den Siegen oder Niederlagen des Geistes. Derhellste Triumph bleibt unbeachtet oder wird umgehend vergessen.Dafr wird in anderen Fllen dem schbigen Mittelma treueVerehrung zuteil. Trges Uninteresse verschlingt die Blitze, die ausdem Zusammenprall der Meinungen sprhen. Andererseits zndenpltzlich ganz unansehnliche Argumente und Formulierungen im

    Kollektiv der Geister, rufen Brnde und Revolutionen hervor odersetzen sich im Gefilde der ffentlichen Meinung als zher Rckstandfest, der alles sptere Vorwrtskommen unmglich macht. Gunst undVerruf bleiben dann trotz aller Anstrengungen bestehen. Keinesptere Reue ndert sie mehr.

    Fr jeden, der zum Streit des Geistes sich anschickt, ist es daherunerllich, auf das Urteil der Gesamtheit zu achten. Er darf es damit

    keinesfalls leichtfertig verderben. Er mu ihm redlich nahen wieeiner geheimnisvollen Gottheit.Und da die Gegenwart oder Abwesenheit von Gottheiten ein

    schwieriges Problem fr sich ist und der Mensch eine sozialeVeranlagung besitzt, neigt er dazu, sich eine solche beobachtendeund richtende Instanz selbst dann vorzustellen, wenn sie einmalausnahmsweise ganz und gar nicht vorhanden sein sollte und derStreit sich wirklich nur ganz im geheimen abspielt. Dieser Umstand

    ist in vieler Hinsicht gleichbedeutend mit dem Bestehen einerallgemeinen Moral.

    Der zweite Grund, weswegen der Streit mit Argumenten nurselten in wirklicher Reinheit gedeiht, ist sachlicher und

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    gewissermaen philosophischer Natur. Wenn man es unternimmt,jemanden mit Verstandesgrnden von der Richtigkeit einer Ansichtzu berzeugen, dann ist fr den Erfolg dieses Beginnens

    stillschweigende Voraussetzung, da ein fr beide Teileverbindlicher Mastab der Wertung besteht. Ohne ein solchesgemeinsames Wertgesetz ist jeder Streit sinnlos.

    Angenommen den Fall, es fiele jemand unter einen weltfernenStamm von Kannibalen, so knnte er sich niemals von demArgument Erfolg versprechen, da es schndlich sei, seineMitmenschen zu verspeisen.

    Gerade der Streit ber weltanschauliche Probleme, der so hufigund beliebt ist, kann aber aus diesem Grunde niemals zu einemErfolg fhren, wenn die Parteien von vornherein in ihrer eigenenAuffassung so befangen sind, da sie eine gemeinsame oderbergeordnete Grundlage der Wertung nichtanerkennen.

    Aus dieser Erwgung resultiert die paradoxe Feststellung, daman sich nur dann mit Nutzen und Genu streiten kann wenn man

    sich im brigen, ohne dies vielleicht zu wissen oder auszusprechen,in grundlegender Weise einig ist. Erst dort, wo in der Anerkennungvon Sitte, Bildung oder Erfahrung ein Gemeinsames besteht, kannsich ein lblicher Krieg der Meinungen entfalten.

    Man mu daher, ehe man den Kampf beginnt, versuchen denGegner auf eine gemeinsame Basis und damit auf ein klares Ziel desStreitgesprchs festzulegen, um ihn dann unter stndigem,

    aufmerksamem Bezug auf dieses gemeinsam Anerkannte mitBeweisen zu berwinden.Wenn man mit jemandem ber die Richtigkeit von

    Wirtschaftssystemen debattiert, so finde man zunchst einen Wert,um den es geht und den auch der Gegner bejaht - etwa dasWohlergehen einer grtmglichen Anzahl von Menschen, die hoheProduktivitt, den technischen oder zivilisatorischen Fortschrittoder hnliches. Dann weise man dem Gegner nach, da seine

    Theorie zu diesem erstrebenswerten Ziel nicht so schnell und guthinfhre wie die eigene. Man lasse ihn aber nicht mit Finten, berdie noch zu sprechen sein wird, auf andere Betrachtungsweisen

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    ausbrechen, sondern halte ihn so lange bei dem einmal gewhltenAusgangspunkte fest, bis man ihn hier berwunden hat.

    Man sei aufmerksam und habe ein gutes Gedchtnis fr das, was

    der andere vorbringt. Der Gegner wird nmlich, wenn er inBedrngnis geraten sollte, sich auf die Weise Luft zu schaffensuchen, da er den ganzen Ausgangspunkt der Debatte anzweifeltoder ber den Haufen wirft.

    Diskutiert man also ber Erziehungsfragen und hat man demOpponenten endlich nachgewiesen, da eine bestimmteLehrmethode fr die Bildung und den Wissenserwerb der Schlerfrderlicher sei als die andere, so wird der Gegner schlielich sagen,es komme auf die Kenntnis letzten Endes auch gar nicht an -Gesundheit und Charakter seien viel wichtiger. Hier mu manenergisch an das Thema des Streites erinnern und protestieren, wenndavon abgewichen wird.

    Schlssigkeit der Begrndung und Qualitt der Argumente

    Die geistige Auseinandersetzung in ihrer echten und sozusagenidealen Gestalt findet in der Weise statt, da jeder Beteiligte frseine Ansicht diejenigen Grnde vortrgt, die zu seinen Gunstensprechen, und zugleich bemht ist, die vom Gegner angefhrtenGrnde zu widerlegen.

    Wie man seine Ansicht gut und treffend begrndet, kann in Formeiner allgemeinen Anleitung leider nicht gesagt werden. Was dazu

    im folgenden ausgefhrt wird, vermag keine sichere Handhabe fralle denkbaren Einzelflle zu bieten. Wer will, mge dieBeweislehren studieren, die Bestandteil aller Lehrbcher der Logiksind. Er wird dort viel Ntzliches ber die Schlssigkeit einesBeweises und die Vermeidung von Beweisfehlern ausgefhrt finden:da man auf direktem oder indirektem Wege, mit Tatsachen odernach Wahrscheinlichkeit beweisen kann; da die Grundlage desBeweises eine unumstlich feststehende Tatsache sein mu und

    keine Behauptung, die ihrerseits erst des Beweises bedarf; da mannicht im Wege eines Zirkelschlusses immer das eine aus demanderen und das erste wieder aus dem letzten, da man weder zuvielnoch zuwenig beweisen soll; da sich keine Lcke in der

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    Beweiskette befinden darf, und anderes, was uns im folgenden beider Errterung der streitigen Entgegnung nher beschftigen wird.

    Was er aber sagen mu, um seinem Vorschlag, seiner Ansicht,

    seiner Kritik zum Erfolg zu verhelfen, wei der Streitende damitnoch nicht. Er kann es auch nicht wissen. Er mu gengendVorstellungsgabe besitzen, um seinen Standpunkt jeweils von rechtverschiedenen Seiten zu beleuchten und die mannigfaltigsten undbesten Argumente zusammenzutragen. Auch die logischenKategorien (Substanz, Quantitt, Qualitt, Beziehung, Zeit, Ort,Lage, Zustand, Ttigkeit, Erleiden) knnen hier nur Hinweise geben,die dann jeweils aus dem konkreten Fall heraus mit Sinn und Lebenerfllt werden mssen.

