Wie glaubt der Norden?

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Eine Zeitungsbeilage zum Thema Glauben, finanziert durch die, die sie lesen wollen? Das haben zwei shz-Volontäre mit der Plattform Krautreporter jetzt wahr werden lassen.

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2 WIE GLAUBT DER NORDEN?

VON ANABELA BRANDAO

Weil ich mein Leben selbstin der Hand haben möchte.Für mich ist Religion etwas,das Menschen erfundenhaben, um all das zu erklären, wasdie Wissenschaft nicht beantwortenkann. Wer sind wir? Woher kommenwir und wohin gehen wir? Die Fragenach dem Sinn ist mindestens so alt,wie die Menschheit selbst. OhneZweifel kann Religion daraufAntworten geben. Aber für mich sind

Warum bin ich Atheistin?diese Antworten nichtwichtig. Ich mache mirkeine Gedankendarüber, was nach demTod passiert. Ich fragemich nicht jeden Tag,

warum ich auf der Welt bin. Ich lebeeinfach. Auch ohne Religion. Ichbestimme mein Leben durch meineigenes Handeln. Ich versuche,Gutes zu tun, weil ich es will undnicht, weil ich einem Gott gefallenmöchte. Ich denke, jeder Menschsetzt sich seine eigenen Ziele im

Leben und verleiht seinem Daseindadurch selbst einen Sinn. Statt michauf einen Gott zu verlassen, den ichnicht sehen kann, halte ich michlieber an Fakten – an Dinge, diegreifbar sind. Und an das, was ichsehen, anfassen und fühlen kann.Freunde, Familie, Liebe – dieseDinge sind meine Religion. Sie gebenmir Halt, sie geben mir Hoffnung, siesind für mich da, wenn es mirschlecht geht und sie hören mir zu,wenn ich etwas zu sagen habe.Besser, als jeder Gott es je könnte.

VON MICHAEL ALTHAUS

Weil ich mich einer höherenMacht verdanke. Ich habe meinLeben nicht selbst in der Hand.Als ich auf die Welt kam, da hatteschon jemand einen ganzen Gartenvon Talenten in mir angelegt, etwameine Liebe für das Musik machenoder meine Begabung fürFremdsprachen. Ich komme nicht ausdem Nichts. Ich glaube: JedemMenschen hat Gott besondereFähigkeiten geschenkt, die er nach

Warum bin ich Christ?Möglichkeit pflegen sollte. Er

hat Vertrauen in mich,dass ich etwas Gutesdaraus mache. Mit dieser

Aufgabe lässt er mich nichtallein: Es gibt immer wieder

Ereignisse und Begegnungen, die mirgeschenkt werden und die mich auf dierichtige Bahn lenken. In meinenAugen ist es kein Zufall, sondern dasWirken Gottes, wenn ich einem gutenFreund begegne oder einenhilfsbereiten Menschen treffe. SolcheEreignisse geben mir das Gefühl von

Geborgenheit, auch wenn mal nichtalles glatt läuft im Leben. Alle großenReligionen kennen diese Lehre, dass eseinen Schöpfer gibt, der jeden von unsgemacht hat. Deshalb ist es erstmalgar nicht entscheidend, ob ich Hindu,Moslem, Bahá’í oder Christ bin, undschon gar nicht, ob ich evangelisch,katholisch oder orthodox bin.Entscheidend ist, sich sicher zu sein:Da ist etwas vorbereitet für mich, dases zu entdecken gilt. Das zu glauben,ist aus meiner Sicht absolutvernünftig.

Wie glaubt der Norden?Mit dieser Frage und offenenAugen sind die Mitarbeiter die-ses Magazins in den letzten Wo-chen durch Schleswig-Holsteingetourt. Antworten fanden siebei Buddhisten und Schama-nen, bei Christen und Esoteri-kern, bei Moslems und Bahá’í.Ihre Geschichten sind in diesemHeft nachzulesen, in dem spiri-tuelle Menschen und ihre Be-weggründe im Mittelpunkt ste-hen.

Die Ausgabe kam nur zu-stande, weil im Vorfeld knapp80 Unterstützer die Druckkos-ten aufgebracht haben. „Crowd-funding“ heißt dieses alternati-ve Finanzierungsmodell. Mehrdazu und die Namen der Unter-stützer gibt es auf Seite 35.

Hauptverantwortlich für Fi-nanzierungsphase und Redakti-on waren zwei Volontäre desSchleswig-Holsteinischen Zei-tungsverlags: Anabela Brandao(26) ist studierte Ethnologin,Michael Althaus (26) katholi-scher Diplom-Theologe. Beidesind zur Zeit in der Lokalredak-tion in Itzehoe eingesetzt. Mitkurzen Statements zur ihrer ei-genen Weltanschauung stellensie sich auf dieser Seite vor. ●

Elmshorn Er ist sicher nicht nur derlängste sondern auch der bunteste Hals-schmuck im Norden: Der interreligiöseSchal aus Elmshorn. Das Projekt wurdevon der Diakonie Rantzau-Münsterdorfins Leben gerufen und begann als Zei-chen gegen gesellschaftliche Kälte. Mitt-lerweile ist der Schal zum Verständi-gungssymbol der Religionen geworden.

Mehr als vier Gemeinden, darunterdie islamische, die jüdische, evangeli-sche und die katholische, haben seit Ok-tober vergangenen Jahres an dem gutenStück mitgestrickt und ihn nach ihrenganz eigenen Wünschen und Vorstellun-

gen gestaltet. Das Ergebnis ist eine kun-terbunte Mischung aus Mustern undFarben gepaart mit religiösen Symbolenwie Davidstern, Kreuz oder Halbmond.Jetzt wechselte der Schal erneut den Be-sitzer. Stellvertretend für die evange-lisch-freikirchliche Gemeinde Elmshorn(Baptisten) nahm Catana Dargel-Jer-mies (Foto, Mitte) ihn von der katholi-schen St. Marien-Gemeinde im Diako-nie-Café in Elmshorn entgegen. Was ge-nau danach mit den Schal passieren soll,wissen die Initiatoren noch nicht. Nureines ist sicher: Das Ende soll offen blei-ben. ●

Über diesesMagazin

Ein Schal für alle FälleZUM TITELBILD

STANDPUNKT

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WIE GLAUBT DER NORDEN? 3

Buddhismus auf Bio:Auf seinem Hof pflanzt Gerd Boll nicht nur Gurken undTomaten, sondern widmet sich auch Buddhas Lehren.

Seite 18Chillen in der Stadt:In der Kirche der Stille in Altona können sichgestresste Großstädter eine Auszeit nehmen. Seite 21

Ein Gott für alle:Die Bahá’í glauben daran, dass Jesus, Mohammed undKrishna denselben Gott offenbaren. Seite 22

Glosse:Er ist klein, schwimmt und klebtauf vielen Heckklappen. Doch wasbedeutet der bunte Fisch?

Seite 23

Judentum:Die Synagoge von Viktoria Budnikov ist offen für alle.Regelmäßig finden dort Tage der Begegnung statt.

Seite 24

Interview:Glaube ist im Kommen, ist sich Prof. Dr. Uta Pohl-Patalongsicher. Die Theologin spricht über Open Air-Gottesdienste,Wiedergeburt und Esoterik. Seite 25

Spiritismus:Vor 23 Jahren gründete die Brasilianerin MarileyLopes Stoll die Spiritischtische Studiengruppe„Schwester Sheilla“. Seite 26

Karma-Arbeit:Hexe, Mönch oder Adelsfrau – Christiane Feuerstackhilft Menschen, mehr über ihr früheres Leben zu erfahren.

Seite 27

Das Muslimische Ich:Als 13-Jährige befasste sich Rabia Atasoy intensiv mitihrem Glauben. Seitdem dreht sich das Leben derjungen Muslimin um den Koran. Seite 28

Hochzeitsfeier im Doppelpack:Mohamad Ahmad und Laila Burgschat feiern gleichzweimal ihre Vermählung – einmal auf deutschund einmal auf arabisch. Seite 30

Interview:Pastor Friedemann Magaard erklärt, warum beiihm Moslems, Juden und Christenin einem Zelt sitzen. Seite 31

Meditation:Durch Sitzmeditation versuchendie Mönche im Zen-Kloster Schönböken ihreinnere Mitte zu finden. Seite 32

Schamanismus:Ghelia Bohnhof spricht mit Geistern.Hokuspokus oder wirksame Therapie? –Ein Selbstversuch. Seite 34

Unterstützer und Impressum: Seite 35

Nordische Götterreligion:Wie Schamane Thorsten Dechow

den Donnergott Thor anruft.. Seite 4

Atheisten:An Gott glaubt Tanja Großmann nicht.Sie gründete eine atheistische Gruppe.

Seite 6

Glaubensbefreit:Thomas Staudt hat seinen eigenen Glauben

gefunden. Eine Kirche oder eineOrganisation braucht er dazu nicht.

Seite 7

Nachwuchs-Priester:Heiko Kiehn will katholischer Priester werden.

Für ihn bedeutet Zölibat ein Stück Freiheit.Seite 8

Vikarin:Eigentlich wollte Geske Weber Kinder unterrichten.

Doch dann entschied sich die Insulanerindafür, Pastorin zu werden.

Seite 9

Islamische Hochschulgemeinde:An der Kieler Uni kämpfen junge

Muslime gegen Islamfeindlichkeit.Seite 10

Zeugen Jehovas:Wolfgang Czajka über sein Leben mit

der „richtigen“ Religion.Seite 12

Ausgestiegen:Susanne Olsen hat den Zeugen Jehovas

den Rücken gekehrt – zumindest innerlich.Seite 13

48 Stunden Stille:Im Benediktiner-Kloster Nüttschau hat unsere

Autorin Johanna Tyrell zwei Tage lang geschwiegen.Seite 14

Neuapostole:Seine Verlobte hielt ihn erst für einen

Dealer – doch Tobias Nissengeht stattdessen in die Kirche.

Seite 16

Inhalt

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Neumünster Thorsten Dechow steht imGarten seines Hauses und bereitet die Ze-remonie vor. Er steckt neun Fackeln inden Rasen, acht im Kreis, eine in die Mitte.Auf seinem Kopf sitzt ein Dachs. „Das istGrimmbart“, stellt er die Fellkappe mitden gelben Knopfaugen vor, „der passtauf, das hier alles richtig läuft.“ In der Mit-te des Kreises steht eine Feuerschale, da-vor ein großer Holzklotz, auf dem ein Seilliegt. „Das ist die Energieleitung, die wer-den wir gleich durchtrennen“, erklärt er.In dem Kreis aus Fackeln soll gleich eineenergetische Trennungszeremonie statt-finden. Dabei wird die Verbindung zwi-schen Personen oder schlechten Erinne-rungen symbolisch gekappt. „Es hilft ei-nem, sich davon besser lösen zu können,zum Beispiel von einschneidenden Erleb-nissen aus der Vergangenheit“, erklärtDechow, der von allen nur „Thoddy“ ge-nannt wird.

Der 54-Jährige ist Schamane. Obwohler sich selbst nicht so nennen würde. „Icharbeite schamanisch, aber mich selbst sozu bezeichnen, wäre irgendwie anma-ßend.“ Mit den gängigen Klischees hatder drahtige Mittfünziger mit den langengrauen Haaren nämlich nichts zu tun.Kein monotoner Singsang, keine Extase,keine Drogen. Stattdessen bietet er ritu-elle Reinigungen an, hält zeremonielleVertragsschließungen ab oder traut Paarenach altem nordischem Brauch. Auch dasAusräuchern von Wohnungen, um den al-ten Muff des Expartners zu vertreiben,

hat er im Programm. Dabei fungiert er alseine Art Mittler zwischen Erde und Göt-terwelt. Nur eines sucht man bei ihm ver-geblich. „Wer eine Show will, muss sich ei-nen Gaukler holen. Aus Spaß rufe ich mei-ne Götter nicht an.“

Denn bei dem Neumünsteraner drehtsich alles um Thor – den Gott des Don-ners. 24 dieser germanischen Gottheitengibt es im Ásatrú – einer Glaubensrich-tung, die sich auf das germanische Neu-heidentum zurückführt. Obwohl die nor-dische Götterreligion polytheistisch ist,

folgen ihre Anhänger jeweils nur einerGottheit. Ob das nun Odin, der Götterva-ter, oder eher Freya, die Göttin der Liebe,ist, entscheiden die Anhänger individuell.„Jeder muss seinen eigenen Gott finden“,so Dechow. Warum er sich für Thor ent-schieden hat? „Das ist doch einfach – daskommt durch meinen Namen“, erklärt erund grinst verschmitzt. Denn der bedeuteübersetzt „Thors Stein“. Schon als kleinerJunge wollte er mehr über die Herkunftseines Namens wissen und stieß dabei aufÁsatrú. Seitdem hat ihn der Glaube an die

nordische Mythologie und die Götterweltdes Heidentums nicht mehr losgelassen.

Einer der wichtigsten Grundsätze desÁsatrú ist der respektvolle Umgang mitder Natur. „Wir gehen davon aus, dass al-les eine Seele hat – Menschen, Tiere undPflanzen“, erklärt Deckow. Jeder Menschbestimme sein Leben deshalb selbst,durch seine Taten. Bevor er zum Beispieleinen Ast absägt, bittet er deshalb erst denBaum um Erlaubnis. Als Vorlage dienendie zwei Bücher der Edda, eine Sammlungskandinavischer Götter- und Heldensa-gen aus dem 13. Jahrhundert. Doch dieSchriften sind meine Dogmen-Samm-lung. „Wir arbeiten hier viel mit Bildern“,erklärt Dechow. Die Geschichten sindeher Anregungen zum Nachdenken, übersich, die Natur, die Welt.

Ein Wunderheiler, wie Schamane in vie-len Naturreligionen bezeichnet werden,ist der 54-Jährige nicht. Trotzdem ver-sucht er die heilenden Kräfte der Natur zunutzen und weiterzugeben, zum Beispielin Form von Edelsteinen und Amuletten.Außerdem beherrscht er Reiki, Heilendurch Handauflegen. Doch auch der Geistspielt dabei eine wichtige Rolle. Als er sichvor einigen Jahren eine schlimme Sepsiseingefangen hatte, nutzte er seine Vorstel-lungkraft. „Ich habe in Gedanken eineHorde Wikinger durch meinen Körper ge-jagt, die alles platt gemacht hat“, erinnerter sich. Nach ein paar Tagen ging es ihmbesser.

Schon drei solcher Nahtoderlebnisse

Direkter Draht nach oben: ThorstenDechow erklärt, dass er bei seinenZeremonien die Götter um Hilfe bittet.

FOTOS: MICHAEL STAUDT

Auf den Spurendes Donnergotts

Als Schamane führt Thorsten DechowZeremonien nach altem heidnischem Brauch

durch. Der Neumünsteraner gehört einerNordischen Götterreligion – dem

„Ásatrú“ an. Wir durften ihn bei einerTrennungszeremonie begleiten.

VON ANABELA BRANDAO

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GERMANISCHESNEUHEIDENTUM

ÁSATRÚ

Das Ásatrú ist eine von vielen unter-schiedlichen Strömungen des germa-nischen Neuheidentums. Ásatrú-Ge-meinschaften streben danach, die reli-giösen Vorstellungen der vorchristli-chen Germanen wiederzubeleben undals moderne Religion in der heutigenZeit zu etablieren. Im Vordergrundsteht das Leben mit den Göttern. Weilim Dritten Reich viele Nationalsozialis-ten die alten Symbole – bestes Bei-spiel istdasHakenkreuz– für ihreZwe-cke nutzten, wird Ásatrú heute oft mitrechtsradikalen Tendenzen in Verbin-dung gebracht, von denen sich Anhän-ger vehement distanzieren. In Skandi-navien ist Ásatrú als offizielle Religionanerkannt, in Island besteht sie seit1973 sogar gleichberechtigt nebendem Christentum.

hat er hinter sich, vom Autounfall bis zurKrankheit. An so etwas wie Schicksalglaubt er nicht. Dass er jedes Mal mit ei-nem blauen Auge davon gekommen ist, istfür ihn ein Zeichen seines Glaubens. Dennmindestens dreimal sollte man dem Todins Auge geblickt haben, das ist Vorausset-zung für die Ausbildung zum Schamanen.

Auch auf den normalen Alltag wirktsich sein Glaube aus. „Man wird aufmerk-samer und auch achtsamer im Umgangmit Menschen“, sagt er. Außerdem lerneman die Dinge mehr zu schätzen undnicht nur zu konsumieren. „Vor jeder Fla-sche Wein und jeder Kanne Tee halte icheinen Moment inne und erzähle ihr, wasich von ihr will.“ Dass das für Außenste-hende oft befremdlich wirken mag, störtihn schon lange nicht mehr. Nur die Vor-

urteile gegenüber seiner Religion ärgernihn. „Wir werden häufig in die rechte Eckegedrückt, weil die Nazis damals viele alteSymbole wie Runen und das Sonnenradbenutzt haben.“ Auch von Passanten seier deshalb schon beschimpft worden.„Viele von uns gehen deshalb gar nichtmehr an die Öffentlichkeit.“

In seinem Fackelkreis versucht er der-weil das Feuer in der Schale anzuzünden.Mit einem Feuerstahl, versteht sich. So-fort sprühen ein paar Funken, doch daskleine Zunderbüschel will einfach nichtbrennen. Zu viel Wind. „Kannst du bittemal aufhören zu pusten“, ruft er laut undguckt dabei nach oben. Und siehe da – ei-ne Viertelstunde und ein paar Stücke Bir-kenrinde später hat Thor ein Einsehen.Der Wind lässt nach, das Feuer brennt. Anjeder Fackel bleibt er stehen, breitet die

Arme aus und murmelt ein paar Worte aufaltnordisch. „Damit bitte ich die Götterum Hilfe“, erklärt er.

Um die energetische Verbindung zuaktivieren, folgt eine Phase der Fokussie-rung. Die kann wenige Minuten oder auchmehrere Stunden dauern. „Je nachdem,wie schnell sich der Betroffene auf das Er-eignis oder die Person konzentrierenkann.“ Steht die Verbindung, merke mandas sofort. „Das ist ein Gefühl, das in derMagengegend sitzt“, beschreibt er. Da-nach zerschlägt er das Seil mit einer Axt,die Energierohre sind gekappt. „Das ist

wie eine große Wurzel aus schlechten Er-innerungen, die wir jetzt durchgeschnit-ten haben.“ Doch gelöst seien die Proble-me damit noch lange nicht. „Die Wurzelversucht immer wieder zu wachsen undentwickelt neue Triebe. Die muss mandann mit einem Messer abschneiden, so-lange sie noch klein sind.“ Symbolisch na-türlich.

Seine Ausrüstung stellt Thorsten De-chow selbst her. Amulette, Messer, Ta-schen, Gürtel, Trinkhörner – die meistenseiner Stücke verkauft er auf Mittelalter-märkten. Auch die verzierte Zeremonien-Axt mit dem Griff aus Rochenleder isthandgemacht. Mehrere Wochen Arbeitstecken in so einem Stück. Doch der Auf-wand lohnt sich. „So kann ich meine gan-ze Energie reinstecken“, sagt er, „undmuss die Sachen nicht erst neu aufladen.“Das erhöht die Erfolgsquote.

Anders als in Skandinavien ist dasÁsatrú in Deutschland keine eingetrage-ne Glaubensgemeinschaft. „Wir sind ei-ne nicht-organisierte Religion“, erzähltDechow, und das sei auch gut so. „Bei unsüberwiegt der Freiheitsgedanke und or-ganisieren heißt immer auch unterord-nen.“ Eine genau Zahl über die Anhängergibt es deshalb nicht. Trotzdem schei-nen sich Thoddys Künste herumgespro-chen zu haben. Für eine Folge der ZDF-Sendung „Terra X – Tatort Eulau“ sollteer einen Schamanen spielen. Gar nichtso einfach, denn die Geschichte um dierätselhaften Skelettfunde versetzte den54-Jährigen einige hundert Jahre zurück.

„Da musste ich erstmal gucken, wie diedas in der Steinzeit alles gemacht ha-ben“, erinnert er sich.

Vom Christentum hat sich der Neu-münsteraner schon früh abgewendet.„Ich bin zwar evangelisch getauft, abernicht konfirmiert“, sagt er. Nach demAbitur fing er zunächst ein Studium an:Soziologie und Psychologie. Doch daswar nichts für ihn, „zu viel Theorie“.Stattdessen wollte er etwas Handwerkli-ches machen und entschied sich für eineSchlosserlehre. Nachdem sein Rücken je-doch vor ein paar Jahren nicht mehr mit-machte, musste er sich neu orientieren.„Da dachte ich mir, warum soll ich mit et-was Geld verdienen, was ich die ganzenJahre über sowieso schon gemacht habe?“Seitdem ist er als freischaffender Künst-ler gemeldet und bietet Schmuck, Waffenund Zeremonien im Internet oder aufMärkten an.

Doch auf die hat der Schamane eigent-lich keine Lust mehr, er will in SachenMittelalterspektakel etwas kürzer treten.„Die Leute sind nicht mehr bereit, meineArbeit zu wertschätzen und wollen nichtsmehr dafür bezahlen“, sagt er. Was ihnnoch mehr ärgert: „Die Besucher gehenteilweise ohne zu fragen an unsere Sa-chen.“ Letztes Mal sei jemand einfach insein Zelt gegangen und habe sich ‚Grimm-bart‘ auf den Kopf gessetzt. Da hört derSpaß auf. „Das finde ich einfach frech“, är-gert er sich. Weil sich ein Großteil der Sze-ne in Skandiavien befindet, sind die Rei-sen zu den Treffen oft lang, besonderswenn man die schwere Ausrüstung inklu-sive Zelt transportieren muss. Deshalbbastelt er gerade an seinem grünen Land-rover herum, der muss vor der nächstenMittelalter-Tour wieder flott gemachtwerden. Und auch Dachs „Grimmbart“soll sich demnächst von seiner schönstenSeite zeigen. „Er bekommt bald noch Zäh-ne.“ ●

„Jeder muss seineneigenen Gott finden.“

Thorsten DechowSchamane

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Das Feuer dientnicht nur als Koch-stelle, sondern hatauch symbolischeBedeutung.

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KielEine große weiße Ballonlampe, wie siein den 70er Jahren modern war, hängt ander Decke. „Peace“ verkündet die etwasausgeblichene Regenbogenfahne, die vomRegal herunterhängt. Die Wand danebenist voll mit Plakaten von Friedensdemosund Ostermärschen. Und dann sind danoch einige selbstgebastelte Laternen ausPappmaché verziert mit dem gelb-schwar-zen Warnzeichen für Radioaktivität. Auseiner dieser Laternen wurde mit zwei Lat-ten eine Stehlampe gebastelt, die in derEcke steht. Tanja Großmann nimmt auf ei-nem abgenutzten Sessel daneben Platz.

Die 36-Jährige will nicht so recht in dasHippie-Ambiente passen mit ihren glattenbraunen Haaren. Sie trägt eine Jeans undeine Fleece-Jacke. Nur zwei winzige An-hänger an ihrem Halstuch deuten an, dasssie irgendwie doch hierher gehört: Sie zei-gen das Peace-Symbol, den Kreis mit dendrei Strichen darin. Warum sie herkommt?Tanja Großmann ist bekennende Atheis-tin, hier trifft sie auf Gleichgesinnte. Mark-Stephan (42), Frank (50) und Gerd (68)sind schon da. Und kurze Zeit späterkommt auch Gottfried (56) – ein drahtigerTyp mit krausem Haar und Brille – mit ei-ner Kanne Tee herein.

Zwei Mal im Monat trifft sich die Grup-

pe, die Tanja Großmann im Jahr 2002 insLeben rief. „Wir reden über Gott und dieWelt“, sagt sie und muss lachen ob desWortspiels. Doch sie meint es ernst: „Na-türlich ist Gott ein Thema für uns.“ Beimvergangenen Treffen las die Gruppe ge-meinsam einen Artikel über den PharaoEchnaton, der schon im alten Ägypten ei-nen Ein-Gott-Glauben eingeführt habensoll. Heute stehen aktuelle Themen aufdem Programm: Frank berichtet vomDeutschen Humanistentag. „Weißt du wasdas ist?“, fragt er, und die Erklärung folgt:Es handelt sich um eine Parallelveranstal-tung zum evangelischen Kirchentag inHamburg, organisiert von atheistischenDenkern. Der Austausch sei ihr wichtig, er-klärt Tanja Großmann, die in ihrer Freizeitgerne liest – auch mal Originale vonCharles Darwin oder Rudolf Steiner. Beiden Treffen kann sie das Gelesene danneinbringen: „In der Gruppe sind wir alleauf einer Wellenlänge.“

Nicht immer bewegte sich die gelernteArzthelferin unter Gleichgesinnten. In ih-rer Ausbildung in einem katholischenKrankenhaus musste sie klein beigebenund konnte nicht offen zu ihrer Weltan-schauung stehen: „Da musste ich mich be-deckt halten.“

Bis zum Ende ihrer Ausbildung im Jahr2000 war sie Mitglied der katholischen Kir-che. Ihre Eltern – selbst nicht besondersreligiös – hatten sie taufen lassen. Im ka-tholischen Emsland, wo sie aufwuchs, wardas so üblich. Doch schon im Kommuni-onunterricht begann Großmann „blödeFragen“ zu stellen. „Das klang für mich al-les wie Grimm’s Märchen.“ Obwohl sie dasSchulfach Religion später abwählte, zwan-gen sie die Lehrer – mangels Alternative –trotzdem teilzunehmen. „Da habe ich an-gefangen, diesen Hass zu kriegen“, sagt sieheute. „Es ist unglaublich, wie groß derDruck im Alltag ist, wenn man nicht einerbestimmten Religion angehört.“

Deshalb ist sie strikter Gegner von Reli-gionsunterricht an staatlichen Schulen,Kirchensteuer und staatlichem Sponso-ring kirchlicher Einrichtungen. Auch daskirchliche Arbeitsrecht kritisiert sie, mitdem sie während ihrer Ausbildung in Be-rührung kam. Das katholische Kranken-haus sei die einzige Möglichkeit für sie ge-wesen, einen Ausbildungsplatz zu bekom-men. Deshalb habe sie dort angefangen.

