Wie Irma Sperling starb - Deutschlandfunk. Alles von Relevanz. · Der dritte Name von unten: Irma...

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DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 08.03.2011 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 – 20.00 Uhr Wie Irma Sperling starb Euthanasiemorde unter der Obhut der evangelischen Kirche Von Rainer Link URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript -

Transcript of Wie Irma Sperling starb - Deutschlandfunk. Alles von Relevanz. · Der dritte Name von unten: Irma...

DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 08.03.2011 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 – 20.00 Uhr

Wie Irma Sperling starb

Euthanasiemorde unter der Obhut der evangelischen Kirche

Von Rainer Link

URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. � Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript -

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Atmo

Sprecher

Hamburger Zentralfriedhof Ohlsdorf. Ehrenfeld für die Opfer der NS Diktatur. Ein

kalter Herbsttag. Wir stehen vor einem steinernen Mahnmal. Auf der Grabplatte die

Namen von 10 ermordeten Behinderten. Der dritte Name von unten: Irma Sperling.

O-Ton Antje Kosemund

liest vor: Irma Sperling, geboren 02.01.1930 getötet am 08.01.1944, also kurz vor

ihrem 14. Geburtstag ist Irma dann umgebracht worden. Hier in diesem Grab sind die

Urnen beerdigt worden mit den Gehirnen dieser Menschen. Diese Gehirne haben bis

1996 im Keller der Pathologie der Psychiatrischen Anstalt Baumgartnerhöhe in Wien

haben die gestanden und bis in die 50er Jahre hat einer der Ärzte, die an den

Morden beteiligt waren, ein Doktor Gross, noch an diesen Gehirnen geforscht.

Musik

Ansage (Sprecherin):

Wie Irma Sperling starb

Euthanasiemorde unter der Obhut der evangelischen Kirche

Ein Feature von Rainer Link

O-Ton Dietrich Kuhlbrodt

Wir waren ausgegliedert aus dem Strafjustizgebäude und in einem Haus

untergebracht und waren in dem Stockwerk, an dem wir dann noch entdeckten die

alten Schilder „Haus der Marine SA“. Da waren also die Nazibekämpfungseinheiten

der Hamburger Justiz untergebracht.

Sprecher

Dietrich Kuhlbrodt, Oberstaatsanwalt im Ruhestand. Als er in den späten 60er Jahren

in Hamburg als staatlicher Ermittler für NS-Gewalttaten zuständig war, erreichte ihn

der Brief eines Insassen der Behinderteneinrichtung Alsterdorfer Anstalten.

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Zitator:

„Der Pflegling musste sich ganz nackend ausziehen und die Hände verschränkt auf

den Rücken legen, damit er die Schmerzen auch spüren soll. In einer Badewanne

befanden sich zwei Bettlaken, die in kaltes Wasser eingetaucht waren. Diese zwei

Bettlaken wurden übers Kreuz um den nackten Körper umwickelt. Danach folgten

drei Wolldecken und wurden mit Riemen festgeschnürt. Durch die Hitze ziehen sich

die Laken zusammen, schnüren die ganzen Blutgefäße ein und unterbrechen das

Atmungsorgan. Danach kam der Pflegling für 8 bis 9 Stunden in die Zelle. Nach der

Packung war er völlig matt. Da rissen die NS Fenster und Türen auf, so dass der

Pflegling im Durchzug lag und starb in Folge einer Lungenentzündung.“

Sprecherin

Name: Albert Huth

geboren: 1926

Größe: ca. 1 Meter 65

Gewicht: ca. 60 Kilo

Schütteres Haar

Seit dem 2. Lebensjahr in öffentlicher Fürsorge

Insasse der Alsterdorfer Anstalten in Hamburg

Diagnose: totaler Schwachsinn

Dezember 1943: Zwangssterilisation

Sprecher

Albert Huth führte Tagebuch. Er vertraute seinem Notizheft Ungeheuerliches an:

Während der Nazizeit seien mehrere Hundert Mitinsassen aus den Alsterdorfer

Anstalten verschleppt und ermordet worden. Erst 1967, ein Vierteljahrhundert nach

den behaupteten Tötungsdelikten, wandte sich Albert Huth mit diesen Vorwürfen an

die Staatsanwaltschaft in Hamburg.

Zitator:

„Zu die Schweinereien gaben die Ärzte die Befehle. Im März wurden 200 Insassen

und im Juli 1943 wurden 924 Insassen verschleppt und vergast. Sie wurden von der

Gestapo mit Autobussen abgeholt. Daher blieben in der Anstalt einige Häuser frei bis

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nach dem Krieg 1945. Nur 15 von 1124 Insassen kehrten nach dem Krieg wieder

zurück.“

Sprecher

Deportationen? Morde? Bei der Staatsanwaltschaft war nichts dergleichen bekannt.