    Im brigen soll aber auch gar nicht der Eindruck erweckt werden,als ob es mglich sei, eine Anleitung fr die durchschlagendeBegrndung einer jeden Ansicht zu geben. Denn es kommtbekanntlich auf den Standpunkt selber an, ob er Anerkennung findenkann oder nicht. Aus einer schlechten Sache ist bei einigerAufmerksamkeit des Gegners auch mit viel Streitkunst kein Erfolg

    zu machen, und anderseits trgt Verstand und rechter Sinn mitwenig Kunst sich selber vor. Und selbst wenn man eine allgemeineRegel fr diesen Zweck bese, knnte man nicht prophezeien,welcher der mehreren Grnde, die meistens vorhanden sind, beimGegner oder beim Publikum besser ankommt oder einschlgt.Hier ist durchaus nichts mit Sicherheit vorauszubestimmen. Alles istBewegung, Fluidum, Aura, Faszination, persnlicher Einflu und

    persnliche Gestimmtheit.

    Nur so viel lt sich sagen, da die besten Argumente immerdiejenigen sind, die aus der genauesten Durchdenkung des Falles,aus der klarsten Kenntnis der Details und aus der Fhigkeit stammen,sich das, was getan werden soll, vorher in seinen konkretenAuswirkungen richtig vorzustellen. Im allgemeinen - der Satz wird

    sogleich zu einem Paradox in sich selbst -, im allgemeinenentscheidet beim Argumentieren das Besondere. Vieles, was ausallgemeinen Grnden ganz plausibel erscheint, mu berlegungenweichen, die mehr auf die speziellen Umstnde des Falles abgestellt

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    sind. Wer die Konsequenzen seiner Meinung genauvorauszubestimmen wei, bleibt Sieger gegenber demjenigen, dernur mit generellen Erwgungen arbeitet.

    Wenn zum Beispiel in einer Familie die Frage errtert wrde, obman sich ein Auto zulegen solle oder nicht, dann mgen gewisseallgemeine Grnde (Unabhngigkeit von anderen Verkehrsmitteln,Schnelligkeit, Bequemlichkeit, Reprsentation) frdie Anschaffungsprechen und, fr sich gesehen, auch durchaus richtig sein. DenAusschlag wird aber immer das Besondere des Falles geben, welchesetwa darin bestehen knnte, da der Vater den Wagen nicht tglichzum Dienst fahren kann oder will und da fr bloeFamilienausflge die Anschaffung nicht rentabel ist, weil z. B. dieKinder in wenigen Jahren der Familie entwachsen sein werden, oderweil man die Ausflugsziele auch ohne Wagen recht gut erreichenkann. Und weil das in anderen Fllen auch gilt, wird derjenige sichin der Diskussion am besten behaupten, der sich auf dieBesonderheiten am genauesten eingestellt hat.

    Der Laie, der Querulant, der Behrdenschreck wird immer daran

    erkannt, da er mit allgemeinem Gerede daherkommt. SeineBegrndungen sind Gemeinpltze und liegen so weit vomkonkreten Bezugspunkt ab, da sie nicht mehr durchschlagen. DerHerr Bundeskanzler, so sagt er, habe doch neulich geuert, dajedermann im Staate sein Auskommen haben solle. Daraus folgert er,da ihm das Finanzamt den erbetenen Lohnsteuer Jahresausgleichtrotz bestehender Bedenken genehmigen msse.

    Der gute Argumentierer bezieht sich auf konkrete, nahe und beider Sache liegende Umstnde. Und weil wiederum das konkreteste,sachlichste und genaueste unter allen Wissensobjekten die Zahl ist,darum erweist sich Zahlenmaterial als die solideste Begrndungsartin allen modernen Debatten, und sei es auch nur deshalb, weilniemand so schnell imstande ist, vorgefhrte Ziffernkolonnen zuwiderlegen, und eine fromme Scheu den Menschen abhlt,handtuchgroe Tabellen und Synopsen kurzerhand fr unmageblich

    zu erklren.Aber auch abgesehen von Zahlen ist das Konkrete, Anschauliche

    - mglichst als Gegenstand selbst, also das Beweisstck, dasAsservat, die An- und Beilage - in hervorragender Weise geeignet,

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    Zweifler zu berzeugen und eine Behauptung zu erhrten. Das giltvor allem fr alle Arten des gerichtlichen oder sonstwieobrigkeitlichen Streites. Hier kommt hinzu, da die Herren aus ihren

    Akten nicht viel von den Einzelheiten des Falles erkennen knnenund um so dankbarer sind, wenn ihnen jemand etwas zum Ansehenund Ausprobieren mitbringt. Lege also, wenn du es einrichtenkannst, den richtenden Instanzen etwas vor, was dieser geheimenNeigung in sachlicher Weise entgegenkommt. Zeige ihnen Fotos,lasse ein Tonband laufen, fhre sie hinaus an die Stelle, wo sich derGestank der Lackfabrik so strend verbreitet, oder lege drei Stckvon den Wechselstromschaltgerten, um die es sich handelt, auf denTisch und erlutere ihre Funktionsweise. Es wird die Trger derEntscheidungsgewalt erfreuen und sie deinen Darlegungen geneigtermachen.

    Natrlich darf man dabei die Gesetze der Logik nicht miachten.Das bersah jener Mann, der dem Gericht zwei Handtcher zumBeweis dafr vorlegte, da er auer diesen nichts von denHausratsgegenstnden besitze, die die Klgerin von ihm forderte. -

    Da auch den Beweisen der Statistik gegenber Vorsicht geboten ist,sagt eine alte Erfahrung.

    Jeder bereite sich, so gut und eingehend er es vermag, auf dasStreitgesprch vor. Er achte auf richtigen Aufbau, zeitliche undrumliche Stimmigkeit seiner Rede. Er betrachte seine Grndekritisch vom Standpunkt seiner Gegner aus und mache sich nichtsber den Erfolg vor, wenn schon ihm selbst die Sache faul erscheint.

    Er bedenke auch, wie sich seine Grnde in derMasse der anderenFlle ausnehmen mgen, die zur Entscheidung stehen, und frage,wenn er es nicht selbst bersehen kann, gerade zu diesem Punkteeinen Kundigen. Mancher ging schon hoch ins Zeug, weil er glaubte,sein Argument sei das allererste und durchschlagendste auf diesemGebiete, und war dann erschrocken, als sein Vorgang auf einemgroen Haufen gleicher Flle landete und seine Begrndung nichtden geringsten Eindruck machte.

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    Die Mglichkeiten,gegnerische Argumente zu widerlegen

    Leichter als zum Positiven leitet es sich zum Negativen an -einebedauerliche Tatsache, die die Pdagogik seit jeher behindert und diesich auch an unserem Thema besttigt. So schwierig es ist, Hinweisefr eine gute und plausible Argumentation zu geben, so flieendspricht es sich ber Methoden, wie man die Grnde andererauseinandernehmen, zerzausen, vernebeln und zu Fall bringen kann.

    Davon soll nunmehr die Rede sein.Der geneigte Leser miverstehe dabei nicht unsere Absicht.

    Unsere Anleitungen mssen notwendigerweise in zweifacherRichtung erfolgen. Es mssen einerseits gewisse Praktiken undManver gezeigt werden, deren Anwendung beim Streiten vonNutzen ist. Es mu aber gleichzeitig empfohlen werden, dieseMethoden beim Gegner keinesfalls zu dulden. ber die

    Doppelzngigkeit dieses Vorgehens braucht kein Wort verloren zuwerden. Jede Art der Auseinandersetzung - vomFuballmeisterschaftsspiel bis zur Mietrumungsklage - besteht aberdarin, da jeder Kmpfer das uerste an Mglichem versucht undgleichzeitig gegen die bergriffe des Gegners energisch protestiert -welcher Zwiespalt der Gesinnung nur dadurch behoben wird, da esder andere ganz genauso macht.