Als sie fertig war, machte sie einen radi-kalen Schnitt in ihrem Leben, trat aus derKirche aus und suchte nach Möglichkeitenaktiv zu werden. Über eine Freundin kam

sie zum IBKA, dem Internationalen Bundder Konfessionslosen und Atheisten, undwurde Mitglied. Als sie nach Kiel zog, wosie in einer Arztpraxis Arbeit fand, standsie aber erstmal wieder allein auf weiterFlur. Sie beschloss, eine Gruppe vor Ort zugründen. Schnell fand sie einige Mitstrei-ter – meist Aktive aus der Friedensbewe-gung oder von den Freidenkern.

Beim heutigen Treffen sitzen ein Lehrerfür Mathe und Physik, ein Krankengym-nast, ein Schriftsetzer und ein Erwerbslo-ser, der sich selbst als „Hobby-Philosoph“bezeichnet, in der Runde. Mit 36 Jahren istTanja Großmann die jüngste Teilnehme-rin, Dieter ist mit 75 Jahren der älteste.Aufklärung ist ihr wichtigstes Ziel, um denGlauben zu überwinden und eine friedli-che Gesellschaft zu schaffen.

Ist der Atheismus nicht auch eine ArtGlaube? Der Glaube, dass es keinen Gottgibt? Tanja Großmann ist sich unschlüssig:„Natürlich kann ich auch irren“, sagt sie.Aber sie gründe ihr Weltbild auf beweisba-re Fakten. Und da komme Gott nun malnicht vor. Wer also an eine höhere Machtglaube, müsse Argumente bringen: „Werbehauptet, dass es unsichtbare lila Einhör-ner gibt, der ist ja auch in der Beweis-pflicht.“ ●

Von Gott undlila Einhörnern

Die Kielerin Tanja Großmann glaubt nicht an eine überirdische Macht.Zum Austausch mit Gleichgesinnten gründete sie eine atheistische Gruppe.

Die Teilnehmer debattieren über „Gott und die Welt“.

VON MICHAEL ALTHAUS

Die Gruppe der Atheisten trifft sich zweimalim Monat. Von links: Gottfried, Mark-Stephan, Tanja, Dieter und Gerd. ALTHAUS

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Flensburg Früher hätte sichThomas Staudt Tage vor dem In-terview-Termin verrückt ge-macht, stundenlang vor demSpiegel gestanden. Was zieh ichan? Was sage ich? Früher warThomas Staudt „unerträglich“,„ein Revoluzzer“, „linksext-rem“. Er haderte mit den Miss-ständen in der Welt, den kapita-listischen Strukturen. Und erhatte klare Feindbilder. Glaubeund Religion spielten keine Rolle– bis er in eine tiefe Sinnkrise ge-riet.

Heute sitzt ein veränderterMensch in dem kleinen Restau-rant am Flensburger Hafen. Der44-Jährige strahlt innere Ruheaus, Gelassenheit und Selbstbe-wusstsein. „Ich kann mich sor-gen und Ängste haben, oder ichlass es einfach und lebe imJetzt“, sagt er, schaut aus demFenster und trinkt einen SchluckKamillentee. „Ich muss Situatio-nen nicht mehr beherrschen.“Thomas Staudt hat seinen Glau-ben gefunden oder besser: SeinGlaube hat ihn gefunden, er gibtihm Kraft und inneren Frieden.„Einen fundamentalen Chris-ten“, nennt er sich selbst. Einen„tief gläubigen Glaubensbefrei-ten“ ohne Kirche, ohne Organi-sation. Der Weg dahin war langund alles andere als geradlinig.

Vor sieben Jahren nahm dasEnde seiner spirituellen Sucheseinen Anfang: Thomas Staudtschlug das Buch „Göttliche Hei-lung von Seele und Geist“ vonMurdo MacDonald-Bayne auf:14 Reden aus dem Jahr 1948, indenen Jesus durch den schotti-schen Heiler sprach. Zutiefst be-rührt suchte Staudt nach Augen-zeugen und Informationen überden Mann, der 1936 einer inne-ren Stimme folgend nach Tibetgereist war und seinen Geistdort so trainierte, dass er heilenkonnte. In jahrelanger Arbeitübersetzte Staudt schließlichzwei seiner Bücher ins Deutsche– „Jenseits des Himalaya“ und„Das Yoga des Christus“.

Er holt eines der Bücher ausseinem Rucksack, blättert. Liest:„Wir wissen nicht, was es ist,aber, dass es ist.“ Für den gebür-tigen Kallebyer eine der wich-tigsten Erkenntnisse seines Le-bens. Das Wort „Gott“ hält er fürnegativ belastet. Auch ein Glau-bensbekenntnis braucht ernicht. Thomas Staudt lebt diezentralen Grundsätze der Mac-Donald-Baynesche Lehre: Liebedeinen Nächsten wie dich selbst!– Ich und der Vater sind eins! –Lebe im Jetzt! „Die Bücher ha-

ben alles beantwortet, von demich nicht wusste, dass ich Angsthatte, es zu glauben.“

Angst und Frustration – langebestimmten sie den Alltag desderzeit bei einer Zeitarbeitsfir-ma angestellten Fahrers. Von ei-ner inneren Erleuchtung war ervor zwölf Jahren wohl soweitentfernt, wie man es nur seinkann. Schon als Jugendlicherentwickelte Staudt ein links-extremes, kommunistischesWeltbild. In der Schule und beimKonfirmandenunterricht fiel erauf – nicht nur wegen der hoch-frisierten Haare.

Die politische Einstellungverfestigte sich und mit ihr dieUnzufriedenheit. „Wenn manganz links ist, fühlt man sich imAlltag zwangsläufig betrogen.Die Welt ist schlecht“, erklärtStaudt. Er war streitsüchtig, ziel-los, begann mehrere Studien-gänge, beendete keinen. Mit ver-schiedenen Jobs hielt er sichüber Wasser. Die Folge war einetiefe Lebenskrise, die in der

Trennung von seiner langjähri-gen Freundin gipfelte.

Thomas Staudt war Mitte 30und auf der Suche. In einer Zeit,in der Nachrichten über islamis-tischen Terror das weltpoliti-sche Geschehen prägten, be-gann er sich mit dem Koran zubeschäftigen. Und was darinstand, war für ihn wie eine Of-fenbarung. Schwer zu beschrei-ben sei das, aber „ich las die ers-ten drei Seiten und wusste, dasses Gott gibt“, erzählt er. Er lerntesogar arabisch. Und dennoch:Seine spirituelle Reise hatte ge-rade erst begonnen.

Es folgten ein Studium derevangelischen Theologie underste Erfahrungen mit Spiritis-ten wie Eckhart Tolle, ehe seineMutter ihm im Alter von 37 Jah-ren das Werk von Murdo Mac-Donald-Bayne in die Handdrückte. „Ich glaube jetzt ist dasetwas für dich“, erinnert sichStaudt an ihre Worte. All die Jah-re hatte es im Bücherregal des el-terlichen Wohnzimmers gestan-

den. „Murdo entschlüsselte dieverschleierte Bildsprache vonBibel und Koran, und erreichtemich tief in meinem Inneren.“Kirche dagegen verwässere dieLehre des Christentums, sie in-terpretiert und stellt Richtlinienauf, wo jeder seinen eigenenGlauben finden müsse.

Thomas Staudt lehnt Kirchenicht ab, aber er braucht sienicht. Seine Kirche ist da, wo ersich gerade befindet. „Ich versu-che meinen ganzen Tag zu ei-nem Gebet zu machen, in demich mir Situationen und Gedan-ken bewusst werde, nicht übersie urteile und darin das Lebenerkenne.“ Das gehe nicht nursonntags um zehn, sondern inden banalsten Momenten. „ImStau, im Supermarkt, beim Ko-chen. Es geht darum, jeden Mo-ment anzunehmen, denn es gibtnur das Jetzt.“ Mehrmals am Tagmeditiert Staudt in Stille.

Das Leben sei kein Tausch-handel. Davon ist der 44-Jährigeüberzeugt. Auch wenn er an ein

Leben nach dem Tod glaubt: „Er-lösung kann es nur im Jetzt ge-ben.“ Im Jetzt zu leben, sei je-doch das Schwierigste über-haupt. Nicht immer gelingt esihm. Dann regt er sich auch malüber Autofahrer auf, die mit 70km/h über die Landstraße rollen.„Aber ich verzeihe mir, dennwenn man erkennt, dass man ge-rade nicht im Jetzt ist, ist manschon sehr weit.“

Streit, Ängste, Selbstzweifel –all das hat Thomas Staudt weit-gehend aus seinem Alltag ver-bannt. Seine Übersetzungen hater mittlerweile 60 Mal gelesenund überarbeitet. 2011 gründeteer seinen eigenen Verlag. Bekeh-ren möchte er mit seinen Bü-chern niemanden. Jeder soll sei-nen eigenen Weg finden, betonter. Ganz im Sinne von MurdoMacDonald-Bayne, der schreibt:„Ich möchte nicht, dass sie ak-zeptieren, was ich sage, denn eskönnte womöglich ein neuerGlaube werden, probieren Sie esaus.“ ●

Ängste und Selbstzweifel hater überwunden – dank seinesGlaubens: Thomas Staudt.

GlaubensbefreitThomas Staudt liebäugelte mit dem Kommunismus und dem Islam,

mit der evangelischen Theologie und dem Spiritismus. Heute hat er seineeigene Spiritualität gefunden – ohne Kirche, ohne Organisation.

VON DANA RUHNKE

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8 WIE GLAUBT DER NORDEN?

Kiel / Lauenburg „Komm rein inmeine Bude. Es ist gerad’ einbisschen unaufgeräumt, ichkomm direkt vom Kirchentag.Aber hier in der Küche geht’s“,plaudert Heiko Kiehn währender durch seine Wohnung flitzt.„Möchtest du vielleicht einBierchen?“, fügt er hinzu undlacht – es ist 11 Uhr. Das sindwohl die letzten Worte, die manvon einem angehenden Priestererwartet. Mit seiner lockerenArt räumt der 32-Jährige vonAnfang an mit den Vorurteilenauf, dass ein katholischer Pries-ter und dessen Leben strengund fad sein müssen. Der gebür-tige Lauenburger ist in der Aus-bildung zum katholischenPriester und wurde im März in

Hamburg zum Diakon geweiht.Seitdem lebt und praktiziert erin der St. Heinrich-Kirche inKiel, bis er in rund einem Jahrzum Priester geweiht wird.

Kein alltäglicher Job in derheutigen Zeit. Doch schon alsdie Spielkameraden in seinerKindheit Feuerwehrmann oderAstronaut werden wollten,dachte er darüber nach. „Ich binvon Kindesbeinen an mit Religi-on in Berührung gekommen. Inmeiner Familie spielte derGlaube eine große Rolle. BeiTisch wurde gebetet und sonn-tags sind wir in die Kirche ge-gangen“, erinnert sich Kiehn.

Eigentlich begann seine Kar-riere schon, als er mit neun Jah-ren Messdiener wurde – unge-wollt. Er musste erst überredetwerden, merkte dann aberschnell, dass es ihm Spaß mach-te. Vorher hatte er nur in derKirche gesessen, jetzt konnte ersehen, was hinter den Kulissenpassiert. Hier sah er zum erstenMal den Priester als ganz nor-malen Menschen in Jeans. Einprägender Moment: „Ich dach-te mir, wenn der das kann, wennder so normal ist, dann kann ichdas auch.“

Nach den Anfängen als Mess-diener kam die Jugendarbeit.„Die Gemeinde war Heimat fürmich. Ich hatte dort vieleFreunde“, erzählt der Diakon.Trotz allem hatte er zwischen-durch andere Berufswünsche,wollte Zahnarzt werden undwar dem Lehrerberuf nicht ab-

geneigt. Doch nach dem Abientschied er sich für das Pries-teramt, studierte Theologie inFrankfurt am Main.

Der überzeugte Christ zogins Priesterseminar, eine ArtWohnheim für Männer, die sichauf das geistliche Amt vorberei-ten. Hier werden sie neben dem

Studium von Geistlichen ausge-bildet. Täglich kamen die Män-ner zum Gottesdienst zusam-men und trafen sich in kleinenGebetsgruppen. Jede Wochegab es einen stillen Tag oderAbend, an dem gebetet wurde.Als streng empfand Kiehn dasLeben dort jedoch nicht: „Wir

führten kein Leben verschwie-gen hinter Mauern. Ein Pries-terseminar ist kein Kloster. Wirhatten Internet auf dem Zim-mer – unzensiert, Telefon, ha-ben zusammen gekocht, es wur-de gefeiert und wir hatten sogareine hauseigene Bar.“

Doch nach drei Jahren fragte

er sich, ob es der richtige Wegist. Mit den anderen Berufs-wünschen im Hinterkopf trat erwieder aus dem Priestersemi-nar aus und begann ein Lehr-amtsstudium in München.Doch er stellte fest, dass derLehrerberuf nicht das war, waser wirklich wollte. Außerdemmachte er die Erfahrung: „Gottist treu, auch wenn ich selbernicht treu bin.“ Gott sei dage-wesen, auch wenn er nicht im-mer regelmäßig gebetet habe.Der erneute Eintritt ins Pries-terseminar war seine Art, aufdiese Treue zu antworten.

Über seinen Glauben sprichter gern. „Ich predige, was ichvon Gott verstanden habe undgebe es weiter.“ Mit der Weihe

zum Diakon ist er einen wichti-gen Schritt in diese Richtung ge-gangen, der aber auch Verzichtbedeutet. Denn damit hat ersich zum Zölibat verpflichtetund darf nicht heiraten. „Ich ha-be mich schon nach dem Abi fürein zölibatäres Leben entschie-den. Doch keine eigenen Kinderhaben zu können, ist ein richti-ger Verzicht.“ Auf der anderenSeite sieht er den Zölibat aberauch als eine gute Lebensformmit vielen Freiheiten. „Ich kanneinen Tag frei gestalten ohneRücksicht auf Partner oder Fa-milie.“ Eine Art Ausgleich bil-den Freundschaften: „Ich habeviele gute Freunde und Freun-dinnen, mit denen ich intensivsprechen und eine andere Artvon Beziehung führen kann.“

Kiehn wirkt rundum zufrie-den mit seinem Leben und derArbeit als Diakon. Er ist viel un-terwegs, macht Hausbesuchebei alten, einsamen und kran-ken Menschen, die nicht mehrzur Kirche kommen können, istin der Jugendarbeit und in denGottesdiensten tätig. „Mir ge-fällt an meiner Arbeit am meis-ten die Begegnung mit denMenschen.“

Noch während er plaudert,hüllt er sich Stück für Stück insein Gewand, um sich für denGottesdienst vorzubereiten. Indiesem Augenblick wird er fürAußenstehende zur Figur desPriesters, den er damals selbstals kleiner Junge beobachtetund bewundert hat. ●

„In meiner Familiespielte der Glaubeeine große Rolle.“

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„Ich predige, was ichvon Gott verstanden habe

und gebe es weiter.“

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Die St. Heinrich-Kirche in Kiel istderzeit die Arbeitsstätte des zu-künftigen Priesters Heiko Kiehn.

KRUG

Gemeinde ist HeimatHeiko Kiehn wird in einem Jahr zum katholischen

Priester geweiht. Von Kindesbeinen an hatte er diesenBerufswunsch. Er will weitergeben, was er vonGott verstanden hat. Sein Weg ist verbunden

mit Verzicht auf Familie und Kinder.VON INA KRUG

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WIE GLAUBT DER NORDEN? 9

Horst Fast ein bisschen stolzzeigt Geske Weber ein Schlüssel-bund, das sie seit kurzem bei sichträgt. Die Schlüssel daran öffnenunter anderem die Tür zur Kir-che in Horst. In der dortigen St.Jürgen-Gemeinde ist Geske We-ber Vikarin – der letzte Ausbil-dungsabschnitt auf ihrem Wegzur Pastorin. Zuvor hatte die aufder Insel Föhr geborene und auf-gewachsene 28-Jährige Theolo-gie in Kiel studiert.

Diese Ausbildung war alles an-dere als ein lang gehegter Plan:Nach dem Abitur wusste sie zu-nächst gar nicht, welchen Be-rufsweg sie einschlagen sollte.Lehrerin war in der engerenWahl. „Aber ich wollte michnicht auf bestimmte Fächer oderAltersstufen beschränken“, er-zählt sie. Den berühmten Schlüs-selmoment, in dem sie sich fürein Leben als Pastorin entschied,habe es bei ihr nicht gegeben.Zwar stamme sie aus einemchristlich geprägten Elternhaus,habe gebetet und sei immerschon in die Kirche gegangen(„Wir hatten einen ganz tollenPastor zu Hause!“). Auf den Pas-

torenberuf sei sie trotzdem eherzufällig, beim Blättern in Bü-chern voller Berufe gestoßen.„Irgendwann habe ich angefan-gen, mich näher damit zu be-schäftigen.“

Ihr gefiel, dass sie sich als Pas-torin sozial engagieren könneund mit unterschiedlichstenMenschen zu tun haben würde.„Der Beruf ist sehr vielfältig, esgeht um viel mehr als nur Gottes-dienste.“ Weitere Aspekte seienbeispielsweise die Seelsorgeoder auch die Arbeit mit Konfir-manden. Doch das Studium war„phasenweise anstrengend“, er-innert sie sich. „Aber wenn ichdann in der Kirche war, habe ichgemerkt, dass es genau das ist,was ich machen will.“

Sie spricht schnell, aber den-noch ruhig. Ihre Augen strahlen.Sie ist zufrieden mit ihrer Berufs-wahl, die ihr Leben umgekrem-pelt hat – gemeinsam mit ihremMann zog sie für das Vikariat vonKiel nach Horst. Die Auswahldieser Ausbildungsgemeindewurde bei einer Art „Speed-Da-ting“ getroffen: Pastoren aus 14Gemeinden trafen auf 14 ange-

hende Vikare. „Dann gab es Ein-zelgespräche, die jeweils achtMinuten dauerten. Mehr als einerster Eindruck war darum nichtmöglich.“ Doch mit dem im Hin-terkopf nahm sie einige Gemein-den in die engere Wahl. Dass siedie Zusage für die St. Jürgen Ge-meinde bekommen hat, freut siesehr. „Pastor Thomas steht hin-ter mir, das gibt mir eine großeSicherheit.“

Dennoch hat sie auch Angst, zumBeispiel vor ihrer ersten Beerdi-gung. Mut macht ihr die Gemein-de: „Die Menschen hier sind sehroffen und haben mich herzlichaufgenommen.“ Vorgestellt hatsie sich ihnen unter anderem inGottesdiensten, in denen sie be-reits erste Lesungen übernom-men hat. Einen eigenen Gottes-dienst hat sie bisher noch nichtgehalten, weiß aber, was ihrselbst wichtig ist: „Ich brauche

ein Orgelvorspiel, um anzukom-men und mich zu sammeln, undein Orgelnachspiel, um rausge-leitet zu werden.“ Außerdem seidie Predigt als Herzstück eines je-den Gottesdienstes von Bedeu-tung. Wie die aufgebaut ist, lerntsie in den Seminaren während ih-res Vikariats. Was sie darausmacht, liegt allein in ihren Hän-den. „Eine Predigt ist dann ambesten, wenn sie authentisch ist“,meint sie. Ihren eigenen Stil müs-se sie aber erst finden. „Ich möch-te, dass die Leute aus meiner Pre-digt etwas mitnehmen, einenDenkanstoß bekommen. Auchwenn ich weiß, dass ich nicht alleerreichen kann.“ Aber: Sie müssedarauf achten, langsam zu spre-chen und „nicht so zu rappeln“,weiß sie. Doch gerade im Vikariathabe sie die Chance, sich auszu-probieren und auch mal Fehler zumachen – darum genieße sie die28 Monate als Vikarin.

Besonders freue sie sich auf dieSeelsorge-Kurse. „Ich habe schoneine Seelsorge-Ausbildung imKrankenhaus gemacht“, erzähltsie. Gerade in den letzten Jahrenhabe sich diese Arbeit weiterent-

wickelt. „Statt ausschließlich Bi-bel-Versen gibt es starke Einflüs-se aus der Psychologie. Trotzdemist Gott immer mit dabei.“ Auchvor Gesprächen im Alltag scheutsie sich nicht: „Diese Gesprächezwischen Tür und Angel sindwahrscheinlich am spannends-ten, weil die Schwelle, mich dannanzusprechen, nicht so hoch ist.“

Und die Chance, die Vikarin imSupermarkt anzutreffen, istgroß. Denn nach Feierabend ent-spannt sie beim Kochen und Ba-cken. „Am liebsten, wenn ich vor-her in Ruhe Zutaten einkaufenund mir Zeit nehmen kann.“Wenn sie die nicht hat, liest sie ih-re Kochbücher auch gern einfachso. „Ich mag es, in den Rezeptenzu stöbern und zu lesen, wie dieGerichte zubereitet werden.“Lieblingslektüre? „Momentanthailändisch.“

Beruflich wirkt Geske Weber,als hätte sie mit ihrer Wahl genauihren Geschmack getroffen –auch wenn der Pastorenberuf aufPartys eher für „Fluchtreaktio-nen“ sorge. Doch das ist ihr egal.„Mein Vater fand sofort, dass espasst.“ ●

„Der Beruf ist sehr vielfältig,es geht um viel mehr

als nur Gottesdienste.“

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Kirche statt KlassenzimmerEigentlich wollte Geske Weber Lehrerin werden – doch

dann erschien ihr der Beruf der Pastorin abwechslungsreicher.Jetzt ist sie Vikarin in Horst (Kreis Steinburg).

VON LINDA KUPFER

Der Pastorenberuf ist nicht nur auf den Gottesdienst beschränkt, sondernschließt auch soziales Engagement mit ein, weiß Geske Weber. KUPFER

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10 WIE GLAUBT DER NORDEN?

Kiel Wenn Muhammed beten will, gehter in den Keller. Der 25-jährige Medizin-student ist fast den ganzen Tag in der Bi-bliothek, um an seiner Doktorarbeit zuschreiben. Es gibt nur wenige Pausen –zum Beispiel für seine Gebete. Muham-med ist Moslem. Doch an der UniversitätKiel gibt es für ihn keinen Rückzugsort.Deshalb geht er zum Beten ins Unterge-schoss. Unter der Treppe hat er einenkleinen Teppich ausgebreitet. Eine Appauf seinem Smartphone zeigt ihm, wo-hin er sich nach Mekka ausrichten muss.

Glaube macht auch vor der Uni nichtHalt. Seit 2009 gibt es in Kiel außer derEvangelischen und der Katholischenauch eine Islamische Hochschulgemein-de (IHg). Muhammed ist ihr Vorsitzen-der. Die IHg versteht sich als Stimme al-ler Muslime in Kiel und setzt sich für de-ren Bedürfnisse ein. Dazu gehört auch

ein Rückzugsort zum Gebet. Seit einemJahr bemüht sich Muhammed darum.„Wir wollen keine Moschee in der Unibauen“, klärt er auf. Er wünscht sich nureinen „Raum der Stille“, den er auch mitStudenten teilen würde, die Yoga ma-chen, um sich vom Unistress zu entspan-nen. Doch bisher blieb sein Einsatz ohneErfolg. Schuld sei der Platzmangel an derUniversität, hat die Verwaltung ihm ge-genüber argumentiert.

Doch die Suche nach einem Raum derStille bildet nur einen kleinen Ausschnittdes Aufgabenspektrums der IHg. „UnsereMitglieder gehören verschiedenen Staa-ten, Völkern, Rechtsschulen, Strömun-gen und Gruppen an“, erklärt die zweiteIHg-Vorsitzende Amina Khalid (21). Al-lein dem Vorstand gehören Türken, Pa-kistani, Ägypter und Kurden wie auch Pa-lästinenser an. Was alle vereint, ist ihr

muslimischer Glaube. Neben dem inner-islamischen Dialog versucht die insge-samt 50 Mitglieder umfassende Gruppemit anderen Glaubensgemeinschaften ei-nen intensiven Kontakt zu pflegen.

