Wie ein Schatten unserer Tage€¦ · und Sorgen, von Vorbereitungen auf die Flucht nach Ame-rika,...

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Inge GeilerWie ein Schatten sind unsere Tage

Die Geschichte der Familie Grünbaum

Mit zahlreichen Abbildungen

Schöffling & Co.

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Inhaltsverzeichnis

Einführung Seite !

Das Frankfurter Westend Seite ""

Eine Wand gibt ihr Geheimnis preis Seite "!

Einundzwanzig Jahre später Seite #$

Meier Grünbaum Seite #%

Elise Kleemann Seite #!

Meier und Elise Grünbaum !"#$–!#%$ Seite &!

Meier und Elise Grünbaum !#%$–!#&% Seite '"

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Meier Grünbaums Klagen Seite !"#

Samuel Kleemann Seite !$%

Erna Kleemann und Albert Wolff Seite !&&

Wilhelm Kleemann Seite !'$

Herta Schloss geb. Kleemann und Moritz Schloss Seite !%%

Max Stein Seite &$!

Max Lomnitz Seite &#!

Bernhard Lustig Seite &("

Erna Pommer geb. Seliger Seite &%&

Amalie Vorchheimer geb. Stein und Adolf Vorchheimer Seite '"&

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Das Jüdische Nachrichtenblatt Seite !!!

Glossar Seite !"#

Literaturverzeichnis Seite !$%

Bildnachweise Seite !$&

Quellenangaben Seite !$"

Namenregister Seite !'(

Danksagungen Seite !'$

Stammbäume Seite !#(

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Einführung

Anlass, dieses Buch zu schreiben, war ein Fund, der mich vor vielen Jahren zutiefst erschütterte.

Im wahrsten Sinne des Wortes fielen mir Briefe vor die Füße, die Verwandte an ein jüdisches Ehepaar geschrieben hatten, das zu alt und zu entkräftet war, um die Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland noch wagen zu können.

Die sehr persönlichen Briefe erzählen von Hoffnungen und Sorgen, von Vorbereitungen auf die Flucht nach Ame-rika, auch von den schwierigen Umständen der Reise dort-hin.

Die dort Angekommenen berichten dankbar und staunend über ihre neue Heimat in New York, verschweigen aber nicht die täglichen Probleme, die das Leben dort mit sich brachte, und ihre Sehnsucht nach der verlorenen europäischen Kul-tur.

Aus den Briefen und Karten der in Deutschland Zurück-gebliebenen spricht die verzweifelte Tapferkeit, mit der sie ihr so unwürdig gewordenes Leben zu meistern versuchten, stets begleitet von der Furcht vor der Verfolgung.

Aus den gefundenen Dokumenten und Zeitungen lässt sich das Ausmaß der Demütigungen und der Menschenver-achtung erkennen, denen Juden in Deutschland nach "!## ausgesetzt waren.

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Im Laufe der Zeit reifte mein Entschluss, die Geschichte dieser großen Familie, die inzwischen fast zu meiner eigenen geworden war, dem Vergessen zu entreißen, sie zu erforschen und zu dokumentieren.

Eine sehr gute Zusammenarbeit mit zahlreichen Archiven und privaten Forschern, denen ich meinen besonderen Dank aussprechen möchte, ermöglichte es mir, die Verfasser der Briefe zu finden und vieles aus ihrem Umfeld in Erfahrung zu bringen.

Einsichtnahmen in Entschädigungsakten gaben Aufschluss über den unverschämten Raub ihres Vermögens.

Das Studium der Gesetze zur Judenverfolgung zwischen !"## und !"$% verdeutlicht den Alltag jüdischer Menschen, der von den eskalierenden Repressalien der Nationalsozia-listen geprägt war.

Dieser Alltag kann für Leser nur vorstellbar werden, wenn sie um die einschneidenden Gesetze wissen, die in ihrer Grau-samkeit und Bösartigkeit nicht zu überbieten sind und immer unfassbar bleiben werden. Nur die für die Biographien rele-vanten habe ich dort eingeflochten.

Das gefundene Konvolut übergab ich dem Institut für Stadtgeschichte der Stadt Frankfurt am Main. Dort ist es jetzt für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich.

