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Ph i los 0 phi sc he An aIyse Philosophical Analysis Herausgegeben von / Edited by Herbert Hochberg • Rafael Hüntelmann • Christian Kanzian Richard Schantz • Erwin Tegtmeier Band 31/ Volume 31 Richard Schantz (Hrsg.) W und Wirklichkeit ontos verlag F:rHnUurt I Paiü:; I Lancaste.r I NEN:! BllInswick

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Ph i los 0 phi sc h e An a I y s e Philosophical Analysis

Herausgegeben von / Edited by

Herbert Hochberg • Rafael Hüntelmann • Christian Kanzian Richard Schantz • Erwin Tegtmeier

Band 31/ Volume 31

Richard Schantz (Hrsg.)

W~hmehmung und Wirklichkeit

ontos

verlag F:rHnUurt I Paiü:; I Lancaste.r I NEN:! BllInswick

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2009

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Für meine Mutter

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Inhalt

Einleitung: Wahrnehmung und Wirklichkeit 7

I. Johannes Haag: Sinneseindrücke und die ,Führung von außen' 19

2. Richard Schantz: Die Struktur der sinnlichen Erfahrung 59

3. Mark Textor: Feine Unterschiede und Demonstrative Begriffe 77

4. Frank Hofmann: Wahrnehmung als Rechtfertigung 95

5. Albert Newen und Ulrike Pompe: Begriff und Erkenntnis: Eine Analyse von Objektwahrnehmung im Rahmen einer repräsenta­tionalen Theorie 123

6. Sven Bernecker: Die Kausaltheorie der Wahrnehmung und der direkte Realismus 155

7. Oliver R. Scholz: Das Zeugnis der Sinne und das Zeugnis anderer 183

8. Thomas Grundmann: Die Wahrnehmung kausaler Prozesse 211

9. Erwin Tegtmeier: Grossmanns Philosophie der Wahrnehmung 229

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Albert Newen und Ulrike Pompe: Begriff und Erkenntnis: Eine Analyse von Objekt­wahrnehmung im Rahmen einer repräsenta­tionalen Theorie

ABSTRACT. McDowell vertritt die kantische These, dass jede Wahrneh­mung eines Objekts Begriffe involviert. Gemäß Dretske, Evans u.a. dage­gen ist der Inhalt meiner Wahrnehmung nichtbegrifflich, während nur das Wahrnehmungsurteil begrifflich ist. Ziel der Darstellung ist es, aufzuzei­gen, in welcher Weise beide Thesen nur eine Teilwahrheit enthalten.

Die Wahrnehmung von Einzeldingen gehört zwar zu den grundlegenden Alltagswahrnehmungen, aber trotzdem ist bereits dies ein komplexer Pro­zess, in dem nicht nur modularisierte, bottom-up Prozesse im Spiel sind, sondern auch top-down-Einflüsse systematisch zu berücksichtigen sind. Die zentrale Arbeitshypothese besteht in einer Unterscheidung von drei Ebenen der Objektwahrnehmung, die die Rolle von Begriffen zu klären erlauben: i) Die Ebene der basalen Wahrnehmungsprozesse, ii) die Ebene des Wahrnehmungsinhalts und iii) die Ebene der Wahrnehmungsurteile. Im Einzelnen lassen sich die Ebenen wie folgt charakterisieren: Bei den Wahrnehmungsprozessen der ersten Stufe handelt es sich um basale, mo­dularisierte Informationsverarbeitungsprozesse wie Kanten- und Farbde­tektion. Auf der zweiten Ebene greifen Aufmerksamkeitsmechanismen, wie sie in Modellen von Anne Treisman oder Zenon Pylyshyn beschrieben werden, in den Prozess der Objekterkennung ein. Die einzelnen Merkmale des visuellen Feldes werden durch "binding"-Prozesse in Objekte unter­gliedert. Es werden stabile Objektrepräsentationen aufgebaut, die den Wahrnehmungsinhalt ausmachen, der üblicherweise bewusst erfasst wird.

Auf der letzten Ebene .stehen die Wahrnehmungsurteile, die wesentlich sprachliche Repräsentationen einbeziehen. Jegliches semantisches Wissen: das sich auf das Objekt bezieht, also sein Name, seine Funktion, usw. können - wenn nötig - abgerufen und Teil der bewussten Objektrepräsen­

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tation werden. Für diese Unterteilung gibt es vielfältige empirische Evi­denzen.

Die genaue Betrachtung der Interaktion der drei Ebenen ermöglicht eine neue Stellungnahme zu dem Streit um die Rolle der Begriffe in der Ob­jektwahrnehmung:Da neuere Studien belegen, dass die Ebenen I und 2 auch ohne die Ebene 3 (der Wahrnehnungsurteile) eine Objektwahrneh­mung vollständig bestimmen, kann ein kognitives System Objekte wahr­nehmen, ohne über Begriffe zu verfügen (hier hat Dretske Recht). Ande­rerseits können Begriffe auch den Wahrnehmungsinhalt mitbestimmen (contra Dretske), aber sie müssen es nicht immer (contra McDowell), selbst wenn ein kognitives System über Begriffe verfügt. Wahrnehmungs­inhalte können daher sowohl begrifflich als auch nichtbegrifflich sein, es hängt einfach davon ab, ob Begriffe tatsächlich bei der Genese eines be­stimmten Wahrnehmungserlebnisses eine Rolle gespielt haben (oder nicht).

1. Einleitung: Die Debatte über die Rolle von Begriffen bei Wahrneh­mungen

In der Erkenntnistheorie gibt es eine umfassende Diskussion darüber, I1welche Rolle das Verfügen über Begriffe bei Wahrnehmung spielt: Sind Wahrnehmungen ohne Begriffte möglich (ohne dass begriffliche Repräsen­tationen beim Aufbau eines Wahrnehmungserlebnisses beteiligt sind)? Diese Frage soll im Folgenden vor allem mit Blick auf Objektwahrneh­mungen diskutiert und neu beantwortet werden. Kant hat in der Erkennt­nistheorie die als kopernikanische Wende bezeichnete Position prominent gemacht, dass ohne das Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand keine Wahrnehmung von Objekten möglich ist. Dabei wird der Verstand als das Vennögen, Begriffe anzuwenden, aufgefasst. Kant vertritt somit die Position, dass ohne die Strukturierung von Sinnesdaten durch Begriffe - er nennt sie Kategorien - keine Objektwahrnehmung stattfinden kann. Ande­rerseits hält er aber auch die Aufnahme von seiner Meinung nach völlig unstrukturierten Sinnesdaten für einen notwendigen Bestandteil und hat daher die These des unverzichtbaren Zusammenspiels von einer rezeptiven Aufnahme von Sinnesdaten und einer aktiven (spontanen) Strukturierung mittels Begriffen (neben der Strukturierung hinsichtlich Raum und Zeit)

Begriffund Erkenntnis: Eine Analyse von Objektwahrnehmung

aufgestellt. Da es ein Gemeinplatz ist, dass Gedanken auf Begriffen basie­ren, fonnuliert kann seine These wie folgt: "Gedanken ohne Inhalt sind leer. Anschauungen ohne Begriffe sind blind." (Kant KrV B75, A51).

Diese lange Zeit dominierende erkenntnistheoretische Grundposition führte in Verbindung mit der Ausbildung der Sprachphilosophie zu Beginn des 20. Jh. dazu, dass Objektwahrnehmungen immer unmittelbar mit dem Verfügen über sprachliche Ausdrücke zur Klassifikation der Objekte bzw. mit der Fähigkeit, sprachliche Satzbeschreibungen der Objekte abzugeben, verknüpft wurde. Der Wahrnehmungsinhalt wurde meist als begrifflich strukturiert betrachtet. Ausgehend von den Arbeiten von Fred Dretske (Dretske 1969, 1981, 1988, 1995) ist dann die These ausgearbeitet worden, dass es nichtbegriffliche Inhalte einer Wahrnehmung gibt, die von den Wahrnehmungsurteilen strikt zu trennen sind. Dazu haben wesentlich auch die Arbeiten von Gareth Evans (Evans 1982) beigetragen. 1 McDowell (McDowell 1994) hat insbesondere Evans' Theorie in den Blick genom­men und versucht, die Kantische Grundthese wieder zu beleben, dass Wahrnehmung stets begrifflich ist. Diese wichtige Diskussion leidet bisher unter zwei Defiziten: I. die Autoren berücksichtigen nur wenige (durchaus wichtige) phänomenologische Beobachtungen, während die enonnen Erkenntnisfortschritte in der Neuropsychologie der Wahrnehmung ver­nachlässigt werden, und 2. es fehlt fast durchgängig eine klare Konzeption davon, was es heißt, über Begriffe zu verfügen.

Wir möchten daher mit einer klaren Grundkonzeption des Verfügens über Begriffe unter Einbeziehen einschlägiger empirischer Erkenntnisse zur Wahrnehmung eine neue Antwort entwickeln, deren Grundlinie wie folgt charakterisiert werden kann: Dretske und Evans weisen (gegen Mc­Dowell) zu Recht auf eine grundlegende Differenz zwischen Wahrneh­mungsinhalten und Wahrnehmungsurteilen hin. Weiterhin ist es so, dass Wahrnehmungsinhalte nichtbegrifflich sein können. Aber McDowells Beobachtungen kann ebenfalls partiell Rechnung getragen werden, näm­lich dadurch, dass bei einem kognitiven System, das über Begriff verfügt, Wahrnehmungsinhalte auch begrifflich bestimmt sein können. Anders als McDowell es behauptet, müssen sie es allerdings nicht in allen Fällen sein;

I Zu den wichtigen Autoren gehören natürlich eine ganze Reihe anderer, z.B. auch Christopher Peacocke (Peacocke 1992b) und Tim Crane (Crane 2007). Zu dieser Debatte siehe den Band von Gunther (Gunther 2003).