Das über alldem thronende Hauptzielder Gruppe ist ein vorurteilsfreies Is-lambild. „Es wird viel gesprochen“, sagtMuhammend. Damit meint er die vielenVorurteile. Deutschland ist Europameis-

ter, wenn es um Islamfeindlichkeit geht.Das ist das zentrale Ergebnis einer derbislang größten repräsentativen Umfra-gen zur religiösen Vielfalt in Europa. DerExzellenzcluster „Religion und Politik“der Uni Münster führte sie 2010 kurz vorder Sarrazin-Debatte mit TNS Emnid infünf Ländern durch. Demnach sprechensich Deutsche deutlich öfter als Franzo-sen, Dänen, Niederländer oder Portugie-sen gegen neue Moscheen und Minaretteaus.

Muhammed und Amina können einLied davon singen. Die Voreingenom-menheit erleben sie tagtäglich. „Ichkenne viele Mädchen, die von Dozentenbenachteiligt werden, weil sie ein Kopf-tuch tragen“, berichtet Amina. Sie selbstsei zum Glück noch nie Opfer von Dis-kriminierung geworden. Vielleicht liegedas an ihren Studienfächern Politik- und

„Es ist unser Wunsch endlich aus demSchatten eines negativen Islambildes

zu treten und die interkulturelle sowieinterreligiöse Verständigung zu fördern“

Younes Al-Amayra

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Kampf gegen die VorurteileDie Islamische Hochschulgemeinde gehört zu den aktivsten

Studentenvereinigungen in Kiel, muss sich aber immer wieder gegenVorurteile behaupten. Ihr Ziel: Ein Ende der Islamfeindlichkeit.

VON CHRISTINA NORDEN

Multi-Kulti unter dem Dach desIslam: der aktuelle Vorstand derHochschulgemeinde. FOTO: IHG

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WIE GLAUBT DER NORDEN? 11

HOCHSCHULGEMEINDEDIE VORSITZENDEN

Amina Khalid (21) wurdein Deutschland geboren.Ihre Eltern kommen ausPakistan. Die zweite Vor-sitzende der IHg studiertPolitik- und Islamwissenschaften imsechstenSemester.SiesiehtsichselbstalsDeutscheundwünschtsichmehrpo-litische Offenheit gegenüber dem Islam.

Muhammed Recber (25)wurde in der Türkei gebo-ren. Als er zehn Jahre altwar, kam er mit seinen El-tern nach Deutschland. Erbekam eine Hauptschulempfehlung.Sein Vater schickte ihn trotzdem auf einGymnasium.HeutestudiertMuhammedim 11. Semester Medizin und schreibtan seiner Doktorarbeit. Er sieht sichselbst als deutscher Moslem.

Islamwissenschaft, vermutet sie.Immer wieder müssen sich die Mit-

glieder der IHg von den als extrem gel-tenden Salafisten abgrenzen. „2011wollte der radikal-islamistische PredigerPierre Vogel an der Uni Kiel einen Vor-trag halten“, erklärt Muhammed. Orga-nisiert wurde die Veranstaltung vonmuslimischen Studenten, allerdingsnicht von der IHg, sondern von derHochschulgruppe Maghreb. „Wegen derreligiösen Zugehörigkeit haben viele ge-dacht, wir hätten etwas mit Vogels Vor-trag zu tun“, ergänzt Amina. „Das waraber absolut nicht der Fall.“ Vogel wurdeletztlich vom Präsidium der Hochschulewegen seinen menschenverachtendenPositionen ausgeladen. Seitdem mussdie IHg allerdings bei der Anmeldungvon Veranstaltungen Lebensläufe dereingeladenen Referenten vorlegen.

„Das macht uns aber nichts aus“, er-gänzt Muhammed. „Wir setzen auf

Transparenz und Aufklärung.“ Der Er-folg gibt ihnen Recht. Beim AllgemeinenStudierendenausschuss (AStA) gilt dieIHg als eine der aktivsten Hochschul-gruppen. Zu ihren Veranstaltungenkommen auch viele Nicht-Muslime.Denn sehr häufig geht es nicht aus-schließlich um Religion, sondern auchum Politik oder Gesellschaft wie kürz-lich bei einer gemeinsamen Veranstal-tung mit der Rosa-Luxemburg-Stiftungzum Thema „Antimuslimischer Rassis-mus im Alltag“.

Ganz besonders stolz sind Amina undMuhammed auf die größte Veranstal-tung der IHg: Die Islamwoche. Seit vierJahren veranstalten sie im Sommerse-mester eine einwöchige Reihe von Vor-trägen und Podiumsdiskussionen mitAkademikern und Politikern. „Daszieht nicht nur Studenten an“, hat Ami-na beobachtet. Dieses Jahr lautete dasMotto „Beyond sense and science“. Es

ging um das Verhältnis von Glaube undWissenschaft, Kaligraphie und Medi-zinethik im Islam. Höhepunkt war der„iSlam“, ein muslimischer Poetry Slam.Dabei können junge, talentierte Musli-me sich sowohl zum Geschehen inDeutschland als auch zu Ereignissenweltweit in Form von lyrischen Textenäußern.

Das Ziel der durch Deutschland tou-renden Veranstaltung erklärt der Orga-nisator und frühere Vorsitzende derIHg Kiel Younes Al-Amayra: „Die Liebezum Islam ist beim iSlam die treibendeKraft. Es ist unser Wunsch endlich ausdem Schatten eines negativen Islambil-des zu treten und die interkulturellesowie interreligiöse Verständigung zufördern.“ Genau das ist es, was sichAmina und Muhammed für ihre KielerUni wünschen. Mit der diesjährigen Is-lamwoche dürften sie ihrem Ziel wie-der ein Stück näher gekommen sein. ●

Am Study Daywitbt Muhammed

Recber aufhumorvolle Art

für das Medizin-studium.

Nicht zuletzt wegen ihrerKopfbedeckung werdenmuslimische Studentin-nen oft benachteiligt:Die Veranstaltung „Kopf-tuch runter“ will daraufaufmerksam machen.

NORDEN

Eine Einladungzum Gebet istdiese Nische wäh-rend der Islamwoche.

FOTOS: IHG

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12 WIE GLAUBT DER NORDEN?

Schleswig Leben, wie die Bibel es ver-langt – das ist der Lebensinhalt von Wolf-gang und Gunta Czajka. „Wir wollen denMenschen erkennen helfen, wo der wahreGlauben liegt.“ Als Zeugen Jehovas kenntund lebt das Ehepaar aus Kropp im KreisSchleswig-Flensburg das, was für sie der„wahre Glauben“ ist. Nach Jehova, demGott der Bibel, den ihrer Meinung nach al-le Christen so nennen müssten, richtensie ihr Denken und Handeln aus: „Die Bi-bel ist der Maßstab für jeden Christen“,sagt der Rentner. „Und das nicht nur inTeilen“, ergänzt seine Frau. „Die Bibel alsGanzes ist maßgeblich. Wir leben nachdem Gesetz Gottes − in aller Konse-quenz.“ Aber was sind diese Konsequen-zen?

Kurz gesagt: Keine Geburtstage (ist einheidnisches Fest und götzendienerisch,außerdem verurteilt die Bibel, dass einePerson so besonders herausgestellt wird),kein Sex vor der Ehe (gilt als Krönung ei-ner ehelichen Liebe) und keine Blutüber-tragungen (Bibel gebietet, dass man sichdes Blutes enthalten soll). Heiraten dür-fen Zeugen Jehovas, wen sie möchten, al-lerdings wird empfohlen innerhalb desgleichen Glaubens, also „im Herrn“ zuheiraten. Wolfgang Czajka erklärt das miteinem Bild: „Spannt man einen Ochsenundein PferdvoreinenKarren,dannziehtdas Gespann schief.“

Die Czajkas sind überzeugt, kein Teilder Welt zu sein. Das besage ein biblischesGebot. „Wir halten uns ziemlich raus ausder Welt, aus allem, weil wir wissen, dassdie Menschen nie eine Lösung für alleProbleme finden werden. Durch Men-schenhand werden niemals Glück undFrieden auf die Erde kommen“, so GuntaCzajka. Deshalb gehen die Zeugen nichtwählen. Sie respektieren die Regierung,halten sich an deren Gesetze, aber brin-gen sich nicht ein−zumindest nicht in derDemokratie. Sie leisten ihren Beitrag, in-dem sie Gottes Botschaft verkünden,denn wenn die Menschen das umsetzenwürden, was Gott sie lehrt, gäbe es weni-ger Böses – davon ist sie überzeugt.

Deshalb gehen sie von Tür zu Tür oderstehen mit ihren Zeitschriften „Erwa-chet!“ und dem „Wachturm“ in der Ein-kaufsstraße. „Es steht in der Bibel, dasswir von Haus zu Haus gehen sollen, dassollte jeder Christ tun“. Sie seien Außen-seiter, obwohl sie das täten, was Gott will.„Die gute Botschaft zu verkünden ist un-sere Pflicht, auch wenn den Menschendas teilweise nicht gefällt. Manche wer-den sogar aggressiv, aber wir haben es janur gut gemeint“, so die 63-Jährige. DennJehovas Zeugen seien überzeugt, denMenschen dabei zu helfen, sich einenPlatz im ewigen Paradies zu sichern. Denverdiene jedoch nur, wer genauso gottge-fällig und bibelkonform lebt, wie sieselbst. „Alle, die sich keine Mühe geben,Gott kennenzulernen, werden vernichtet.Gott wird gerecht richten.“

Und das schon bald. Denn im Weltbildder Zeugen Jehovas ist auch der Glaube

an den Gerichtstag ein fester Bestandtteil.„Harmagedon“ nennen sie diesen Zu-stand, wenn Jehova einen Schlussstrichziehen und die Erde reinigen wird. DerWeg zu diesem Ende, dem für die Zeugenein Neubeginn in paradiesischen Zustän-den folgen soll, wird jedoch immer be-schwerlicher. „Es muss erst schlechterwerden, damit es anschließend besserwerden kann“, ist Wolfgang Czajka sicher.Ihnen selbst gehe es ja noch gut, aber glo-bal betrachtet sei die Situation auf derWelt schlimm. „Der Druck wird immergrößer, es wird immer grauenvoller aufder Erde. Von nun an geht’s bergab“, sagtseine Frau, lacht kurz auf und erklärt:„Das ist halt die Weltlage.“ Verrückt ma-chen solle man sich deshalb aber nicht,schließlich gebe es einen Ausweg. IhrGlaube lasse sie gelassen bleiben. Wolf-gang Czajka: „Wir leben nicht in Panik.Das sind die letzten Tage, aber wir sindüberzeugt, dass Gott die Rettung bringt.“

Um gerettet zu werden, folgen sie striktden Regeln der Bibel: Täglich lesen siedarin, beschäftigen sich zwei Mal pro Wo-che auf den Treffen ihrer Glaubensge-

meinschaft mit religiösen Themen undFragestellungen, leisten ihren Predigt-dienst ab, um anderen ihren Glauben nä-herzubringen. Bei allem steht die Bibel imMittelpunkt. Da wundert es nicht, dass

Wolfgang Czajka zu jedem Aspekt ent-sprechende Bibelstellen parat hat. Er isteiner von acht Ältesten, der Versammlungder Zeugen Jehovas in Schleswig. Als Äl-tester entscheidet er mit darüber, wannjemand aus der Gemeinschaft der Zeugenausgeschlossen wird. Denn wenn einGlaubensbruder oder eine Glaubens-schwester in Konflikt mit dem GesetzGottes gerät – zum Beispiel durch Ehe-bruch, Hurerei (zum Beispiel Sex vor derEhe), Betrügerei oder Diebstahl – und die-

ses Fehlverhalten nicht aufrichtig bereut,wird die Person aus der Gemeinschaftausgeschlossen. Zu dem Ausgeschlosse-nen werde ein gewisser Abstand gehalten,um ihn erkennen zu lassen, „dass er diefalsche Richtung einschlägt.“ Denn:Schlechte Gesellschaft zerstöre nützlicheGewohnheiten, so Wolfgang Czajka.

Wer sich einmal für den Glauben an Je-hova entscheide, müsse vollkommen da-hinter stehen. „Man geht nicht konformmit dem Glauben, wenn man einzelne As-pekte oder Herangehensweisen kriti-siert“, erklärt Gunta Czajka und ergänzt:„Wenn ich zweifle, dann bin ich kein Zeu-ge Jehovas.“ Kritik, zum Beispiel an Bibel-stellen, sei nichts anderes als Unverständ-nis. „Ich werde Gott nicht kritisieren. Esliegt an mir, als unvollkommenen Men-schen, dass ich manches nicht verstehe“,sagt der Älteste. Unvollkommen sei ihrerAnsicht nach jeder Mensch – auch sieselbst. Trotzdem ist Gunta Czajka mit ih-rem Glauben glücklich. „Wenn wir gehor-sam sind, werden wir von Gott getragen,da fühlt man sich geborgen. Das machtHerzensfrieden.“ ●

„Das sind die letzten Tage,aber wir sind überzeugt,

dass Gott die Rettung bringt.“

Gunta Czajka

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Warten auf das ParadiesDie Zeugen Jehovas leben gottgefällig und

bibelkonform. Dadurch wollen sie sich ihren Platz inJehovas Königreich sichern. Alle anderen – so ihre

Überzeugung – werden eines Tages vernichtet.VON ANNE WELKENER

Im Königreichs-saal in Schleswigtreffen sich regel-mäßig etwa 100„Verkündiger“, al-so getaufte Zeu-gen. Immer mit da-bei: WolfgangCzajka aus demÄltestenrat.FOTO: WELKENER

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WIE GLAUBT DER NORDEN? 13

Schleswig-Holstein Bei den Zeugen Jehovas werden Leu-te wie Susanne Olsen* U-Boote genannt. Sie tauchen inunregelmäßigen Abständen auf, dann wieder für längereZeit ab, erscheinen nicht zwei Mal pro Woche bei den Tref-fen, wie es üblich ist. „Ich bin noch drin. Offiziell. Aber inmir drin, bin ich eher draußen“, sagt sie nachdenklich.„Man schleicht sich immer mehr zurück, nimmt wenigerteil, in der Hoffnung, dass man vergessen wird.“

Vergessen zu werden ist aus Sicht von Olsen eine dank-bare Alternative zur offiziellen Herangehensweise. Es ge-be nämlich keinen Weg, die Zeugen Jehovas ehrenvoll zuverlassen, sagt sie, und beschreibt die Misere, in der siesteckt. Ein freiwilliger Selbstaustritt hätte den Gemein-schaftsentzug zur Folge: Die Zeugen Jehovas würdensämtlichen Kontakt zu ihr abbrechen, sie nicht einmalmehr auf der Straße grüßen. Zeugen Jehovas befreundensich nur mit Zeugen Jehovas, deshalb würde nach einemSelbstaustritt das soziale Umfeld von einem auf den an-deren Tag wegbrechen. Selbst einige Familienmitgliederwürden sich von ihr abwenden. „Da wird einem der Bodenunter den Füßen weggezogen.“

Nun sitzt sie zwischen den Stühlen, ist nicht Zeuginund nicht Ausgeschlossene. „Mir ist schon bewusst, dassdas nicht ewig so weitergehen kann“, sagt sie und entferntsich mit kleinen aber stetigen Schritten von ihrer religiö-sen Heimat. Auf diesem Weg hat sie gelernt, umzudenken.„Die Zeugen Jehovas sehen alles schwarz-weiß. Sie selbstsind gut, die anderen schlecht. Sie sind absolut davonüberzeugt, dass einzig sie die richtige Religion haben.“Zeugen Jehovas glauben daran, dass ihr Gott Jehova in na-her Zukunft darüber richten wird, welche Menschen demUntergang geweiht sind und wer ins Paradies kommt. „Sieleben heute so, dass sie bald vor dem Gottesgericht über-leben“, erklärt Olsen und berichtet, dass sie nach ihrer frü-hen Hochzeit („Wenn man keinen Sex vor der Ehe habendarf, heiratet man früh“) aus ihrem Beruf ausgestiegen ist,um sich ganz auf den Pionierdienst zu konzentrieren. Sielebte in der ständigen Panik noch nicht gottgefällig genuggewesen zu sein und versuchte so vielen Menschen wiemöglich ihren Glauben näher zu bringen, damit auch sieals Zeugen Jehovas dem sicheren Ende entgehen. Das seivergleichbar mit einem Brand im Nachbarhaus, habe manihr erklärt: Man würde losrennen und versuchen, so vielewie möglich zu retten.

In ihrer noch jungen Ehe haben sie und ihr Mann sichüberhaupt keine Gedanken darüber gemacht, Kinder zubekommen – bis zum Gottesgericht würde schließlichnicht mehr viel Zeit vergehen. „Zum Glück“, wie sie heutesagt, „kamen die Kinder dann doch recht schnell.“ Mitt-lerweile sind sie erwachsen. Sie selbst wurde mit demGlauben groß. Vor fünf Jahren kamen ihr die ersten Zwei-fel. Damals versuchte sie, eine Frau von den Vorzügen ih-res Glaubens zu überzeugen. Deren kritische Fragen pa-rierte sie locker, antwortete „nach Schema F“, wie man esihr beigebracht hatte, merkte aber, dass ihr selbst dieseAntworten nicht reichten. Sie begann im Internet zu re-cherchieren. Auf Seiten wie www.sektenausstieg.net wur-de sie fündig und kam auch mit anderen Zweifelnden insGespräch. „Ich habe irgendwann angefangen, selbst zudenken, habe den Selbstdenk-Apparat bei den Treffennicht mehr an der Garderobe abgegeben.“

Die mehrfache Mutter zog sich langsam aus der Ge-meinschaft zurück, wurde Mitglied in einem Verein,knüpfte dort und an ihrem Arbeitsplatz neue Kontakte.„Das ist eine interessante Erfahrung: Ich kann mir meineFreunde jetzt selbst aussuchen, muss mich nicht mehr andie Glaubensgemeinschaft halten.“ Von ihren neuenFreunden habe sie Zuneigung, Rückhalt und liebevollesEntgegenkommen erfahren. Und das in einer so aufrich-tigen Art, wie sie es in 40 Jahren in der Glaubensgemein-schaft noch nicht erlebt habe.

Die familiäre Atmosphäre, die Worte wie Glaubensbru-

der und Glaubensschwester suggerieren, stehen nämlichim krassen Gegensatz zu dem Druck, den Olsen in ihremalten Alltag verspürte. „Von außen sieht das aus, als ma-chen wir das freiwillig, den Predigtdienst zum Beispiel,aber der psychische Druck von innen und die Kontrolleuntereinander sind massiv.“ Die vielen Regularien seienfür manche ein helfendes Gerüst, „aber für Menschen, diewissen, was sie wollen, kann das beengend wirken“. Be-sonders ärgert sie, „wie Menschen sich anmaßen, solcheRegularien aufzustellen, und dann sagen: Das kommt vonGott. In mir drin bin ich irgendwie gläubig. Dieser Gottkann das nicht von uns verlangen.“ Erleichternd war fürsie die Erkenntnis: „Ich kann aufrichtig gläubig sein, auch

wenn ich kein Zeuge Jehovas bin. Es gibt nicht nur schwarzund weiß, es gibt auch ganz viel dazwischen.“

Die Vorstellung, auch öffentlich zu dieser neuen Über-zeugung zu stehen, macht ihr mittlerweile keine Angstmehr: „Ich habe nicht mehr viel zu verlieren, im Gegenteil:Ich habe viel Schönes gewonnen.“ Sie fühle sich jetzt frei-er, sogar gesundheitlich besser und wie von einem Korsettbefreit. Von den Zeugen Jehovas wünscht sie sich Ge-sprächsbereitschaft auf Augenhöhe und dass sie „mir ge-genüber die Toleranz aufbringen, die sie von anderen ge-genüber ihrem eigenen Glauben erwarten“. ●

*Name von der Redaktion geändert

Ausgestiegen„In ihren Augen habe ich mein Leben weggeworfen

– in meinen beginnt es erst.“ Susanne Olsen* istals Zeugin Jehovas groß geworden. Doch jetzt,

mit Mitte 40, orientiert sie sich um.VON ANNE WELKENER

Sie beginnt gerade ein neues Le-ben, möchte jedoch anonym blei-ben, weil sie die Konsequenzenfürchtet, mit denen ihre Familiesonst leben müsste.FOTO: WELKENER/SCHRÖER

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14 WIE GLAUBT DER NORDEN?

Bruder Lukas ist seit knapp drei Jahrenim Kloster Nüttschau, zuvor arbeitete erbei einer Werbeagentur.

Nütschau „Schweigen? Du? Und Dudarfst wirklich gar nichts sagen?“ DieVerwunderung steht jedem ins Gesichtgeschrieben, dem ich von meinem Planerzähle, zwei Tage schweigend im Klos-ter Nütschau zu verbringen. Und dochstehe ich Anfang Mai vor den Pforten desBenediktiner-Klosters in der Nähe vonBad Oldesloe. Zu meiner Überraschungbin ich aufgeregt, habe fast ein bisschenAngst ob meiner Courage. Ich fasse mirein Herz und betrete, wenn auch zö-gernd, den „Stillen Bereich“, der sichhinter der Klosterkapelle und den Spei-seräumen erstreckt. Die schwarze Türfällt hinter mir ins Schloss – Stille.

Mein Zimmer „St. Hildegart“ istschlicht eingerichtet. Ein schmales Bett,ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Schrankund ein Kreuz an der Wand. Fernseher,Telefon oder auch nur eine mobile Inter-netverbindung gibt es nicht. Ich schaltemein Handy aus.

So langsam begreife ich, was Stille be-deutet. Wie Watte legt sie sich übermich, kriecht in mich rein und schottetmich vom Rest der Welt ab. Meine Ge-danken fliegen noch. Ich ertappe michdabei, wie ich wieder und wieder in Ge-danken überprüfe, ob ich alles erledigthabe, ob nicht noch eine dringende Mailzu schreiben, ein Telefonat zu führen ist.

Siedendheiß fällt mir ein, dass ich nochzwei Bücher in der Bibliothek abgebenmuss – der Gedanke lässt mir für einehalbe Stunde keine Ruh’.

Ich packe erst einmal meine Sachenaus, blättere durch die Bibel und die Re-geln des heiligen Benedikts, die auf mei-nem Nachttisch liegen, lese den Flyerüber das Leben im Stillen Bereich desKlosters, schaue ins Bad, in den Kleider-schrank und prüfe die Matratze meinesBettes. Was tut man eigentlich währenddes Schweigens? Beten? Meditieren? Ausdem Fenster schauen? Darüber habe ichmir vorab gar keine Gedanken gemacht.

14 Uhr: Ich schaue aus dem Fenster.Vier Enten sonnen sich dort.

... Stille ...14.30 Uhr: Ich sehe immer noch aus

dem Fenster. Eine Ente ist inzwischenweg. Zwei Erpel kämpfen in einem klei-nen Bach miteinander.

... Stille ...So kann das jetzt nicht die nächsten

zwei Tage weiter gehen, denke ich undbeschließe spazieren zu gehen. Birken inzartem Frühlingsgrün und moorige Tei-che säumen den schmalen Weg. Die Stil-le ist von launischer Natur: Je stärker ichsie suche, desto mehr scheint sie sich mirzu entziehen. Je leiser die Welt um michherum wird, desto lauter werden die

Stimmen in meinem Kopf. Nach derklösterlichen Stille ist das Vogelkonzertschier ohrenbetäubend. Doch zumin-dest die vielen lauten und bunten Ge-danken in meinem Kopf werden ruhiger.Ich merke: Es gibt zwei Arten der Stille– eine in der Welt um mich herum undeine in mir drin. Die erste findet man imKloster Nütschau. Und die innere Stille?

„Die vielen Gedanken gehören dazu“,wird Bruder Lukas mir später erklären.Man müsse sie zulassen und zwischen-durch immer wieder versuchen „die See-le zurückzuholen“, wie er es beschreibt.Der 36-Jährige ist erst seit knapp dreiJahren in Nütschau. Zuvor hat er fastzehn Jahre in einer Werbeagentur gear-beitet. „Ich weiß was Lärm, Hektik undStress bedeuten“, sagt er rückblickend.Dabei hat Stille keineswegs etwas mitStillstand zu tun. Vielmehr könne nur siedem Menschen Raum für Entscheidun-gen im Leben geben.

Zu lebenswichtigen Entscheidungenreicht meine innere Stille noch nicht aus,doch ich beschließe in die Vesper zumAbendgebet zu gehen.

Die Tagesstruktur im Kloster istdurch das gemeinsame Stundengebetund das Singen der Liturgie geprägt: vierMal am Tag, sieben Tage die Woche.„Dem Gottesdienst ist nichts vorzuzie-

hen“, lautet eine der Ordensregel desHeiligen Benedikts. Wenn die Glockenauf der Schlosskirche läuten, legen dieKlosterbewohner ihr Tagewerk zur Seiteund eilen zum Gebet.