Die vorliegende Dokumentation entstand in Absprache mit dem Institut, dem ich für Hilfe und Unterstützung sehr dankbar bin.

Inge Geiler

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Das Frankfurter Westend

Im Frankfurter Westend, in dem seit seiner Entstehung sehr viele jüdische Familien lebten"– und heute wieder leben"–,

habe ich das Konvolut gefunden und beginne deshalb mit einer Beschreibung dieses Frankfurter Stadtteils.

Traditionell gilt das Westend als eines der vornehmsten Wohnviertel der Stadt. In dem ehemals ländlichen Gebiet zwischen dem Dorf Bockenheim und der Innenstadt, die von einem Festungsgürtel umgeben war, entstanden um !##$ die ersten Landhäuser mit parkähnlichen Gärten.

Hier hatte die Stadt Frankfurt einer wirtschaftlich bedeu-tenden Bevölkerungsschicht" – Immigranten und religiösen Minderheiten, denen der Senat das Bürgerrecht verweigerte"– erlaubt, sich niederzulassen.

Immer mehr wohlhabende jüdische Familien ließen sich an der Bockenheimer Landstraße große Villen erbauen, darun-ter viele, denen es im mittelalterlichen Ghetto zu eng ge-worden war, wie die berühmte Bankiersfamilie Rothschild, die schon seit dem !%. Jahrhundert in Frankfurt ansässig war. An der Bockenheimer Landstraße !$ erwarb Amschel Mayer Freiherr von Rothschild im Jahr !&!% ein Gartenhaus, das zu einem klassizistischen Palais umgebaut wurde. An das große Palais schloss sich ein weiträumiger Park an, der sich bis zur damaligen Stadtgrenze am Opernplatz ausdehnte und heute noch als Rothschildpark existiert. An die eindrucksvolle

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Ruine aus rotem Sandstein, die, nach der Zerstörung des Palais im Zweiten Weltkrieg, in den !#$%er Jahren noch stand, erinnere ich mich noch sehr gut.

Die alte Stadtbefestigung aus dem Jahre !$&% wurde, nach einem Beschluss des Rats der Stadt, zwischen !'%$ und !'!' geschleift, und auf ihren Grundmauern entstanden Grünflä-chen. Diese »Wallanlagen« dürfen bis zum heutigen Tag nicht bebaut werden. Durchbrochen wurden sie nur von den Stra-ßenführungen in die nun entstehenden neuen Wohnviertel am Rande der Innenstadt.

Die Bockenheimer Landstraße, gesäumt von prachtvollen Villen, wurde auf ihrer ganzen Länge mit Kastanien bepflanzt und so zu einer der schönsten Straßen der Stadt. »Die Straße der Millionäre« wurde sie im Volksmund genannt.

!'!! wurden den Frankfurter Juden, gegen eine hohe Ab-lösesumme, die Bürgerrechte zugesprochen.

! Frankfurt, Rothschild-Palais, Bockenheimer Landstraße !%

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Eine planvolle Erschließung des Westends begann erst nach !#$%. Es entstanden prunkvolle Wohnhäuser im Stil des Historismus, bis die Bebauung um !&%% den Grüneburgpark und den daneben liegenden Palmengarten (eröffnet !#'!) er-reichte. Viele gut situierte Mitglieder der großen jüdischen Gemeinde Frankfurts waren in das elegante neue Wohnvier-tel gezogen. Nach dem Entwurf des Architekten Franz Roeckle ließ die liberale Gemeinde in den Jahren !&%#–!&!% eine große Synagoge an der Freiherr-vom-Stein-Straße er-bauen, flankiert von einem mehrstöckigen Verwaltungsge-bäude und einer Schule.

Die feierliche Einweihung der Synagoge fand am (#. Sep-tember !&!% statt, in Anwesenheit des Regierungspräsiden-ten, des Frankfurter Oberbürgermeisters Dr. Franz Adickes und zahlreicher Repräsentanten aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft.

In strengem Jugendstil erbaut, mutet die Synagoge Beth Hamidrasch sehr orientalisch an mit ihrer gewaltigen Kuppel über dem Gebetsraum, den verschachtelten Dächern, den hohen Giebeln der Eingangshalle, wo aus runden Medaillons der stolze judäische Löwe hervortritt, die Gesetzestafeln in den mächtigen Pranken haltend.