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Begriffliche Repräsentationen können also, aber müssen nicht den Wahr­nehmungsinhalt beeinflussen.

Der Aufsatz ist so aufgebaut, dass zunächst einige minimale Kriterien für das Verfügen über Begriffe aufgezeigt werden, die dann als Grundlage für die Diskussion der zentralen Argumente für und gegen nichtbegriffli­che Inhalte verwendet werden können. Im zentralen Teil wird dann unsere eigene Position entwickelt, die sich durch die Einbeziehung kognitions­und neurowissenschaftlicher Erkenntnisse auszeichnet

2. Minimale Kriterien für das Verfügen über Begriffe

Wir möchten einige zentrale Merkmale für das Verfügen über Begriffe aufzeigen, die es erlauben, die Diskussion präziser zu führen. In der Aus­einandersetzung mit den Argumenten für und gegen nichtbegriffliche Gehalte werden diese Merkmale nicht als allgemein akzeptiert vorausge­setzt, sondern als Bezugsgrößen, die es ermöglichen, Klarheit in die Debat­te zu bringen.

Dabei ist es eine allgemeine Hintergrundannahme, dass bei der Verursa­chung von Verhaltensweisen kognitiver Systeme Repräsentationen eine Rolle spielen können. Wenn Repräsentationen für eine Verhaltenserklä­rung relevant werden, dann stellt sich die Frage, welcher Art die vorlie­

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genden Repräsentationen sind: begrifflich oder nichtbegrifflich. Die Haupt­intuition in Bezug auf begriffliche Repräsentationen (pder auch kurz: Begriffe) speist sich aus der Verwendung von Worten im Alltag, die in jedem Fall Begriffe zum Ausdruck bringen. Sie lautet: Die Hauptfunktion von Begriffen besteht darin, die Klassifikation von Objekten hinsichtlich ihrer Eigenschaften zu ermöglichen. Dies lässt sich genau spezifizieren: Begriffliche Repräsentationen haben eine interne Objekt-Eigenschaft­Struktur2

, so dass ein Teil der Repräsentation für ein Objekt und ein ande­rer Teil für eine Eigenschaft steht. Diese Annahme wird u.a. durch ent­wicklungspsychologische Studien (Baillargeon, Speike, Wassermann 1985) untermauert, die zeigen, dass das Erfassen der Permanenz eines

I

2 In einer vollständigen Betrachtungsweise müsste man auch Ereignis-Eigenschaft­Strukturen berücksichtigen. Eine entsprechende Verallgemeinerung der Überlegungen ist berücksichtigt in Newen/Bartels 2007.

Begriffund Erkenntnis: Eine Analyse von Objektwahrnehmung

Objekts eine Fähigkeit ist, die Kinder zwar früh erwerben, aber doch erst zwischen dem 5. und 9. Lebensmonat erlernen: Die Kinder lernen erst in dieser Phase zu erfassen, dass ein Objekt, das hinter einem Schirm ver­schwindet und an der anderen Seite wieder zum Vorschein kommt, dassel­be Ding ist. Dabei ist zweierlei bemerkenswert: Das Erfassen von Objekt­permanenz entsteht einerseits später als die Fähigkeit eines Babies, seine Umwelt wahrzunehmen, aber andererseits ist sie weit früher entwickelt als sprachliche Repräsentationen (siehe hierzu auch Mandler 2004). In einer ausführlichen Präsentation und Verteidigung einer neuen epistemischen Theorie der Begriffe (Newen/Bartels 2007) wird vorgeschlagen, dass Begriffe zu haben verlangt, dass ein kognitives System bei der Präsentation ein und desselben Objekts unterschiedliche Eigenschaften unterscheiden kann sowie, dass es bei der Präsentation verschiedener Objekte (mit min­destens einer auffälligen, gemeinsamen, wahrnehmbaren Eigenschaft) in der Lage ist, die Objekte hinsichtlich dieser Eigenschaft(en) zu klassifizie­ren. Dies eröffnet einen Weg für eine Definition des Verfügens über Be­griffe, die basaler ist als der Verfügen über natürliche Sprache, aber kom­plexer ist als das basale sensorische Diskriminationsvermögen. Genau darin liegt ein entscheidender explanatorischer Mehrwert einer Theorie der Begriffe im Unterschied zu zwei zentralen Gegenmodellen von Begriffs­theorien: (1) Eine Gruppe von Theoretikern spricht wie Fodor (Fodor, 1998) schon dann von Begriffen, wenn eine sensorische Diskriminierung einer Eigenschaft und eine geeignete kausale Verursachung vorliegt. (2) Eine zweite Gruppe von Autoren wie z.B. Peacocke (1992a), nimmt an, dass Begriffe Abstraktionen von Gedanken sind, wobei letztere stets eine solch komplexe Struktur haben wie es für die natürliche Sprache charakte­ristisch ist. Die zentrale Kritik gegen beide Ansätze lautet, dass eine Theo­rie der Begriffe jeweils explanatorisch leer läuft: Im Fall von kausalen Begriffstheorien wie bei Fodor kommt es letztlich auf die sensorischen Diskriminationsmerkmale an, die uns zur Verfügung stehen. Eine Theorie sensorischer Diskriminationsmerkmale liefert jedoch bereits die kognitive Psychologie (Anderson 1996, Kap. 2). Im Fall von Begriffstheorien, die von Repräsentationen ausgehen, die die Komplexität der natürlichen Spra­che aufweisen, kann man gleich das Verfügen über Begriffe unmittelbar durch geeignete sprachliche Ausdrücke charakterisieren (selbst wenn ein Begriff nicht zwingend mit dem Verfügen über einen sprachlichen Aus­

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Albert Newen und Ulrike Pompe

druck verknüpft ist). In diesem Fall fallt die Begriffstheorie im Wesentli­chen mit der Sprachtheorie zusammen, so dass ein explanatorischer Mehr­wert ebenfalls nicht zu sehen (bzw. sehr begrenzt) ist. Dagegen ist die skizzierte Grundidee einer alternativen Begriffstheorie in diesem Punkt gerade sehr fruchtbar. Es ist an anderer Stelle aufgezeigt worden, dass diese epistemische Theorie der Begriffe ideal verwendet werden kann, um den kognitiven Kompetenzen von Tieren (Vögeln und Affen) Rechnung zu tragen (zur Explikation der Begriffstheorie, s. Newen/Bartels 2007). Neben der Objekt-Eigenschaft-Struktur soll noch ein zweites Minimalkriterium für Begriffe herausgearbeitet werden: Begriffe weisen charakteristische Abgrenzungen zu "Nachbarbegriffen" auf. Ein Begriff von ROT liegt nicht schon dann vor, wenn ein kognitives System registrieren kann, dass in der Situation etwas Rotes gegeben ist; das kann auch ein Roboter mit einem Rotsensor, ohne dass wir ihm deshalb einen Begriff von ROT zuschreiben möchten. Wesentlich ist, dass das kognitive System die Eigenschaft, rot zu sein, als eine Eigenschaft eines Objekts repräsentiert, nicht als Signal für Gefahr und dabei diese Eigenschaft von "benachbarten Eigenschaften" unterscheiden kann, in diesem Fall wenigstens von einigen anderen Farben (z.B. blau und gelb). Diese Farbrepräsentationen bilden ein Netz von Ei­genschaftsrepräsentationen, die als einer Dimension, nämlich der der Far­be, zugehörig repräsentiert werden müssen, während rund zu sein und viereckig zu sein gerade ,der Dimension der Form zugeordnet werden müssen. Begriffliche Repräsentationen stehen somit nicht einzeln, sondern immer nur in einem minimalen Verbund zur Verftigung. Sie sind somit partiell holistisch

3• Schließlich ist es eine dritte Grundintuition, dass Be­

griffe in verschiedenen, insbesondere auch in neuen Situationen anwendbar sind. Dies bringt Z.B. die Anforderung mit sich, dass die relevante Eigen­schaft, die den Begriff ausmacht, in verschiedenen Situationen wiederer­kennbar sein muss. Wir nennen diese Anforderung die Rekognitionsbedin­

3 Der partielle Holismus schließt ein, dass mit Begriffen auch das Vermögen zu "Schlussfolgerungen" verknüpft ist. Im Unterschied zu Crane (Crane 2007) sind die Schlussfolgerungen allerdings nicht universell, d.h. sie sind nicht mit allen Satzbil­dungsmöglichkeiten äquivalent. Bei Crane fällt das Urteilen mit Sätzen und das Ver­fügen über Begriffe zusammen. Dagegen ist es sinnvoll und explanatorisch fruchtbar, ein partielles Schlussfolgerungsvermögen von einem universellen zu unterscheiden: Ersteres kann durch die Repräsentationsstruktur von mentalen Modellen (Johnson­Laird 1987; Held, Knauff, Vosgerau [Hrsg.] 2006) realisiert werden.