6 Uhr morgens: Helles Glockenläutenschallt über das Klostergelände. Ihrnachdrücklicher Ton duldet keinen Wi-derspruch, kein weiteres Umdrehen imBett. Der Hahn vor meinem Fenster

48 Stunden StilleFernab des turbulenten Alltags suchen immer mehr Menschen Ruhe und Erholung

im Kloster. Doch was bewirkt die innere Einkehr in vollkommenem Schweigen?Ein Selbstversuch im Benediktiner-Kloster Nütschau.

VON JOHANNA TYRELL

In der Klosterkirche beten dieMönche mehrmals täglich ihrePsalmen. FOTOS: TYRELL

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WIE GLAUBT DER NORDEN? 15

KLOSTER NÜTSCHAUDEUTSCHLANDSNÖRDLICHSTESBENEDIKTINER-PRIORAT

Das Priorat St. Ansgar (auch KlosterNütschau genannt) ist das nördlichsteBenediktiner-Kloster in Deutschland.1951 wurde es von Mönchen der AbteiGerleve in Westfalen gegründet, umSeelsorge für die vielen Kriegsflücht-linge in Schleswig-Holstein zu betrei-ben. Anfangs spielte sich das gesamteklösterliche Leben in 1577 von Hein-rich Rantzau erbauten Renaissance-Herrenhaus ab. Im Lauf der Zeit kamendas Konventgebäude (Wohnhaus derMönche), das Bildungshaus St. Ans-gar, der „Stille Bereich“, das Männer-haus St. Raphael, das Jugendhaus St.Benedikt und die Klosterkirche hinzu.Heute ist das Kloster selbstständig.Die 17 Benediktiner-Mönche im Altervon 36 bis 82 Jahren, im Kloster Nüt-schau leben nach den Regeln des Hei-ligen Benedikts von Nursia (480-547).Sie haben ein Ordensgelübt abgelegt,das die Oboedientia (Gehorsam), Sta-bilitas loci (Ortsgebundenheit, die dasMitglied an ein bestimmtes Kloster bin-det) und Conversatio morum suorum(klösterlichen Lebenswandel) um-fasst, wobei Letzterer die freiwillige Ar-mut und die ehelose Keuschheit miteinschließt.

stimmt ihr lautstark zu. Wohl oder übelschlüpfe ich in meine Jeans und machemich auf den Weg in die Klosterkirche.

6.30 Uhr: Fröstelig und noch nichtrichtig wissend, wo ich bin und was nunvon mir verlangt wird, knie ich in einerder Holzbänke, die sich rund um den glä-sernen Altar gruppieren.Nach und nachsingt Bruder Matthäus zwei Zeilen einesPsalms vor, die übrigen Mönche und dieGemeinde antworten mit den nächstenbeiden Zeilen. Eine Orgel gibt es nicht.Archaisch klingen die Mönchsstimmendurch den Kirchenraum. Meine Stimmewill mir noch nicht richtig gehorchen –das Schweigen und die frühe Uhrzeit ha-ben ihre Spuren hinterlassen.

Am Ende der „Vigil“ (eigentlich„Nachtwache“) verharren alle im stillenGebet. Sechs, sieben, acht Minuten ver-streichen in vollkommender Ruhe. DieZeit scheint still zu stehen, bis um siebenUhr die Glocke schlägt. Nahtlos schlie-ßen sich die „Laudes“, das Morgenlob,an.

Gebetet wird – wie in allen Benedikti-ner-Klöstern – vor allem in Psalmen. An-ders als in anderen Klöstern geschiehtdies auf deutsch. Der Grund: „KlosterNütschau war schon immer ein Gäste-kloster. Uns ist es wichtig, dass jederGottes Botschaft versteht“, erklärt Bru-der Lukas. Vier Wochen dauert es, bis dieNütschauer Mönche alle 150 Pslame desAlten Testaments durchgebetet haben.„Im Mittelalter brauchten die Mönchenur eine Woche – sie haben beispielswei-se Körbe geflochten und dabei die ganzeZeit gebetet“, erklärt Bruder Lukas. Kör-be werden im heutigen Nütschau nichtmehr geflochten. Doch gemäß der Or-densregel „Ora et labora“, arbeite undbete, gehen die Nütschauer Mönche ver-schiedensten Tätigkeiten nach. Viele ar-beiten im Gästebetrieb mit, betreuen Ju-gend- und andere Gruppen, führen Ein-zelgespräche. Je nach Neigung kümmertsich ein Bruder um die 13 Bienenstöckedes Klosters, die Gärten oder die Öffent-lichkeitsarbeit. „Dabei wird die dritte Re-gel der Benediktiner, das „lege“, die Auf-forderung zum Lesen, vergessen“, sagtBruder Lukas. Für die 17 Mönche des Be-nediktiner-Klosters gehört das kontem-plative, das betrachtende Schweigenund Lesen zum Alltag.

7.30 Uhr: Frühstück. Für Einzelgästeim Schweigen gibt es einen gesondertenRaum, abseits der anderen Gäste, in demnicht gesprochen wird. Wir sind an die-sem Morgen zu viert. Es ist ein sonder-bares Gefühl mit Menschen zu essen,von denen man gar nichts weiß, ja nochnicht einmal deren Stimme kennt. Aberes ist nicht unangenehm sondern fastvertraut, wie wir da zusammen sitzen.Und es ist ein gutes Gefühl sich nicht un-terhalten zu müssen. Dennoch überlegeich, was für Lebensgeschichten wohlhinter den Menschen stecken, die hiermit mir an einem Tisch sitzen.

Es ist so still, dass beim Brötchen auf-schneiden das Knuspern der Kruste, wieein Gewitter wirkt. Das Schweigenscheint unser aller „Antennen“ sensibi-lisiert zu haben. Der junge Mann nebenmir reicht mir die Butter, noch ehe ichihn darauf aufmerksam gemacht habe.Ein Nicken zum Dank – man verstehtsich auch ohne Worte. Das Schweigenmacht uns zu einer Gruppe, auch wenn

wir alle als Einzelgänger in Nütschausind und uns mit uns selbst beschäfti-gen. Begegnen wir uns in den kommen-den Tagen auf dem Klostergelände, zeig-te ein erkennendes Lächeln oder Kopf-nicken das Wiedererkennen.

Das Interesse am klösterlichen Kurz-urlaub in Deutschland ist groß. Laut ei-ner Umfrage der Deutschen Ordens-oberkonferenz (DOK) aus dem Jahr2011, berichten 83 Prozent der 182 teil-genommenen Klöster von gleichbleib-enden oder steigenden Besucherzahlen.Die Gründe für einen Aufenthalt sind da-bei verschieden. 37 Prozent der Kloster-gäste suchen die geistliche Erfahrung, 36Prozent wollten in der klösterlichen At-mosphäre Ruhe und Erholung finden.Das Kloster Nütschau zählt alljährlich14 000 Übernachtungen.

Nach 48 Stunden hat das Schweigenein Ende. Ein letztes Mittagsgebet, ichverlasse das Kloster. Der turbulente All-tag beginnt hinter der Klostertür. Es isterstaunlich, wie laut die Menschen um

mich herum auf einmal reden und wie ei-lig sie es haben. Erst jetzt fällt mir auf,wie viel Ruhe ich in den letzten zwei Ta-gen gefunden habe. Eine gute Erfahrung.

Idyllisch im Grünen liegtdas Kloster Nütschau.

„St. Hildegart“ – Das Zimmerunserer Reporterin.

48 Stunden Schweigen – fürJohanna Tyrell eine Herausforderung.

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16 WIE GLAUBT DER NORDEN?

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In der Bibel liester fast jeden Tag:

NeuapostoleTobias Nissen.

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WIE GLAUBT DER NORDEN? 17

NEUAPOSTOLISCHE KIRCHE

Die Neuapostolische Kirche ist in den60er-Jahren des 19. Jahrhunderts ausder Katholisch-Apostolischen Ge-meinde hervorgegangen und wird seit-dem auch von Aposteln geführt. Dieerste Gemeinde in Deutschland be-fand sich in Hamburg. Von dort ausbreitete sich die Kirche in allen TeilenDeutschlands und der Welt aus. Bun-desweit bekennen sich rund 360.000Christen zu dem Glauben. IhrenSchwerpunkt setzt die Kirche auf dieGottesdienste und die Seelsorge. DieMitglieder glauben daran, dass Jesusseine Apostel gesandt hat, um von sei-ner nahen Wiederkunft zu predigen.TodundAuferstehungChristi sindzen-trale Bestandteile neuapostolischerGlaubenslehre. Daneben sind Missionund Nächstenliebe wesentliche Inhal-te. Die Kirche kennt drei Sakramente:die Heilige Wassertaufe, die HeiligeVersiegelung und das Heilige Abend-mahl. Bei der Versiegelung wird derGläubige mit der Gabe des HeiligenGeistes erfüllt. Die NeuapostolischeKirche verhält sich parteipolitisch neu-tral und unabhängig. Sie finanziert sichaus den freiwilligen Spenden ihrer Mit-glieder.

DATEN & FAKTEN

Ladelund Mit großen Schritten betrittder 28-jährige Tobias Nissen den Raum.Er trägt Jeans, dazu weiße Turnschuheund einen schwarzen Wollpulli. Heutehat er frei, der Edeka in Breklum mussmal einen Tag ohne seinen Marktleiterauskommen. Die Büroarbeit bleibt für ei-nen Tag liegen. Endlich hat Tobias Zeitfür Sport mit seinen Kumpels und für sei-ne Verlobte Tina. Ein langer Spaziergangam Wasser und gemütlich ein Glas Weintrinken – das macht so einen freien Tagfür ihn perfekt. Mit Tina wohnt er ge-meinsam in einer Wohnung in Bordelum,im Herzen Nordfrieslands. Dieses Jahrim Juni steht die Hochzeit an. Sie wollenspäter Kinder, vielleicht auch einenHund. Tobias Nissen ist eben ein ganznormaler junger Mann.

Doch dann möchte er beten. „LieberVater, leg deinen Segen über das Inter-view mit der Zeitung und leg deinen Se-gen auch auf das Engagement der Redak-teure mit ihrem Magazin über den Glau-ben. Lass uns ein schönes Gespräch ha-ben. In Jesu deiner großen Liebe WillenAmen“. Das Beten vor dem Gespräch warihm wichtig. Schließlich sitzt er hier in ei-ner Kirche, in seiner Kirche, in der Kirchein Ladelund, direkt an der dänischenGrenze.

Tobias Nissen ist neuapostolisch. Dasbedeutet für ihn zweimal die Woche indie Kirche gehen. Mittwoch und Sonntag.Dabei zieht es ihn von Breklum immerwieder in seine Heimatgemeinde. Neu-apostolisch – das bedeutet, dass er einerchristlichen Glaubensrichtung angehört.Hier gibt es einen Stammapostel statt desPapstes. Hier gibt es Vorsteher statt Pas-toren. Tobias glaubt an die AuferstehungJesu. Das Evangelium und die Seelsorgestehen in seiner Kirche an oberster Stel-le.

Seinen Glauben lebt der gebürtigeFlensburger: Er liest fast jeden Tag in derBibel und betet dreimal täglich. DasHauptgebot von Jesus – Liebe deinenNächsten wie dich selbst – versucht er, inseinem Leben zu verfolgen. Dabei möch-te er das richtige Maß finden. „Es gibtLeute, die lieben sich zu sehr selbst. Ge-nauso gibt es welche, die sich zu sehr fürandere aufgeben“. Er möchte mit seinenNächsten gut zurecht kommen und einganz normales Leben führen.

In seinen Glauben wurde Tobias hi-neingeboren. Sein Ur-Opa hat den neu-apostolischen Glauben in der Region ver-breitet. Auch sein Vater ist in der Kircheaktiv. Er übt das Amt des Bezirksevange-listen aus. „Überhaupt ist meine ganzeFamilie neuapostolisch. Das ist meistensbei uns so. Jeder kennt jeden in der Kir-che.“

Auch Tobias ist in seiner Kirche aktiv.Als Jugendbetreuer organisiert er Aus-flüge ins Schwimmbad, Fahrten zu Ju-gendgottesdiensten oder Spiele-Abende– alles Veranstaltungen, an denen er frü-her auch teilgenommen hat. Die Kircheist eben ein wichtiger Teil in seinem Le-ben. Das war schon immer so. „Zwar wirdman hineingeboren und man hat zu-nächst eigentlich keine Wahl. Es ist abernicht so, dass man gezwungen wird. Esgehört einfach für mich dazu.“

Als kleiner Junge hat Tobias das nicht

immer verstanden, erinnert er sich. Frü-her fand der Gottesdienst sonntags sogarzweimal statt, morgens und nachmittags.„Und immer fing die Kirche an, wenn dieDisneyfilmparade noch nicht zu Endewar“, sagt er lachend. „Nie konnten meinBruder und ich das bis zum Ende sehen.Als dann der Gottesdienst am Sonntag-nachmittag abgeschafft wurde, haben wirgejubelt.“

In der Schule gab es wegen seinesGlaubens die ein oder andere Hänselei.Während seine Klassenkameraden Reli-gionsunterricht hatten, saß er mit denKatholiken und Moslems im Nebenraumund machte seine Hausaufgaben. BeiFußballspielen am Sonntag konnte erhäufig nicht dabei sein. Da stand nun malKirche auf dem Programm. Dann hieß esvon den anderen Kindern: „Ihr Neuapos-tolen geht ja immer nur zur Kirche. Wasseid ihr eigentlich?“, erinnert sich Tobi-

as. Doch darauf konnte er damals nichtviel antworten. „Als Kind kann man sicheben noch nicht so gut erklären.“

Heute ist das anders. Seine Freundeakzeptieren seinen Glauben. Sie wissen,dass es bei Feiern am Samstagabendnicht so lange gehen kann. Dass sie ihrenFreund für Unternehmungen am Sonn-tagvormittag gar nicht erst fragen müs-sen, haben sie akzeptiert. Sie kommendamit zurecht. Lernt Tobias neue Leutekennen, muss er allerdings wieder mitden bekannten Vorurteilen kämpfen.Viele sind zunächst überrascht, dass erseinen Glauben so lebt. Einige bezeich-nen ihn auch als Mitglied einer Sekte.Doch damit kann Tobias inzwischen um-gehen. „Bei vielen beginnt eine Sekte,wenn da mehr hintersteckt, als sie verste-hen. Wenn ich nach einem Diskobesucham Samstagabend am nächsten Tag nichteinfach mal liegen bleibe, können sie daseben nicht verstehen und denken, dassich gezwungen werde. Das ist aber nichtso. Ich habe mich für meinen Glaubenentschieden und dann gehe ich auch je-den Sonntag zum Gottesdienst, ob ichnun vorher lange wach war oder nicht.Das spielt keine Rolle.“

Auch seine Verlobte konnte Tobias’ in-nige Bindung zum Glauben zunächstnicht verstehen. Sie waren früher Nach-barn, als er nach zweieinhalb JahrenGroßstadtluft von Hamburg nach Leckgezogen war. Da war er 24. Verwundertdarüber, dass Tobias zweimal die Wocheim Anzug das Haus verließ und sich ge-rade ein neues Auto gekauft hatte, reimtesie sich ihr eigene Geschichte zusam-men: „Sie dachte doch tatsächlich, dassich ein Drogendealer wäre“, erzählt To-bias lachend. „Als ich ihr dann sagte, dassdas völliger Unsinn sei und ich in Wahr-heit mit meinen Eltern und Geschwis-tern in die Kirche ging, hielt sie dies fürnoch unwahrscheinlicher, als die Sachemit dem Drogendealer. Dass junge Men-schen ihren Glauben so leben, ist heuteeinfach so selten geworden.“

Inzwischen ist seine Verlobte sogarselbst zum neuapostolischen Glaubenkonvertiert. Aus freien Stücken, wie To-bias erzählt. Für Tobias war dies Anlass,seinen eigenen Glauben zu hinterfragen.Das war eine schwierige Zeit für ihn.Schließlich habe man eine gewisse Ver-

antwortung dem Partner gegenüber, sagter. „Also für was entscheidet sie sich daeigentlich? Woran glaube ich überhaupt?Warum glaube ich? Ist es, weil ich da nurhineingeboren wurde? Versteife ich michhier auf etwas?“ Alles Fragen, die demGläubigen durch den Kopf gingen undauf die er keine klaren Antworten findenkonnte.

Doch Zweifeln ist ganz normal, findeter. Jeder kennt solche Momente. Und aufsolche Zeiten folgt auch wieder ein Hoch.Natürlich hat er dabei auch mal über denTellerrand geschaut, was es für andereGlaubensrichtungen gibt. Doch er hatsich für seinen Glauben entschieden. Erist neuapostolisch, er vertraut auf Gott.Er hat für sich selbst entschieden, einchristliches Leben zu führen. Er hat dieMotivation, seinem Glauben zu folgen.„Es ist jeden Tag eine Entscheidung undich entscheide mich jeden Tag für Gottund meinen Glauben.“ ●

Kirchgang mal zwei„Wie, du gehst zweimal die Woche in die Kirche?“ – ein Satz,

den Tobias Nissen schon oft gehört hat. Doch das gehört bei ihm nunmal dazu. Wir haben mit dem 28-Jährigen gesprochen und erfahren,

was es heißt, den neuapostolischen Glauben zu leben.VON JANA WALTHER

„Es ist jeden Tag eine Entscheidungund ich entscheide mich jeden Tag für

Gott und meinen Glauben.“

Tobias NissenNeuapostole

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18 WIE GLAUBT DER NORDEN?

Holzdorf „Bioland“ steht auf den Schil-dern, die zu Gerd Bolls Hof mitten auf derOstsee-Halbinsel Schwansen führen. Undrichtig: Wer den Hinweisen folgt, der fin-det einen idyllischen Gemüsehof mit Bau-ernhaus nebst Scheune, Stall, Gewächs-häusern und viel, viel Land vor. Aber da istnoch mehr. Ein großer Stein in der Ein-fahrt zeigt es bereits an. „Karmapa tschen-no“ lauten die fremd klingenden Worte,die darin eingehauen und mit goldenerFarbe nachgemalt sind. „Karmapa tschen-no“ – das ist ein buddhistisches Mantra,das die Anhänger dieser Religion aus Fern-ost bei ihren Meditationen wieder und

wieder vor sich hinmurmeln. Dass GerdBoll es an seiner Hofeinfahrt zur Schaustellt, hat einen Grund: Sein Anwesen istnicht nur ein landwirtschaftlicher Be-trieb, sondern gleichzeitig ein Zentrumdes Diamantweg-Buddhismus.

Gerd Boll ist seit über 25 Jahren glühen-der Anhänger dieser Richtung. Seine Le-bensphilosophie: Immer das Bestmögli-che zu tun, allen Menschen das Bestewünschen. „Gute Wünsche für andereLeute loszuschicken, das entspannt“, sagtder 53-Jährige. Ob beim Tee Kochen amMorgen, beim Treckerfahren am Vormit-tag oder beim Gurkenpflanzen am Abend

– immer und überall wünsche er seinenMitmenschen alles Gute – in seinen Ge-danken. Anzumerken ist das dem über-zeugten Buddhisten daran, dass er stetsein Lächeln auf den Lippen trägt – auchmorgens um Viertel nach sechs, wenn erden Frühstückstisch für seine Familie ein-deckt. Währenddessen ist seine Frau Mi-riam (37) damit beschäftigt, die Kinderaus dem Bett zu holen. Nach und nachsetzt sie Lola (5), Bosse (3) und Fiona (1)an den Tisch. Als Jan-Ole (16) dazu-kommt, ist die Familie vollständig, die äl-teste Tochter Nina (23) ist schon aus demHaus.

Umgangssprache bei der ersten Mahl-zeit des Tages ist übrigens Englisch. „Dashaben wir uns angewöhnt“, erklärt der Va-ter, „seitdem haben sich unsere Sprach-kenntnisse enorm verbessert.“ Und nachetwas Geplauder über „farming“, „religi-ons“ und „school“, lässt Boll seine Familiezurück und geht aus dem Haus: „Jetztwollen wir mal meditieren“, kündigt er an.

Im Nebengebäude hat er ein buddhisti-sches Gästehaus eingerichtet, mit einigenZimmern, einer Gemeinschaftsküche undeinem Meditationsraum. Dorthin begibter sich jetzt, um sich vor einem Regal mitzwei Dutzend goldenen Buddha-Statuen

Landwirtschaft imGeiste Buddhas

Gerd Boll aus Holzdorf – Familienvater und Gemüsebauer – istAnhänger und Lehrer des Diamantweg-Buddhismus. Die Meditation ist

sein ständiger Begleiter, auch bei der Arbeit auf dem Hof. Unser Reporterhat ihm einen Tag lang über die Schulter geschaut.

VON MICHAEL ALTHAUS

Kraft Tanken für den Tag: Jeden Morgenum sieben Uhr meditiert Gerd Boll eine halbeStunde lang. Zwischen den Buddha-Figurenhängt ein Foto seines Lehrers und dessenFrau, Lama Ole Nydahl und Hannah.FOTOS: ALTHAUS

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an der Wand bäuchlings auf die Erde zuwerfen. Gleich darauf richtet er sich miteiner schnellen Bewegung wieder auf undwiederholt das ganze einige Male – Locke-rungsübungen, bevor die eigentliche Me-ditation beginnt. Und dann geht es los:Gerd Boll setzt sich auf ein Kissen, richtetden Oberkörper auf, als ob er an einerSchnur an der Decke befestigt sei, undklappt den Deckel einer kleinen roten Kis-te vor sich auf. Darin liegt sein Meditati-onsheft, dessen Worte er längst wie imSchlaf beherrscht, aber als Gedächtnis-stütze gerne vor sich legt. Und so verharrtder Landwirt im Schweigen, zehn Minu-ten, zwanzig Minuten, dreißig Minuten.Nur seine tiefen Atemzüge durchbrechendie Stille und ab und zu das Rascheln beimUmblättern der Seiten. Alles steht still,außer der kleinen Uhr, die vor ihm un-terhalb der Buddha-Statuen steht.„Ganz ohne geht es nicht“, sagt er. Dennschließlich beginnt um sieben Uhr dreißigsein Arbeitstag mit einer Besprechung.„Da muss ich dabei sein, ich bin ja derChef“, meint er schmunzelnd.

Gemeinsam mit seiner Ex-Frau IlonaEbel, ebenfalls Buddhistin, führt er denBio-Hof „Großholz“. Auf rund 17 HektarLand bauen sie über dreißig Obst- und Ge-müsesorten an, Tomaten, Gurken, Salat,Kartoffeln. Von den Erträgen können bei-de gut ihre Familien ernähren. Neben Bollund Ebel sitzen drei weitere führende Mit-arbeiter am Tisch. Heute muss der ChefKritik üben: Gestern wurden viel zu vieleTomaten auf dem Kompost entsorgt. Au-ßerdem haben seine Leute die Zwiebeln,die er einpflanzen wollte, versehentlichmit zum Markt genommen. Er sagt dasmit derselben ruhigen Stimme, mit der erimmer spricht, wird nicht laut, haut nichtauf den Tisch, schaut keinen an. Die Mit-arbeiter haben verstanden. „Das war einVersehen“, kommentiert einer.

Um acht gibt’s noch einige Anweisun-gen für die zehn versammelten Feld-,Stall- und Werkstattarbeiter, und dannmuss Gerd Boll selbst Hand anlegen. ImGewächshaus ist er dabei, das Bewässe-rungssystem zu erneuern. Und während

er auf der Leiter steht und Rohre zusam-menbastelt, erzählt er, wie er zum Bud-dhismus gekommen ist.