Durch einen geduckten Kuppelvorbau betritt man den Vorhof mit dem eindrucksvollen Löwenbrunnen aus weißem Marmor, um von hier aus in die Synagoge zu gelangen.

Der Anblick des reich geschmückten Innenraums ist über-wältigend. In den !&&%er Jahren unter der Leitung des Archi-tekten Henryk Isenberg fast originalgetreu restauriert und am (#. August !&&) mit einem großen Festakt wieder eingeweiht, bewundert man die Ausstattung im ägyptisch-assyrischen Stil. Säulen mit ausladenden Kapitellen tragen die Frauenempore,

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die geschmückt ist mit einem hohen Fries in den Farben Grün, Rot und Gold. Die Marmorwände erstrahlen in einem zarten goldenen Gelb, zusammengefügt aus Tausenden von dreiecki-gen Mosaiksteinen, die sich zu Davidsternen formen. In dieser Art ist auch die hohe Kuppel bemalt, deren zartes Blau sich nach unten kräftig verdunkelt und so alle Blicke nach oben zieht.

Das prachtvolle Gotteshaus war bis !#$% Zentrum jüdischen Lebens im Frankfurter Westend. Wie eine mächtige Festung liegt es zwischen den nahestehenden Häusern, die ihm in der Pogromnacht vom &#./!&. November !#$% Schutz boten vor der totalen Zerstörung. Zwar wurde im Betsaal Feuer gelegt, doch es wurde auf Anordnung gelöscht, um ein Übergreifen der Flammen auf die umliegenden Wohnhäuser zu verhindern.

' Frankfurt, Westend-Synagoge an der Freiherr-vom-Stein-Straße (um !#!&)

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Der Exodus jüdischer Bürger aus Frankfurt hatte bereits im Jahr !#$$ begonnen. Die frei werdenden luxuriösen West-endwohnungen wurden von höheren Beamten der national-sozialistischen Stadtverwaltung vereinnahmt. So bewohnte z. B. der damalige Frankfurter Oberbürgermeister, Staatsrat Dr. Friedrich Krebs, die zweite Etage des Hauses Freiherr-vom-Stein-Straße !!.

Nach der von den Nazis sogenannten »Reichskristall-nacht« setzte sich die Flucht jüdischer Familien aus Frank-furt verstärkt fort. Andere wurden aus ihren Wohnungen vertrieben und im Osten der Stadt angesiedelt, wo eine bessere Kontrolle durch die %&'() möglich war.

Das Westend und andere Wohngebiete sollten »entjudet« werden, um verdiente »Arier« einziehen zu lassen. Das ge-lang nicht ganz. Einige der großen Westendhäuser, die in jüdischem Besitz waren, blieben von dieser »Entjudung« vorläufig verschont. Den Bewohnern wurde allerdings auf-erlegt, so viele Juden wie möglich in ihren Räumen aufzu-nehmen. Auf diese Weise entstanden hier Pensionen, so auch die »Pension Nussbaum« in der Liebigstraße *+B, von der noch die Rede sein wird.

In den letzten Kriegsjahren, zwischen !#,$ und !#,", legten die schweren Bombardements der Alliierten große Teile der Stadt Frankfurt in Schutt und Asche. Das Westend blieb von der Zerstörung weitgehend verschont. Die noblen Wohnhäuser, zwischen !-+. und !#$. erbaut, überstanden die Bombardements ebenso wie die Synagoge, die als einzige der Frankfurter Synagogen erhalten blieb.

Die wenigen Frankfurter Juden und die aus dem Osten zugewanderten über fünftausend ehemaligen /0-Häftlinge oder Zwangsarbeiter, die den Holocaust überlebt hatten,

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feierten im ausgebrannten Betsaal bereits am !#. September !$%& einen ersten Notgottesdienst.

Nach einer einfachen Wiederherstellung wurde die Sy n -agoge am ". September !$&' neu eingeweiht und erneut zum Mittelpunkt des wieder erwachenden jüdischen Lebens in Frankfurt.