Begriffund Erkenntnis: Eine Analyse von Objektwahrnehmung

gung für Begriffe. Die Anwenbarkeit in verschiedenen Situationen wird letztlich gewährleistet durch eine gewisse Unabhängigkeit von Schlüssel­reizen sowie die oben genannte interne Objekt-Eigenschaft-Struktur.

Begriffliche Repräsentationen sollten somit mindestens die folgenden Merkmale erfüllen: 1. Sie haben eine interne Objekt-Eigenschaft-Struktur, 2. Sie sind zu einem gewissen minimalen Grade vernetzt organisiert bzw. partiell holistisch und 3. sie genügen der Rekognitionsbedingung für Be­griffe.

Auch wenn wir selbst diese Merkmale als zentral ftir Begriffe verstehen, so setzen wir diese Begriffstheorie nun nicht einfach voraus, sondern wen­den Sie lediglich in der Diskussion an, um die Positionen zu erhellen.

3. Die zentralen Argumente für und gegen nichtbegriffliche Inhalte von Wahrnehmungen

3.1 Die Pro-Argumente

Gehen wir zunächst von der These aus, dass Wahrnehmungsinhalte nicht­begrifflich sind, wie sie Z.B. bei Evans klar formuliert ist:

The informational states which a subject acquires through perception are non­conceptual, or nonconceptualized; judgments based upon such states necessarily involve conceptualization; (...) The process of conceptualization or judgment takes the subject from his being in one kind of informational state (with a content of a certain kind, namely, nonconceptual content) to his being in another kind of cognitive state (with a content of a different kind, namely, conceptual content. (Evans 1982, 227)

Drei eng verknüpfte Argumente für nichtbegriffliche Inhalte von Wahr­nehmungen sind die Reichhaltigkeit, die Unabhängigkeit und die Feinkör­nigkeit der Wahrnehmungsinhalte:

(1) Die Reichhaltigkeit der Wahrnehmungsinhalte: Nur ein Teil der enorm vielfaltigen Inhalte einer Augenblickswahrnehmung kann unmittelbar mit Hilfe von Begriffen repräsentiert werden.

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Wenn ich in einen vollen Hörsaal schaue, dann sehe ich u.a. sehr viele Menschen mit verschiedenen Gesichtern, unterschiedlicher Kleidung, verschiedenen Haltungen; ich sehe Stühle, Tische, u.v.m. Wenn man wie McDowell annehmen möchte, dass alle diese Wahrnehmungsinhalte im Augenblick der Wahrnehmung begrifflich bestimmt sind, dann ist das nur möglich, indem man voraussetzt, dass die Begriffe vollständig automati­siert abgerufen werden; dies involviert, dass die Begriffe, so aufgefasst, im Wahrnehmungsaugenblick nicht alle dem Subjekt zugänglich sind. Hier tritt eine erste interne Spannung zu McDowells expliziten Thesen -auf, gemäß dessen Auffassung die Begrifflichkeit gerade darin besteht, dass diese Inhalte für aktives Denken und Reflektion zugänglich sind:

It is essential to conceptual capacities, in the demanding sense, that they can be exploited in active thinking, thinking that is open to reflection about its own ra­tional credentials. (McDowell 1994, 76)

Die Formulierung zeigt, dass er eine dispositionale Zugänglichkeit meint, die er ggf. auch in zeitlicher Abfolge auffassen kann. Wenn er eine Zu­gänglichkeit im Wahrnehmungsaugenblick behaupten würde, so wäre dies offensichtlich mit unseren Alltagserfahrungen unverträglich, denn uns sind keineswegs alle Begriffe unmittelbar verfügbar, die wir zur vollständigen Beschreibung einer Wahrnehmungssituation prinzipiell benötigen würden - wobei es zunächst offen bleibt, ob wir denn über hinreichende Begriffe verfügen. Aber auch ein dispositionales Verständnis seiner These der Zugänglichkeit passt nicht zu unseren Alltagsbeobachtungen: Ich habe ein und denselben Wahrnehmungsinhalt von einer Situation, bei der der Kater "Sebbo" auf dem Stuhl liegt, unabhängig davon, ob ich das zentrale Objekt mit dem Begriff KATER, TIER oder LEBEWESEN kategorisiere. Ich komme offensichtlich zu verschiedenen Urteilen "Dieser Kater liegt auf dem Stuhl" versus "Dieses Tier liegt auf dem Stuhl" usw., aber dadurch ­sogar durch sukzessive Änderungen in der Begriffsanwendung - verändert sich mein Wahrnehmungsinhalt nicht. Dieser letzte Punkt ist auch schon die Kernbeobachtung der zweiten Eigenschaft:

(2) Die Unabhängigkeit der Wahrnehmungsinhalte: Damit ist eine Unabhängigkeit der Wahrnehmungsinhalte von den Wahrneh­mungsurteilen gemeint.

Begriffund Erkenntnis: Eine Analyse von Objektwahrnehmung l31

Sie wird z.B. durch die Müller-Lyer-IIIusion illustriert:

< > > <

Wenn die Pfeilspitzen verschieden orientiert sind, so sehen die geraden Hauptlinien der Pfeile unterschiedlich lang aus, obwohl sie de facta gleich lang sind. Sie sehen auch weiterhin verschieden lang aus, selbst wenn wir uns durch Nachmessen davon überzeugt haben, dass sie gleich lang sind. Das auf Überprüfung gegründete Wahrnehmungsurteil vermag in diesem Fall nicht den Wahrnehmungsinhalt zu verändern. Dieses Phänomen ist ein zentraler Baustein für Fodors Modularitätsthese (Fodor 1983) bezüglich Wahrnehmungen (s.u.). Das dritte Argument in dieser Gruppe von Überle­gungen für nichtbegriffliche Wahrnehmungsinhalte ergibt sich dann, wenn man die Fähigkeit zur Rekognition für Begriffe als notwendige Bedingung akzeptiert. Sie besagt, dass die relevante Eigenschaft, die einen Begriff ausmacht, in verschiedenen Situationen wiedererkennbar sein muss. Sie steht in Spannung zu der

(3) Feinkörnigkeit der Wahrnehmungsinhalte: Wir können zwei nur leicht verschiedene Rottöne unterscheiden, wenn diese direkt ne­beneinander platziert und gleichzeitig zu sehen sind. Wir sind je­doch nicht in der Lage, diese in zwei getrennten Wahrnehmungssi­tuationen zu unterscheiden (Raffmann, 2001). Die Bedingung der Rekognition ist gerade fur solche feinkörnigen Eigenschaften nicht erfüllt. Diese Eigenschaften sind jedoch wesentlich, um unsere Wahrnehmungsinhalte adäquat zu charakterisieren. Daher sind Wahrnehmungsinhalte (zumindest teilweise) nichtbegrifflich.

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3.2 Contra-Argumente und ihre Zurückweisung

McDoweli vertritt die Gegenthese zu Evans (und Dretske u.a.), dass Wahr­nehmungsinhalte stets begrifflich sind:

Experiences are impressions made by the worId of our sense, produced of recep­tivity; but those impressions themselves already have conceptual content. (McDowell 1994, 75)

Um diese These zu verteidigen, versucht er zunächst einmal die Beobach­tung der Feinkörnigkeit dadurch zurückzuweisen, dass er darauf hinweist, dass eine bestimmte Farbschattierung demonstrativ bezeichnet werden kann, z.B. mit "dieses Rot". Auch können wir uns ja eine Farbtafel mit einer Farbschattierung fertigen und mit diesem Hilfsmittel doch eine Re­kognition desselben Farbtons erreichen. Beide Aspekte betrachtet McDo­weil als hinreichend, um in diesen Fällen von Begriffen zu sprechen. Dies ist jedoch aus zwei Gründen nicht überzeugend: Erstens ist das Wieder­kennen genau dieser Farbschattierung nach wie vor nur im direkten Ver­gleich von Farbschattierungen in einer Situation möglich. Eine Farbtafel ist ein Hilfsmittel, das praktisch nützlich ist, um ein Wiedererkennen in einer anderen Situation (beim Auswählen einer Farbe im Baumarkt) zu ermögli­chen. Doch ändert dies nichts am Grundprinzip. Dies wird Z.B. dadurch deutlich, dass sich die Farbtafel beispielsweise durch Sonneneinstrahlung leicht verändern könnte. Im Rahmen meiner Unfahigkeit zur situations­übergreifenden Rekognition würde ich die Veränderung nicht bemerken können. Wenn man gegen diese Überlegung einwendet, dass dies praktisch irrelevant sei, so kann man gerade auf praktischer Ebene entgegnen, dass wir fast nie in der Lage sind, mit Farbtafeln zu operieren, und dass es gerade die Hauptaufgabe der Begriffsbildung ist, dieselbe Eigenschaftszu­ordnung in ganz verschiedenen Situationen (sogar mit stark unterschiedli­chen Objekten) vornehmen zu können. Dabei ist die situationsübergreifen­de Rekognition der Standard und das Prinzip des Behelfens mit Mustern nur eine "Krücke" im Ausnahmefall. Zweitens: McDowelis Bewertung des Phänomens der Feinkörnigkeit läuft darauf hinaus, dass jede Wahrneh-

Begriffund Erkenntnis: Eine Analyse von Objektwahrnehmung

mungsdifferenz eine begriffliche Differenz ist.4 Dies führt zu einer aus wissenschaftstheoretischer Sicht unfruchtbaren Theorie der Begriffe: Denn die Begriffstheorie hat dann keinen eigenständigen Erklärungswert mehr im Vergleich zu einer bereits vorliegenden psychologischen Theorie der Wahrnehmungsmerkmale (Anderson 1996). Eine alternative Begriffstheo­rie, die Begriffe durch mentale Fähigkeiten charakterisiert, die komplexer (abstrakter) sind als es das Erfassen von Wahrnehmungsmerkmalen ist, jedoch einfacher als es das Verfügen über natürliche Sprache erfordert, hat dagegen einen sehr hohen Erklärungswert (Newen/Bartels 2007, 301-302). Es gelingt McDoweli nicht, das Phänomen der Feinkörnigkeit als unpro­blematisch auszuweisen: Wenn er aus pragmatischer Sicht auf die demon­strative Bezugnahme (ggf. mittels Mustern) hinweist, um Rekognition sicherzustellen, vernachlässigt er, dass dieses pragmatische Mittel uns in der Regel nicht zur Verfügung steht. Bei einer prinzipiellen Betrachtung lässt er außer Acht, dass auch ein Muster, z.B. in Form einer Farbtafel, nicht die Konstanz der Farbschattierung über Situationen hinweg sicher­stellt, z.B. wenn es sich gerade nur in einem solchen Bereich verändert, der situationsübergreifend nicht erfassbar ist.