Die evangelische Einrichtung genoss einen untadeligen Ruf. Albert Huth hingegen

beschrieb ein fachärztliches Gutachten als einen „bedenkenlos verlogenen

Schwachsinnigen, der sich seit Jahren mit der Abfassung schriftlicher Berichte,

Eingaben, Gesuche und Anzeigen befasst ...“ Sein Vormund ergänzte, er sei von

„unsittlicher Geschwätzigkeit“. Und der renommierte Psychiater, Professor Bürger-

Prinz, charakterisierte Albert Huth, als einen „querulatorischen Psychopathen.“

O-Ton Kuhlbrodt

Ich ruf also an bei der Geschäftsleitung der Alsterdorfer Anstalten und sag: „Ich

brauch jetzt mal die Verlegungslisten, wo sind die?“ Gut, da hat der mir gesagt: „Ha

Ha Ha, alles verbrannt, alles verbrannt im Krieg. Wissen Sie denn gar nichts von

1943, den Bombenangriffen in Hamburg?“ Ich sag, ich komm mal. Und dann bin ich

da hingekommen und dann hat er das wiederholt und sag ich so auf Daffke: Was ist

denn da unten im Schrank drin? Die Karteikästen mit den verlegten Leuten, die

ganzen Listen, alles war da.

Ich bekam das Material auch aus den Anstalten, wo hin geschickt wurde. Die ham

das alles säuberlich aufbewahrt, mit den Krankenakten, mit den falschen

Eintragungen darin, mit den Todesdaten usw. Ich konnte also sagen, der Transport

von Pastor Lensch, verlegt nach Kalmhof - dann waren davon rund 90 % innerhalb

einer Woche tot.

Sprecherin

Pastor Friedrich Lensch.

Geboren 1898.

Arbeitete zunächst als Seelsorger für Seeleute in Großbritannien.

1930 übernahm er die Leitung der Alsterdorfer Anstalten, einer der großen

Behinderteneinrichtungen Deutschlands. Blieb auch während des

Nationalsozialismus Leiter dieser Einrichtung.

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Sprecher

Staatsanwalt Kuhlbrodt wurde bei seinen Ermittlungen schnell klar: Die Euthanasie-

Massenmorde an behinderten Kindern, Frauen und Männern hatten tatsächlich

stattgefunden, sie waren in großen Teilen sogar fein säuberlich dokumentiert.

O-Ton Kuhlbrodt

Und daraus entwickelte sich ein Ermittlungsverfahren wegen Verlegung von

Hamburger Anstaltsinsassen zum Zwecke der Tötung in auswärtige Anstalten, weil

man das in Hamburg lieber nicht selbst machen wollte.

Musik

O-Ton Antje Kosemund

Ich bin das sechste Kind gewesen und 1928 geboren. Insgesamt hat meine Mutter

12 Kinder zur Welt gebracht und darunter nur zwei Jungs.

Sprecher

Antje Kosemund, die Schwester der Ermordeten Irma Sperling, ist heute 82 Jahre alt.

O-Ton Antje Kosemund

Irma ist 15 Monate jünger als ich, also ich war praktisch ein Baby. Ich erinnere mich

an sie als ein sehr hübsches Kind, sie hatte dunkles Haar, was an den Enden auch

etwas gelockt war, was in unserer Familie ganz außergewöhnlich war, hatte auch

dunkle Augen, eigentlich ein hübsches Gesichtchen. Und ich kann mich an sie

erinnern, dass sie den rechten Daumen mit einer Mullbinde umwickelt hatte, weil sie

die Angewohnheit hatte, sich so ins Ohr zu stoßen.

Irma war erst mal entwicklungsverzögert. Sie hat spät laufen gelernt, sie hat wenig

gesprochen, aber sie war ein sehr musikalisches Kind. In der Familie wurde immer

viel gesungen, auch musiziert, und daran kann ich mich erinnern, dass sie in ihrem

Bettchen saß und immer den Takt geschlagen hat und strahlte, und sie hatte eine

Spieldose, mit der sie sich sehr viel beschäftigt hat. Sie war ein Kind, was Musik

liebte.