Seit ich !$&( nach Frankfurt kam, wohne ich in einem der schönen alten Westendhäuser, in unmittelbarer Nähe zur Synagoge. Die von Lindenbäumen gesäumte Liebigstraße verläuft parallel zur Freiherr-vom-Stein-Straße, und der ehe-malige Altkönigplatz, eine schon in früherer Zeit gepflegte Grünanlage, liegt auf dem Weg dorthin.

Zu dieser Zeit hatte die Aufarbeitung der Geschichte des »Dritten Reichs« und seiner Gräueltaten bereits begonnen und löste Erschütterung und tiefes Entsetzen in großen Tei-len der Bevölkerung aus.

Vor diesem Hintergrund interessierte mich zunehmend, was sich in meiner direkten Umgebung zutrug, wie jüdi-sches Leben in Frankfurt wieder erwachte. Ich beobachtete fromme alte Männer, die am frühen Morgen zum Gebet gin-gen, oft zu zweit, in Gespräche vertieft; junge Mütter oder Großmütter, die ihre Kinder und Enkel zum Kindergarten oder zur Schule brachten, und Familien, die sonntäglich ge-wandet zu den Feiertags-Gottesdiensten spazierten. Beson-ders beeindruckten mich die immer zahlreicher werdenden jungen Thoraschüler, die im offenstehenden schwarzen Kaf-tan, mit flatternden Gebetsschals über den weißen Hemden, zur Synagoge eilten. An ihren breitkrempigen schwarzen Hüten konnte man sie schon von Weitem erkennen.

In den !$"'er Jahren kehrten viele ältere Frankfurter

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# Frankfurt, Liebigstraße $"B, letzte Wohnung von Meier und Elise Grünbaum

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Juden, die ihre Heimatstadt unter der Herrschaft der Natio-nalsozialisten verlassen mussten, aus der Emigration zurück. Sie lebten wieder in ihrer altvertrauten Umgebung, wo sie in Ruhe ihren Lebensabend verbringen wollten. Die Remigran-ten kamen aus Palästina, England, Chile, Argentinien, Brasi-lien usw., und einige von ihnen habe ich kennengelernt. Sie erschienen mir in bewundernswerter Weise unbefangen, liebenswürdig und freundlich. Hin und wieder sprachen sie von den ersten schweren Jahren in der Emigration, vom Ver-lust ihrer Angehörigen in den Konzentrationslagern, von den früheren guten Zeiten in Frankfurt!– doch über den Alltag im "#-Staat und die Umstände ihrer Flucht aus Deutschland sprachen sie nie. Nachzufragen wagte ich damals nicht, denn im Gegensatz zu ihnen war ich sehr befangen durch die große Scham über das, was während meiner Kindheit in Deutsch-land geschehen war.

Unter dem Eindruck solcher Begegnungen begann ich da-rüber nachzudenken, welche Geschichten das denkmalge-schützte Haus, in dem ich lebe, wohl erzählen könnte.

Erbaut wurde es in den Jahren $%&'/$%&( von den Archi-tekten Beck & Grünewald für den jüdischen Kaufmann Adolf Fath.

Was haben diese Mauern gesehen? Was ist in diesen Räu-men geschehen?!– Viele Jahre später sollte ich einiges darüber erfahren.

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Eine Wand gibt ihr Geheimnis preis

Liebigstraße #$B, erste Etage. Ein strahlend schöner Som-mertag im August !"%&.

Handwerker waren mit Sanierungsarbeiten beschäftigt. In meinem Wohnzimmer musste ein Kabel verlegt werden, das hinter einer hölzernen Wandverkleidung unter dem Fenster durchgezogen werden sollte. Plötzlich stießen die Elek triker auf einen Widerstand, dem sie mit einem Schraubenzieher beikommen wollten. Als ich dazukam, sah ich kleine Zettel und Zeitungsschnipsel verstreut auf dem Boden liegen.

Spontan hob ich einen der Zettel auf und las auf der Rück-seite einer Zahlkarte: »Leute ich bin ja so unglücklich, zu unglücklich bin ich«, in ungelenker Schrift mit Bleistift ge-schrieben. Dann ein weiterer Zettel: »Leute was soll ich nur machen, mir ist so entsetzlich schauderhaft« und ein dritter: »Leute ich bin zu zu unglücklich ich wollte ich wäre nicht zur Welt gekommen«. Klagerufe eines Menschen in tiefster Not. Textfragmente und Schrift der Zeitungs schnipsel deu-teten auf die nationalsozialistische Zeit hin und ein klein zu-sammengefalteter Brief, mit der Maschine auf Luftpostpapier geschrieben, berichtete von Flucht.