Als protestantischer Christ wuchs erauf, doch irgendwann gab ihm der Glaubeseiner Eltern nicht mehr genügend Ant-worten. Die Totschlag-Argumente desPastors im Konfirmandenunterricht –„Das ist jetzt so, das müsst ihreinfach glauben.“ – befriedig-ten ihn nicht mehr. Also ginger selber auf die Suche, enga-gierte sich in einigen freienJugendgruppen, fand zurFriedensbewegung. Alsder führende Eckern-förder „Friedens-Pas-tor“ aus politischen

Gründen in der

Garnisonsstadt nicht längerpraktizieren durfte, war es GerdBoll und seinen Freunden ge-nug. Gemeinsam traten sie aus der Kircheaus. Ganz glücklich war er mit diesem Pro-test-Schritt aber nicht: „Denn jetzt hatteich ja nichts mehr. Und eigentlich war ichdoch ein spiritueller Mensch.“

Neues Licht brachte eine Reise nachAustralien, wo ihn die große gesellschaft-liche Freiheit faszinierte: „Dort hängt derHimmel einfach höher. Es gibt dort vielealternative Lebensformen, auch buddhis-tische Gemeinschaften.“ Voll des jugend-lichen Optimismus, entschloss er sichauszuwandern. Doch plötzlich habe er ge-

merkt, dass er nicht ins Ausland müsse,um ansprechende Spiritualitäten zu le-ben. „Ich stellte fest: Das gibt es alles auchin Deutschland.“

Die entscheidende Wende kam im Altervon 27 oder 28 Jahren. Damals nahm ihnein Freund mit zu einem Vortrag von LamaOle Nydahl. Der charismatische Däne hatteauf einer Tibet-Reise in jungen Jahren zumDiamantweg-Buddhismus gefunden undseither in Europa hunderte Zentren dieser

Weltanschauung aufgebaut. „Ich werdeBuddhist“ – das stand für Gerd Boll sofort

fest, nachdem er Lama Ole gehört hatte.Die Idee, Buddha, also das Gute, in

seinem Inneren zu finden, habeihn sofort gefesselt. „Das warmeins“, sagt er, ohne auch nurden geringsten Zweifel durch-blicken zu lassen. Am Christen-tum habe ihn immer gestört,dass Gott irgendwo außerhalbsei, jemand anderes, jemandFremdes. Und so begann er zu

meditieren. Anfangs lief es zähund mühsam, doch mit der Zeit sei

die Meditation sein ständiger Be-gleiter geworden: „Das läuft einfach

so mit, den ganzen Tag über. Automa-tisch“, sagt er jetzt, über 25 Jahre spä-

ter.Als „Hippie“ – so beschreibt Boll

sich selbst – habe er sich im Hause sei-nes Vaters – CDU-Ortsvorsitzender –

erst mal nicht mehr blicken lassen kön-nen. Und so bewirtschaftete der gelernte

Landwirt zusammen mit einem Freund ei-nen Hof im Nachbardorf. Als er im Jahr2000 den väterlichen Betrieb erbte, krem-pelte er diesen komplett um. Statt auf kon-ventionelle Milchviehhaltung und Bullen-mast setzte er auf ökologischen Gemüse-anbau. „Ich konnte einfach nicht mit anse-hen, wie Tiere geschlachtet werden.“ Heu-te gibt es da, wo einst die Kühe standen, nurnoch Katzen und Pferde. Letztere setzt Bollauch gerne mal für die Bewirtschaftung desLandes ein, etwa fürs Pflügen. „Das istschonender für den Boden“, weiß er. Nach-haltigkeit liege ihm sehr am Herzen – er willdas Beste tun für alle Wesen.

Plötzlich reißt ihn ein lautes Geschreiaus dem Gespräch: Sein Sohn Bosse, derdie ganze Zeit auf dem Trecker saß undihm bei der Arbeit zugeschaut hat, ist mü-de geworden. „Jetzt muss ich eine Rundefahren“, weiß der Vater. Denn das Ratternder Maschine befördert den Kleinen sogut in den Schlaf, wie kein Lied und keineGeschichte es könnte. Als die beiden nacheiner guten Stunde vom Pflügen zurück-kommen, meditiert Bosse noch tiefer alssein Vater und schlummert seelenruhigvor sich hin.

Jetzt ist Mittagszeit: Arbeiter und Fami-lie versammeln sich in der Gemein-schaftsküche, wo ein Mahl aus Hirsebreiund Gemüse angerichtet ist. Hinzukom-men einige Bewohner des buddhistischenGästehauses, das Gerd Boll auf dem Hofeingerichtet hat. Interessierte könnenhierherkommen, um sich zur Meditation

zurückzuziehen. Unter den Arbeitern isteine evangelische Christin sowie ein Mit-glied der Kirche Rudolf Steiners, einer al-ternativen christlichen Gemeinschaft.Schnell kommt das Gespräch auf religiöseThemen: Ist die Wiedergeburt, von derdie Buddhisten überzeugt sind, mit demChristentum vereinbar? Eine Frage, diesich nicht abschließend beim Mittagessenklären lässt. Fest steht: Philosophiert unddiskutiert wird hier gerne. „Wir sind so ei-ne Art Anziehungspunkt für Menschen,die sich mit Religiosität auseinanderset-zen“, sagt Mit-Betreiberin Ilona Ebel.

Wenn Sohn Bosse(3) müde ist, dannbringt ihn eineRunde Trecker-Fahren in denSchlaf.

Um den Boden zu schonen, pflügt Gerd Boll, wo esgeht, mit den Pferden – hier mit Mitarbeiter Detlef Tischler.

Der Stein mit dem Mantra begrüßt Besu-cher an der Hofeinfahrt.

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20 WIE GLAUBT DER NORDEN?

DIAMANTWEG-BUDDHISMUSHINTERGRUND

Gerd Boll ist Anhänger der KarmaKagyü-Linie des Diamantweg-Bud-dhismus. Der Diamantweg ist einevon drei großen Schulen des Bud-dhismus. Sie gehen zurück auf Bud-dha, der Belehrungen für drei ver-schiedene Arten von Menschen ge-geben haben soll. Wer Leid vermei-den wollte, bekam Auskunft überUrsache und Wirkung („KleinerWeg“). Wer mehr für andere tunwollte, hörte Belehrungen über Mit-gefühl und Weisheit („Großer Weg“).Wenn die Leute starkes Vertrauen

in ihre eigene Buddhanatur hatten,lehrte er den „Diamantweg“. Im Di-amantweg lernt man, die Welt auseiner reichen und selbstbefreiendenSicht heraus zu erfahren. Die An-hänger streben danach, sich mit dereigenen Buddhanatur (Reihnheit undVollkommenheit des Geistes) zu iden-tifizieren, nicht nur während der Me-ditationssitzungen sondern auchaußerhalb. Daher lässt sich der Di-amantweg besonders gut in einengewöhnlichen Alltag integrieren. Oftwird er als „tibetischer Buddhismus“bezeichnet.Eine von vier großen Schulen desDiamantwegs ist die Karma Kagyü-Linie. Ihr Oberhaupt ist der Karmapa,der inzwischen zum 17. Mal wieder-geboren wurde. Prägend für denBuddhismus in der westlichen Weltist der 16. Karmapa, Rangjung RigpeDorje (1924-81). Der Däne Ole Ny-dahl (kleines Foto) und seine FrauHannah lernten ihn 1969 auf ihrerHochzeitsreise im Himalaya kennenund wurden seine ersten westlichenSchüler. Nach einigen Lehrjahrenin Fernost reisten die beiden rundum die Welt, um den Buddhismusbekannt zu machen. Hannah verstarb2007 in Kopenhagen. Als „Lama“(Lehrer) gründete Ole Nydahl bisheute über 650 Meditationszentrender Karma-Kagyü-Schule. Sie sinddemokratisch aufgebaut und inDeutschland als gemeinnützige Ver-eine anerkannt. Zentren in Schles-wig-Holstein: Auenbüttel, Großholz,Itzehoe, Langenhorn, Kiel, Laboe,Rendsburg, Eckernförde, Lübeck,Sylt, Elmshorn, Heide, Flensburg,Hohwacht, Neumünster.

Doch die Pause währt nicht lange undGerd Boll muss wieder arbeiten. Bis mor-gen muss im Gewächshaus alles herge-richtet sein, dann sollen die Gurken ge-pflanzt werden. Und während er weiteram Bewässerungssystem herumbastelterzählt er, wie nahe er Lama Ole Nydahlsteht, dessen Vortrag er als junger Manngelauscht hatte. Der Lama – tibetisch für„Leiter“ oder „Hoher Priester“ – habe einunglaubliches Wissen und eine tiefe Ein-sicht in den Lauf der Dinge. In seiner Nähekönne man das förmlich spüren. Boll trifftihn regelmäßig, stellt ihm Fragen und gehtsogar mit ihm auf Reisen. Welche Bedeu-tung sein Lehrer für ihn hat, lässt ein auf-merksamer Gang über den HolzdorferHof erahnen. Fotos vom Lama finden sichnicht nur im Meditationsraum, wo sichdie sportliche Gestalt des Europäers nichtso recht in die Aura der goldenen Buddha-Statuen einfügen will. Auch im Büro zwi-schen Papieren und Ordnern prangen Bil-der und Poster, und sogar hinter demSpiegel in Bolls Badezimmer steckt einePostkarte mit dem Gesicht des buddhisti-schen Pioniers in der westlichen Welt.

„Es ist wichtig, sich jeden Morgen in Er-innerung zu rufen: Ich bin Buddhist“, be-merkt Bolls Frau Miriam später dazu, diesich ebenfalls der Religion aus Fernostverschrieben hat. Nur deswegen lernte sieüberhaupt ihren Mann kennen, den sie beieinem Vortrag erstmals traf. Rund 100Mal im Jahr steht er nach eigener Schät-zung irgendwo auf der Bühne und erzähltvon seiner Religion. „Auch wenn ich dieErleuchtung noch nicht ganz erreicht ha-be, bin ich vom Lama beauftragt, die Leutein die buddhistische Lehre einzuweisen“,erklärt er. In dieser Mission war er schonin Russland, Australien und in mehrerenLändern Nord- und Mittelamerikas unter-wegs. Er erzählt dann von Meditation,

Karma und Erleuchtung – mit vielen Be-zügen zum Lebensalltag. Wer einen Vor-trag von Gerd Boll anhört, der kann sichauf zwei Stunden voller Anekdoten ausdem Alltag freuen, über Hofleben, Bezie-hungsprobleme oder Stress mit den Auszu-bildenden. Er erzählt, dass auch er sich im-mer wieder dabei erwischt, wie er seinemZorn freien Lauf lässt, und sich dann er-mahnt, loszulassen. „Denn auch dieschwierigsten Menschen, die ganz fürch-terliche Sachen tun, sind keine Dämonen.“

Am Ende lädt er alle Zuhörer zu einer Me-ditation ein, will aber keinen vereinnah-men: „Beim Buddhismus geht es nicht dar-um, irgendwelchen Autoritäten zu glau-ben“, sagt er, „wir sind eine Erkenntnisre-ligion.“ Alles sei logisch erklärbar, jedermüsse selbst zur Einsicht kommen.

Um halb sechs ist Feierabend auf demBio-Hof – zumindest für die Angestellten.Der Chef geht meist, nachdem er dasAbendessen im Kreis seiner Familie ge-nossen hat, nochmal an die Arbeit. Dochheute Abend trifft sich seine Meditations-gruppe. Ilona Ebel und ihr Mann Andreasgehören dazu. Außerdem sind Volker undElisabeth, Werner und Angela gekommen.Zuerst gibt es eine Tasse Tee, und dasneuste Geschehen aus der buddhistischenWelt in Eckernförde, Kiel und Rendsburgkommt auf den Tisch. Dann geht es in denMeditationsraum: Wie Gerd Boll es schon

am Morgen getan hat, nehmen alle auf Kis-sen oder kleinen Bänkchen Platz. Volkerträgt den Text der Meditation laut vor:„Wir spüren, wie der formlose Luftstromunseres Atems an der Nasenspitze kommtund geht. Dabei lassen wir Gedanken undGeräusche vorbeiziehen, ohne sie zu be-urteilen“, so beginnt eine halbe Stunde, inder Karotten und Kartoffeln, Trecker undPflug, Ackerboden und Bewässerung aufeinmal keine Rolle mehr spielen. Nebenden leise vorgetragenen Worten sind nurnoch die tiefen Atemzüge der Teilnehmerzu hören, die regungslos ausharren.

Gleich fordert sie der Text dazu auf, den16. Karmapa – einen wichtigen tibeti-schen Lehrer des Diamantweg-Buddhis-mus – vor sich zu sehen. Mit schwarzerKrone und goldenem Gesicht soll er vorden Augen der Teilnehmer erscheinen,bevor er Lichter auf Stirn, Kehle und Herzaussendet und sich schließlich im Regen-bogenlicht auflöst. Am Ende beginnt dieGruppe zu murmeln: „Karmapa tschen-no“ – „Tatkraft verschmelz mit mir“ be-deuten diese tibetischen Worte, die auchden Stein in der Hofeinfahrt zieren. Diekleinen Gebetsketten, die die Meditieren-den durch ihre Finger gleiten lassen, ma-chen ein surrendes Geräusch wie die Gril-len auf einer Wiese an einem Sommer-abend. „Karmapa tschenno, karmapatschenno, karmapa tschenno...“, mur-meln sie immer wieder. Dabei wollen siedie Erleuchtung finden, um eines Tagesden ewigen Kreislauf der Wiedergeburtdurchbrechen zu können. Wie sie wohlaussieht für Gerd Boll? Was sieht er vorsich, wenn er meditiert? Den Karmapa?Die goldene Krone? Das Licht? Oder nochetwas viel, viel Schöneres? Er kann esschwer in Worte fassen. Es bleibt sein Ge-heimnis. Sicher ist: Irgendetwas Besonde-res scheint er gefunden zu haben. ●

„Um den Alltag meistern zukönnen, ist eine kleine Meditation

gar nicht so schlecht.“

Gerd BollBuddhist

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Am Abend wird gemeinsam me-ditiert: Die Teilnehmer verharren inStille während Volker (rechts) denText vorliest.

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WIE GLAUBT DER NORDEN? 21

Hamburg Noch ist sie leer, die Kirche derStille. Nur ein paar blaue Kissen und klei-ne Sitzbänke liegen im Kreis auf dem Bo-den. Die bunten Fenster sind mit weißenStofftüchern abgedeckt, an einer Wandsteht die aufgeschlagene Bibel auf einemStänder. Im hinteren Bereich, wo sicheinst der Altar befand, hängen ein Kreuzund ein Bild von der Jungfrau Maria. Nureine einzige Frau läuft langsam durchdas Gotteshaus, um die Ruhe zu genie-ßen und sich ganz auf sich selbst zu kon-zentrieren. Noch ist sie allein. Dochschon bald werden sich einige Hambur-ger zum Meditieren und Beten treffen.

Die Christophoruskirche in Ham-burg-Altona-Nord ist seit 2009 ein Raumvon Stille, Weite und Rhythmus. Nachder Fusion mit der St. Johannis Kircheund der Friedenskirche wurde sie in eine„Oase der Ruhe“ umgebaut, wie sie dieGläubigen oft nennen. Irmgard Nauckwar zu jener Zeit Pastorin in der evange-lisch-lutherischen Kirchengemeinde.Schon damals habe sie gemerkt, dass dieMenschen das Bedürfnis haben, in Ruhe

abzuschalten. Während eines Gottes-dienstes stellte die 56-Jährige einmal ei-ne Klangschale auf und ließ die Gläubi-gen dem Hall lauschen. „Zum ersten Malherrschte Stille nach einer Predigt“, er-

innert sichdie Pastorinund lächelt.Als auch dieTaizé-Lieder– bei denenein einzigesWort mehr-mals hinter-einander ge-sprochenwird – gut an-genommen

wurden, war klar, dass die Christopho-ruskirche nach dem Zusammenschlussein Ort der Stille werden muss.

In den vergangenen vier Jahren habenviele Menschen den großen hellen Raumaufgesucht, um einmal vom hektischenAlltag in der Großstadt abzuschaltenund in sich zu kehren. Oder um zu me-

ditieren. Pastorin Irmgard Nauck undzehn Meditationslehrer bieten täglichverschiedene Übungen an, wie etwa die„Atempause am Abend“ oder „Zen – sit-zen in Kraft und Stille“. Neben christli-chen Traditionen werden die Sitzungenauch durch Elemente des Buddhismusbereichert. Durch Mantren zum Bei-spiel. Dabei „atmet“ man immer wiederein einziges Wort. Doch wie wird einWort geatmet? „Das ist einfach“, erklärtNauck. „Nehmen wir einmal das Beispielfür Frieden, ‘Schalom’. Beim Einatmenäußert man still die Silbe ‘scha’, beimAusatmen folgt das ‘lom’. Dadurch ver-setzt sich der Körper in einen Ruhezu-stand.“ Das gleiche Prinzip funktioniereauch beim Laufen, dann zähle eine Silbepro Schritt. Nach den Übungen könneman förmlich sehen, wie sich die Gesich-ter der Menschen entspannen, erzähltdie Hamburgerin.

Auch eine japanische Teezeremoniegehört zu den „Ritualen“ der buddhis-tisch angehauchten Veranstaltung. DieTraditionen anderer Religionen sind

laut Nauck eine Bereicherung für diechristliche Kultur. Der Buddhismus seijedoch erst in einer Zeit nach Europa ge-kommen, als viele Menschen schon mitder Kirche verfeindet waren. Dabei seienbesonders die Erfahrung von Gott in sichselbst und die Achtsamkeit wichtigeWerte, die auch in den Meditationsgrup-pen angenommen würden.

Die Zusammenarbeit der verschiede-nen Glaubensgemeinschaften hättenpositive Auswirkungen, erläutert diePastorin. Sie ist davon überzeugt, dassinterreligiöse Gespräche viele Konfliktevermeiden könnten. „Der Islam hat vonvornherein eine schlechte Stellung inder Gesellschaft und wird sofort mitTerrorismus verbunden“, stellt die 56-Jährige klar. „Doch wenn man sich malnäher mit dem Glauben beschäftigt,merkt man, dass es eigentlich eine fried-liche Religion ist.“ Genau deshalb müsseman den Glauben ohne Bewertungwahrnehmen und den Menschen so eineChance geben. „Damit es in Zukunft kei-ne religiösen Kriege mehr gibt.“ ●

Eine Oase der RuheDie Kirche der Stille in Hamburg-Altona bietet Menschen die Möglichkeit,

im hektischen Großstadtleben einmal abzuschalten. Pastorin Irmgard Nauckgestaltete das Gotteshaus nach der Fusion dreier Gemeinden komplett um.

VON TINA LUDWIG

Pastorin Irmgard NauckF. HOFFMANN

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22 WIE GLAUBT DER NORDEN?

Sylt Wenn die Sylter Walburga und Hol-ger Löffelmann anderen von ihremGlauben erzählen, erfahren sie die un-terschiedlichsten Reaktionen. „EinigeLeute wollen mit Religion nichts zu tunhaben, andere haben noch nie etwas vonden Bahá’í gehört und die dritten haltenuns für eine islamische Sekte“, erzähltWalburga Löffelmann. Vor 27 Jahrenwussten die Löffelmanns selber nochnichts von den Bahá’í und ihrem Religi-onsstifter Bahá’u’lláh. Dann lernten sie –damals noch an ihrem früheren Wohn-ort in der Nähe von Frankfurt – neueFreunde kennen. „Mir hat von Anfang anihre sehr positive Ausstrahlung und ihrevernünftige Einstellung zum Leben im-poniert“, erzählt Walburga Löffelmann.„Ich habe mich immer gefragt, woherdas kommt – und dann habe ich erfahren,dass die beiden Bahá’í sind.“

Die heute 51-Jährige begann, Fragenzu der Religion zu stellen, sie las Texte,

sprach mit Gläubigen und erkannte bald,dass sie bei den Bahá’í etwas gefundenhatte, was ihr in ihrem alten Glauben ge-fehlt hatte. Sowohl Walburga als auchHolger Löffelmann sind katholisch auf-gewachsen. An Gott haben sie nie ge-zweifelt, an der katholischen Kirche mitihrem alleinigen Wahrheitsanspruchund der untergeordneten Rolle der Frauschon. Walburga Löffelmann bekanntesich fünf Jahre nach ihrem ersten Kon-takt mit den Bahá’í offiziell zu der Reli-gion. „Es machte mir den Religions-wechsel sehr viel leichter, dass ich mei-nen katholischen Glauben nicht negie-ren musste. Denn Bahá’u’lláh lehrt uns,dass alle monotheistischen Religionengut und von ein- und demselben Gott ge-stiftet sind.“

Die Bahá’í glauben an eine fortschrei-tende Gottesoffenbarung. Das bedeutet,dass alle Propheten anderer monotheis-tischer Religionen – seien es Jesus, Mo-

hammed oder Krishna, als Manifestatio-nen des einen Gottes gelten. Jeder dieserOffenbarer erscheine in unterschiedli-chen Jahrhunderten, um den MenschenGottes Botschaften, angepasst an die je-weilige Zeit, zu vermitteln. „Alle Vorgän-ger und die Gebote, die sie vermittelt ha-ben, werden bestätigt. Aber weil sich dieNöte und Umstände verändert haben,werden auch die Gebote an die jeweili-

gen gesellschaftlichen Bedürfnisse undNöte angepasst“, erklärt Holger Löffel-mann. Er fand vier Jahre später als seineFrau zur Bahá’í-Religion.

Bahá’u’lláh, der bislang letzte Offen-barer, lebte zwischen 1817 und 1892. Fürdas 19. Jahrhundert erscheinen seineGlaubensanpassungen sehr modern. Sopredigte er die Gleichwertigkeit vonMann und Frau, damit beide Geschlech-ter ihr Bestes in die Gesellschaft einbrin-gen können. Auch sei die Erde eigentlichnur ein Land und alle Menschen seineBürger. „Alte Zöpfe, wie die Unterdrü-ckung von Frauen oder anderer Kultu-ren und Rassen, werden einfach abge-schnitten“, fasst Walburga Löffelmannzusammen. Das Wissen werde mit jederneuen Religion und jedem neuen Offen-barer erweitert. „Auch nach Bahá’u’lláhwird wieder jemand kommen, der denGlauben neu erklärt und reformiert“, istsich ihr Mann Holger sicher.

Eine Religion –viele

Offenbarer

Der Glaube der Bahá’í lehrt: Alle monotheistischen Religionen sind gutund von ein und demselben Gott gestiftet. Angepasst an die jeweilige Zeit hat

er sich in Jesus, Mohammed oder Krishna offenbart. Walburga undHolger Löffelmann haben diesen Glauben für sich entdeckt.

VON CORNELIA PFEIFER

Kalligraphie mit Namen Bahá’u’lláh: „Ohdu Herrlichkeit des Allherrlichen“

Die Sylter Walburgaund Holger Löffelmannsind seit über 20 JahrenAnhänger der Bahá’í-Religion. PFEIFER

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WIE GLAUBT DER NORDEN? 23

MONOTHEISMUS AUS DEM IRANDIE RELIGION DER BAHÁ’Í

Die Bahá’í-Religion ist weltweit ver-breitet und hat fünf bis acht MillionenAnhänger. Die meisten von ihnen lebenheute in Indien, Afrika und Nord- undSüdamerika. Aber auch in Deutsch-land gibt es rund 5000 Menschen, diean die Lehren des Stifters Bahá’u’lláhglauben. Bahá’u’lláh lebte zwischen1817 und 1892 im Iran. Er erkannteihm vorausgegangene Gestalten wieMohammed, Moses, Krishna oder Je-sus Christus als Gottesgesandte anund beanspruchte gleichzeitig, jüngs-tes Glied in einer Kette der Gottesbo-ten zu sein. Im Mittelpunkt der ReligionstehtderGlaubeandeneinenGott,dieEinheit der Religionen und die Einheitder Menschen. Bereits seit den Anfän-gen der Religion werden die Bahá’í inihrem Ursprungsland Iran verfolgt. Bisheute kommt es zu Inhaftierungen, hor-renden Kautionszahlungen, Folter, Be-schlagnahmungen, Schikanen undDrangsalierungen. In Deutschlandsind die Bahá’í eine anerkannte Kör-perschaft öffentlichen Rechts.

Das Leben der Löffelmanns wird starkvon ihrem Glauben geprägt. Die Bahá’í-Religion war vor 17 Jahren der Grund fürsie, nach Sylt zu ziehen. „Wir wollten im-mer schon am Meer leben. Dann habenwir gehört, dass auf Sylt Bahá’í gesuchtwerden und sind auf die Insel gezogen“,erzählt Holger Löffelmann. Gemeinsammit den beiden Töchtern zog die Familienach Sylt. Holger Löffelmann übernahmein eigenes Fahrradgeschäft, seine FrauWalburga arbeitete lange Jahre als Kran-kenschwester in der Nordseeklinik undihre Töchter gingen aufs örtliche Gym-nasium. Mit 15 entschieden sich die jun-gen Frauen aktiv dazu, ebenfalls Bahá’ízu werden.

Aber das Leben auf der Nordseeinselhat auch Nachteile. Die Bahá’í-Gemein-de ist hier sehr überschaubar. AußerWalburga und Holger Löffelmann gibt esmomentan nur ihre 20-jährige Tochterund ein weiteres Mitglied. Ein Gebets-raum ist nicht vorhanden. Deshalb ver-sammeln sie sich meistens in der Woh-nung der Löffelmanns. „Schließlich istes ja schon immer ein Aufwand, von derInsel herunter zu kommen.“

Viermal im Jahr versuchen sie sich mitder 120 Mitglieder zählenden Gemeindein Schleswig-Holstein zu treffen. „Dasist dann meistens in Rendsburg, weil daszentral ist und einen Bahnhof hat“, sagtHolger Löffelmann. Dann wird gemein-sam gebetet und meditiert. Ein Haus derAndacht, in dem das Wort Gottes verle-sen wird, gibt es auf jedem Kontinent nureinmal. In Europa ist das in Langenhainin der Nähe von Frankfurt. Dort werdenTexte aus allen monotheistischen Reli-gionen gelesen.