McDoweli führt im Wesentlichen noch ein zweites unabhängiges Argu­ment für seine Position ins Feld: Wenn Wahrnehmungsinhalte nichtbegriff­lich sind, können wir nicht verständlich machen, warum Wahrnehmungs­inhalte ein Wahrnehmungsurteil rechtfertigen können. Er konstatiert, dass unverträgliche Anforderungen für nichtbegriffliche Inhalte vorliegen wür­den:

The label ["content", A.N.] serves to mask the fact that the relations between ex­periences and judgments are being conceived to meet inconsistent demands: to be

4 McDowell argumentiert für seine Position u.a. so, dass er feststellt, dass wir von einer Farbschattierung einen Begriff erwerben können. Dieses wird nicht in Frage gestellt. Gerade Farbexperten verschaffen sich Begriffe von Farbschattierungen so wie sich Weinkenner Begriffe für Geschmacksrichtungen des Weins anlegen. Falsch ist hingegen McDowells Annahme, dass wir dies stets und für alle unsere Wahrneh­mungsmerkmale tun: "It is possible to acquire the concept of a shade of color, and most of us have done so. Why not say that one is thereby equipped to embrace shadl;:s of color within one's conceptual thinking with the very same determinateness with which they are presented in one's visual experience, so that one's concepts can capture those colors no less sharply than one's experience presents them?" (McDowell 1994, 82).

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such as to fit experiences to be reasons for judgments, while being outside the reach ofrational inquiry. (McDowell1994, 80)

Er geht dabei davon aus, dass nichtbegriffliche Inhalte nicht der Ver­nunft/Urteilskraft zugänglich sein dürfen (wenn die Bezeichnung ,nichtbe­grifflich' sinnvoll sein soll), während Wahrnehmungsurteile per definitio­nem der Vernunft zugänglich sind und die Rechtfertigungsrelation der Vernunft zugänglich sein muss. Darin sind mehrere problematische An­nahmen eingebaut: Wenn nichtbegriffliche Inhalte nicht der Vernunft zugänglich sein können, dann nur, weil Vernunft als die Menge von be­griffsbasierten kognitiven Prozessen aufgefasst wird. Damit aber ist der Begriff der Vernunft so definiert, dass er nur auf begriffsbasierte kognitive Prozesse angewendet werden kann: Gemäß McDowell ist ein Vermögen. entweder vernünftig und damit begriffsbasiert oder unvernünftig und dann damit nicht begriffsbasiert. Bevor wir dies kritisch betrachten, sei seine Argumentation kurz rekonstruiert:

(1) Ein kognitives Vermögen bzw. eine Fertigkeit ist entweder ver­nünftig (bzw. der Vernunft zugänglich) und damit (äquivalenter­weise) begriffsbasiert oder unvernünftig und dann damit (äquiva­lenterweise) nicht begriffsbasiert.

Eine Anwendung von (1) führt zu Prämisse (2):

(2)Wenn Wahrnehmungsinhalte in Rechtfertigungsrelationen zu Urteilen stehen und diese Relationen vernünftig sind, sind Wahrnehmungsinhalte begriffsbasiert.

(3)Wahrnehmungsinhalte stehen in Rechtfertigungsrelationen zu Urteilen.

(4)Diese Rechtfertigungsrelationen sind vernünftig.

(5) Also sind Wahrnehmungsinhalte begriffsbasiert (d.h. begrifflich).

Begriffund Erkenntnis: Eine Analyse von Objektwahrnehmung

Die Kritik setzt vor allem bei den Prämissen (2) [als Instanz von (1)] und bei (4) an. Ad (2): McDowell nimmt implizit an, dass die einzige Art und Weise, wie wir Inhalte bewusst erfassen können, darin besteht, dass wir über Begriffe verfiigen. Die Alternative besteht darin, dass wir auch über Bilder oder über körperbasierte Repräsentationen Zustände bewusst erfas­sen und demgemäß handeln können, z.B. kann ich über Bilder räumliche Repräsentationen von Objekten erfassen, über Eigenwahrnehmung, z.B. eine Tasterfahrung, die ungewöhnliche Form eines Objekts erspüren und damit Inhalte bewusst erfassen kann, ohne diese mit Hilfe von Begriffen beschreiben zu können. Es gibt vielfältige wichtige kognitive Prozesse, die vorsprachlieh und so grundlegend sind, dass sie ohne Begriffe (in einem explanatorisch nicht leerlaufenden Sinne) sind. Ein Paradebeispiel ist die Fähigkeit, Gesichter zu erkennen. Diese Fähigkeit läuft automatisiert, vorsprachlieh und zumindest mit einer starken informationalen Unabhän­gigkeit von Urteilen ab, was nicht zuletzt durch Läsionsstudien bestätigt wird (Bauer, Trobe 1984). Andererseits gehen sie im Normalfall unmittel­bar in "vernünftiges" Verhalten ein. Ich sehe Menschen, erkenne sie wie­der und begrüße sie. Patienten hingegen, die unter Prosopagnosie leiden können Menschen nicht am Gesicht erkennen. Ihnen bleibt nur die Mög­lichkeiten, Personen anhand ihrer Stimme oder ihrer Kleidung etc. zu identifizieren: Für die visuelle Sinnesmodalität ist in diesem Fall ein sehr spezifischer Ausfall feststellbar, der nicht als begrifflich eingeordnet wer­den kann, denn die Objekterkennung fiir alle anderen Objekte außer Ge­sichter bleibt intakt. Wäre es ein begriffliches Defizit, so stünde dem "Ur­teilsapparat" der Begriff GESICHT nicht mehr länger zur Verfiigung, was sich durch die Beobachtung, dass Prosopagnostiker durchaus Wissen, was ein Gesicht ist, welche Körperteile darin zu finden sind, welche Objekte ein Gesicht haben, etc. widerlegen lässt. Somit handelt es sich bei Proso­pagnosie mitnichten um ein begrifflich-kognitives Defizit, sondern viel­mehr um ein perzeptuell-sensorisches. Wir sehen darin eines von vielen Beispielen fiir "vernünftige" kognitive Prozessen, die gerade nicht be­griffsbasiert sind.

Ad(4): Rechtfertigungsrelationen müssen nicht vernünftig in dem Sinne sein, dass damit eine begriffliche Repräsentation einhergeht. Das gilt nur fiir einen Vertreter des Internalismus in der Theorie des Wissens. Der Streit zwischen Internalismus und Externalismus bezüglich der Rechtfertigung

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des Wissens besteht darin, dass der Internalismus behauptet, dass eine Rechtfertigung nur vorliegt, wenn man diese bewusst und sprachlich als Urteil angeben kann, während der Externalismus Rechtfertigung viel wei­ter fasst: Externalisten betrachten eine kausale Beziehung oder eine Evi­denzbeziehung als hinreichend für das Bestehen einer Rechtfertigungsrela­tion (zur Debatte ist einschlägig der Band Grundmann 2001). Dretske (Dretske 2001) spricht in diesem FaIl von einer Berechtigung (entitlement) zu einem Urteil und reserviert den Begriff der Rechtfertigung Gustificati­on) für den SpezialfaIl, den die Internalisten vor Augen haben, nämlich dass ich die Gründe für mein Urteil explizit angeben kann: Die Externali­sten behaupten somit, dass wir zu einem Urteil berechtigt sein können, auch wenn wir die Gründe dafür nicht kennen. Letzteres ist ein plausibler FaIl einer Rechtfertigungsbeziehung im weiten Sinne, die jedoch nur eine bestimmte Tatsache (nämlich in einer reliablen Weise mit der Welt ver­bunden zu sein) als Basis für das Urteil voraussetzt, nicht jedoch per defi­nitionem wieder ein Urteil. Eine (veridische) Wahrnehmung ist ein Stan­dardfaIl für eine Evidenz, die ein Wahrnehmungsurteil im Sinne einer Berechtigung stützt.5 Nur wenn man einen Internalismus voraussetzt, ist McDoweIls Argumentation gültig. Es ist jedoch trotz der unterschiedlichen Positionen deutlich, dass dies ein sehr spezifischer Begriff von Rechtferti­