    Dabei ist die alte Rede von der negativen Kritik, der eine zubevorzugende positive Kritik gegenbergestellt wird, im Grundewenig berechtigt. Denn das Entgegnen, d. h. das Bekmpfen desgegnerischen Standpunktes, ist nicht grundstzlich von derBegrndung des eigenen Gegenvorbringens zu unterscheiden. Vieleskommt hier auf dasselbe hinaus. Richtunggebend fr die Debatte unddamit auch fr die Entgegnung bestimmend bleibt in jedem Falle derursprngliche Vorschlag, die These. Wenn sich A fr den Bau einer

    Strae einsetzt, dann kann die Gegenforderung nur lauten, da dieStrae nicht gebaut werden soll. Es zeigt sich dann aber, dawirklich selbstndige Grnde fr diese negative Forderung kaum zuerbringen sind. Vielmehr wird die Begrndung des ablehnenden

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    Standpunkts mit der Kritik des von A vertretenen Vorschlags so gutwie identisch sein. A sagt z. B., die Strae frdere den Verkehr undrege Handel und Gewerbe an. B sagt nun, weil er die gute Absicht

    hat, etwas Neues vorzubringen und nicht nur die Begrndung desA zu bestreiten, die Strae werde die Natur zerstren und Lrm undGestank verbreiten. Das letztere ist aber im Grunde gar nichts Neues,sondern nur eine notwendige nachteilige Folge des positivenVorschlags zum Straenbau, die damit herausgestellt wird. Oder Bentgegnet, man habe kein Geld. Dann ist jedoch auch das eigentlichkein eigenes Gegenargument, sondern nur das Bestreiten einer frden Straenbau notwendigen Voraussetzung.

    Ein wirklich eigener Standpunkt wre nur so denkbar, da B etwaden Vorschlag machte, die Strae zu einer anderen Zeit oder an eineranderen Stelle zu bauen. Eine solche positive Kritik ist aber nichtimmer zu verlangen. Denn sie bedeutet schon ein Eingehen auf diegrundstzliche Forderung des A, da berhaupt eine Strae gebautwerden msse. Ob das sachlich gerechtfertigt ist, kann durchausnoch die Frage sein. Davon abgesehen, wird es allerdings in vielen

    Fllen taktisch klug sein, so zu verfahren. Vor dem Publikum wirdderjenige, der immer nur die Anregungen anderer ablehnt, ohneeigene Gegenvorschlge zu bringen, in ein schlechtes Lichtgeraten. Man wird es also an solchen Gegenanregungen nicht fehlenlassen drfen. Diese kann man wiederum mit Geschick so whlen,da sie fr den Gegner unannehmbar sind, so da letzten Endes allesim bisherigen Zustand bleibt und der gegnerische Vorschlag

    abgelehnt wird.Dialektisch ist es daher nicht zu beanstanden, wenn wir imfolgenden hauptschlich die Methoden behandeln, wie mangegnerische Grnde bekmpft. Auf welcher Seite Recht undVerstand sich befinden, ist durch die Reihenfolge des Vorbringensund die Begriffe These, Antithese oder Zustimmung undAblehnung ohnehin nicht entschieden. Theoretisch kann derKritiker in ebenso vielen Fllen im Recht sein wie derjenige, der die

    erste Behauptung aufstellt.Auch ist zu bedenken, da alle die im folgenden dargestellten

    Streittaktiken im Grunde genommen ihren guten logischen Sinn undihre denkerische Berechtigung haben. Von dieser Erkenntnis darf der

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    Umstand nicht ablenken, da -wie alles Gute in der Welt - auch diedialektischen Figuren bertrieben und mibraucht werden und dannallerdings als Mittel zu Betrug und Flschung dienen knnen. Wir

    werden uns also bemhen - anders als die lteren Autoren, die hierimmer nur von Kunstgriffen, Schlichen, Winkelzgen oderhnlichem sprechen -, einerseits den guten Zweck der beobachtetenMethoden sichtbar zu machen und zur gleichen Zeit auf dieMglichkeit ihres Mibrauchs hinzuweisen.

    Im brigen wird aus der Kenntnis der Methoden, mit denen eineArgumentation anzugreifen ist, rckschlieend wiederumWesentliches fr eine richtige und stichhaltige Begrndung zuentnehmen sein.

    Was tut man also, wenn der Gegner mit einem handfesten undeinleuchtend klingenden Argument anrckt?

    Das Bestreiten von Tatsachen

    Die erste Mglichkeit besteht darin, da man die Tatsachen, die

    der andere anfhrt oder zur Sttzung seines Urteils verwendet,rundweg bestreitet. Man sagt, es stimme gar nicht, was da unterstelltwerde - die Sache verhalte sich in Wirklichkeit ganz anders.

    Diese Methode ist trotz ihrer Einfachheit geeignet, den Gegnervon Grund auf zu konsternieren. Der schne Angriffsschwung, derihn beseelte, wird zunichte gemacht. Er mu sich um Beweise frDinge bemhen, die in seinen Augen vllig offenkundig waren, und

    kommt mit den Schlufolgerungen, um die es ihm eigentlich ging,zunchst nicht zum Zuge. Er sieht sich bereits im Vorfeld dergegnerischen Festung aufgehalten. Kein Zweifel, da mit dieserVerteidigungsart im Guten wie im Bsen allerlei zu erreichen ist.

    Dieser Gegenzug wird daher in erster Linie von den HerrenRechtsanwlten verwendet, die - zur hchsten Erbitterunggerichtsungewohnter Laien - an die Spitze jedes Schriftsatzes dieBemerkung stellen, da das Vorbringen des Gegners rundweg

    bestritten werde. Dies geschieht in Ausnutzung der Notwendigkeit,da dem Gericht alles Wesentliche bewiesen werden mu, mgendie Streitparteien selbst auch recht gut wissen, wie die Dinge vorsich gegangen sind. Beweise aber gelingen nicht immer. Die Zeugen

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    erinnern sich an nichts mehr oder werden unsicher. Der geschriebeneBrief ist auf unerklrliche Weise weggekommen. Die Narben sindinzwischen verheilt, und das kranke Pferd ist weiterverkauft. Mit

    diesen blen Zufllen rechnet die schnde berufsmigeVerteidigungskunst und setzt demgem bereits an diesem Punkt mitihrer Abwehr ein.

    Segensreich andererseits wirkt diese Art, wenn etwa ein dieFinanzen verwaltender Familienvater oder eine mit den gleichenAufgaben betraute Behrde oder Abteilung die ausschweifendenEtatwnsche der anderen auf das rechte Ma zurckzufhren diePflicht hat. Hier bestreitet der Finanzminister klglich, da derangemeldete Bedarf berhaupt vorhanden sei und die geschildertenMistnde berhaupt bestnden, ehe er sich ber dieSchwierigkeiten der Finanzierung oder die Vordringlichkeit andererObjekte auslt. Er sagt also, die alte Turnhalle reiche nochjahrelang aus, die bisherige Besoldung genge vollstndig, dasvorjhrige Kleid und der entsprechende Hut seien so nett, da mansich berhaupt nichts Besseres dafr denken knne. Die Praxis zeigt

    oft, da, wenn man auf die einzelnen Tatsachen wirklich genau zusprechen kommt, die Grnde der Bittsteller ins Wanken geraten, undsei es auch nur in der Weise, da sich ein zeitlicher Aufschub damitbegrnden lt. Denn es ist ja leider meistens richtig, da es bisherauch ohne die zu bewilligenden Mittel irgendwie gegangen ist.Und zu beweisen, da es in Zukunft keinesfalls mehr so weitergehenknne, ist fast unmglich. Wenn hier der Bittsteller nicht das oben

    Gesagte beachtet und sich um die Beschaffung mglichstanschaulicher Beweisstcke bemht hat, wird er einen schwerenStand haben. Das hat aber insofern wieder sein Gutes, als dadurchalle diejenigen zurechtgewiesen werden, die, ohne sich umSparsamkeit oder bessere Lsungen zu bemhen, bei allenSchwierigkeiten nur den Ruf nach mehr Geld erheben.