Ich nehme an, Irma war ein autistisches Kind und sie ist erst in Alsterdorf, wo sie

hinkam, also sie ist am 21. Dezember 1933, einem Monat vor ihrem 4. Geburtstag

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nach Alsterdorf gekommen. Aufgrund einer Denunziation – das hab ich auch erst aus

der Krankenakte gelesen. Und eine Nachbarin hat wohl bei der Familienfürsorge

angegeben, in der Familie gibt es ein behindertes Kind.

Sprecher

Drei Tage vor Heiligabend schoss sich die Anstaltspforte hinter Irma. Das "Gesetz

zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" trat nur eine Woche nach ihrer Einlieferung

in Kraft und wurde in Alsterdorf überaus engagiert in Form von Massensterilisationen

in die Tat umgesetzt. Wie sich überhaupt die Anstalt zu einer Hochburg des

nationalsozialistischen Bekenntnisses entwickelte. Die meisten Mitarbeiter wurden

Parteigenossen oder Mitglieder der SA. Der Anstaltsleiter, Pastor Friedrich Lensch,

dieser feinsinnige, tief im Glauben verwurzelte Christ, war früh in die SA eingetreten

und auch Mitglied der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“ und der „Deutschen

Arbeitsfront“ geworden. Sein erklärtes Ziel war es, „der Gefahr einer zunehmenden

Durchseuchung unsres Volkes mit krankem Erbgut vorzubeugen... das Kranke aus

dem Volke herauszuziehen, von der Fortpflanzung auszuschalten und damit in sich

selbst aufzulösen.“

Albert Huth notierte in seinem Tagebuch:

Zitator:

"Bei einer dritten Intelligenzprüfung, die ich nicht bestehen konnte, am 18.12.1943,

ging es hierbei um die Sterilisierung. Am 20.12. sagte Otto C. zu mir Du gehst jetzt in

den Keller und badest, aber nur halb voll Wasser in die Badewanne. Aber warum ich

baden musste, das sagte er mir nicht. Otto C und Otto B besprachen sich

gegenseitig. Als ich damit fertig war und in die Schreibstube kam, war noch ein

Pfleger, Albert S., mit im Spiel. Otto B. sagte zu Albert S. Bringen Sie diesen Jungen

nach Krankenhaus Barmbek und da war es geschehen. Ohne Mutters Genehmigung

brachte man mich nach Krankenhaus Barmbek. Damals war ich 17 Jahre alt. Am

23.12. hatten die Ärzte mich unfruchtbar gemacht. Erst wie es mit mir geschehen

war, am 25.12., kam meine Mutter ...

Das jüngste in den Alsterdorfer Anstalten zur Sterilisation freigegebene Kind war

zwei Jahre alt, die älteste Frau über 50. Die christliche Einrichtung wurde für ihre

Patienten zu einer Falle, aus der es kein Entrinnen gab.

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Auch der Alltag in der Anstalt ähnelte immer mehr den Haftbedingungen von

Zuchthäuslern.

Otto A hatte mit einem Knüppel, den er Onkel Lehmann nannte, auf die Kinder

geschlagen, die ein Blasenleiden hatten. Am meisten mussten wir auf dem Hof

marschieren. Wenn zum Beispiel „Still gestanden“ ertönte und ein Epileptiker bekam

einen Anfall, dann tat er ihn fallen lassen, ohne eine Hilfe zu gewährleisten. Am

Abend mussten wir auf dem Flur antreten und dann wurde das Lied gesungen:

„Breit aus die Flügel beide

O Jesus meine Freude“

Danach folgte ein Abendgebet:

‚Lieber Gott mit starker Hand

schütze unser Vaterland

Gib dem Führer Weisheit, Stärke,

segnet ihn bei seinem Werke

auf das Deutschland wieder werde

groß und mächtig auf der Erde.

Amen!’

Waren die Jugendlichen krank und hatten eine Erkältung, dann gab er sie Rizinusöl

ein, um die Erkältung zu unterdrücken.“

Sprecher

Pseudomedizinische Quälereien waren an der Tagesordnung.

Röntgentiefbestrahlungen, Insulin- und Cardiazol- Schockbehandlungen, Schlaf- und

Fieberkuren sollten geistig behinderte Menschen heilen oder ruhigstellen.