5 Wie genau der nichtbegriffliche Gehalt einer Wahrnehmung aufzufassen ist, ist eine strittige Frage, die in diesem Beitrag nicht geklärt werden kann. Aber eine grobe Einordnung soll schon gesehen: Crane (2007) schlägt vor, den Gehalt durch eine Proposition zu charakterisieren, und dieser so bestimmte Gehalt ist das Resultat einer berechtigten Zuschreibung, die dieselbe wäre, wenn man ein entsprechendes Wahr­nehmungsurteil äußern würde; allerdings darf er im Fall einer Wahrnehmung gerade nicht als strukturiert aufgefasst werden. Diese Grundidee möchten wir in Form einer Skizze durch mehrere Überlegungen weiterentwickeln, ohne den Anspruch diese Punkte hier klären zu können: (a) Ein nichtbegriftlicher Inhalt kann zwar strukturiert sein, aber eben gerade nicht in einer Form, die der expliziten semantischen Kompositi­on eines natürlich-sprachlichen Satzes entspricht, d.h. der nichtbegriftliche Inhalt repräsentiert eine in der Welt vorliegende Objekt-Eigenschaft-Struktur nicht zerglie­dert, sondern nur als Gesamtsituation. (b) Der mit Hjlfe von sprachlichen Ausdrücken zugeschriebene Gehalt ist grob äquivalent zu dem nichtbegriftlichen Gehalt, in dem Sinne, dass beide viele gemeinsame funktionale Rollen bzgl. Verhaltensverursachung haben, aber daraus folgt nicht, dass der nichtbegriftliche Gehalt propositional ist. Er ist nach unserer Auffassung nicht identisch mit dem propositionalen Gehalt, sondern lediglich hinreichend äquivalent, so dass vielfältige gleichartige funktionale Rollen vorliegen. s. dazu NewenNosgerau 2007 und Newen/Bartels 2007.

Begriffund Erkenntnis: Eine Analyse von Objektwahrnehmung

gung ist, der keineswegs aIle Begründungsbeziehungen einschließt. Daher liegt hier auch kein durchschlagendes Argument vor. Vielmehr drängt sich der Verdacht auf, dass implizite Annahmen mit einer Tendenz zur Überin­teIlektualisierung die Grundlage der Kernthese zur RoIle von Begriffen in Wahrnehmungen bildet.

Können wir angesichts dieser Argumentationslage uns einfach Dretskes These anschließen, dass Wahrnehmungsinhalte nichtbegrifflich und nur Wahrnehmungsurteile begrifflich sind? Wir werden zeigen, dass diese Antwort zwar grob in die richtige Richtung weist, aber bei genauem Hin­sehen wesentlich zu modifizieren ist, und zwar so, dass der Kernintuition von McDoweIl auch genüge getan werden kann, nämlich: Es ist möglich, dass Wahrnehmungsinhalte begrifflich bestimmt sind. Contra McDowell ist es jedoch nicht so, dass sie stets begrifflich sind. Um diese differenzier­te These zu entwickeln, werden die empirischen Erkenntnisse aus Psycho­logie und Neurowissenschaft wesentlich mit einbezogen. Aus unserer Sicht müssen wir daher drei Aspekte wesentlich unterscheiden, die wir der Wahrnehmung zuordnen: I. basale Wahrnehmungsprozesse, 2. Wahrneh­mungsinhalte und 3. Wahrnehmungsurteile. Im Folgenden entwickeln wir eine Drei-Ebenen-Theorie der Wahrnehmung, die die differenzierte These zur RoIle von Begriffen bei Wahrnehmungen untermauert.

Die erste Ebene umfasst das Prozessieren sensorischer Information in subpersonalen und modularen Prozessen, wie sie auf dem Weg vom Sin­nesorgan bis zu den für die ersten Verarbeitungsstufen der ankommenden Signale verantwortlichen Hirnregionen typisch ist. Die auf dieser modula­ren Informationsverarbeitung aufbauende zweite Ebene umfasst im Gegen­satz dazu einen integrierten Wahrnehmungsinhalt, der üblicherweise durch die personalen, d.h. subjektiverlebbaren Anteile der Wahrnehmung cha­rakterisiert werden kann: Es bedarf hier einer Erläuterung, dank welcher Mechanismen die zuvor modular prozessierten Signale einen integrierten Wahrnehmungsinhalt bilden und entweder der Person bewusst werden oder ihr Verhalten steuern können. Die dritte Ebene betrifft höherstufige kogni­tive Leistungen, worunter man im weitesten Sinne Denken, Urteilen, Ent­scheiden, aber auch Verbalisierungen und andere wissensbasierte Fähigkej­ten fassen kann wie das Planen komplexer Handlungen. Wesentlich ist dabei, dass die Inhalte begrifflich bzw. sprachlich repräsentiert werden.

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Bevor wir die Überlegungen vorstellen, die diese Aufteilung begründen, möchten wir zunächst diese drei Ebenen ausführlich beschreiben.

4. Ein Drei-Ebenen-Modell der Objektwahrnehmung

i) Die Ebene der basalen Wahrnehmungsprozesse

Bei den Wahrnehmungsprozessen der ersten Ebene handelt es sich um basale Informationsverarbeitungsprozesse wie Kanten- und Farbdetektion. Auf physiologischer Ebene wird hier der Weg visueller Information vom Auge über die kortikale Sehbahn bis zum primären visuellen Cortex er­fasst. Informationsverarbeitung ist auf dieser Ebene durch ihre weitgehen­de Modularität gekennzeichnet: Eine Informationsverarbeitung ist dabei modular, wenn sie angeboren, bereichsspezifisch und informational abge­kapselt ist. Letzteres meint, dass die Informationsverarbeitung (z.B. der basalen Wahrnehmungsprozesse) von anderen Informationsverarbeitungen (Urteilen, Emotionen) weitgehend unabhängig ist.6 Die Modularität zeigt sich empirisch u.a. daran, dass Läsionen in spezifischen Arealen zu ganz speziellen kognitiven Defiziten führen. Jedes identifizierbare Gliederungs­element visueller Information wie Farbe, Bewegung oder Form wird in einem spezialisierten Zellareal im primären visuellen Cortex dekodiert und erst in einem zweiten Schritt auf hierarchisch höher liegende Areale proji­ziert, die die Information schrittweise bündeln (Carlson 2001, Kap. 6, Pinel 2001, Kap. 7).

Verfolgen wir beispielsweise einen Lichtstrahl, der von einem Objekt reflektiert wird und auf die Retina trifft und in elektrische Nervenimpulse umgewandelt wird: In der Retina selbst gibt es dafür zwei unterschiedliche Rezeptor Typen: Stäbchen, die hauptsächlich am Rande der Retina vor­kommen, und auf selbst schwaches Licht reagieren, dafür aber farbunsensi­tiv sind, und nicht zum Schärfensehen beitragen; und Zapfen, die sich hauptsächlich in der Fovea, dem Zentrum des Scharfsehens befinden, und

6 Ursprünglich hatte Fodor acht Merkmale für Modularität eingeführt. Die intensive Diskussion der Merkmale führte jedoch dazu, dass nur diese drei Merkmale sich als halbwegs verlässlich anwendbar erwiesen haben. (Fodor 1983).

Begriffund Erkenntnis: Eine Analyse von Objektwahrnehmung

die auf mittlere bis starke Lichtintensität reagieren und Farben enkodieren können. Von der Retina führt der Sehnerv über die Sehnervbahn zum Corpus Geniculatum Laterale (CGL, einer Art Umschaltstation im Thala­mus) und zum Superioren Colliculus. Das CGL verfügt über drei Schichten mit unterschiedlichen Zelltypen, die wie "Datenhighways" für verschiede­ne Arten visueller Information zuständig sind: Das magnozelluläre System (so genannt wegen der größeren Zellen) leitet Information aus den Stäb­chen weiter. Es handelt sich hier um eine Art "Schnellstraße", weil die Signalweiterleitung aufgrund der physiologischen Besonderheiten von dieser Art von Zellen relativ schnell erfolgt. Information, die dieses System überträgt, ermöglicht die Enkodierung von Form, Bewegung, räumlicher Tiefe, und kleinen Helligkeitsunterschieden. Das zweite System wird parvozelluläres System genannt, und ist für die Übermittlung von Farbe und visueller Detailinformation zuständig, ist aber entsprechend langsa­mer. Und dann gibt es noch ein drittes System, dass nur für kurzweIliges Licht (also die Farbe Blau) zuständig ist. Nachdem also die Information auf verschiedene "Signalbahnen" verteilt worden ist, läuft sie im primären visuellen Cortex, der sich am hinteren Ende der Hirnrinde, auf der Innen­seite der jeweiligen Hemisphären befindet, wieder zusammen.