Blitzschnell war mir klar, dass ich einen seltenen Fund gemacht hatte und ließ die Arbeit abbrechen, um weitere Zerstörungen zu verhindern. Was immer hier versteckt war, es musste behutsam geborgen werden!

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# Frankfurt, Liebigstraße !$B, Fundort hinter der Heizung

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Es erforderte viel Geduld und Konzentration mit einer schmalen, gebogenen Zange Stück um Stück aus dem etwa #$cm schmalen Spalt zu fischen, der auch oben, unter dem abgenommenen Fensterbrett, nicht breiter war.

Am Ende lagen auf dem Fußboden #% Briefe, einige Foto-grafien, & Postkarten, über '( Dokumente und ) zusammen-geknüllte Ausgaben des Jüdischen Nachrichtenblatts von Mai bis Juli "*#!. Diese Zeitung wurde, wie ich später herausfand, unter strengster Gestapo-Zensur für die jüdischen Kultus-gemeinden gedruckt und enthielt alle Verordnungen der Re-gierung, mit denen man die jüdischen Bürger demütigte, drangsalierte und quälte. Die Kultusgemeinden gaben diese Verordnungen in Kurzform, mit Schreibmaschine geschrie-ben, an ihre Mitglieder weiter, z. B. die Information über die Ausgangssperre ab !( Uhr.

Fassungslosigkeit, lähmendes Entsetzen hatte mich erfasst. Der sonnendurchflutete Raum, in dem ich bisher so unbe-schwert gelebt hatte, schien sich zu verfinstern, sich in einen Ort des Schreckens zu verwandeln.

Plötzlich war er beherrscht von raunenden Schatten, die Kunde gaben vom Leid der Juden unter der nationalsozialis-tischen Verfolgung.

Mit zitternden Händen nahm ich einen der maschinen-geschriebenen Briefe aus New York und las, was Max Stein am !+.(%."*#" unter anderem schrieb:

»Meine Lieben […] wir hatten beabsichtigt die Ausreise für Euch, meinen Schwiegervater und Tante Erna über Kuba ein-zuleiten, aber Kuba ist vorerst geschlossen.«

Am "(.""."*#" schrieb er:

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»Man wird das Leben nicht froh, wenn man so hilflos dasteht und nicht helfen kann. … Ja liebe Tante, ich habe mir Eueren Lebensabend auch anders gedacht und wollte Euch wie die eigenen Eltern beschützen und behüten. Aber wie sehr hat man sich verrechnet und steht so machtlos da.«

Eine Postkarte aus Frankfurt vom !"."#.$%&! lautet:

»Sehr geehrte Frau Grünbaum. Bedaure Ihnen mitteilen zu müssen, dass ich Ihnen kein Essen mehr geben kann, da wir von hier weg müssen. Hochachtungsvoll S. Wolf, Baum-weg'(#«

Sie war adressiert an Herrn und Frau Grünbaum, Liebig-straße !)B.

Nun wusste ich, wer die Empfänger der Briefe waren'– ein altes jüdisches Ehepaar, das hier offensichtlich in sehr großer Not und tiefster Verzweiflung gelebt hatte.

Die flehenden Hilferufe: »Ich bin schon so alt *" Jahre ge-wesen, hätte ich dann nicht schon längst gestorben können sein. Mir ist ganz schrecklich zumute, ich weiß garnicht mehr was ich anfangen soll« oder »Ich kann es nicht mehr aus-halten, wenn ich nicht geboren wäre. Ich bin zu zu unglück-lich« stammten von Meier Grünbaum, wie sich später her-ausstellte.

Vorsichtig nahm ich alles vom Boden auf. Das dünne Brief-papier war ausgetrocknet und stark zerknittert, die Schrift stellenweise durch Wasserflecke zerstört. Festeres Papier war vergilbt, fast braun, und das billige Zeitungspapier fest zusam-mengebacken und so brüchig, dass man es nicht mehr ausein-anderfalten durfte, es wären nur noch Brösel übrig geblieben.