    Auch sonst ist es gut, bei Kontroversen den Tatbestnden mit derntigen Genauigkeit auf den Grund zu gehen. Vieles anspruchsvolle

    Wesen, das mit hchst weltanschaulicher Verbrmung und sehrgrundstzlichen Schlufolgerungen dahergerauscht kommt, flltsang- und klanglos in sich zusammen, wenn jemand energisch an dietatbestandlichen Fundamente klopft. Dazu ist, wie gesagt, der mutige

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    Zweifel an der Richtigkeit dessen notwendig, was der andere zumAusgangspunkt seiner Erwgungen genommen hat.

    In der Hand frecher Rabauken hingegen bildet diese

    Streitmethode eine bse Gefahr. Wenn du bei solchen Leuten an derWohnungstr erscheinst, um dich ber den Radiolrm zubeschweren, dann schalten sie vorher das Gert aus und erklren, beiihnen sei kein Lrm gewesen. Ihr Hund hat das Kind nicht gebissen.Ihr Sohn hat die Scheibe nicht zerschlagen. Ihre Flugzeuge waren esnicht, die die Grenze berflogen. Die Soldaten, die den Zwischenfallverursachten, waren Banditen in gestohlenen Uniformen. Derredliche Beschwerdefhrer mu sich nun um die Beweise bemhen.Er gert in Zorn ber die Gemeinheit des anderen und gebrauchtharte Ausdrcke, die ihn selbst ins Unrecht setzen. Und obendreinmacht die Ruhe, mit der der Beschuldigte leugnet, beimgutglubigen Teil des Publikums auch noch Eindruck.

    Natrlich wird sich der Erfahrene vor solchem Ausgang zu htenwissen. Er sucht seine Beweise vorher zusammen, sagt aber nicht,da er sie schon in der Tasche hat. Der Lgner legt sich wie immer

    dreist aufs Bestreiten. Er wird mit den nun freundlichhervorgebrachten Beweisen berfhrt und hat sich die nuneintretende Pleite selbst zuzuschreiben.

    Da neben dem vollstndigen Bestreiten auch das teilweiseBestreiten von Nutzen sein kann, bedarf keiner Ausfhrung. DerDisputator benutzt diese Mglichkeit gern, um sich durch dasgewissenhafte Zerpflcken des feindlichen Vorbringens den

    Anschein eines besonders genauen und rechtschaffenen Menschenzu geben, dem es unter allen Umstnden auf sachliche Klarstellungankommt. Und da in jeder Behauptung und erst recht in jederSchlufolgerung ein wenig Schiefheit oder bertreibung zu findensein wird, bringt die entschlossene Ergreifung dieser Mglichkeitauch in schwierigen Fllen Entlastung. Nheres hierzu wird spterausgefhrt werden, wenn von der Taktik des Unterscheidens undZergliederns die Rede ist.

    Auch das Bestreiten von wesentlichen Tatsachen ist aber nocheine verhltnismig einfache Art, sich geistig zur Wehr zu setzen.Komplizierter sind die folgenden Methoden, die dazu bestimmt sind,

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    die Folgerungen aus den an sich unbestrittenen Fakten zu entkrftenoder einzuschrnken.

    Der Streit um die Kausalitt

    Von der grten logischen Bedeutung und damit auch frGegenstand und Methode des Streitens von grundlegenderWichtigkeit ist hier zunchst die Frage der Kausalitt, die Frage alsonach den Ursachen und Wirkungen eines Geschehens. Die tiefstenProbleme in Philosophie, Religion, Geschichte oderNaturwissenschaft sowie smtliche Fragen des ffentlichen Lebensbis hinunter zu den huslichen Streitpunkten, wer wieder im Kellerdas Licht brennen lie und warum das Essen noch nicht fertig ist,beziehen sich auf die einwandfreie Klrung des urschlichenZusammenhangs. Weil dem aber so ist, darum entspinnen sichgerade bei der Errterung der Kausalitt die erbittertsten geistigenGefechte. Denn leider liegen die Dinge hier wie auch sonst nicht soeinfach. Wenn der Schlu von der Wirkung auf die Ursache und

    umgekehrt so leicht wre, brauchte man nicht darber zu streiten. Daaber in Wirklichkeit die kausalen Fden verborgen liegen, da sieberdeckt von einer Menge anderer Vorgnge sind, da dieurschlichen Bedingungen im Laufe ihrer Wirksamkeit bis zur Folgehin oftmals unterbrochen, beiseite gedrngt oder von strkerenWirkungen berlagert und berholt werden, gehrt die angeblich sosimple Frage der Kausalitt zu den hervorragendsten geistigen

    Strapazen.In der Praxis kommt noch hinzu, da es bei der Feststellung deseinfachen Ursache-Wirkung-Zusammenhangs meist nicht so bleibt,sondern da die weitere Frage, ob man diesen Zusammenhang vonvornherein oder zu gegebener Zeit erkennen mute und ob es einVerschulden war, ihn nicht erkannt zu haben, sich an die erstereErmittlung unmittelbar anschliet und zu dem eigentlichenKernpunkt des Streites hinfhrt: zum Vorwurf, zum Nachweis der

    Schuld als der Voraussetzung wiederum fr Strafe, Rache oderBeleidigtsein. Bleiben wir bei dem einfachen huslichen Streitpunkt,warum das Kellerlicht die ganze Nacht hindurch brannte und werdaran schuld ist. Die Untersuchung ergibt folgendes:

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    Dieter (9) hat das Kellerlicht brennen lassen, als er um 18 Uhr frMutter ein Glas Eingemachtes holte. Irene (12) hat das Licht um18.30 Uhr brennend vorgefunden, als sie ihr Rad zurckbrachte. Sie

    hat sich nicht fr verpflichtet gehalten auszuschalten, zumal derKeller offenstand und sie meinte, es sei da noch jemand beschftigt.Ralph (17) wiederum htte, als er abends vom Tischtennisturnierkam, von auen sehen mssen, da im Keller Licht brannte, hat abernichts bemerkt. Hinzu kommt, da Mutter - nach Vaters Ansicht -viel zuwenig Ermahnungen an die Kinder gibt, da sie auf dasKellerlicht achten sollen und somit mittelbar an dem Mistand dieHauptschuld trgt, abgesehen von der Unzuverlssigkeit undFlatterhaftigkeit der Kinder, die wiederum in Kino, Fernsehen,Lektre und im pdagogischen Versagen der Schulen ihre Ursachenhaben. Wodurch wurde letzten Endes bewirkt, da das Kellerlichtdie Nacht ber gebrannt hat?

    Lt sich aber schon bei solchen verhltnismig einfachenSachverhalten nicht eindeutig feststellen, welche Ursachen fr einenschdlichen Erfolg wirklich entscheidend waren, so ist dies bei

    komplizierten und komplexen Tatbestnden erst recht schwierig undein Grund dafr, da des Streitens um solche Fragen kein Ende ist.Wie soll man z. B. sagen, wer die Schuld am Ausbruch eines Kriegesoder am Niedergang einer Kultur oder am Auftreten einerWirtschaftskrise trgt? Hier sind die Kausalketten in einer Weiseverworren, verflochten und berlagert, da auch Fachleute die einzigentscheidende Ursache, auf die es ankommt, nicht so leicht

    herausfinden. Nur die terribles simplificateurs erweisen ihreSchrecklichkeit daran, da sie zunchst einmal unter Nichtbeachtungalles brigen ihre Erklrung des kausalen Ablaufs bei der Handhaben, womit der wesentlichste Schritt zu einer ebenso einfachenoder auch hanebchenen Therapie der Zustnde getan ist.