Dort im visuellen Cortex finden sich richtungs- und kantensensitive Zel­len, die retinotop organisiert sind, d.h. würde man den Cortex aufspannen wie ein Blatt Papier, hätte man eine ähnliche räumliche Anordnung der Helligkeitsdifferenzen und Linien wie auf der Retina. Von dort aus werden eingehende Signale an die nachkommenden Module weitergeleitet: Das Modul V3 enkodiert Formen, d.h. dort befinden sich Zellen, die das Erre­gungsmuster der richtungssensitiven Neurone registrieren und bündeln, V4 enkodiert Farben und V5 registriert Bewegung. Hier befinden sich Zellen, die nur dann aktiv werden, wenn sich ein Liniensegment, dass immer dieselbe Ausrichtung behält, über das visuelle Feld hinweg bewegt. Inter­essant ist, dass V5 nicht nur Information aus dem primären visuellen Cor­tex erhält, sondern auch auf direktem Wege aus dem Superioren Colliculus aktiviert werden kann, und zwar wieder über den schnelleren Weg des magnozellulären Systems. Das erlaubt uns, Phänomene zu registrieren, die sich in der Peripherie des Sehfeldes abspielen (vorausgesetzt, Bewegung ist involviert), und eventuell die Aufmerksamkeit dorthin zu lenken, was

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im Falle eines schnell auf uns zufliegenden Gegenstandes das schnelle reflexartige Ausweichen erlaubt.

Diese subpersonalen Prozesse bezeichnen wir als modular und basal. Modular heißen sie, weil sie, obwohl vieles parallel prozessiert wird, als Einzelne ausfallen können. Liegt zum Beispiel eine Schädigung des Areals V4 vor, so wird das Sehen von Farben unmöglich. Basal heißen diese Prozesse, weil sie allen darauf autbauenden integrierten Wahrnehmungsin­halten, die üblicherweise mit Wahmehmungserlebnissen verknüpft sind, zugrunde liegen. Bei dem beschriebenen Ausfall von V4 als Basismodul wird nämlich nicht nur das Sehen, sondern auch das Vorstellungsvermögen von Farben, also das Farbgedächtnis, zerstört.

ii) Die Ebene des Wahrnehmungsinhaltes

Die auf den Basismodulen autbauende zweite Ebene umfasst den Wahr­nehmungsinhalt; damit sind dann vor allem die personalen, d.h. subjektiv erlebbaren Anteile der Wahrnehmung, unsere phänomenalen Erfahrungen gemeint. Die Informationen, die beim Menschen bei gezielter Wahrneh­mung bewusst erfasst werden können, können jedoch in bestimmten Fällen auch unbewusst aufgenommen werden. Das Abwehren eines bedrohlich auf uns zufliegenden Gegenstandes z.B. geht meistens reflexartig vonstat­ten, und erst später realisiert man, dass es sich um einen Fußball handelt. Milner und Goodale (Milner/Goodale 2002) sprechen hier von zwei visuel­len Systemen: dem ventralen und dem dorsalen System. Das erstere ist für bewusste visuelle Wahrnehmung, somit auch Objektidentifikation zustän­dig und ist im unteren Schläfenlappen lokalisiert, das zweite ist ausschließ­lich für die Steuerung von Bewegungen zuständig und ist im hinteren Parietallappen zu finden. Beide Bereiche beziehen Information aus der primären Sehrinde, können diese aber unabhängig voneinander weiter verarbeiten. Milner und Goodale belegen das anhand einer Fallstudie mit der Patientin D.F. Sie leidet an einer Läsion des Schläfenlappens und verfügt nur über stark verminderte Seheindrücke, so dass sie nicht in der Lage ist, ihr Umfeld zu erkennen und zu beschreiben, beispielsweise kann sie die Orientierung eines Schlitzes bei einem vor ihr aufgebauten Briefka­sten nicht erkennen. Ihr visuelles System jedoch, das für die Handlungs-

Begriffund Erkenntnis: Eine Analyse von Objektwahrnehmung

teuerung verantwortlich ist, kann diese Information aufnehmen. Gibt man ihr einen Briefumschlag in die Hand und fordert sie auf, diesen in den Briefkasten zu werfen, gelingt ihr das problemlos: Es unterlaufen ihr also keine Fehler dabei, die Orientierung des Schlitzes auf der Basis von per­zeptuellen Prozessen zu erfassen, auch wenn diese Prozesse unbewusst bleiben und das Ergebnis des Hinschauens nur für das Greif-/bzw. Hand­lungssystem verwertbar ist.

Nun liegen zwischen der relativ rohen Informationsmasse nach der mo­dularen Verarbeitung und Repräsentation eines Objekts, wie wir es visuell vor Augen haben, noch diverse Verarbeitungsschritte. Zum Beispiel müs­sen die einzelnen Eigenschaften, die der Cortex isoliert enkodiert hat, zuverlässig zusammengesetzt werden, so dass es zum Eindruck stabiler Entitäten kommt. Wenn dieses so genannte Binding ausfällt, dann erscheint der visuelle Eindruck verzerrt. Anne Treisman beschreibt hierzu den Fall eines Patienten R.M.: Bekommt er nur ein Objekt visuell dargeboten, macht ihm die Zuordnung von Farben zu Objekten keine Mühe, enthält die Versuchsanordnung jedoch mehrere Objekte, kann er die Farben, die er sieht, nicht mehr dem entsprechenden Objekt zuordnen. Ferner beklagt er sich über Sinnestäuschungen ("illusions"):

When 1 first look at it, it looks blue and it changes real quick to red. 1 see both colours coming together.... Sometimes one letter is going into the other one. 1 get a double identity. It kind of coincides. (Treisman 2003)

Der Ausfall eines für die Konstitution des bewussten Wahrnehmungserleb­nisses nötigen Mechanismus, hier das Integrieren der Information durch Binding-Prozesse, kann also das subjektive Wahrnehmungserlebnis stark verfremden.

Neben der Integration von Information (Binding) spielen Aufmerksam­keitsprozesse eine entscheidende Rolle für die Ausgestaltung des visuellen Erlebens: Die in den kortikalen Modulen des primären visuellen Cortex analysierte Information wird durch die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Raumsegment gebündelt, und das so entstandene Kon­glomerat von Raumeigenschaften und Objektmerkmalen kann mit bekanq­ten, d.h. im Gedächtnis abgelegten Mustern, bzw. Objekten verglichen werden. Nach Pylyshyn können dabei bis zu vier Objekte gleichzeitig mit einem "Aufmerksamkeitszeiger" (FINst) versehen und durch den Raum

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verfolgt werden (Pylyshyn 2002). Diese psychologischen Mechanismen produzieren eine Objektrepräsentation, ohne dass dabei begriffliche Identi­fikationen ins Spiel kommen. Grundlegende Raumorientierungsprozesse ("Tracking": Verfolgen eines auffälligen Objekts im Raum) einerseits und ikonische Musterabgleiche ermöglichen erste stabile Objektrepräsentatio­nen.

Der Wahrnehmungsinhalt kann unter Bedingungen aufmerksamer, nor­maler Wahrnehmung wesentlich durch das bewusste Wahrnehmungserleb­nis charakterisiert werden. Dabei werden die modularen Informationen zu einer Objektrepräsentation integriert und ein stabiles Objekt wird übli­«herweise in bewusster Wahrnehmung erfasst. Allerdings werden Objekt­~ahrnehmungen dabei noch nicht durch Begriffe bestimmt. Eine Kategori­sierung nach abstrakten Merkmalen, die man systematisch auch auf viele andere Objekte anwenden kann, ist noch nicht zwangsläufig im Spiel, d.h. die oben erläuterte Bedingung für eine interne Objekt-Eigenschaftstruktur der Repräsentation ist noch nicht erfüllt.

iii) Die Ebene der Wahrnehmungsurteile

Die dritte Komponente umfasst höherstufige kognitive Leistungen, worun­ter man im weitesten Sinne Denken, Urteilen, Entscheiden, aber auch Verbalisierungen und andere wissensbasierte Fähigkeiten fassen kann wie das Planen komplexer Handlungen. Es handelt sich um die Stufe der Wahrnehmungsurteile, die wesentlich begriffliche Repräsentationen einbe­ziehen. Jegliches semantisches Wissen, das sich auf ein Objekt bezieht, also sein Name, seine Funktion, usw. können - wenn nötig - abgerufen und Teil der bewussten Objektrepräsentation werden. Die Urteilsebene greift in ihrer Kontextbezogenheit, bzw. in ihrer Eingebundenheit in den ständigen Gedankenstrom auf die zweite Ebene zu, indem spezifische Aufgaben oder Interessen einer Person diejenigen Merkmale vorweg selek­tieren, die die Ausrichtung der Aufinerksamkeit und damit das zielgerich­tete Suchen und Handeln steuern (vergleiche hierzu Frith, Dolan 1997 sowie Bar 2003).

Begriffund Erkenntnis: Eine Analyse von Objektwahrnehmung

4.1. Belege und Argumente für das Drei-Ebenen-Modell

Wir haben es also mit drei Facetten zu tun, die in der Objektwahrnehmung involviert sind: erstens basale, weitgehend modulare Wahrnehmungspro­zesse, die überhaupt erst ein bewusstes Wahrnehmungserlebnis möglich machen, zweitens den Wahrnehmungsinhalt, der durch eine Integration der Informationen aus den Wahrnehmungsprozessen zu einem stabilen Wahr­nehmungsinhalt fuhrt, der im Fall der Objektwahrnehmung normalerweise zu einem bewussten Wahrnehmen eines Objekts fuhrt, und drittens das begriffsbasierte Wahrnehmungsurteil.