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Vierundvierzig lange Jahre war das alles versteckt, die letz-ten dreißig Jahre noch der abstrahlenden Wärme einer neu installierten Heizung ausgesetzt, was zu dem erbärmlichen Zustand führte.

Völlig verstört pustete ich Staub und Spinnweben ab und ordnete den Fund während der folgenden Tage.

Ich studierte die einfacher zu lesenden Briefe, las in Er-lassen und Dokumenten und betrachtete die wenigen Fotos mit zunehmender Erschütterung und tiefem Mitleid für die vom Schicksal so schwer geschlagenen Menschen. Die Briefe bündelte ich nach Handschriften, die zum Teil sehr schwer zu entziffern waren.

Eine intensive Beschäftigung mit dem aufwühlenden Fund war mir damals nicht möglich, zu sehr war ich gefordert durch persönliche und berufliche Verpflichtungen.

# Meier Grünbaum »Ich bin schon so alt $% Jahre gewesen …«

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So beschloss ich, das Konvolut sorgfältig zu verpacken und es vorläufig im kühlen, trockenen Keller zu deponie-ren.

Meier und Elise Grünbaum blieben dennoch unsichtbare Gäste in meinem Wohnzimmer.

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Einundzwanzig Jahre später

Über zwanzig schwierige Jahre waren vergangen, in denen ich weder die Zeit noch den Mut gefunden hatte, mich

mit dem traurigen Nachlass von Meier und Elise Grünbaum zu befassen.

So betrachtete ich es als einen Wink des Schicksals, als sich im Sommer !##$ die »Initiative Stolpersteine«, in Gestalt ihres Frankfurter Vorsitzenden, Herrn Hartmut Schmidt, meldete. Er legte eine Liste mit den Namen von siebzehn ehe maligen jüdischen Hausbewohnern vor, die zum Teil von hier aus deportiert und ermordet worden waren. Für neun von ihnen sollten vor dem Haus Stolpersteine verlegt wer-den, darunter waren auch Moses, Erna und Heinz Walter Nussbaum. Auf meine Frage »Und wo stehen Meier und Elise Grünbaum?«, sah er mich erstaunt an. Ich berichtete ihm von meinem Fund.

Mit Hilfe der Datenbank des Jüdischen Museums, in der die Namen und Herkunftsorte aller aus Frankfurt depor-tierten Juden verzeichnet sind, ließ sich schnell klären, dass die Grünbaums lange in Wiesbaden gelebt hatten. An sie sollte dort, vor dem Haus Bismarckring !$, erinnert werden.

Noch am gleichen Tag holte ich den lange gehüteten »Schatz« aus dem Keller, der mich so oft stumm gemahnt hatte.

Zögernd öffnete ich die Verpackung, fürchtete eine Wie-

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derholung des Erschreckens von damals. Doch als ich die Briefe zur Hand nahm, erschienen sie mir vertraut, und ich war nun über viele Wochen damit beschäftigt, die Hand-schriften zu entziffern.

Aus meinem tiefen Mitleid erwuchs eine von Brief zu Brief stärker werdende Zuneigung zu diesen mir unbekannten Menschen, die aus dem Nichts aufgetaucht waren und die, trotz ihrer schweren Schicksale, ihre Seelen nicht verloren hatten.

Ich begegnete einer großen Familie, die in liebevoller An-hänglichkeit einen regen Schriftwechsel mit Meier, besonders aber mit Elise Grünbaum, pflegte!– und Dokumenten, die das dramatische Leben des Ehepaares während des »Dritten Reichs« bis zum bitteren Ende belegen.

Tief hatte ich mich während der Beschäftigung mit den Briefen auf die Familie der Grünbaums eingelassen, zu tief, als dass ein Zurück noch möglich gewesen wäre. Jetzt wollte ich sie kennenlernen, Meier und Elise Grünbaum und ihre Verwandten, sie dem Vergessen entreißen.

Doch wie waren sie zuzuordnen, die vielen Namen, welche Lebensumstände verbargen sich hinter ihnen?

Eine mühevolle Spurensuche begann, doch nicht alle Re-cherchen verliefen erfolgreich. So muss das eine oder andere leider offen bleiben.