Zitator:

„Auf der Wanne waren Hölzer befestigt, wo sich daran Riemen befanden, um den

Kopf des Pfleglings festzuschnallen, um somit das Aussteigen zu unterbinden. An

der Badewanne war ein Wasserhahnthermometer angebracht, um beim Einlaufen

des Wassers in die Wanne zu regulieren. Bedient wurde das ganze mit einem

Vierkantschlüssel. Aber die Nazis brachten das Thermometer zum Platzen, so dass

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sich die Pfleglinge daran verbrühten. Die Badewanne war aus Stein, die nicht so

schnell abkühlen tat. Am ganzen Körper hatten die Pfleglinge Brandblasen und

durften nicht zum Arzt gehen. Sie bekamen dann drei Tage Wasser, die sogenannte

flüssige Kost.“

Musik

Sprecher

1938 beging man in Alsterdorf das 75-jährige Stiftungsjubiläum, es war das Jahr der

Reichspogromnacht und der Nürnberger Rassegesetze. Ohne erkennbaren äußeren

Druck, so hat es der leitende Anstaltspsychologe Michael Wunder viele Jahrzehnte

später recherchiert, wurden 22 jüdische Bewohner ausgesondert, in andere

Einrichtungen verlegt und alsbald ermordet.

O-Ton Michael Wunder

1938, lange vor Herausnahme der jüdischen Anstaltsinsassen durch Reichserlass

und Zusammenfassung in sogenannten jüdischen Sammelanstalten, lange davor hat

also Alsterdorf seine jüdischen Anstaltsinsassen abtransportieren lassen und an die

Türe „judenfrei“ geschrieben. Also auch das eine herausragende Vorleistung dem

System gegenüber, ein Mitmachen nicht nur, sondern ein aktives Vorantreiben. Und

das war Pastor Lenschs sein Anliegen, so zu sein. Es stand an der Anstaltspforte

über mehrere Jahre „Musterbetrieb des Nationalsozialismus“.

Sprecher

Pastor Friedrich Lensch notierte

Zitator:

„Wir können es uns selbstverständlich nicht leisten, dass wegen einzelner jüdischer

Patienten, es finden sich hier unter 1500 etwa 20, unserer Anstalt der Charakter der

Gemeinnützigkeit und Mildtätigkeit abgesprochen wird.“

Atmo Glocken von St. Nikolaus

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Sprecher

St. Nikolaus, so heißt die Kirche der evangelischen Stiftung Alsterdorf.

Hier wurde an Sonn- und Feiertagen gesungen, gepredigt und gebetet - von

Pflegekräften, die Gefolgschaft genannt wurden, und von Patienten, die man

Pfleglinge nannte. Ein monumentales Bild hinter dem Altar dominiert den Raum.

O-Ton Michael Wunder

Man kann sagen, in dem Altarbild verdichtet sich geradezu die Alsterdorfer

Geschichte: Es ist nämlich 1938 entstanden. Und es ist gemalt und produziert, muss

man sagen, weil es ist ja auf eine aufgebrachte Terrakottamasse aufgemalt von

Pastor Lensch selber. Also der Anstaltsleiter selber malt ein Bild zur Zeit, als er auch

an der Selektion der jüdischen Anstaltsinsassen aus der Anstalt arbeitet, dieses

kolossale Wandgemälde, was dann auch enthüllt werden soll vor der gesamten NS-

Prominenz der Stadt.

Sprecher

Heute ist das Wandbild dauerhaft verhüllt und wird nur noch zeitgeschichtlich

Interessierten auf Anfrage zugänglich gemacht. Einer Entfernung dieses Machwerks,

wie von vielen Alsterdorfer Mitarbeitern gefordert, scheiterte am Amt für

Denkmalschutz. Auch politisch Widerwärtiges kann der Erinnerungskultur dienen.

O-Ton Michael Wunder

In der Mitte sehen wir Christus am Kreuz. Wichtig ist, dass um das Kreuz herum 15

Personen versammelt sind, und zwar 12 Nichtbehinderte und 3 Behinderte. Und die

12 Nichtbehinderten haben alle einen Heiligenschein und es handelt sich um

bedeutsame Personen. Wenn man von unten anfängt gibt es die Familie Lensch

selber, die uns auch den Rücken dreht, Pastor Lensch mit seiner Gemahlin, die den

Gekreuzigten anbeten. Links und rechts seine Söhne, es gibt dann Martin Luther in

der weiteren Folge, Johannes den Täufer ... Für uns heutige Menschen ist es sehr

auffällig, dass die Behinderten keinen Heiligenschein tragen und damit dieses Bild

eine unerträgliche, gefährliche Doppelbotschaft enthält, es gibt innerhalb dieser

Gemeinde, die eigentlich ein festes Dreieck um den Herrn bildet, zwei Sortierungen,

das eine sind die vollwertigen Gemeindemitglieder mit Heiligenschein und das

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andere sind die Gehaltenen, die natürlich vom Naziregime auch da raus katapultiert

werden können.