Die Unterteilung in die drei Ebenen ergibt sich aus folgenden Überle­gungen: Hinreichend gut untersucht sind die Prozesse der visuellen Analy­se im primären visuellen Cortex. Das Beispiel der visuellen apperzeptiven Agnosien wie Achromatopsie (der Unfähigkeit zur Farbwahrnehmung) oder Akinetopsie (der Unfähigkeit zur Bewegungswahrnehmung) belegen sowohl die weitgehend modulare Struktur, als auch die Tatsache, dass es sich um maßgebliche, basale Faktoren handelt, die nicht durch andere kortikale Mechanismen überbrückt werden können. Des Weiteren gibt es zum jetzigen Zeitpunkt keine Evidenz dafür, dass jene Prozesse durch höhere kognitive Kapazitäten beeinflusst werden können, sie sind demnach hoch-automatisiert und autonom.

Anders im Bereich der Informationsbündelung und der Aufmerksam­keitssteuerung, wie sie auf der zweiten Stufe verankert sind: Hier gibt es Anhaltspunkte dafur, dass laufende Handlungspläne die Aufmerksamkeit auf relevante Merkmale bzw. Objekte lenken und somit den bewussten Wahrnehmungsinhalt beeinflussen (Corbetta/Shulman 2002).

Eine Trennung in integrative-sensorische und begrifflich-kognitiv beein­flusste Anteile der Wahrnehmung, wie sie durch die Einfuhrung von Ebe­nen zwei und drei erreicht wird, kann z.B. durch beobachtete pathologische Fälle gestörter Objektwahrnehmung gestützt werden. So unterscheidet man z.B. zwischen apperzeptiven und assoziativen Agnosien (Farah 2004). Apperzeptive Agnosien umschließen jene Fälle, in denen der Aufbau eines Wahrnehmungserlebnisses gestört ist. Patienten mit apperzeptiven Agnosi­en verfugen nicht über einen vollständigen Seheindruck: Entweder sehen Sie nur einen Teilausschnitt des Raumes oder sogar von Objekten (Ne­glect), oder sie sehen nicht farbig oder sie sehen statt klar definierter For­

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men nur unförmige schattenhafte Gebilde. Man kann also davon ausgehen, dass auf den Verarbeitungswegen, die zu einem Perzept führen, etwas gestört ist, oder ein entscheidender Mechanismus ausgefallen ist.

Die zweite Art der Agnosien, die assoziativen Agnosien, weist andere Merkmale auf. Hier haben die Patienten einen deutlichen visuellen Gehalt, aber sie scheinen nicht in der Lage zu sein, das Objekt zu erkennen. Man­che von diesen Patienten weisen kategorie-spezifische Defizite auf. Promi­nente Kategorien, die als Ausfälle nachgewiesen worden sind, sind z.B. Tiere, Früchte, Werkzeuge oder Gesichter (Martin 2007, Humphreys et al. 2001). Bei manchen Patienten fallen mehrere Kategorien aus, unter Um­ständen alle. Man weiß, dass diese Patienten trotzdem "richtig sehen", weil sie in der Lage sind, Objekte abzuzeichnen. Das Zeichnen erweist sich für manche als sehr mühselig, weil sie ein Objekt Linie für Linie nachmalen, die Kontextinformation über die Identität des Objekts, die das Zeichnen erleichtern könnte, fehlt. Dies sind deutliche Anhaltspunkte für eine Disso­ziation von einer begriffsbasierten Klassifikation eines Objekts, die das Fundament für ein Wahrnehmungsurteil bildet, einerseits und des Wahr­nehmungsinhalts in Form der phänomenalen Erlebniskomponente anderer­seits: Apperzeptive Agnosien (z.B. monochromes Sehen) zeigen, dass Wahrnehmungsinhalte wesentlich gestört bzw. eingeschränkt sein können, ohne dass damit die Wahrnehmungsurteile mit begrifflicher Kategorisie­rung eingeschränkt sind. Assoziative Agnosien sind gute Beispiele für Wahrnehmungsinhalte ohne Wahrnehmungsurteile, denn für letzteres fehlt die begriffliche Kategorisierung. Die oben genannte Patientin D.F. ist der besondere Fall von unbewussten Wahrnehmungsinhalten, die ohne Wahr­nehmungsurteile verfügbar sind. Im ersten Durchgang bestätigt die Be­trachtung die Grundlinie von Dretske, der gemäß Wahrnehmungsinhalte nichtbegrifflich und erst Wahrnehmungsurteile begriffsbasiert sind. Eine differenziertere Betrachtung macht eine Modifikation dieses Bild erforder­lich.

4.2. Die Wechselwirkung der drei Ebenen

Nachdem wir nun Evidenzen für eine Trennung der drei Ebenen vorgestellt haben, möchten wir die Vernetzung der Ebenen genauer unter die Lupe

Begriffund Erkenntnis: Eine Analyse von Objektwahrnehmung

nehmen. Die Leitfrage ist dabei, ob die Wahrnehmungsphänomene sich stets bottom-up, also unidirektional von der Enkodierung von Umweltrei­zen zu höherer Kognition, aufbauen, oder ob es nicht wichtige Wechsel­wirkungen zwischen höheren kognitiven Prozessen mit begrifflicher Re­präsentation einerseits und modularen Informationsverarbeitungen ande­rerseits gibt, die zudem ein neues Licht auf die Rolle von Begriffen für Wahrnehmungen werfen können. Dazu möchten wir erstens zeigen, dass die basalen Wahrnehmungsprozesse - ohne Vermittlung durch ein bewuss­tes Wahrnehmungserlebnis - direkt das Wahrnehmungsurteil beeinflussen können (unvermittelte bottom-up-Verknüpfungen), und zweitens darlegen, dass begriffliche Repräsentationen auf den Wahrnehmungsinhalt und sogar auf die Wahrnehmungsprozesse Einfluss nehmen können. Dies sind dann top-down-Einflüsse, die zeigen, dass McDowells These zwar nicht generell zutrifft, wohl aber für bestimmte Umstände richtig sein kann, so dass das einfache Modell einer rein passiven Perzeption aufgegeben werden muss.

Betrachten wir nun den ersten Fall eines unvermittelten bottom-up­Einflusses: Das visuelle System dient nicht ausschließlich der Erstellung zu Bewusstsein kommender Perzepte, sondern ein großer Teil der Informa­tionsverarbeitung läuft an der personalen Ebene vorbei und beeinflusst direkt das Verhalten (siehe den Fall der Patientin D.F.).

Noch deutlichere Evidenzen bieten Fälle wie "Blindsight": Aufgrund einer Schädigung im visuellen Kortex (meist) der rechten Hirnhälfte, findet dann entsprechend im linken Gesichtsfeld überhaupt keine bewusste Wahrnehmung mehr statt. Wenn man die Person nach ihrem Wahrneh­mungserlebnis fragt, so antwortet sie, dass sie nichts sehen kann. Bietet man in der linken Gesichtshälfte einen Ball dar und lässt raten, ob es ein Ball oder eine Puppe sei, die dort liege, dann sagen die Patienten mit einer Wahrscheinlichkeit, die signifikant nicht zufiillig ist, das Richtige (Weiskrantz 1997). Auch hier ist die Annahme, dass es noch verbliebene, modulare Wahrnehmungsprozesse sind, die direkt Informationen an den präfrontalen Kortex senden und so das Wahrnehmungsurteil ermöglichen.

Der zweite interessante Fall der Wechselwirkung sind die top-down­Einflüsse von begrifflichen Repräsentationen auf Wahrnehmungsinhafie und sogar auf Wahrnehmungsprozesse. Eine direkte Beeinflussung der

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Erkennungsleistung durch vorherige begriffliche Einflussnahme kann an folgendem Beispiel gezeigt werden:

~.

In diesem extrem verarmten Reizmuster kann nach längerer Betrachtung ein Objekt verortet und erkannt werden. Die Zeit bis zum "Erkennen" kann allerdings durch die vorherige Information, dass es sich um einen Dalmati­ner handelt, verkürzt werden. Interessant ist hierbei folgendes: Der subjek­tive Charakter des Wahrnehmungserlebnisses zwischen Situation 1 (Flec­kenbild-Sehen) und Situation 2 (Dalmatiner-Sehen) ändert sich schlagartig. Ist jedoch einmal Situation 2 eingetreten, also ein begrifflicher Gehalt zu dem Wahrnehmungsinhalt hinzugekommen, dann ist es der Versuchsper­son fast immer unmöglich, den Wahrnehmungszustand der Situation 1 wieder einzunehmen. Das kognitive System überformt somit durch das begriffliche Wissen, dass in dem Bild ein Dalmatiner dargestellt ist, das nichtbegriffliche Sehen des Fleckenbildes.

Analog kann eine unklar erscheinende schwarze Kiste entweder als Mi­krowelle oder als Fernseher interpretiert werden. Wenn jedoch der spezifi­sche räumliche Kontext weitere Information zur Verfügung stellt, wie etwa wenn sich das Objekt neben einem unförmigen, niedrigen horizontalem Gebilde befindet, das wie eine Couch aussieht, so würde die Interpretation der Kiste als Fernseher Unterstützung erfahren. Wenn es sich jedoch zwi­schen anderen geometrisch scharf abgegrenzten rechteckigen Gebilden befindet, so könnte der "Küchenkontext" Vorrang erlangen und das Gebil­de als Mikrowelle erkannt werden. Hierbei wird Information, die über die schnelleren Bahnen des optischen Nervs (s.o.) vermittelt wird, direkt vom primären visuellen Cortex zum präfrontalen Cortex weitergeleitet. Dort

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evoziert diese grobaufgelöste Vorabinformation eine Art von Kontextsen­sitivierung: Jene Gedächtnisspuren, die ähnliche Muster enthalten, werden sensitiviert und erlauben das schnellere Einordnen von Objekten in be­stimmte Klassen, bzw. Kategorien und vermindern somit die Zeit, die das System für die Erkennungsleistung braucht (Bar et al. 2001, Bar 2003, 2004).