    Fr die Methodik des Streitens ist die klare Einsicht in dasKausalproblem von grter Bedeutung. berall dort, wo jemandgegen einen Vorwurf oder die Feststellung eines Verschuldens

    verteidigt werden soll, wird der Frsprecher zunchst bestrebt sein,die Anklage insoweit zu Fall zu bringen, als diese behauptet, derBeschuldigte habe durch sein Verhalten die entscheidende Ursachezu dem Endbel gesetzt. Dies bewirkt der Verteidiger, wenn schon

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    eine kausale Verknpfung unumstlich feststeht, auf jeden Falldadurch, da er fernere Ursachen des Geschehens nachweist oderweitere Kausalverbindungen aufzeigt, die die betreffende eine

    Ursache zuletzt als eine unter vielen und damit als nichtentscheidend erscheinen lassen.Ist jemand auf Schadenersatz verklagt, weil er eine alte Dame mit

    dem Fahrrad umgefahren und ihr dadurch Verletzungen beigebrachthat, so wird der tchtige Anwalt etwa folgende Momente zurEntlastung seines Klienten anfhren: Die Dame knne von jeherschlecht sehen, habe aber, obwohl sie im Straenverkehr unsichersei, gegen dringende Mahnungen immer wieder allein die Straebetreten - die Strae sei abschssig oder unbersichtlich oder zurUnfallzeit bermig glatt gewesen - ein vorbeifahrendes Auto habedem Radfahrer die Sicht genommen - der Radfahrer selbst sei durchdieses oder jenes Migeschick verstrt und in seinerAufmerksamkeit beeintrchtigt gewesen - ferner htten dieSchmerzen und Beschwerden der Verletzten ihre Ursache nicht nurin dem Unfall, sondern in einer langjhrigen Spondylose, welche

    sich auch ohne den Unfall von Jahr zu Jahr verschlimmert htte - imbrigen habe der Arzt bei der Behandlung der Verletzten einenKunstfehler begangen und die Folgen dadurch seinerseitsverschlimmert. Erweisen sich alle diese weiteren Ursachen alsgegeben, dann erscheint die durch das Verschulden des Radfahrersgesetzte Ursache notwendigerweise als weniger bedeutsam, womit,wie gewnscht, eine mildere Beurteilung des Falles eintritt.

    Mag diese Art der Verteidigung im juristischen Rahmen noch ingewissen Grenzen bleiben und auf feste Beurteilungsregeln stoen,die aus den verschiedenen nachweisbaren Ursachen die rechtlichentscheidenden herausfinden lassen, so ist bei anderen Streitigkeitendiese Entgegnungsart von nicht zu bersehender Wirkung, weil sieden Streitstoff auf alle mglichen fernliegenden Dinge ausdehnt undvom Hundertsten ins Tausendste fhrt. Die Ausrede, sofern sienicht mit der Lge gleichzusetzen ist und einfach Tatsachen

    behauptet, die nicht wahr sind, hat gerade darin ihre Eigenart. Sieholt zur Entlastung eines behaupteten Kausalverlaufs Grnde heran,die eben wegen ihrer weiten Entfernung vom Sachverhalt nicht mehrberzeugen knnen. Der Anklger mu diesem Bestreben

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    entgegentreten, indem er den wesentlichen Ursachenzusammenhangdeutlich hervorhebt und die durchaus nicht sensationelle, sondernallgemein bekannte Tatsache, da jede Wirkung auf mehreren

    nheren oder ferneren Ursachen beruht, in das rechte Ma ihrerBedeutung zurcksetzt.

    Die Klrung der Kausalfrage hat aber noch weitere Schwierigkeiten.Es gibt z. B. Flle, in denen ein kausaler Zusammenhang inWirklichkeit gar nicht besteht, auf Grund uerlicher Merkmale aberleicht angenommen werden kann. Zwei Ereignisse folgen dann zwarim zeitlichen Ablauf aufeinander. Sie stehen deshalb aber nicht imVerhltnis von Ursache und Wirkung. Es ist dies die altbekanntelogische Figur des post hoc ergo propter hoc (danach, alsodeswegen). Aller Aberglaube beruht auf der ungeprften, reingefhlsmigen Annahme eines Kausalverlaufs, wo in Wirklichkeitnur die zufllige zeitliche Aufeinanderfolge von Geschehnissenfestzustellen ist. Jemandem ist eine Katze ber den Weg gelaufen.

    Noch am selben Tag trifft ihn ein Unglck. Also ist die Katze dieUrsache des Unglcks. - Ein Komet erscheint am Himmel. Sptergibt es Krieg. Also ist der Krieg durch den Kometen verursachtworden. - Ebenso liegt es aber in Geschichte, Wirtschaft und Politiknahe, aufeinanderfolgende Ereignisse als kausalverbunden zubetrachten. Nur genaue Prfung und mutiger Zweifel bewahren vordiesem Fehlschlu.

    Oft genug kommt es sogar vor, da dieselben Ereignisse, die nachder einen Ansicht Ursache und Wirkung bilden, nach andererAuffassung einander entgegenwirken, so da sie nicht mit weil,sondern mit obwohl in Beziehung gesetzt werden mten. Esklingt unglaubhaft, da dem menschlichen Scharfsinn eine sofundamentale Unsicherheit der Beurteilung anhaften soll. Und doch

    gibt es in der landlufigen Debatte eine ganze Menge Themen, beidenen um Ursache oder Gegenursache endlos gestritten wird.

    Da wird behauptet, weil jemand in seiner Jugend ausreichendePrgel bezogen habe, sei er nun ein ehrlicher, aufrechter Mann

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    geworden. Die moderne Pdagogik wird energisch widersprechen:Obwohl jener mihandelt worden sei, habe er sich zu seinem Glcknoch gesund entwickeln knnen.

    Weil er tglich seine Pfeife Tabak geraucht habe, sei er so altgeworden, erklrt ein Neunzigjhriger. Trotz dieserNikotinverseuchung sei das geschehen, sagen die Temperenzler.

    Der Kommunismus in Ruland sei die Ursache, da dieSowjetunion jetzt eine der strksten Weltmchte sei, wird von deneinen behauptet. Die anderen sagen, da Ruland trotz desKommunismus seine jetzige Stellung erlangt habe und ohne diesennoch viel weiter sein knnte.

    Diese Doppelsinnigkeit der kausalen Beurteilung hat vor allem inkultureller Beziehung groe Verwirrung angerichtet.

    Es scheint, als ob die moderne Geistigkeit eine besondere Freudedaran fnde, solche Gegenstze aufzutun, durch die eine bisherunangefochtene Ansicht pltzlich umgestoen und der bisherigeUnsinn zum Sinn wird. Immer lt sich eine solche Umwertung aufein Bestreiten des bisher gesehenen Kausalzusammenhangs

    zurckfhren, meist in dem Sinne, da die bisher angenommenewohlttige Wirkung einer Lehre oder Lebensauffassung als belhingestellt wird.