Jeder Ort, an dem mindestens neunBahá’í leben, hat jedoch einen eigenenRat, der über die Themen, die die Bahá’íbetreffen, abstimmt. Anders als in vielenanderen Religionen gibt es bei den Bahá’ínämlich keinen Klerus. „Bei uns legt je-der seine Meinung auf den Tisch undman versucht, mittels Beratung die besteLösung für das jeweilige Anliegen zu fin-den. Es geht nicht darum, den anderenumzustimmen oder seine Meinungschlecht zu reden“, erklärt WalburgaLöffelmann. Während die Bahá’í im Iranverfolgt werden, gilt die Religion mitweltweit sieben bis acht Millionen Gläu-bigen in Deutschland als anerkannteKörperschaft öffentlichen Rechts undwird von der Religionswissenschaft alsjüngste monotheistische Weltreligionbezeichnet.

Für die Bahá’í gelten ebenso wie fürChristen und Juden die zehn Gebote.Außerdem dürfen sie keinen Alkoholtrinken, müssen vor der Ehe keusch blei-ben und sollten einmal im Jahr für 19 Ta-ge fasten. Für die Löffelmanns haben alldiese Gebote einen Sinn. So könne Alko-hol ganze Familien und Gesellschaftenkaputt machen. „Es ist ein Selbstschutzfür uns. Denn Alkohol umnebelt den Ver-stand.“ Für ihre 20-jährige Tochter war

dieses Gebot nicht besonders schwierigeinzuhalten. „Am Anfang war es schonbefremdlich für ihre Freunde, dass sienie Alkohol getrunken hat. Aber dann ha-ben sie irgendwann gemerkt, wie prak-tisch das ist, wenn man jemanden hat,der einen nach einer Party nach Hausefahren kann.“

Für alle Regeln, die Bahá’u’lláh aufge-stellt hat, gibt es auch eine Erklärung.„Viele Probleme auf dieser Welt resultie-ren aus dem Nichtbefolgen der göttli-chen Gebote. Deshalb versuchen dieBahá’í weltweit mit Hilfe der SchriftenWege zu finden, geistiger zu werden,sich also selber zu erziehen“, erklärtHolger Löffelmann. Die großen Ziele sei-en letztlich das Paradies auf Erden undder Weltfrieden. Und der sei nach demGlauben der Bahá’í unausweichlich –„die Frage ist nur, wie lange es bis dahinnoch dauert“. ●

Zwei Halbkreise – meist in Regenbogenfarben – formen sichschwungvoll ineinander. So sieht er aus, der Fisch, der das Heckzahlreicher Autos schmückt. Schon häufig schwamm mir die Fra-ge im Kopf herum: Was hat es nur mit diesem Aufkleber auf sich?Als ich auf der A7 im Feierabendverkehr feststeckte, tauchte erplötzlich wieder auf. Direkt vor mir zierte er das Heck eines VWGolf und wich beim ständigen Stop-and-Go nicht aus meinemBlickfeld. Habe ich es hier mit einem Angelliebhaber zu tun? Istder Fahrer womöglich ein Fischfreund? Unwahrscheinlich – ichklebe mir ja auch kein Schweine-Bild aufs Auto, nur weil ich gerneWürstchen esse. Handelt es sich vielleicht um ein Symbol der ho-mosexuellen Szene, wegen der Regenbogenfarben? Doch auch da-mit war ich auf der falschen Fährte. Ob der Fisch mir anzeigensoll, aus welcher Stadt der Fahrer stammt? So etwas, wie eine neueVersion der Kieler Fischgräte? Auch nicht richtig. Vielleicht habendie Fischfahrer aber auch einen Ausflug ins Sealife gemacht unddas Bildchen aufs Auto gedrückt bekommen. Wie die Tolkschau-Aufkleber. „Das muss es sein“, dachte ich. Doch mein Beifahrerbremste meinen Enthusiasmus und verriet mir, dass der Fisch einZeichen der Christen sei. Aber tragen die nicht bekanntlich Kreu-ze? Jetzt wollte ich es genau wissen. Also suchte ich Pastorin Jo-hanne Hannemann auf. Sie erklärte mir, dass Fisch auf Griechisch„Ichtys“ heißt und dies das kürzeste christliche Glaubensbe-kenntnis ist. ICHTYS sind die Anfangsbuchstaben der Wörter Ie-sous Christos Theous Yios Soter (übersetzt: Jesus Christus GottesSohn Retter). Außerdem werde vermutet, dass die Christen denFisch zu Zeiten der Verfolgung als Erkennungssymbol nutzten.Historisch bewiesen sei das allerdings nicht. Trotzdem eine Er-klärung, mit der ich mich zufrieden geben konnte. Komischerwei-se tauchten sie plötzlich überall auf. Ein Meer aus bunten Fischen.Doch sie waren nicht alleine. Engel, Rosenkränze und Kreuzan-hänger – geschickt am Rückspiegel montiert – gesellten sich zuihnen. Religiöser Autoschmuck scheint total im Trend zu sein,schoss es mir durch den Kopf. Naja, wenn es denn hilft, sicherdurch den Straßenverkehr zu kommen, dekoriere ich meine klei-ne Blechkiste auch bald um. Schaden kann es zumindest nicht. ●

Das Rätsel umden bunten Fisch

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24 WIE GLAUBT DER NORDEN?

BadSegeberg „Nein“, sagt Vik-toria Budnikov, „ich bin zwarüberzeugte Jüdin, aber meinenSohn würde ich nach der Ge-burt nicht beschneiden las-sen.“ Ihre Stimme klingt be-stimmt, aber freundlich, ernst,aber höflich. „Wenn ich mal ei-nen Sohn bekomme, will ichihm nicht unnötig Steine inden Weg legen, falls er späterlieber konvertieren möchte.“Sie blickt mich an, sie lächelt.Es ist ein ehrliches Lächeln,warm und herzlich. Es passt zuihr, zu ihrem gelebten Glau-ben. „Mir ist wichtig, das eige-ne Weltbild, die eigenen Tradi-tionen, Werte und Vorstellun-gen zu bewahren und gleich-zeitig offen zu sein für alles an-dere.“ Ihre Worte klingen ge-stelzt, wie aus einem Lehr-buch, besonders, da ViktoriaBudnikov erst 18 Jahre alt ist.Aber sie stimmen, sie sprechenihr aus der Seele, sie könntenauch problemlos das Glau-bensmotto der Gemeinde re-präsentieren.

„Wir gehören zum liberalenJudentum, also zu den Reform-juden, wir sind von der Glau-bensauslegung relativ frei undstehen anderen Religionensehr offen gegenüber.“ Offenist eines der Lieblingswörterder Schülerin, wenn sie überihren Glauben spricht. „In BadSegeberg haben wir viele reli-giöse Strömungen, es gibt ne-ben der jüdischen Gemeindeauch eine muslimische undmehrere christliche. Zusam-men gestalten wir einmal imJahr den Tag der Religion, umuns untereinander auszutau-schen und besser zu verste-hen.“

Viktoria Budnikov sitzt aufeinem Stuhl, relativ nah an derWand. Sie wirkt konzentriert,spricht ehrlich über ihre Religi-on, obwohl ständig Menschenan ihr vorbeihuschen. Es istFreitagabend, kurz nach 19Uhr. In der Synagoge, die zu-gleich Gemeindezentrum ist,herrscht Hochbetrieb. Es ist ei-

ne Art Tag der offenen Tür, we-gen eines Jugendprojektes. Be-stimmt 30 Kinder, Jugendliche,Eltern und Senioren sind ge-kommen, die meisten hier sindkeine Juden. Der Gemeinde-vorsitzende schnackt mit denGästen, macht Späße und lässtsie alle an einem jüdischenAbendmahl mit Brot, Wein, al-ternativ Traubensaft, teilha-ben. Die Gemeinde predigtnicht bloß die Offenheit gegen-

über anderen, sie lebt es vor al-len Dingen. Für Budnikov istdas selbstverständlich.

Mit kurzen, langsamenSchritten kommt ihr eine jungeFrau entgegen, sie ist vielleicht20 Jahre alt. Sie geht schnur-stracks auf Budnikov zu, siestrahlt, als sich ihre Blicke tref-fen. Beide fallen sich in die Ar-me und begrüßen sich herz-lich. „Das ist eine Freundin vonmir, sie ist auch Jüdin, aber das

sind die wenigsten Leute inmeinem Umfeld“, berichtetViktoria Budnikov. Das machtihr überhaupt nichts aus, es istTeil ihres gelebten offenenGlaubens. Was vielen in ihrerReligion bis zum Lebensendenicht gelingt, hat sie bereitsmit 18 Jahren als Schülerin ge-schafft – sie ist überzeugte Jü-din, trotzdem völlig uneitelund tolerant bei ihrer Glau-bensauslegung.

Sie besucht die zwölfte Klas-se eines staatlichen Gymnasi-ums in Bad Segeberg, nächstesJahr will sie dort ihr Abitur ma-chen, danach für einen Freiwil-ligendienst ein Jahr ins Aus-land, dann studieren. Aberwas? „Das weiß ich noch nicht,aber auf keinen Fall etwas, dasim Zusammenhang mit meinerReligion steht.“ Umso intensi-veren Kontakt mit Glaubens-brüdern und -schwestern hatsie beim dreitägigen Limmud-Festival in Berlin und beimLimmud-Tag in Hamburg ge-sammelt. „Das sind Treffenvon Juden aus Deutschland,das ist echt total ungewohntfür mich, auf einem Fleck soviele Juden anzutreffen.“ Vik-toria Budnikov wirkt gelöst,wenn sie über die Treffen plau-dert, ist zu spüren, wie stolz sieauf ihren Glauben ist. Aber esist kein übersteigerter Stolz,im Gegenteil. „Bis ich sechsJahre alt war, haben wir Weih-nachten wie alle Christen auchgefeiert, mit Tannenbaum, Ge-schenken und allem was dazugehört. Ich hätte damals nichtverstanden, wieso alle meineFreunde Weihnachten feiern,wir aber nicht.“ Auch das istTeil des gelebten, offenenGlaubens der Gemeinde.

Das weiß auch die 18-Jährigezu schätzen. Noch immer sitztsie auf dem Stuhl am Ende desRaumes. „Bei meiner Bat-Mi-zwa durfte ich mit 13 Jahren ei-nen Gottesdienst mit einemanderen Mädchen zusammengestalten und aus der Tora vor-lesen – das ist nicht selbstver-ständlich für Jüdinnen.“ Unge-fähr einmal monatlich feiertdie Gemeinde in Bad SegebergGottesdienst. Danach sitzensie noch beisammen und essengemeinsam Mittag. Oder zuAbend, wie gelegentlich frei-tags, zum Beginn des Schabbat.„Anders als die orthodoxen Ju-den legen wir unseren Glaubeneher locker aus, aber auf ko-scheres Essen achten auchwir“, sagt Viktoria Budnikov.

Gelebte OffenheitDie 18-jährige Jüdin Viktoria Budnikov ist stolz auf ihren Glauben. Auch der Austausch

mit anderen Religionen gehört für sie zum Alltag. Als Kind feierte ihre Familiemit ihr sogar das christliche Weihnachtsfest.

VON CHRISTOPH KÄFER

Überzeugte Jüdin und tolerant bei der Glaubensauslegung: Viktoria Budnikov (18). KÄFER

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WIE GLAUBT DER NORDEN? 25

ZUR PERSONPROF. DR. UTAPOHL-PATALONG

Uta Pohl-Patalong (Jg. 1965) istseit 2007 Professorin für Prakti-sche Theologie an der Christian-Albrechts Universität zu Kiel. IhreForschungsbereiche sind Religi-onspädagogik, Zukunft der Kirche,neue Formen von Verkündigung,Bibliolog und Genderfragen.

JÜDISCHE GEMEINDEBAD SEGEBERG

283 JAHRE LANGE HISTORIE

Die jüdische Gemeinde in Bad Sege-berg blickt auf eine lange Geschichtezurück: Bereits im Jahr 1730 ließensich die ersten Juden nieder, 62 Jahrespäter gründeten sie ihren Friedhofund weihten 1842 ihre Synagoge ein.Diese wurde von den Nationalsozialis-ten entweiht und musste 1962 wegenBaufälligkeit abgerissen werden.Nachdem die Nazis 1938 die jüdischeGemeinde aufgelöst hatten, wurdediese erst 2002 mit 28 Mitgliedernwieder gegründet. Nach rund fünfjäh-riger Bauzeit konnten die mittlerweile200 Mitglieder das neue Gemeinde-zentrum beziehen.

Welche Glaubensrichtungenüberwiegen in Schleswig-Hol-stein?

Prof. Dr. Pohl-Patalong: Schles-wig-Holstein ist traditionell evange-lisch geprägt. Auch heute ist dieMehrheit evangelisch (63,8 Pro-zent), es gibt aber natürlich auch ka-tholische Christen (6,3 Prozent).Drei Prozent gehören dem Islam an.

Wenden sich die Menschen im 21.Jahrhundert von der Kirche ab?Und wenn ja, warum?

Das kann man so eindeutig garnicht sagen. Gerade für das evange-lische Christentum gilt schon lange,dass Menschen ihren Kontakt zurKirche individuell gestalten. GroßeAustrittswellen gab es nach 1968und 1995 mit der Einführung desSolidaritätszuschlages. Immer nochtreten Menschen aus der Kirche aus,interessanterweise aber treten auchvermehrt Menschen wieder ein.Auch im Blick auf den Gottesdienst-besuch haben wir im Moment eineinteressante Entwicklung: Der Be-such des „normalen“ Gottesdiens-tes am Sonntag geht eher noch zu-rück, „besondere“ Gottesdienstewie Open Air-Gottesdienste, Got-tesdienste zu besonderen Anlässenoder auch Weihnachten haben je-doch einen größeren Zulauf als nochvor einigen Jahren. Menschen ent-scheiden über ihr Verhältnis zur Kir-che selbst.

Wenn weniger Leute die Kirchenbesuchen als vor 50 Jahren, heißtdas dann auch, dass die Gesell-schaft weniger religiös ist als da-mals?

Mittlerweile ist in der religionsso-ziologischen Forschung deutlich ge-worden, dass Religiosität und Kir-chenzugehörigkeit zwar nicht unab-hängig voneinander sind, aber auchnicht deckungsgleich. Religion hatseit einigen Jahren andere Formenals die, die wir traditionell gewohntsind und damit ist sie oft auchschwerer zu identifizieren – „un-sichtbare“ oder „diffuse“ Religionnennen wir dies. Manche aktuellenempirischen Untersuchungen kom-men sogar zu dem Ergebnis, dassReligion wieder zunimmt, dass alsomehr Menschen sich als religiös ver-

stehen als noch vor einigen Jahren.So glauben zum Beispiel mehr Ju-gendliche an ein Leben nach demTod als Erwachsene mittleren Al-ters.

Gibt es also aktuelle Trends undPhänomene des Glaubens?

Schon lange ist der Trend zur „In-dividualisierung“ des Glaubens zubeobachten: Menschen entscheidenselbst, was sie glauben, wem sie re-ligiös vertrauen, und sie setzen sichkritisch mit Glaubensinhalten aus-einander. Oft werden nicht alle In-

halte einer Religion übernommen,sondern es werden bestimmte Ele-mente ausgewählt und mit Elemen-ten anderer Religionen kombiniert,zum Beispiel gibt es nicht wenigeChristinnen und Christen, die denbuddhistischen Glauben an eineWiedergeburt teilen. Neuer ist derTrend, dass religiöse Traditionenwiederentdeckt werden. Alte Kir-chen, Liturgien, besonders auchKlöster sind „in“. Traditionen geltenim Moment nicht als langweilig undverstaubt, sondern das Fremde hatseinen Reiz, das viele einmal auspro-bieren möchten.

Neue Studien zeigen, dass sichviele Menschen der Esoterik zu-wenden. Wie lässt sich das erklä-ren?

„Esoterik“ ist ja ein Sammelbe-griff für diverse Überzeugungen undPraktiken, die gemeinsam haben,dass sie Zusammenhänge von Kör-per, Geist und Seele jenseits natur-wissenschaftlicher Beweise sehen.Dass Menschen für diese Dimensio-nen offen sind und nach solchen Zu-sammenhängen suchen, ist eine

Konsequenz der sogenannten „Ent-zauberung“ der Moderne: Wir mer-ken seit einigen Jahrzehnten, dassdas naturwissenschaftliche Welt-bild vieles, aber nicht alles erklärtund manches schlicht ausblendet,was zum Menschsein dazu gehört.Attraktiv an esoterischen Überzeu-gungen und Praktiken ist zudem,dass sie in der Regel keine Verbind-lichkeiten fordern, wie sie zum Bei-spiel die Kirchenmitgliedschaft dar-stellt, weil sie keine Institution bil-den. Schließlich bieten esoterischePraktiken meist klare Antworten aufFragen und versprechen Lösungenfür Probleme. Das passt in unsereZeit, die weniger nach großen in-haltlichen Überzeugungen undstimmigen Weltbildern fragt als da-nach, was hilft und (rasch) gut tut.

Gibt es Unterschiede zwischenLand- und Stadtgebieten?

Es gibt Tendenzen, allerdingsverschwimmen die Unterschiedezwischen Stadt und Land ja generellund das gilt auch für Religion undKirche. Grundsätzlich sind Men-schen nicht unbedingt religiöseroder weniger religiös, weil sie aufdem Land oder weil sie in der Stadtleben. Allerdings sind auf dem Landprozentual mehr Menschen Kir-chenmitglieder. Die Vielfalt der Re-ligionen und religiösen Orientie-rungen ist in der Stadt stärker aus-geprägt und zumindest auf dem„klassischen“ Land noch etwas ein-heitlicher. Kirche zeigt sich zudemauf dem Land in der Tendenz tradi-tioneller, nicht zuletzt, weil in derStadt mutiger experimentiert wirdzum Beispiel mit Citykirchenarbeit,neuen Formen von Jugendarbeitoder Kirchen der Stille.

Interview: Kira Oster

Koscheres Essen? Sie scheint die Fra-gezeichen auf meiner Stirn bemerkt zuhaben. Sie lächelt, holt einmal Luft undfährt fort. „Vor allem achten wir auf einestrenge Trennung von Milch- undFleischprodukten, die werden separatgelagert und dürfen nie miteinander inBerührung kommen und nie zusammengegessen werden.“ Aber wie geht das?Budnikov geht in die Gemeindeküche.Die ist groß, sauber, aber farblich sehrauffällig gestaltet. Die linke Seite istkomplett rot, die rechte komplett blau.„Auf der einen Seite werden nur Milch-produkte gelagert und zubereitet, aufder anderen nur Fleischgerichte.“ Diefarbliche Trennung dient als Eselsbrü-cke. Sie geht weiter durch die Synagoge.

Es ist erstaunlich, abgesehen von einpaar Davidssternen und Israelflaggenunterscheidet sich das Gemeindehauskaum von einem christlichen. KeinWunder, schließlich ist das Christen-tum dem Judentum in vielen Dingenähnlich. „Stimmt“, sagt Viktoria Budni-kov und lächelt. „Ich würde deshalbauch sehr gern mal einen christlichenGottesdienst miterleben.“ Das über-rascht nicht, es passt zu ihr, zu ihrer Of-fenheit, zu ihrem gelebten Glauben. ●

„Diffuse“ ReligionProfessor Dr. Uta Pohl-Patalong im Interview:

Religion ist im Kommen, über die Inhalte ihres Glaubenswollen die Menschen selbst entscheiden.

Prof. Dr. Uta Pohl-PatalongDEKT / J. SCHULZE

Beim Segnendes Abend-mahls.

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26 WIE GLAUBT DER NORDEN?

ALLAN KARDECDIE ORDNUNG DER GEISTERWELT

Allan Kardec (1804 - 1869) wurde als Hippolyte Léon Denizard Rivail im französischen Lyongeboren, studierte in der Schweiz bei Johann Heinrich Pestalozzi, bevor er nach Frankreichzurückkehrte. Dort unterrichtete er unter anderem Physik, Chemie und Humanbiologie, ver-gleichende Anatomie und Französisch. Als in den 1850er Jahren das Phänomen der Geis-termanifestationen auftrat, begann er sich zunächst skeptisch mit dem Spiritismus zu be-schäftigen. Seine Beobachtungen schrieb er später in seinen fünf Hauptwerken auf: DasBuch der Geister (philosophischer Teil), Das Buch der Medien (experimental-wissenschaft-licherTeil),DasEvangeliumimLichtedesSpiritismus(ethischerTeil),HimmelundHölle (überGerechtigkeit) und Genesis (Versuch, Religion und Naturwissenschaft in Einklang zu brin-gen). Sie sind die Grundlage des heutigen Spiritismus.

Hamburg21 Uhr. Es ist dunkel in dem klei-nen Kellerraum in Hamburg-Winterhude.Nur eine kleine grüne Glühbirne taucht dieSzenerie in dämmriges Licht: Vier Perso-nen sitzen auf Sesseln an der Wand, dieHandflächen gen Decke gerichtet und dieAugen geschlossen. Ihnen gegenüber vierMedien. Darunter die Brasilianerin Mari-ley Lopes Stoll, Gründerin der BrüderlicheSpiritistische Studiengruppe SchwesterSheilla. Zusammen mit drei weiteren er-fahrenen Mitgliedern der Gruppe, spendetsie den anderen Bioenergie, die ihr aus derGeisterwelt gesendet wird.

Eine Stunde zuvor. Mit gezückten Ku-gelschreibern und aufgeschlagenen Notiz-büchern sitzen die Mitglieder um MarileyLopes Stoll herum. Thorsten Fagundesliest aus dem Buch „Der Bote“ vor. VieleTextstellen sind mit rosa Textmarker an-gestrichen. Es geht um Geisterkolonien.Immer wieder klingelt es an der Haustür,Gruppenmitglieder kommen herein undsetzen sich dazu. „Man muss auch arbeitenund studieren, damit man sich weiter ent-

wickelt“, erklärt Lopes Soll. Denn Glaubeallein reiche im Spiritismus nicht aus. Viel-mehr bestehe er auch aus philosophischenElementen und einer komplexen Wissen-schaft, sagt die 44-jährige Brasilianerin.Daher treffen sich Spiritisten in sogenann-ten Studiengruppen, wie die BrüderlicheSpiritistische Studiengruppe SchwesterSheilla in Hamburg, benannt nach derKrankenschwester Sheilla, die währenddes zweiten Weltkrieges in der Nähe vonHamburg arbeitete. Ein riesiger Spiegelnimmt fast die gesamte Längsseite desRaumes ein. Rosa und orange Moosgum-mi-Blüten sind an die Wände gepinnt. Da-neben hängt ein kleines Kruzifix. „Wir sindeigentlich alle Christen“, sagt Lopes Stoll.

Rückende Gläser, kippelnde und tan-zende Tische – auch das ist Spiritismus.„Diese Phänomene wurden zuerst in Ame-rika beobachtet“, erklärt sie. Es seien Geis-ter, die durch diese Gegenstände Kontaktzu den Menschen aufnehmen würden.Schließlich war es das französische Medi-um Allan Kardec, der im 19. Jahrhundert

der Welt der Geister eine Ordnung gab. DieSpiritisten selbst sind im Gegensatz zu an-deren Religionen vergleichsweise wenigstarr organisiert. Es gibt keinen Klerus.Auch Rituale, Kerzen, Weihrauch oder Ge-sänge sucht man vergeblich. SogenannteMedien stellen den Kontakt zur Geister-welt her. Durch sie gelangen Gesetze undPrinzipien des Glaubens zu den Men-schen. „Die Seelen der Menschen sterbenmit dem Tod des weltlichen Körpersnicht“, erklärt Lopes Stoll. Vielmehr gingesie in die Geisterwelt über und warte dortauf ihre Reinkarnation. „Dabei entwickeltsie sich immer weiter.“ Immer wieder wür-den die Geister durch irdische MedienKontakt zur Welt aufnehmen und dabeiRatschläge geben oder über die Geister-welt berichten.

Um deren Struktur geht es auch bei die-sem Treffen. Oder genauer: um Geisterko-lonien und -ministerien, in denen es rechtgeordnet zuzugehen scheint. So wird dortdiskutiert, wer wiedergeboren wird, undwelcher Geist mit welchem Medium Kon-takt aufnimmt. „Die Geisterwelt ist vielmehr organisiert als unsere Welt. Die Erdeist quasi eine schlechte Kopie von ihr.“ Im-mer wieder geht es an diesem Abend umdie Fragen „Was ist meine Aufgabe auf derWelt?“, „Bin ich mit mir im Reinen?“ DieDiskussion wird heftiger, als ein Mitglied,dem Ungerechtigkeit in einer anderen Fa-milie aufgefallen ist, die Gruppe fragt, obes sich einmischen sollte. „Deine Freiheitendet dort, wo die des anderen anfängt“,sagt ein junger Mann in einer Ecke desRaumes. Aber sollte man sich darum nichteinmischen? Es herrscht Uneinigkeit inder Gruppe. Im Eifer der Diskussion ver-fallen die Mitglieder immer wieder ins Por-tugiesische. Die Luft wird stickiger.