Damit wird deutlich, dass begriffliches Wissen das bewusst erlebte Per­zept und damit den Wahrnehmungsinhalt verändern kann. Dies ist die Art von Einfluss, die McDowell den Begriffen generell zuschreibt. Sie kann also vorkommen. McDowell schießt nur über das Ziel hinaus, wenn er meint, dass jede Wahrnehmung einen solchen Einfluss von Begriffen einschließt und ohne Begriffe nicht zustande käme. Denn wir haben ja andererseits vielfältige empirische Evidenz angeführt, die zeigt, dass ein perzeptueller Wahrnehmungsinhalt von einer begrifflichen Klassifikation und einem darauf basierenden Urteil abgetrennt werden kann.

Die Müller-Lyer-Illusion erlaubt gerade keine kognitive Überformung im obigen Sinne; der Wahmehmungsinhalt, das bewusst erlebte Perzept bleibt gleich, auch wenn ich mich vergewissert habe, dass die Linien gleich lang sind. Die rationale Urteilskomponente ermöglicht es mir, die "Fehler" in der Wahrnehmung eines Perzepts zu erkennen, ohne dass damit jedoch der Wahrnehmungseindruck irgendwie verändert würde. Letztlich ist das in den meisten Fällen von Wahrnehinungstäuschungen so. Bezüglich des bewussten Wahrnehmungserlebnisses kann also durchaus beides auftreten: dass die begriffliche Einordnung ein zunächst vorliegendes phänomenales Erlebnis dominiert und transformiert, oder aber auch, dass das phänomena­le Erlebnis gar nicht berührt wird.

Die Trennlinie zwischen den Komponenten der theoretischen Ebenen 2 und 3 ist natürlich eine für das Subjekt im Normalfall nicht erfahrbare: Aus der Erlebnisperspektive der ersten Person ist das Hinzutreten oder die Abwesenheit von Begriffen und ggf. Urteilen für eine Bestimmung des Wahmehmungsinhaltes nicht zwangsläufig erkennbar: Es ist stets bewusst erfassbar, wenn ich ein Wahrnehmungsurteil fälle, aber ob das Urteil bzw. die darin involvierten Begriffe, mein Wahrnehmungsbild verändert habe~, ist jeweils mit Hilfe von kontrollierten Kontrastsituationen in Experimen­

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ten herauszufinden. Wesentlich ist, dass Begriffe das Wahrnehmungsbild bestimmen können, aber nicht müssen.

5. Abschließende Bewertung der Rolle von begrifflichen Repräsenta­tionen

Welche Rolle spielen Begriffe für Wahrnehmungen? Wir haben begriffli­che Repräsentationen minimal so bestimmt, dass sie eine interne Objekt­Eigenschaft-Struktur aufweisen und minimal holistisch mit anderen Begrif­fen verknüpft sind. Ein wesentliches Kriterium ist dabei die systematische Rekognition der relevanten Eigenschaften, die einen Begriff konstituieren. Sind Begriffe unweigerlich in Wahrnehmungsinhalte involviert wie Mc­Dowell es im Anschluss an Kant behauptet? Die Antwort ist klarerweise "Nein!". Jede sprachliche Zuschreibung eines Wahrnehmungsinhaltes basiert zwar auf Begriffen, über die jedoch das kognitive System, das eine Wahrnehmung macht, nicht verfugen muss.

Die zentralen Argumente sind die Reichhaltigkeit, die Feinkörnigkeit und die Unabhängigkeit unserer Wahrnehmungen (s.o.) sowie die empiri­schen Evidenzen fur das Drei-Ebenen-Modell der Wahrnehmung. Demge­mäß kann der Wahrnehmungsinhalt nichtbegrifflich sein, d.h. er weist keine Objekt-Eigenschaft-Struktur auf und nicht den geforderten minima­len Holismus, der fUr Begriffe typisch ist. Dies bedeutet nicht, dass der Wahrnehmungsinhalt keinerlei Struktur aufweisen muss, sondern dass diese Struktur nicht als selbständige Repräsentation von den typischen Schlüsselreizen abtrennbar und deshalb nicht (bzw. kaum) auf Situationen ohne diese Schlüsselreize übertragbar ist. Evans und Dretske haben also recht, wenn sie von nichtbegrifflichen Gehalten von Wahrnehmungen sprechen. Jedoch übersehen sie bei ihrer Verallgemeinerung jene Fälle, in denen Begriffe ganz wesentlich bei der Genese eines Wahrnehmungsin­halts involviert sind (s.o.): In solchen Fällen, bei denen die Unterbe­stimmtheit der Reize erst zusammen mit einer begrifflichen Information ("DALMATINER") dazu fUhrt, dass der Hund im Bild erkannt wird (s.o.), ist es plausibel davon zu sprechen, dass der Wahrnehmungsinhalt selbst begrifflich strukturiert ist. Es können entsprechend unmittelbar aus dem Wahrnehmungsinhalt einige "Inferenzen" gezogen werden, ohne dass diese

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als Deduktionen von Urteilen repräsentiert werden müssen. Wahrneh­mungsurteile sind noch nicht im Spiel. Bildliche Repräsentationen können demgemäß unmittelbar implizites Wissen fUr ein kognitives System bereit­stellen, z.B. bezüglich räumlicher Relationen von Objekten: Wenn dies zu einer begrifflichen Repräsentation fUhrt, dass ein Apfel links von einer Banane und eine Birne links von Apfel liegt, so resultiert aus der Bildin­formation direkt - ohne ein logisches Schließen - ein implizites Wissen, dass die Birne links von der Banane liegt. Solche begrifflichen Wahrneh­mungsinhalte sind jecioch keine Wahrnehmungsurteile. Letztere stehen uneingeschränkt unter der Norm der Rationalität, der Logik bzw. der sy­stematischen deduktiven Inferenzbeziehungen. Begriffliche Wahrneh­mungsinhalte dagegen sind nur partiell "inferentiell" und zwar nur in Bezug auf die mit der perzeptuellen Information implizit verknüpften Begriffsstrukturen. Fassen wir zusammen: Es gibt erstens modulare Wahr­nehmungsprozesse, die die Grundlage unseres Wahrnehmungserlebnisses bilden. Das Wahrnehmungserlebnis hat einen Wahrnehmungsinhalt: Dieser kann (contra McDowell) nichtbegrifflich sein, genau dann wenn der Gehalt nicht die Objekt-Eigenschaft-Struktur aufweist und die anderen Kern­merkmale der Begriffe in der Gehaltsstruktur fehlen. Er kann aber auch begrifflich sein (contra Evans und Dretske), nämlich dann, wenn die Wahrnehmung aufgrund der Genese Z.B. in einer unbestimmten Reizsitua­tion, mittels Begriffen strukturiert wird. Schließlich können wir explizite Wahrnehmungsurteile formen, die Begriffe und ihre systematische Kom­position voraussetzen. In einer Übersicht lässt sich die Wechselwirkung der Ebenen wie folgt darstellen:

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[Fl1nktiollWlclInteraktion d~r Ebellen]

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Direkte Beeinflussung von Wahmehmungsurteilen: . .Von basalen Verabeitungen direkt zum präfrontalen Kortex !

Abschließend sei unsere Position nochmals genauer in die gegenwärtige Debatte eingeordnet: Dretske (Dretske 1981) spricht sich für eine Zweiteilung aus, nämlich in den nichtbegrifflichen Wahrnehmungsinhalt (content 01 perception) und die begrifflichen Wahrnehmungsurteile. Elisabeth Pacherie (Pacherie 2000) stellt fest, dass in dieser Dichotomie das bewusste Wahrnehmungserlebnis keine hinreichende Berücksichtigung findet und spricht sich deshalb für die Erweiterung um eine Art Zwischenstufe des perzeptuellen Gehalts (intermediate level 01perceptual content) aus, der zwar bewusst ist, aber einer Überformung durch Überzeugungen nicht unterliegen kann. Sie bezieht sich dabei auf optische Täuschungen wie die Müller-Lyer-IIIusion (s.o.): Das Wissen, dass beide dargestellten Linien gleich lang sind, kann den Wahrnehmungseindruck, dass sie nicht gleich lang sind, nicht überlagern. Unser Stufenmodell der Wahrnehmung wird Pacheries Forderung nach einer Zwischenstufe des bewussten Wahmehmungsinhalts gerecht, der kognitiv zugänglich, aber nichtbegrifflich, d.h. nicht durch Wissen und Überzeugungen überformbar ist. Darüber hinaus unterscheiden wir nicht nur die begrifflichen Wahrnehmungsurteile, sondern führen auch einen Platz für begriffliche

Begriffund Erkenntnis: Eine Analyse von Objektwahrnehmung

Wahrnehmungsinhalte ein. Dies sind begrifflich strukturierte Wahrnehmungen, die jedoch noch nicht in explizite Wahrnehmungsurteile übergehen.

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