    Religise Zucht, moralisches Denken, humane Gesinnung seiengut fr die Entwicklung der Menschheit, hatte es vorher geheien.Im Gegenteil, sagten die Neuerer, diese Eigenschaften bringen dieMenschheit herunter, und der Herrenmensch, die biologische Kraft

    und Wildheit sind das Erstrebenswerte. Grausame Leibesstrafen unddie Todesstrafe schrecken knftige Verbrecher ab und sind daherheilsam fr die Gesamtheit, war die alte Ansicht. Die neuereBetrachtung fand, da solche Strafen im Gegenteil die eigentlichenVerbrecher nicht abschrecken und auf die brigen Menschen nochverrohend wirken.

    Diese Richtungslosigkeit knnte an der Funktion desmenschlichen Verstandes verzweifeln machen, wenn nicht zugleich

    die Gegenkrfte sichtbar wrden, die Sinn und Mawiederherstellen. An dem letzten Beispiel wird nmlich deutlich, wiedem Dilemma, das aus den widersprechenden Kausalfeststellungenentsteht, beizukommen ist. Zunchst fllt auf, da solche

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    Unklarheiten der Beurteilung hauptschlich bei sehr summarischenund komplexen Aussagen auftreten, wogegen bei der Beurteilungengerer, konkreterer Tatbestnde mehr Sicherheit herrscht. Das

    Mittel, um die sich widersprechenden Allgemeinurteilegegeneinander abzuwgen und den Dingen auf den Grund zukommen, besteht daher im Vorgang des Unterscheidens, desZergliederns oder der Distinktion, der denn auch in der Redekunstlterer Zeiten eine wichtige Rolle spielte und der auch unabhngigvon der Frage der Kausalitt als Streittaktik zu beachten ist.

    Unterscheiden und Zergliedern

    Handelt es sich also darum, ob der Tabakgenu eine Ursache deshohen Alters oder eine Gegenursache gegen dieses ist, so kann manallein mit den beiden, gleichermaen ganz plausibel klingendenStzen das Problem nicht lsen, Man mu vielmehr die allgemeineFeststellung auseinandernehmen, teilen und zergliedern und zuergrnden suchen, welche speziellen Wirkungen der Tabak, d. h.

    nmlich das Nikotin und die anderen im Tabak enthaltenenBestandteile, auf den menschlichen Krper und in diesem wieder aufdie einzelnen Organe haben, ferner ob der vieldeutige Begriff desAltwerdens etwas mit der Funktion der betreffenden Organe undder Wirkung der Tabakstoffe zu tun haben knnte. Das Ergebniswird hier wie bei anderen Beispielen sein, da einerseits in gewissenBeziehungen und auf gewisse Einzelergebnisse beschrnkt zwar eine

    kausale Wirkung wahrzunehmen ist, da aber andererseits beianderen Teilbereichen die entgegengesetzte Wirkung eintritt.Was das Beispiel der Todesstrafe anbelangt, so stellt es sich bei

    nherer Betrachtung heraus, da eine abschreckende Wirkungdurchaus besteht. Jedoch tritt sie hauptschlich bei denjenigenredlichen und feinfhligen Brgern ein, die ohnehin keineVerbrechen begangen htten, whrend sie dem abgebrhtenGewohnheitsverbrecher gegenber, von dem vor allem knftige

    Straftaten zu erwarten sind, weitgehend versagt, hier viellleicht sogarabstumpfend und verrohend wirkt. Alles wiederum bis zu einemgewissen Grade, wobei die nhere Untersuchung wieder neueUnterscheidungen erkennen lt. Das ganze Problem gewinnt durch

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    diese Betrachtungsweise an Umfang und Tiefe und zeigt in sichwieder eine ganze Landschaft von Einzelfragen, die dergewissenhaften Untersuchung harren.

    Im alltglichen Disput wird die Notwendigkeit desUnterscheidens meist mit den Worten das kommt darauf an . ..bezeichnet. Diese Floskel ist einerseits dafr bekannt, da sie alsbillige Ausflucht fr Leute dient, die sich nicht festlegen wollen. Siehat andererseits ihre unangefochtene Berechtigung dort, wo man mitganz allgemeinen Erwgungen nicht zum Ergebnis kommt. So gibtes eine Art von mehr oder weniger scherzhaften Gewissensfragen,auf die man gar nicht anders als mit Hilfe dieser Redensart antwortenkann. Wenn man etwa sagen soll, ob man morgens im Zweifelsfalllieber zu spt oder lieber unrasiert zum Dienst erscheinen wrde, sokann man sich vernnftigerweise nur aufs Unterscheiden verlegenund sagen: Das kommt darauf an. Darauf nmlich, was man an dembetreffenden Tage vorhat und welche Mglichkeit demnach als daskleiner bel erscheint.

    Ebenso ist mit der Zergliederungstaktik allein der Schwierigkeit

    beizukommen, da alle menschlichen Begriffe, Feststellungen undRegeln notwendigerweise relativ und von begrenzterVerwendbarkeit sind. Man mu also jedes noch so richtige Urteil mitEinschrnkungen verstehen. Daraus ergibt sich die Mglichkeit zuberraschendem, teilweise geistvollem, teilweise auch billigemWiderspruch. - Khe sind ntzliche Tiere. Gewi. Aber nicht, wennsie in fremde Krautfelder einbrechen. - Die Wirkung der

    humanistischen Erziehung ist frderlich. Aber nicht fr den, dersprachlich vllig unbegabt ist.

    Im allgemeinen wird allerdings die Wirkung des Teilens undUnterscheidens in der Debatte eher als unerfreulich empfunden. Diemenschliche Trgheit wehrt sich gegen die Komplizierung derProbleme, die dadurch eintritt. An die Stelle der brillanten Sentenzen

    und der angenehm zu berschauenden groen Linien tritt einfarbloser Haufen sachlicher Feststellungen, die meist nicht weitreichen und mit denen nicht viel Staat zu machen ist. Der schneStreit zerfliet in kleine Rinnsale. Die Fronten verwischen sich. Der

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    um die Wahrheit bemhte Streiter hat nach den Worten des Dichtersdie Teile in seiner Hand. Fehlt, leider! nur das geistige Band.(Goethe, Faust I). Aller Spott und Schimpf, der auf eine pedantische,

    theoretisierende Wissenschaft gehuft wird, entstammt zum groenTeil dem Zorn und der Enttuschung ber die Bosheit der Gelehrten,wenn sie die angeblich klaren und einleuchtenden Urteile desharmlosen Debattierers so lange zerlegen und zerschnitzeln, bisnichts Verwendbares mehr davon brigbleibt.

    Um so mehr mu der geschulte Geistesstreiter gegen diesen sehrgebruchlichen und wirksamen Zug gewappnet sein. Er kommt ihmdadurch zuvor, da er seine eigenen Feststellungen so vorsichtigtrifft und mit so viel Einzelbeobachtungen untermauert, da dasZergliedern durch den Gegner nichts Neues mehr zutage bringt. (Inder oft verlsterten wissenschaftlichen Darstellungsweise geschiehtdieses Vorbauen etwas schematisch dadurch, da jeder Satz durchHilfsworte wie meist, insoweit, im allgemeinen, oft,gegebenenfalls vorsichtig gemacht und in seiner Geltung vonvornherein weise eingeschrnkt wird. Da dabei im Ergebnis nicht

    allzuviel erreicht wird, ist leider ebenso klar und im Grunde einTatbestand hheren Humors; denn diejenigen Stze, die mitrigoroser und daher anfechtbarer Einseitigkeit formuliert sind,erweisen sich, da sie infolge dieser Eigenschaft gut im Gedchtnishaften, als geisteswirksam und bestndig. Die ngstliche undumstndliche Formulierung der Wissenschaft dagegen wird, da sienicht eingngig genug ist, schnell wieder vergessen, so da sie trotz

    ihrer sachlichen Redlichkeit ohne rechte Publikumswirkung bleibt.Trotzdem ist als positives Ergebnis festzuhalten, da die genauevorherige Durchdenkung, insbesondere die Prfung der Kausalitt,und die Feststellung, mit welchen Einschrnkungen diese wirksamist, dazu angetan sind, eine Aussage fundiert, sachlich und stichhaltigzu machen. Wenn dabei gewisse allgemeine Feststellungen wie DieFrauen sind unlogisch oder Die Deutschen vergessen leicht oderWer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann bei

    nherem Hinsehen unter den Tisch fallen, so ist es darum nichtweiter schade.