Vor 23 Jahren gründete die Brasilianerindie Spiritistische Studiengruppe Schwes-ter Sheilla. Bis zu 30 Leute kommen zu denTreffen. „Ich bin in die Welt der Geister

reingewachsen“, sagt Lopes Stoll. Schonihre Ur-Ur-Großeltern in Brasilien warenSpiritisten, ihre Mutter ein bekanntes Me-dium. Doch sie bezeichnet sich auch alsChristin und es kämen auch Buddistenoder Muslime zu den Treffen. „Wir sindsehr tolerant.“ Durch diese Offenheit an-deren Religionen gegenüber sei der Spiri-tismus sehr friedlich. „O Espiritismo não éa Religião do futuro mas o futuro dasReligiões – der Spritismus ist keine Zu-kunftsreligion, sondern die Zukunft derReligionen“, sagt sie.

Nach einer Stunde beginnt der zweiteTeil des Abends: Die Vergabe der Bioener-gie. Mariley Lopes Stoll und drei weitereMedien ziehen sich in einen kleinen Ne-benraum zurück. Die Wände sind hier ap-felgrün, Sterne kleben an der Decke undBilder von Schwester Sheilla an den Wän-den. Lopes Stoll dimmt das Licht. Es riechtstark nach Desinfektionsmittel. „Wir sindhier auch ein bisschen ein Hospital für dieSeele“, erklärt sie später. Auf portugiesischrufen sie die Geister an. Nach fünf Minutenist die 44-Jährige soweit. Vier weitere Mit-glieder werden in den Raum gebeten. Aufeinmal verändert sich die Stimme der Bra-silianerin. Sie wird tiefer und rauer. Als obsie etwas vom Körper des vor ihr Sitzendenabstreifen wollte, fährt sie dessen Kontu-ren nach, schüttelt die Hände aus, als ob sielästigen Dreck abschütteln würde. Die an-deren Medien tun es ihr nach. Unter ihnen:Thorsten Fagundes. Der 44-Jährige ist seit1995 Teil der Studiengruppe, die er durchseine Frau kennenlernte. „Ich mag dasZwanglose im Spiritismus und dass sichhier nicht alles allein auf den Glaubenstützt sondern auch Philosophie und Wis-senschaft eine Rolle spielen.“ „Der Spiri-tismus ist nicht statisch. Wir lernen imLaufe der Zeit immer mehr über die Geis-terwelt dazu. So wird man sich bewusst,dass das Leben auf der Erde nur einen win-zigen Teil unserer Existenz ausmacht.“ ●

Die Welt der GeisterRückende Gläser, kippelnde tanzende Tische – Spiritismus ist mehr als Geisterbeschwörung.

Die Brüderliche Spiritistische Studiengruppe Schwester Sheilla aus Hamburgtrifft sich regelmäßig, um über die spirituelle Welt zu diskutieren.

VON JOHANNA TYRELL

Von den Geisternlernen und ihreWelt studieren:Mariley Lopes Stolltut dies seit 23 Jah-ren in der Brüderli-che SpiritistischeStudiengruppeSchwester Sheilla.

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WIE GLAUBT DER NORDEN? 27

Eckernförde „Menschen erle-ben Dinge in ihrem Leben, die siesich nicht erklären können. Ichhelfe ihnen bei der Lösung“, sagtChristiane Feuerstack. Die 53-jährige Eckernförderin bezeich-net sich selbst als spirituelle Leh-rerin. Sie hilft ihren Kundendurch „Karma-Arbeit“, sichselbst zu entdecken und so Pro-bleme in der Gegenwart zu lösen.

„Durch Reinkarnation stößtman auf Ereignisse in früherenLeben. Viele Probleme haben ih-ren Anfang in früheren Leben“,erklärt Feuerstack. Deswegen seies wichtig, die Ursachen in derVergangenheit zu suchen, um sodie Probleme des jetzigen Lebenslösen zu können. „Manche Men-schen kommen mit einer konkre-ten Fragestellung zu mir“, sagtFeuerstack. Beziehungsproble-me, körperliche Schmerzen undAngstzustände sind häufige Ur-sachen für Fragen. „Es gibt Kon-flikte, die sich nicht aus dem Hierund Jetzt erklären lassen“, sagtFeuerstack. Die spirituelle Reisehelfe, diesen auf den Grund zu ge-hen.

Nach einem Vorgespräch bil-det die geführte Meditation dasKernstück der Reise ins Innere.„Zum Einstimmen wende ich ei-ne geführte Schutzmeditationan, die eine bestimmte Atem-technik beinhaltet, die zu einerleichten Entspannung führt. Esist aber keine Hypnose“, betontdie spirituelle Lehrerin. Das Ge-hirn funktioniert in einer langsa-meren Frequenz. Man fühlt sichwie kurz vorm Einschlafen, istaber noch in der Lage, Fragen zubeantworten.

Auf der Reise ins Innere und zuden früheren Leben helfen Engel.Sie weisen den Weg und sind dieMittler zum eigenen Bewusst-sein. „Zum einen kann man be-stimmte Engel oder Lichtwesengezielt um Hilfe bei der Heilungoder Lösung von Blockaden bit-

ten, was sie in der Regel auch tun.Sie tun es aber nicht unbedingtvon sich aus, weil sie nicht in dieFreiheit des Menschen eingrei-fen. Deshalb ist die Bitte der Men-schen auch wichtig“, erklärt Feu-erstack.

„Zur Einstimmung frage ich,ob sie ihren Engel hinter sich spü-ren können. Es geht viel über Ge-fühle. Manche Menschen sindblockiert, wenn sie etwas vor ih-rem inneren Auge sehen sollen“,sagt Feuerstack. Sie versucht insolchen Fällen, die Blockadendurch gezielte Fragen wie „Wospürst Du die Gefühle im Kör-per?“ zu lösen. Denn nur so kannman in seine früheren Leben ein-treten. „Man kommt in einenSchattenbereich und erkennt:‚Die Blockaden sind meine Angst,aber ich bin nicht die Angst, ichbin mehr als nur Angst. Dannkomme ich mit ihr ins Gespräch.

Sie zeigt sich als Figur und dieseführt mich zur Entstehung derAngst.‘ Das ist die Möglichkeit,ins frühere Leben zu gelangen.“

In einem Nachgesprächspricht Feuerstack über das Ge-sehene und unterstützt bei derInterpretation. „Viele Leute sa-gen danach: ‚Ich weiß nicht, wasdie Bilder bedeuten sollen.‘ Ichhelfe ihnen, sie in einen großenZusammenhang einzubetten. Ei-nige brauchen einen Schlüssel,um die Bilder zu verstehen.“Manchmal müsse man ein Bildauf sich wirken lassen und die Er-kenntnis komme erst später. Manhalte ein Zwiegespräch mit demeigenen Bewusstsein, so Feuers-tack. „Es ist wie eine Telefonlei-tung zum höheren Bewusstsein.“

Christiane Feuerstack erklär-te, in einem ihrer früheren LebenLehrerin gewesen zu sein. Mit 24Jahren machte sie in ihrem jetzi-

gen Leben ein Praktikum in ei-nem Ort im Schwarzwald, in demsie im früheren Leben gestorbensei. „Ich kam an den Ort unddachte, hier habe ich mal ge-wohnt. Deswegen habe ich michdort so zu Hause gefühlt“, sagtsie. Die Lehrerin habe damals zueiner ihrer Schwestern eine sehrgute Beziehung gehabt. „Ichdachte immer, ich kenne keinenMenschen im jetzigen Leben, dermeine Schwester ist.“ Bis sie 2007ein Karma-Seminar in derSchweiz gegeben habe: „Ich saßbeim Abendessen einer Hollän-derin gegenüber und fühlte, dassich die Frau kenne“, sagt Feuers-tack. Die beiden seien sich gleichvertraut gewesen. „Bei meinemBesuch in Holland sagte das Kindmeiner Freundin: „Mama, war-um musstest du so lange auf dei-ne Schwester warten?“

Das Faszinierende an der Kar-

ma-Arbeit sei, dass die Leben in-einander übergleiten, sagt Feu-erstack, die sich 2005 als spiritu-elle Lehrerin selbstständig mach-te und nebenbei Eurythmiekursegibt. Ihre erste Berührung mit Re-inkarnation hatte sie mit 13 Jah-ren. „Wir hatten zu Hause am Ess-tisch eine Diskussion darüber.Ich hörte sofort eine Stimme inmir, die sagte, dass Reinkarnationselbstverständlich sei“, sagt Feu-erstack. Sie begann früh, sich mitder Lehre von Rudolf Steiner,Philosoph und Begründer derAntroposophie, zu beschäftigen,fühlte sich aber erst mit Mitte 30bereit, intensiver in das Themaeinzusteigen. „Jetzt mache ichernst und kümmere mich ummeinen geistigen Weg“, sagte siesich. Eine Reise in ein früheresLeben, bei der sie Rudolf Steinerbegegnete, bekräftigte sie, sichberuflich für die Karma-Arbeit zuentscheiden.

„Häufig bekommt man erstein vollständiges Bild von sich,wenn man über seinen früherenTod hinausgeht. Man muss sei-ne Erlebnisse und seine Lebenin einen großen Zusammen-hang betten, um sich selbst unddie Gründe seiner Probleme zuverstehen“, sagt Feuerstack.Vergebung spiele dabei einegroße Rolle. Feuerstack erin-nert sich an eine Frau, die imfrüheren Leben als Hexe ver-brannt worden ist. Die Inquisi-toren waren Verwandte ausdem jetzigen Leben. „Es istdoch furchtbar. Nicht nur, dassman als Hexe gestorben ist, son-dern auch, dass die Verwandtensie nicht gerettet haben.“ So ler-ne man jedoch, dass auch dieVerwandten, also die Täter, un-ter Zwängen stehen und Angstum ihr Leben hätten. „Man lerntverstehen und muss sein Lebenim großen Ganzen sehen. Dannlernt man, sich und anderen zuvergeben.“ ●

Leitung zumhöheren Bewusstsein

Angst vor Feuer? Vielleicht ist man in einem früheren Lebenals Hexe verbrannt worden. Die spirituelle Lehrerin Christiane Feuerstack

aus Eckernförde unterstützt Menschen bei ihrer Reise ins Innere.VON MIRIAM RICHTER

„Häufig bekommt man erstein vollständiges Bild vonsich, wenn man über seinenfrüheren Tod hinausgeht“,sagt Christiane Feuerstack.

ALTHAUS

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28 WIE GLAUBT DER NORDEN?

Glückstadt Rabia Atasoy legt ihre Ja-cke auf den Boden, dann zieht sie ihreSchuhe aus. Sie kniet auf der Jacke, sieist nach Mekka gewandt. In welcherRichtung der heilige Ort liegt, daszeigt ihr eine App auf dem Handy.Dann setzt sich die 16-Jährige auf dieKnie, steht wieder auf und beugt sichwieder herunter. Ihre Lippen bewegensich, ganz leise sind die arabischenWorte ihres Gebets zu hören. RabiaAtasoy betet täglich mindestens fünfMal. So schreibt es ihre Religion vor.

„Bis ich 13 war, war ich nur ab undan in der Moschee“, sagt die jungeMuslimin. Seit zwei Jahren ist das an-ders: Sie ist religiös bedeckt, betet, fas-tet zum Ramadan. Sie hält sich an diesogenannten fünf Säulen des Islam.Das sind: Der Glauben an die EinheitAllahs und das Ablegen des Bekennt-nisses zu diesem Glauben (Shahada),die fünf täglichen Gebete (Salat), dieWohltätigkeit gegenüber Mitmen-schen (Zakat), das Fasten während desRamadan (Saum) und die Pilgerfahrtnach Mekka (Hadsch).

Morgens nach dem Frühstück ist esZeit für das erste Gebet. „Sobald dieSonne gesehen wird“, erklärt RabiaAtasoy. In der Schule betet die Gym-nasiastin selten, denn die Schulzeitkollidiere nur im Winter mit den Ge-betszeiten. „Das ist immer abhängigvon der Sonne, im Winter sind die Ta-ge kürzer und die Gebetszeiten deswe-gen näher beieinander.“ Auch imSportunterricht ist sie religiös be-deckt. Das heißt: Sie trägt Kopftuch,eine weite Jogginghose und einenPullover. Damit sich nichts abzeich-net.

Falls die Gebetszeiten sich aberdoch einmal mit ihrem Stundenplanüberschneiden, hat sie an ihrer Schule,dem Detlefsengymnasium in Glück-stadt, die Möglichkeit sich einen ruhi-gen Raum zu suchen und dort zu be-ten. „Eine befreundete Familie wohntaber auch gegenüber der Schule – indem muslimischen Haus sind natür-lich bessere Voraussetzungen.“ Vielesin ihrem Alltag richtet sich nach ihren

religiösen Pflichten. Am liebsten betesie alleine, im Sommer kann das auchmal im Garten sein. Und auch wenn sieunterwegs ist, finde sie immer einenOrt für ihr Gebetsritual: „Ich überlegemir dann am Abend vorher, wo ich be-

ten könnte. Außerdem gibt es sehrkleine Gebetsteppiche, die in dieHandtasche passen und kaum Platzwegnehmen.“

Ein besonderer Monat ist – demmuslimischen Mondkalender nach –

der Ramadan. Es ist der Fastenmonat.Nach islamischer Auffassung wurde indiesem Monat der Koran herab ge-sandt. Für Muslime ist er Pflicht, Aus-nahmen sind aber erlaubt, zum Bei-spiel während der Schwangerschaft.Auch Kinder und ältere Menschensind der Pflicht entbunden. Das Fas-ten beginnt jeweils vor Anbruch derDämmerung und dauert bis zum Son-nenuntergang. Auch Rabia Atasoy gehtwährend des Ramadan fastend zurSchule. „Es ist am Anfang echt schwie-rig, aber letztlich eine Gewöhnungssa-che“, sagt sie. Sogar den Sportunter-richt halte sie gut durch.

Im Januar 2011 entdeckte die heute16-Jährige ihre Religion neu. „Ich frag-te mich damals: Wenn ich schon einmuslimisches Mädchen bin, warumbete ich dann nicht?“ Sie beschäftigtesich intensiv mit dem Koran und be-gann sich nach ihm zu richten. „ImMai fing ich dann an mich religiös zubedecken.“ Nervös sei sie gewesen, alssie das erste Mal mit Kopftuch in dieSchule ging. „Es gab damals aberschon zwei Mädchen an unserer Schu-le, die Kopftuch trugen.“ Die Reaktionder Mitschüler sei positiv gewesen.„Viele wussten schon, dass ich nunKopftuch tragen möchte.“ Es kamenviele neugierige Fragen. Rabia Atasoybeantwortete alle. „Viele wissen nursehr wenig über den Islam.“ Für eine16-Jährige ist sie sehr wortgewandtund aufgeschlossen. In ihrer Familiesei die Haltung zur Religion individu-ell: „Meine Schwester betet zum Bei-spiel nicht die fünf Gebete und sieträgt auch kein Kopftuch.“

Geduldiger sei sie durch ihren Glau-ben geworden und reflektierter. „Meinmuslimisches Ich ist ein ruhigerer undein sozialerer Mensch.“ Vorher habesie nicht begründen können, warumsie lebe oder jeden Tag aufstehe. „FürAußenstehende ist fünf Mal am TagBeten viel. Doch ich mache das mitLiebe.“ Die 16-Jährige ist überzeugt:„Meine Religion verleiht mir Stärke.Es gibt sicher eine Belohnung – imDiesseits oder im Jenseits.“ ●

Das muslimischeIch entdeckt

Im Alter von 13 Jahren entschied sich Rabia Atasoy bewusst für den muslimischenGlauben: Sie beschäftigte sich mit dem Koran, begann zu beten und bedeckte sich mit

dem Kopftuch. Die Mitschüler reagierten aufgeschlossen und neugierig.VON KIRA OSTER

Gelebter Glaube: Die 16-jäh-rige Rabia Atasoy betet fünfMal am Tag – gerne auch malim Garten. OSTER

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WIE GLAUBT DER NORDEN? 29

Wie glaubt der Norden?Religion in Schleswig-Holstein in Zahlen

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30 WIE GLAUBT DER NORDEN?

Flensburg Man kann nicht auf zweiHochzeiten tanzen? Mohamad Ahmadund Laila Burgschat schon. Und zwar aufihren eigenen. Laila ist Christin und Mo-hamad Moslem, doch für sie kommt einedeutsch-arabische Hochzeitsfeier nichtin Frage. Ein Fest, auf dem grob über denDaumen gepeilt 500-600 Menschensind, die mehr oder weniger zur Familiedes Bräutigams gehören, kann für mancheinen Deutschen überwältigend sein.Mohamads muslimische Familiestammt aus dem Libanon und selbst sei-ne Eltern haben zusammen schon mehrals 15 Geschwister, die wiederum auchjeweils viele Nachkommen haben. „Dakann man sich ja ausrechnen wie vieledas werden“, grinst der 25-Jährige. Ein-geladen sei schließlich nicht nur der en-ge Familienkreis, sondern jeder der zurFamilie gehört. Auch eventueller Besuchist willkommen. Eine durchnummerier-te Gästeliste? Unvorstellbar!

Mohamad und Laila haben bereitsmehr oder weniger schlechte Erfahrun-gen auf deutsch-arabischen Hochzeits-feiern gemacht. „Das funktioniertnicht“, findet Mohamad. „Wenn dieDeutschen sehen wie die anderen imKreis tanzen, denken die sich auch: ‚Wasist das für ein Affentanz“, erklärt er miteinem Grinsen. Außerdem sei es den bei-den wichtig, zwei richtige Feiern mit al-lem Drum und Dran zu haben. „Sonst istes nichts Halbes und nicht Ganzes.“ Da-her haben sie sich dazu entschlossen,zweimal zu feiern.

Ob auf der arabischen Hochzeit mehrgefeiert wird, als auf der deutschen ist un-gewiss. Bei der arabischen Variante steheauf jeden Fall die Ausgelassenheit im Mit-telpunkt, erklärt Mohamad. Eine Bandmit Sänger wird für die Musik sorgen undden Gästen einheizen. Die sind meist aufder Tanzfläche aktiv und bilden einenKreis um das Hochzeitspaar, wenn derHochzeitstanz präsentiert wird. Das typi-sche „Im-Kreis-tanzen“ wird den ganzenAbend durchgezogen. Nur beim Essen le-gen alle Anwesenden eine Pause ein.

Kulinarische Köstlichkeiten wird esnicht geben. Schließlich gehe es bei einerarabischen Hochzeit nicht um das Es-sen. „Da steht dann irgendwo ein Hähn-chenstand, wo die ganzen Hähnchen ge-braten werden, dazu dann ein bisschen

Salat und Dip. Und nachdem sich allesatt gegessen haben geht’s wieder weitermit Feiern.“ Das Essen sei nur eine Ne-bensache, ein Mittel zum Zweck.

Mohamad und Laila erzählen, dass aufarabischen Hochzeiten häufig weißeTauben fliegen gelassen werden, dasBrautpaar die Torte mit einem riesigenSchwert anschneidet und die frisch Ver-mählten von Verwandten oft Geldge-schenke bekommen – entweder stecken

die Gäste es den Eheleuten an die Klei-dung oder übergeben es persönlich in ei-nem Briefumschlag.

Im Mittelpunkt des muslimischenFestes, das voraussichtlich „irgendwo ineiner riesigen Halle“ stattfinden wird,steht das Ehepaar. Mohamad und Lailawerden nicht wie alle anderen Gäste vonPapptellern essen und auf einer kleinenErhöhung sitzen. „So haben wir das allesgut im Blick“, schmunzelt Laila.

Ihr sei es auch wichtig, dass sie einedeutsche Feier halten. Alleine schon we-gen ihrer deutschen Familie und Freun-den. Dort wird dann Raum sein für even-tuelle Hochzeitsspiele, eine klassischeHochzeitszeitung und deutsche Musik.So kommen alle auf ihre Kosten. Undselbst wenn Mohamad und Laila bereitslängere Zeit sparen, um sich die beidenFeiern leisten zu können – die zweiHochzeiten werden für sie ein Genuss.●

Ein Ja-Wort – zwei FeiernMohamad Ahmad ist Moslem und Laila Burgschat Christin. Geheiratet haben sie Ende 2006.

Nur für die Feier spart das junge Ehepaar noch, denn die gibt es gleich in doppelter Ausführung:einmal auf Arabisch und einmal auf Deutsch.

VON HANNA ANDRESEN

Verheiratet sind sie seit 2006, aber die zwei Hochzeitsfeiern stehen noch aus: Laila Burgschat und Mohamad Ahmad. PRIVAT

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WIE GLAUBT DER NORDEN? 31

JUDEN, CHRISTEN, MOSLEMSINTERRELIGIÖSE TAGUNG

Aus der Not heraus entstand die Idee zueinerinterreligiösenBegegnung:ImJahr2011wardieKapelledesChristian Jen-sen Kollegs in Breklum abgebrannt, dieGottesdienst-Gemeinde versammeltesich in einem Zelt. In einem solchen be-tete schon der Stammvater Abraham,aufdensichJudentum,ChristentumundIslam berufen. Und so lud der Leiter,Pastor Friedemann Magaard, Vertreteraller drei Religionen in„sein Zelt", in die-sem Jahr bereits zum dritten Mal. Frei-tagsgebet, Sabbatfeier und Sonntags-gottesdienst feierten die 15 Teilnehmerim Alter von 15 bis 73 Jahren miteinan-der.StandenbeimerstenTreffendiever-schiedenen Arten zu beten im Mittel-punkt, ging es beim zweiten Mal um dieRolle der Frau in den drei Religionen. Indiesem Jahr wurde über das unter-schiedliche Empfinden für Witz und Hu-mor diskutiert. Als Referenten sind stetsdabei Dr. Ali-Özgür Özdil, Leiter des is-lamischen Wissenschafts- und Bil-dungsinstituts Hamburg, Yuriy Kadni-kov, Rabbiner der liberalen jüdischenGemeindeHannover„EtzChaim“sowieAndreas Schulz-Schönfeld vom Zen-trum für Mission und Ökumene.

Was ist das Ziel der interreligiösen Be-gegnung? Eine Einheitsreligion?

Magaard: Sicherlich nicht. Im interreli-giösen Dialog begegnen sich Menschenmit hohem Respekt voreinander und vorder Verschiedenheit der anderen. Ein Ein-heitsbrei ist nicht das Ziel, ich finde es auchüberhaupt nicht attraktiv. Sähen alle Men-schen gleich aus: wie langweilig! So ist esauch mit dem Glauben.

Worum geht es dann? Versuchen Sie un-tereinander den kleinsten gemeinsa-men Nenner zu finden?

Gemeinsame Nenner zu finden ist eineakademische Aufgabe, wichtig, aber nichtunser Ansatz. Wir zeigen uns einander un-sere geistlichen Schätze. Schaut hin, so be-ten wir. Hört, so lesen wir unsere HeiligenSchriften. Dass es Übereinstimmungengibt: prima! Dass sie mehr sind, als manchevermuten: hervorragend! Aber die Unter-schiede sind wichtig und auch wertvoll.

Sie sind überzeugter Christ, richtig?Korrekt. (lachend)

Was lernen Sie als Christ von Juden undMoslems?

An den jüdischen und den muslimi-schen Partnern bewundere ich die Ernst-

haftigkeit, mit der sie ihren Glauben leben.Darin können sie uns Mehrheitschristenrichtiggehend Vorbilder sein. Mit den jüdi-schen Partnern lerne ich, aufmerksam dieHeiligen Schriften zu studieren und die re-ligiösen Riten lieb zu haben. Mit den mus-limischen Partnern lerne ich das stetigeGebet, das mich mehrfach am Tag daranerinnert, dass ich vor Gott lebe.

Sie halten in Breklum gemeinsame Frei-tagsgebete, Sabbathfeiern und Gottes-dienste. Beten da Gläubige unterschied-licher Religion zusammen?

Um genau zu sein: Wir laden uns gegen-seitig als Gäste zu unseren Gebeten ein.Das ist etwas anderes als miteinander zubeten. Wenn ich das Freitagsgebet derMuslime miterlebe, dann kann mich aucheine meditative Stimmung erfassen und inmir beginnt ein Gebet. Wir sind aber nichtübergriffig und tun so, als wären Unter-schiede nicht da.

Über die Rolle der Frau wurde bei einemIhrer Treffen diskutiert. Kritiker mei-nen, dass alle großen Religionen in Sa-chen Gleichberechtigung der Ge-schlechter Nachholbedarf haben. Zuwelchem Ergebnis sind Sie gekommen?

Immerhin sind nach dem Beleg der Hei-

ligen Schriften der drei monotheistischenReligionen Frauen und Männer gleichwer-tig, da sie gleichermaßen Geschöpfe Got-tes sind. Dass ihnen dann unterschiedlicheVerantwortungsbereiche zugewiesen wer-den, führt oft zu kulturell unterschiedli-chen, aber in der Sache gewichtig unglei-chen Kräfteverhältnissen. Eine interessan-tes Detail am Rande: die muslimische Fas-sung der Sündenfallgeschichte bietet kei-nen Anhaltspunkt, der Frau Eva mehrSchuld zuzuschieben als dem Mann Adam.

Zuletzt haben Sie über religiöse Witzeund die Grenze zwischen Scherz undBeleidigung gesprochen. Ist das Emp-finden der einzelnen Religions-Vertre-ter für Humor unterschiedlich?