    Dabei mache sich der Diskutierer aber bewut, da auch derUnterscheidungs- und Zergliederungstaktik Grenzen gesetzt sind.

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    Wehren mu man sich gegen eine gewisse lppische oder frivoleBesserwisserei, die das Unterscheiden ausnutzt, umselbstverstndliche Einschrnkungen und Ausnahmeflle in

    aufdringlicher Weise hervorzuheben. Wenn jemand sagte, der letzteKrieg sei ein groes Unglck gewesen, dann wre es rechtunangebracht, mit dem Hinweis zu widersprechen, da durch dieZerstrung vieler Stdte der Weg fr eine grozgige Bauplanungfrei geworden ist. Denn diese fr ein begrenztes Fachgebietzutreffende Feststellung kann gegenber der schwerwiegendenersten Aussage nicht ins Gewicht fallen.

    Es gibt ferner eine notwendige allgemeine und berschauendeBetrachtungsweise, deren Richtigkeit man nicht an Einzelfllen,sondern wiederum nur an groen Zusammenhngen und Ergebnissenmessen mu. Auch diese grolinige Denkart gehrt zu den legalenMitteln des forschenden Geistes. Den so gewonnenen Feststellungenaus Prinzip mit Unterscheiden und Zergliedern begegnen zu wollen,fhrt genauso in die Irre wie die voreilige Billigung allgemeinerSchlsse.

    Man kann also kulturhistorische Erkenntnisse allgemeiner Art,wie etwa die Nietzsches oder Spenglers, nicht dadurch widerlegenwollen, da man sie an willkrlichen Einzelerscheinungen, wie ander Entwicklung der Brotpreise in einer bestimmten Gegend oder amknstlerischen Wert der Gebrauchsmbelfertigung in einemeinzelnen Landesteil nachprft. Denn solch begrenzte Feststellungengelangen berhaupt nicht auf diejenige Ebene, von der aus der

    Philosoph erst zu denken und zu arbeiten anfing.Vor allem auf moralischem Gebiet ist es wichtig, sich dieserBewandtnis im Streite bewut zu bleiben. Hier ist eine gewisseallgemeine Betrachtungsweise berhaupt erst in der Lage, denethischen Grundsatz zu vertreten und zu verteidigen. Dagegen fhrtdie Zergliederung zur Auflsung aller festen Prinzipien, weshalb siegegenber rechtlich-moralischen Vorwrfen mit Vorliebe als Mittelder streitbaren Verteidigung dient. Wrde man z. B. sagen, da die

    Art, wie sich nach 1933 Presse und Journalistik in den Dienst derGewaltherrschaft gestellt haben, schndlich gewesen sei, so kann esgegen diese Feststellung im Grunde keinen begrndeten Einwandgeben. Wer hier dennoch verteidigen will, der mu - hnlich wie der

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    griechische Philosoph Zenon es in dem Beispiel von Achilles undder Schildkrte tat - den Gesamtvorgang in einzelne Phasen zerlegenund von da aus weiter argumentieren. Er wrde also einen einzelnen

    Angehrigen des Berufes ins Auge fassen, wrde dann feststellen,wie sich dieser nach einigem Widerstreben zum Eintritt in dieReichsschrifttumskammer bewogen gefhlt habe - wie er dann vorder Frage gestanden habe, ob er berhaupt weiterschreiben oderschweigen solle - wie er dieses und jenes Werk mit Zutaten versehenmute, um es drucken lassen zu knnen - wie er im einen Falle mitden Wlfen heulen mute, um dafr in einem anderen Falle nochetwas sagen zu drfen -und jedesmal wird die einzelne Handlunggerade noch vertretbar, keinesfalls aber vllig unverstndlich oderverwerflich sein. Und wo - das scheint nun wieder die Logik zulehren - die einzelnen Tatbestnde nicht schlecht gewesen sind, dakann die Summe der Tatbestnde auch nicht zu verurteilen sein.

    Auf die gleiche Weise kann man den Werdegang einesVerbrechers von Stufe zu Stufe einleuchtend und begreiflichmachen. Denn auch die Straftat, mag sie im ganzen gesehen noch so

    widerwrtig sein, ist zu verstehen, wenn sie in ihre einzelnenSchritte, Ursachen und Begleitumstnde zerlegt wird. Eine Flle vonAntrieben und Motiven wird dann sichtbar, von denen beigeschickter Interpretation wiederum die Mehrzahl blich, wenn nichtsogar lobenswert erscheint und nur eine Minderheit zu mibilligenist, so da, wenn man nun nach dem demokratischenMehrheitsprinzip vorgeht, die Tat berwiegend aus guten Motiven

    zu erklren ist und ein Grund zur Bestrafung eigentlich berhauptnicht mehr besteht. Alles verstehen heit bekanntlich alles verzeihen,und wer in solchen Fllen richten mu, der sei vor dieserArgumentation auf der Hut.

    Zu bemerken ist, da sich die Taktik des Auflsens undZergliederns in gewisser Weise durch die Methode der Regel-Ausnahme-Verwendung und durch die Hervorhebung derVorteilsschwche oder des Mangelvorteils vervollstndigt, worber

    spter nher die Rede sein soll. Wie denn berhaupt dieverschiedenen Streitfiguren gegeneinander nicht immer scharf zutrennen sind, sondern oft gleichzeitig und mit nur graduellenUnterschieden zur Anwendung gelangen.

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    Vergleichen

    Als nchste Methode des Angreifens einer gegnerischen Behauptungoder Folgerung ist die zu nennen, die der feindlichen Position mitHilfe von geeigneten Parallelfllen beizukommen sucht. Es wirddamit nachgewiesen, da in einem anderen gleichen oder hnlichenSachverhalt anders verfahren oder ein anderes Ergebnis erzieltworden sei und da infolgedessen auch im strittigen Falldementsprechend verfahren werden msse. Der erste Blick auf dieseMethode zeigt schon, da ihr gegenber Vorsicht am Platze ist; dennim Grunde findet durch sie ein Ausweichen vom eigentlichenStreitsachverhalt auf andere Flle statt, was immer voraussetzt, dazu dem ersten Tatbestand offenbar nichts Wesentliches mehr zusagen ist. Trotzdem darf die Berechtigung dieser Betrachtungsweisenicht verkannt werden.

    Was dahinter steht, ist die bedeutsame Forderung, da gleicheFlle in gleicher Weise zu behandeln sind - eine philosophisch

    grundlegende Auffassung, um deren Warum und Wie manprinzipiell ins Unendliche diskutieren knnte. Alles Recht und alleMoral ruhen auf diesem Postulat, durch das sich der Mensch dieOrdnung schafft und dem Chaos widerstreitet. Selbstverstndlichstt aber dieser Grundsatz in der Wirklichkeit berall aufSchwierigkeiten; denn unsere ganze Welt ist ihrerseits dadurchgekennzeichnet, da die Dinge einander nirgends und zu keiner

    Stunde vllig gleich sind. Das gilt sowohl von den sichtbarenGegenstnden wie Steinen, Pflanzen, Tieren, Menschen alsinsbesondere von den abstrakten Dingen wie den Geschehnissen,Situationen, Charakteren, Voraussetzungen oder Tatbestnden. KeinWunder also, da sich das Argument der Gleichbehandlung in seinenverschiedenen Formen der grten Beliebtheit erfreut undandererseits wie kein anderes zum Widerspruch herausfordert. Wasdamit in Gang gesetzt wird, ist die hochbedeutsame Denkform desVergleichen mit dem naheliegenden, fast immer begrndetenEinwand, da der Vergleich hinke, und der ebenso naheliegendenEntgegnung, da ein Vergleich ja seinem Wesen nach nicht in allenPunkten zu stimmen brauche, da es vielmehr genge, wenn in der

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    Hauptsache bereinstimmung oder besser gesagt, der erforderlicheGrad von hnlichkeit bestehe.

    Wie bemerkt, grndet sich insonderheit alles rechtliche und

    moralische Argumentieren vielfach auf diese Streitfigur. Diegrundstzliche Forderung lautet, da gleiche Tatbestnde gleichentschieden werden mssen, wenn dem Ideal der GerechtigkeitGenge getan sein soll. Alle Menschen, die gestohlen haben, sollenalso mit Gefngnis bestraft werden. Einwand dagegen: soll der,welcher in ein Haus einbricht und dort Schmuck und Wertsachenstiehlt, wirklich genauso bestraft werden, wie einer, der zweiBananen vom Obststand stiehlt, um seinen Hunger zu stillen?Natrlich nicht, sagt die Gerechtigkeit und auch die Gerichtsbarkeit.Der erste soll ins Zuchthaus kommen, der andere nur in Haft. Hierwie auch in anderen Punkten werden Differenzen vom Grundsatz derGleichbehandlung anerkannt.

    Andererseits: soll etwa ein Dieb, der verheiratet ist und sechsunmndige Kinder hat, deswegen anders bestraft werden als einanderer Dieb, der ledig ist? Hier ist das Straf recht allenfalls noch

    bereit, durch Zubilligung von mildernden Umstnden derVerschiedenheit der Situation Rechnung zu tragen. Jedoch werden insolchem Falle schon die Grenzen sichtbar, ber die hinaus dasArgument der Ungleichheit (als notwendige Umkehrung desArguments der Gleichheit) nicht weiter Erfolg haben kann. Ob dereine Dieb etwa ein Auslnder, der andere ein Einheimischer, ob dereine von krftiger, der andere von schwchlicher

    Krperbeschaffenheit ist, kann als Unterscheidung nicht mehr inBetracht kommen.Aber nicht nur im Recht, sondern auch in allen anderen

    Wissenschaften ist das Auffinden richtiger und die Ausschaltungfalscher Parallelen der wichtigste Grundvorgang, aus dem herausneue Erkenntnisse gewonnen werden. Das Experiment in seinerganzen Anwendbarkeit und Verbreitung ist nichts anderes als dieSchaffung der Mglichkeit, aus Parallelfllen Schlsse auf andere,

    unbekannte Zusammenhnge zu ziehen. Die streithafte Debatte wirdanschlieend immer darum gehen, ob die gewhlte Parallele zumVergleich und zur Herstellung des Analogieschlusses wirklichgeeignet ist. Ein Hund, ein Affe mgen (innerhalb der wiederum

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    genauestens festzustellenden Grenzen) geeignet sein, alsVersuchsgeschpfe die Voraussetzungen fr dieWeltraumtchtigkeit des Menschen festzustellen - ein Frosch, ein

    Kfer aber nicht.Aus den angefhrten Beispielen geht schon hervor, wie vorsichtigdiese Denkfigur gehandhabt werden mu und wie sehr man sich derGrenzen bewut bleiben sollte, die ihr notwendigerweise gesetztsind. In der flachen Wirklichkeit ist von dieser Vorsicht natrlichwenig zu bemerken, und so kommt es, da in der Unterhaltung desgemeinen und auch des gebildeten Mannes mit keinem Argument soviel gekannegieert wird wie mit der Heranziehung angeblichzutreffender Parallelen.

    Was die Leute z. B. wenn sie von Krankheiten reden, anvolkstmlichen Erkenntnissen auffinden, rhrt meistens aus derErwgung her, da es bei Frau X und Herrn Y, als es denen genausoging, besser oder schlimmer wurde und da es also im Falle Zwieder so werden msse. - Ein anderer, dessen Antrag von derBehrde abgelehnt wurde, hat mit Hilfe ratgebender Bekannter

    sogleich eine Reihe von angeblich gleichgelagerten Fllen bei derHand, in denen die Behrde zugunsten der Antragsteller entschiedenhat. Warum also bei ihm nicht?

    Leider ist aber die richtige und vollstndige Darlegung vonRechts- und Krankenfllen eine Kunst fr sich, die selbst derFachmann nicht immer beherrscht. Wenn auch nur eine kleineEinzelheit, die der Berichtende fr ganz nebenschlich hlt,

    unterschlagen wird, mu das Ergebnis aus gutem Grunde ein ganzanderes sein.Im volkstmlichen Streit um Rechtsdinge beschrnkt sich der

    Einwand der Parallele zudem meist auf die einfache Bemerkung:andere haben das auch getan. So gebruchlich dieser schnelleEinwand ist, sowenig ist er bei genauer Nachprfung zu halten. Dennwenn es um Gut und Bse geht, kann dem Vorwurf, da eineHandlung verwerflich gewesen sei, nicht mit dem Hinweis begegnet

    werden, da andere ebenfalls bel gehandelt haben. Auch hier gibt esaber wiederum Grenzflle. Wenn ein Stck Wiese oder Feld seit Jahrund Tag von den anliegenden Bewohnern auf einem Trampelwegberschritten wird, dann wird derjenige, der eines schnen Tages

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    geschaffen und zu Unrecht behauptet werden. Die grobe Form dieserWeigerung, eine fr andere verbindliche Rechts- oder Moralregel frdie eigene Person anzuerkennen, wird durch den bekannten Vers

    gekennzeichnet:

    Da war der Spruch Herrn Alexanders:Ja, Bauer, das ist ganz was anders!

    So primitiv und angreifbar diese Entgegnung theoretischerscheint, so verbreitet ist sie doch im rauhen Leben. Und wenn sie,wie blich, mit der dreist angewendeten Macht im Bunde steht, istihre Wirkung doppelt hlich, weil sie einer offenen Verhhnung desSchwcheren gleichkommt.

    Umgekehrt soll nicht bersehen werden, da auch der auf diePerson des Gegners bezogene Einwand der Gleichbehandlung mitGeschick und Frechheit mibraucht werden kann. Es kann z. B. sehrdarauf ankommen, ob eine Handlung, die man vom anderen fordert,eigentlich von Rechts wegen zu erfolgen hat oder nicht. Wenn etwa

    ein Hausbesitzer die Gewohnheit htte, vor seinem Haus denFusteig zu kehren, obwohl dies laut Ortsgesetz gar nicht seinePflicht ist, dann knnte er in einem einzelnen Falle, in dem er dasKehren vergessen htte, nicht aus moralischen Grnden getadelt undschon gar nicht rechtlich haftbar gemacht werden.-Es gibt auch vieleGemtsmenschen, die sich von anderen Leuten, wie etwa Eltern,Ehegatten, Wirtsleuten, alle mglichen Dienstleistungen kostenlos

    erbringen lassen, in den Fllen aber, in denen diese Geflligkeiteneinmal unterbleiben, die unverschmteste Kritik ben. Auch hierwird das Argument der gleichen Behandlung gleicher Flle zuU