Wir haben sehr viel gemeinsam gelacht,eine ungemein lustige Tagung. Aber wirhaben auch die Schmerzpunkte ausge-macht, und die sind durchaus verschieden.Die muslimischen Partner stellen sichschützend vor die Propheten im Koran, zudenen ja auch Jesus gehört, auch vor Maria,seine Mutter. Christen verbinden oft mitreligiösem Humor Autoritätskritik, und dageht es manchmal handfester zu. Der jüdi-sche Humor ist ja sprichwörtlich komisch,nimmt oft Rabbiner ironisch aufs Korn –köstlich. Interview: Michael Althaus

Zu Gast in Abrahams ZeltPastor Friedemann Magaard lädt Juden, Christen und Moslems in das Bildungshaus

der evangelischen Kirche in Breklum ein. Im Interview spricht er überseine Erfahrungen bei der interreligiösen Begegnung.

Grüne, gelbe oder rote Karte: Beim Seminar über religiöse Witze versuchen die Teilnehmer einzuordnen, wo die Grenzen ihres Humors liegen. Von links: Dr. Ali-Özgür Özdil (Imam,Hamburg), Yuriy Kadnikov (Rabbiner, Hannover), Senem Subasi (Muslimin, Hamburg), Renate Brockmann (Christin, Hamburg), Friedemann Magaard (Pastor, Breklum). ALTHAUS

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32 WIE GLAUBT DER NORDEN?

Schönböken „Rücken gerade, Schulternnach unten. Und die Knie sollten mög-lichst den Boden berühren.“ Mit einerEngelsgeduld erklärt Wolfgang Rothemir, worauf es beim aufrechten Sitzenankommt. Mit gekreuzten Beinen versu-che ich, seinen Anweisungen zu folgen.Doch so richtig klappen, will das nicht.„Deine Hose ist zu eng“, sagt er und ver-schwindet kurzerhand, um mir eine wei-te Jogginghose zu besorgen. Der 47-Jäh-rige ist Mönch und gehört dem Soto-Zenan, einer Strömung des Zen-Buddhis-mus. Wir sitzen im Dojo, dem „Ort desÜbens“ im Zen-Kloster Schönböken.Gleich beginnt hier das Zazen – die Sitz-meditation und Grundlage des Soto-Zen. Weil ich Anfängerin bin, gibt es aberheute nur die Kinderversion: 20 Minutenstill sitzen, zehn Minuten Geh-Medita-

tion, und wieder 20 Minuten sitzen.Kann ja nicht so schwer sein, denke ich.Bevor es los geht, kriege ich erst eine Ein-führung, damit nachher auch allesklappt. Das Wichtigste ist die richtigeHaltung. „Du musst für dich ausprobie-ren, wie du am besten sitzen kannst“, rätmir Wolfgang Rothe. Er macht es mir vor,kreuzt die Beine zu einem halben Lotus-sitz und legt seine Hände gefaltet in denSchoß. An die Verrenkung beim Lotus-sitz ist bei mir nicht zu denken, ich ver-suche es stattdessen mit einem einfa-chen Schneidersitz. Das passt.

Mehr als 600 Zen-Buddhisten treffensich regelmäßig, um in den einzelnenDojos in ganz Deutschland zu meditie-ren. Die mehr als 200 Jahre alte Gutsan-lage im Kreis Plön ist das gemeinsameZentrum. Die meisten von ihnen kom-

men nur morgens oder abends zum Za-zen ins Kloster, einige der Mönche ver-bringen auch den Großteil des Tages imKloster. So wie Wolfgang Rothe. Der 47-Jährige kommt fast jeden Tag, um ge-meinsam mit seiner Lebensgefährtinund zehn bis zwölf anderen Mönchenund Nonnen zu meditieren. Einzige Aus-nahme ist Mittwochs – da ist „Bezie-hungsmorgen“. Nebenbei kümmert sichder gebürtige Hesse um die Verwaltung.

Außer den festen Mitgliedern der Ver-einigung haben auch Gäste die Möglich-keit, ins Kloster zu kommen. „Die Mo-delle hier sind sehr verschieden“, weißRothe. Vom konsequenten Langzeit-Me-ditierer bis zum zweiwöchigen Kloster-Urlauber sei alles dabei. Über das ganzeJahr verteilt finden außerdem die so ge-nannten „Sesshins“ statt – eine Art Som-

mercamp für Zen-Buddhisten. „In dieserZeit stehen wir zusammen auf, meditie-ren, kochen und essen gemeinsam undverrichten Arbeiten, die im Kloster an-stehen“, erklärt Rothe. Jeden Tag dergleiche Ablauf. Die festen Strukturenhelfen dabei, Platz für die eigenen Ge-danken zu schaffen. Vertraut werden mitdem eigenen Geist – das ist das Motto.

Was Zen von anderen Glaubensrich-tungen unterscheidet, ist seine Offen-heit. Keine Götter, keine starren Formen,keine Dogmen. „Es ist kein Glaubens-satz, den wir formen. Es geht vielmehrdarum, Vertrauen zu gewinnen. Vertrau-en in das, was man tut“, erklärt mir auchJörg Baro. Der 53-Jährige ist Mönch undhat sich vor gut zwanzig Jahren dem Zenverschrieben. Mittlerweile wohnt er so-gar im Kloster – obwohl er eine Freundin

In der Ruhe sind alle gleichIm Zen-Kloster Schönböken werden Sinnsuchende eins mit dem Universum.

Durch Meditation sollen Körper und Geist verbunden werden.Unsere Autorin hat es ausprobiert.

VON ANABELA BRANDAO

Körper und Geist in Einklang: Beim Zazen,der wichtigsten Grundlage des Soto-Zen,meditieren die Mönche in aufrechter Haltungund tiefer Konzentration. STAUDT

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WIE GLAUBT DER NORDEN? 33

ZEN-BUDDHISMUSSOTO-ZEN

Soto-Zen ist eine der drei größten ja-panischen Schulen des Zen-Buddhis-mus, die im 13. Jahrhundert in Japangegründet wurde. Die Essenz desSoto-Zen ist die Ausübung einer kor-rekten Meditation, dem Zazen. Durcheinen aufrechten Sitz und tiefe Kon-zentrationsoll sichdieVitalitätdesKör-pers intensiv sammeln, um das indivi-duelle Dasein wieder im Urgrund desLebens zu verankern.

hat. Jeden Tag um 5.30 Uhr steht Baroauf, eine halbe Stunde später ist Zazen-Beginn. Jeden Tag. Als Verzicht empfin-det er das nicht. „Zen ist mein Lebens-mittelpunkt. Ich mache es, weil ich eswill, nicht, weil ich es muss.“ Einsam seidas Leben als Mönch nicht, auch wennman materielle Abstriche machen müs-se. „Es ist kein sozialer Rückzug, son-dern nur eine andere Art zu leben.“

Einen kleinen Einblick in dieses Le-ben bekomme auch ich. Während ich imFlur auf den Beginn der Meditation war-te, ertönt ein hölzernes Klopfen. Erstlangsam, dann immer schneller. „Das istdas Zeichen, dass es gleich los geht“,flüstert Wolfgang Rothe. Nach und nachbetreten die Meditierenden den Dojo,auch ich suche mir einen freien Platz aufeiner der schwarzen Matten, den Zabu-tons. Meditiert wird mit dem Gesicht zurWand. Passt mir eigentlich ganz gut,denke ich, dann fühle ich mich nicht sobeobachtet. Vor dem Beginn korrigiertjemand von hinten meinen Sitz und hebtmeine Ellenbogen ein Stück an. Dann er-tönt ein Gong, und es herrscht Stille.Nur das gleichmäßige Atmen ist zu hö-ren. Draußen zwitschern Vögel.

Ich widerstehe der Versuchung,mich umzudrehen und beschließestattdessen, einen Punkt an der Wandanzustarren. Ich soll mich auf ’s Atmenund auf meine Haltung konzentrieren,hatte mir Wolfgang Rothe vorher gera-ten. Aber es dauert nicht lange, undmeine Gedanken schweifen ab. Morgenum zehn ist Konferenz, da muss ich frü-her zur Arbeit. So was Blödes, dabei binich heute abend so spät zu Hause undwollte eigentlich ausschlafen. Ichkönnte den Text später mit einem sze-nischen Einstieg beginnen. Oder viel-leicht lieber mit einem Zitat? Woherwohl der kleine rote Strich an der Wandkommt? Oh, jetzt habe ich ganz verges-sen auf meine Atmung zu achten.

„Das ist normal“, beruhigt mich

Wolfgang Rothe, als ich ihm hinterherdavon erzähle. „Es ist ein ständigerWechsel aus dem Abschweifen der Ge-danken und der Konzentration auf dieAtmung und die Haltung des Körpers.“Der 47-Jährige muss es wissen – schonseit 23 Jahren praktiziert er Soto-Zen.Früher führte der ehemalige Unterneh-mensberater eine Art Doppelleben. Vorder Arbeit in einem Berliner Büro fuhrer zum Meditieren ins Dojo, verbrachteseine Wochenenden und Urlaube mit

Meditieren. Irgendwann wurde ihm derSpagat zu viel. „Ich empfand es alsZwang, mich zum Sklaven der Zahlenzu machen. Das Leben ist oft so künst-lich, man steht immer unter Druck, al-les erfüllen zu müssen.“

Druck ist auch bei mir das Stichwort.Mein linker Fuß beginnt langsam ein-zuschlafen, am liebsten würde ich michan der Nase kratzen. Denk an was an-deres, rede ich mir ein. Und siehe da,nach einer Weile habe ich die Nase ver-gessen und mich an das Kribbeln imFuß gewöhnt. Gerade als ich mich fra-ge, wie viele der ersten 20 Minutenwohl schon vergangen sind, ertönt einGong. Der erste Teil ist um. Was dannkommt, nennt sich Geh-Meditationund ist recht simpel. Einatmen, ausat-men, einen halben Schritt gehen. ZehnMinuten machen wir das. Nach demlangen Sitzen ist die leichte Bewegungeine Wohltat, doch außer mir lässt sichkeiner der anderen Teilnehmer etwasanmerken. Die Bewegungen sind fast

synchron, trotzdem merkt man, dassjeder bei sich selbst ist.

Im Dojo seien eh alle gleich, sagtWolfgang Rothe und zeigt dabei auf denschwarzen Umhang, den hier jederträgt. „Man zieht sich um, weil die so-ziale Welt hier keine Rolle spielt.“Ärztinnen und Anwälte meditieren mitBauarbeitern und Sozialarbeiterinnen.„Man ist es im Leben gewohnt, ständigdie Wahl zu haben. Und jetzt tauchtplötzlich eine andere Wirklichkeit auf,weil alle gleich sind“.

Das Konzept scheint auch bei derjungen Generation gut anzukommen.„Seit zwei Jahren sind auch immermehr jüngere Leute dabei, die sich an-ders orientieren wollen“, so Rothe.Doch nicht immer werden die Erwar-tungen erfüllt. „Am Anfang wollen alleSamurai werden“, sagt er lachend,„doch nach einer Weile merken sie,dass daraus nichts wird.“ Auch bei ihmwar es die Suche nach etwas „ande-rem“, die ihn zum Zen gebracht hat.Und was? „Das wusste ich anfangs sel-ber nicht. Aber ich fand es irgendwiespannend und faszinierend.“

Der Begriff Zen-Buddhismus sei je-doch irreführend. Denn anders als zumBeispiel im Diamantweg-Buddhismusgehe es im Soto-Zen weder um Wieder-geburt noch um Erleuchtung. „Wir ha-ben keine Dogmen. Es geht nur darum,zurückzukehren zu etwas Ursprüngli-chem und uns mit dem Universellen inEinklang zu bringen“, so Rothe. DieMeditation helde dabei, über das Ich-bezogene Denken – also das Ego – hin-auszugehen.

Besonders ärgern ihn falsche Ver-sprechungen, wie kürzlich in einem Ar-tikel im Spiegel. Krankheiten heilendurch Meditation, hieß es da. Darüberkann der 47-Jährige nur den Kopfschütteln. „Das wirkt so, als ob Medita-tion eine Art Pille gegen alles wäre. Da-bei kommen aber nicht nur gute Gefüh-

le hoch, sondern auch schlechte wieWut, Trauer und Aggression.“

„Strebt ihr denn nicht nach Erleuch-tung?“, frage ich. Die beiden guckensich an und grinsen. Mit Erleuchtunghabe das nichts zu tun, antworten sie.„Wenn man nach Erleuchtung sucht, istdas ja ein Zustand, in dem man nicht er-leuchtet ist“, findet Jörg Baro undWolfgang Rothe ergänzt: „Am Ende istes eine Sinnfrage: Was soll das hier ei-gentlich alles?“ Er selbst hat die Ant-wort gefunden. „Ich allein gebe denSinn.“

Auch Jörg Baro hat im Zen seine Er-füllung gefunden. Der gebürtige Mag-deburger war lange auf der Suche nachetwas, das er auch nach eineinhalb Jah-ren Reisen um die Welt nicht fand. Erstdie Meditation und der Glaube an daseigene Handeln ermöglichten es ihm,zur Ruhe zu kommen. „Wenn man seinLeben darauf basiert, sind die Erschüt-terungen nicht mehr so schwer. Daskann einem keiner nehmen.“

Und ich? Nach der zweiten RundeMeditieren merke ich, dass ich ruhigerwerde. An den Sitz habe ich mich mitt-lerweile gewöhnt. Auch meine Gedan-ken werden ruhiger. Eigentlich ganzschön, die Stille, denke ich und be-schließe, den Fernseher heute Abendmal aus zu lassen. ●

Die innere Mitte finden: Der auf-rechte Sitz und eine gleichmäßigeAtmung sind beim Zazen das A undO, erklärt mir Jörg Baro. ROTHE

Auf dem idyllischenalten Gutshof treffensich jedes Jahr hun-derte Zen-Anhänger,um gemeinsam zumeditieren. STAUDT

„Es ist kein sozialer Rückzug, sondernnur eine andere Art zu leben.“

Wolfgang RotheMönch

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34 WIE GLAUBT DER NORDEN?

Malente Mein Oberkörper wankt leichtnach vorn, dann leicht zurück, nachvorn, zurück. Alles dreht sich um michherum, ich habe Mühe, das Gleichge-wicht zu halten. Ich beiße auf meine Un-terlippe, zuerst sanft, dann stärker, doches bringt nichts. Ich öffne die Augen,noch immer stehe ich auf dem flauschi-gen, weißen Teppichboden. „Könnenwir eine kurze Pause machen, mir ist ge-rade enorm schwindelig?“, frage ich.

Ghelia Bohnhof tritt hinter meinemRücken hervor, ihre Mundwinkel ziehen

sich leicht nach oben, sie lächelt. „Aberklar doch, setz dich auf das Sofa, viel-leicht möchtest du etwas trinken.“ Ichnicke und gehe wortlos zu dem Sofa.„Ahhh“, es tut gut, endlich wieder sitzenzu können, der Kreislauf fängt sich lang-sam wieder. Nie hätte ich es für möglichgehalten, dass mich die Behandlung beiGhelia Bohnhof, einer Schamanin aus ei-nem Ortsteil von Malente, dermaßenbeansprucht. Ghelia Bohnhof sitzt mirgegenüber, sie beobachtet mich stumm.

Hätte mir vor einer knappen Stunde

jemand prophezeit, dass es soweit kom-men würde, ich hätte ihn für verrückt er-klärt, ausgelacht, verhöhnt. An so einenHokuspokus glaube ich nicht, die bloßeNeugier treibt mich zu Ghelia Bohnhof.

„Was erwartet dich da bloß?“, schießtes mir auf dem Weg zu ihr durch denKopf. Steht mir gleich eine leichenblasseGestalt mit zerfetzter Kleidung gegen-über, der okkulter Schmuck mit kleinenTotenkopfschädeln um den Hals hängtund die tagsüber ihr Haus nicht verlässt?Oder doch eher eine verknöcherte alte

Dame mit tiefen, faltigen Furchen imGesicht, einem verschmitzten Grinsen?Eine, die in ihrer eigenen Sphäre lebt,mit ihren Geistern redet und deren Ge-danken so weit weg von der Erde sindwie die Milchstraße?

Meine wilden Phantasien werden ent-täuscht, Ghelia Bohnhof ist weder noch.Sie ist eine ganz normale Mittfünfzige-rin, optisch unauffällig, geschieden, aberin einer festen Partnerschaft, mehrfacheGroßmutter, eine, die mit beiden Beinenim Leben steht. Sie bietet mir sofort das„Du“ an, wirkt von Anfang an ungemeinherzlich als seien wir alte Schulfreunde,die sich ewig nicht gesehen haben undsich nun zum Kaffeeklatsch treffen.

„Durch den Schamanismus soll einEinklang zwischen Mensch und Naturgeschaffen werden, aber es ist keineGlaubensrichtung“, betont GheliaBohnhof gleich zu Beginn. Glauben tutsie an die göttliche Allmacht, wie sie esausdrückt; sie ist Mitglied der evangeli-schen Kirche. „Aber seit ich vor einigenJahren schwer krank war, das Haus nicht

mehr verlassen wollte und die Ärzte mitihren herkömmlichen Medikamentenkeinerlei Besserung erzielten, kam ichauf den Schamanismus.“ Sie habe denspirituellen Praktiken von Anfang an of-fen gegenüber gestanden und siehe da:„Als ich mich von einem Schamanen be-handeln ließ, verschwanden meine Lei-den.“ Sofort spürte Ghelia Bohnhof, da-mals schon Lehrerin und Meisterin fürReiki, eine alternative Heilungsmetho-de, dass der Schamanismus ihre Beru-fung sei.

Gar nicht so abwegig. Denn ich stauneKlötze, als Ghelia Bohnhof mir mitteilt,dass der Schamanismus seit fast 30 Jah-ren der uns bekannten Medizin bei derBehandlung psychosomatischer Krank-heitsbilder von der Weltgesundheitsor-ganisation gleichgestellt ist. Warum das

„Als ich mich von einemSchamanen behandeln ließ,

verschwanden meine Leiden.“

Ghelia BohnhofSchamanin

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Kein HokuspokusFür Ghelia Bohnhof ist Schamanismus keine Glaubenssache – für unseren Reporter

Christoph Käfer schon. Die bloße Neugier trieb ihn zu der Heilerin,am Ende war er im wahrsten Sinne des Wortes begeistert.

VON CHRISTOPH KÄFER

Spirituelle Praktikenmit einer Trommelsind Bestandteil vonGhelia BohnhofsArbeit als Schamanin.

FOTOS: KÄFER

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WIE GLAUBT DER NORDEN? 35

so ist, davon soll ich mich selbst über-zeugen. Ich bin bereit.

Ghelia Bohnhof geht den Flur entlangin Richtung ihres „Behandlungszim-mers“, ich folge ihr. Ich stutze für einenMoment, denn Schuhe trägt GheliaBohnhof keine. Ich spreche sie darauf an.Sie lächelt. „Ich gehe so viel wie möglichbarfuß, damit die Energie, die ich auf-nehme, durch mich hindurch in den Bo-den fließen kann.“ Sie sagt das in ganzruhigem Ton. Ich nicke, als würde ichdiesen Satz täglich zu hören bekommen,als ginge der Satz links rein und rechtsraus aus den Ohren.

Zeit, mir darüber Gedanken zu ma-chen, habe ich nicht, denn wir erreichendas Behandlungszimmer, ein Raum vonvielleicht 15 Quadratmetern. Dort lie-gen Karten auf einem Tisch, eine selbst-gebaute Trommel lehnt an der Wand,Kerzen brennen auf einem Baumstumpf.Der Raum strahlt eine unsagbare Ruheaus. Ghelia Bohnhof mustert mich kurzmit ihren Blicken, dann sagt sie: „Du bistvon der Arbeit gestresst, solltest mehrentspannen.“ Ich erschrecke. „Woherweiß sie das?“ Sie merkt sofort, wo derSchuh drückt, ich bin beeindruckt. Ghe-lia Bohnhof will mir helfen. Sie wendetsich nach und nach den vier Himmels-

richtungen zu und ruft die Geister desNordens, des Westens, des Ostens unddes Südens herbei. Anschließend lässtsie mich eine Karte aus dem Stapel zie-hen, ich ziehe die Mutterkarte. Kann dasZufall sein? Sekundenlang starre ich aufdie Karte. Tatsächlich hatte ich jahrelangmassive Probleme mit meinen Eltern,besonders die Beziehung zu meinerMutter hatte damals arg gelitten.

Daher bittet mich Ghelia Bohnhof auf-zustehen. Mit ihrer Trommel ruft sie denGeist meiner Mutter in den Raum. Esklingt verrückt, aber ich fühle tatsäch-lich, wie meine Mutter im Raum an-kommt, spüre ihre Nähe. Ich schließe dieAugen, sofort sehe ich vor meinem geis-tigen Auge die verdrängten Situationenaus der schwierigen Zeit mit meinen El-tern. Ghelia Bohnhof bittet mich, ihr ei-nige sehr persönliche Sätze nachzuspre-chen, sie sind an meine Mutter gewandt.Von Sekunde zu Sekunde merke ich, wiehilfreich der Monolog mit meiner Mut-ter ist, wie ich immer befreiter werde.Nach einigen Minuten wird es zu an-strengend, ich kann nicht mehr, öffne dieAugen, mir ist schwindelig. Hokuspokuswar das jedenfalls nicht, das spüre ich so-fort, meine Vorurteile sind auf einenSchlag verflogen. ●

Roland MitterbauerVera BrinkmannAnni NickelsenHelmut KlicheInes LudewigEdgar JörgensenTorsten M. BeetzAxel StaudteDaniel KunkelChristian FoksMichael GuntermannRobert HirseUlrich KrauseHartmut PohlJessica FleischerMartin BastNiklas JordanUlrich Klauke

Jürgen FriedrichEimo EnningaSvenja DegnerFrank KraemerMarkus PoerschkeStefan BemméMoritz ArbienHartmut PohlJobst SpengemannSteffi EbelJochen PapkeAndreas MahlerAndreas AlthausElisabeth AlthausDr. Marcus NicoliniHeiko und Ingrid BateltHeinrich P. und Dr. IngeborgSondermann

E. Marita ArndtKarl Heinz RollGottfried MüllerJürgen FriesePeter und Ruth DassErnst-Eitel und Eva KlaebeIlka SchümannPeter KehmMarion Badberg-JasperAstrid KaackJan KuhlmannNorbert WilckensChristel BerkenkopfMorten BasseDetlef WittEckard NassFehr MettaChristine MatzenHorst Hoop

Ungewöhnliche Themen erfordernungewöhnliche Finanzierungsmetho-den. Das war das Motto dieses Magazins:Es entstand aus einem Experimentheraus. Zwei Volontäre unseres Verlagswollten das Crowdfunding ausprobie-ren, eine alternative Art der Vorfinan-zierung. Auf der Internet-Plattformkrautreporter.de warben sie um Unter-

stützung. Das Ziel: Innerhalb von 30 Ta-gen mussten die Druckkosten von 2500Euro für dieses Magazin zusammen-kommen.

Und sie waren erfolgreich. Die Na-men aller Unterstützer, die zehn Eurooder mehr beigetragen haben, sind hieraufgelistet. Insgesamt beteiligten sichknapp 80 Leute. Den Rest der Kosten für

Recherche, Material und Mitarbeiter hatder Verlag übernommen. Daher kanndas Magazin jetzt kostenlos ausgegebenwerden. Eine PDF-Version ist zudemonline unter www.krautrepor-ter.de/wieglaubtdernorden einsehbar.

> Kontakt zu den Volontären, Anabela Brandaound Michael Althaus: [email protected]

Ein Dankeschön für die Unterstützung mit zehn Euro oder mehr:

Crowdfunding macht’s möglich

Fühlt sich zur Schamaninberufen: Ghelia Bohnhof.

Wie glaubt der Norden?Eine Sonderveröffentlichung des sh:z

Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag

VERANTWORTLICHChefredakteur: Dr. Helge Matthiesen

Sprecher der Chefredakteure:Stephan Richter

REDAKTIONAnabela Brandao, Michael Althaus

MITARBEITDana Ruhnke, Ina Krug, Linda Kupfer,

Christina Norden, Anne Welkener,Johanna Tyrell, Jana Walther, Tina Ludwig,

Cornelia Pfeifer, Kira Oster, Miriam Richter,Christoph Käfer, Hanna Andresen,

Michael Staudt (Fotos)

GRAFIKSönke Lundt, Can Yalim

ANZEIGENChristian Arbien (verantwortlich)

Ingeborg Schwarz

GESCHÄFTSFÜHRUNGAxel Gleie (Sprecher)

Christian Arbien, Thomas Keßler

VERLAGsh:z Schleswig-Holsteinischer

Zeitungsverlag GmbH & Co. KGFördestraße 20, 24944 Flensburg

DRUCKDruckzentrum Schleswig-HolsteinFehmarnstr. 1, 24782 Büdelsdorf

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36 WIE GLAUBT DER NORDEN?

Die Religionfährt mit ...

Entdeckt in Autos aufSchleswig-Holsteins Parkplätzen.

FOTOS: WALTHER/ STAUDT