Sprecher

Die Deportation der Behinderten begann in Alsterdorf 1941. Ein Führerbefehl

verpflichtete die Anstalten für ihre Behinderten Meldebögen ausfüllen, auf denen

detaillierte Angaben zu Krankheit und Arbeitsfähigkeit zu machen waren. Die Bögen

wurden von medizinischen Gutachtern bearbeitet. Deren Urteil fand sich in einem

umrandeten Kasten: ein rotes „+“ für „Töten“ und ein blaues „–“ für „Weiterleben“.

Den Abtransport der Patienten besorgte die „Gemeinnützige Krankentransport

Gesellschaft“, die hierfür über einen Fuhrpark grauer Busse verfügte.

O-Ton Wunder

Man wollte vor allem auch hinhalten. Man wusste, wofür die Meldebögen sind, Also,

zur Selektion ins Gas, hat sie dann aber letztendlich, das muss man für Alsterdorf

sagen, mit einem Memorandum versehen und abgeschickt. In dem Memorandum

steht: Wir sind aber nicht dran schuld und haben nur unsere Pflicht getan.

Sprecher

Pastor Lensch monierte in einer zusätzlichen Stellungnahme, dass auch

Arbeitsfähige betroffen seien, obwohl doch die Zusage gegeben worden sei, das nur

„die in keiner Weise mehr zum Leben, zur Arbeit und zur Gemeinsamkeit in

Beziehung“ stehenden Patienten ausgewählt würden. Der Pastor forderte wörtlich:

dass „die Aburteilung der zu vernichtenden Patienten“ auf der Grundlage eines

Gesetzes und unter präziser Diagnose zu erfolgen habe.

Vor der Selektion zum Abtransport häuften sich in den Krankenakten die

Negativbeurteilungen. „Sie ist geistig völlig tot“, oder „Er schreit viel, tobt, zerreißt alle

Sachen“, „Sie ist zu keiner Arbeit zu gebrauchen.“ Selbst die Diagnose

„bombenverwirrt“ für mehrere Frauen, deren akuter Verwirrungszustand auf den

Luftkrieg zurückging, reichte aus für den Transport in die Vernichtung.

Musik

11

Sprecher

Irma Sperling gehörte zu den 228 Frauen und Mädchen, die in Alsterdorf im August

1943 selektiert und abtransportiert wurden. Ziel: Psychiatrische Klinik Steinhof in

Wien, Zweck: Vernichtung.

O-Ton Michael Wunder

Ein Verschubungssystem arbeitet durch ständige Entheimatung. Erstens trifft das

den Patienten, der keine Identität mehr hat, und zweitens kommt er in eine Situation,

in der das Pflegepersonal in der Tendenz sich auch gestört fühlt und bereit ist, dann

zu sagen: na gut, also jetzt weniger essen und keine Behandlung dieser Krankheiten,

keine Aufmerksamkeit, Verwahrlosung etc. Weil so viele Fremde, die Du gar nicht

kennst, du weißt noch nicht mal wie die heißt. Du kannst noch nicht mal deren

Sprache richtig verstehen. Es gibt einen Fall von einer Behinderten in Alsterdorf, die

sprach platt und zwar ausschließlich, die wurde in Wien natürlich überhaupt nicht

verstanden, die galt als Polin. Und Polnisch war im Nazideutsch sowieso eine

Untersprache. Also, das sind so die Gründe für die ständige Verschubung,

Entheimatung der Betroffenen, Spuren verwischen und ein Personal zu haben, was

dann auch eher bereit ist, mitzumachen, weil die kennen die gar nicht, die sie da vor

sich haben.

Sprecher

Nach kurzer Eingangsuntersuchung wurden die Patienten auf Säle verteilt und

fortwährendem Hunger ausgesetzt. Anfangs wehrte sich Irma noch gegen die rüde

Behandlung. In den Anstaltsakten findet sich der Vermerk, sie hätte eine große

Glasscheibe eingeschlagen. Konsequenz: Zwangsjacke. In den kommenden

Wochen verringerte sich Irmas Körpergewicht von 40 auf 28 Kilo.

O-Ton Michael Wunder

Wir haben Hungerkurven gemacht, da waren Menschen im mittleren

Erwachsenenalter von 30 bis 45 Jahren also Gewichte bei den Frauen von 32 bis 35

Kilogramm hatten. Also in diesem Zustand, die ein Mensch im Grunde nur noch im

Liegen ertragen kann, rafft natürlich jede kleine Durchfallerkrankung usw. einen

Menschen hinweg. Und es ist auch wirklich, kann man sagen, nur noch Quälerei.

12

Sprecher

Irma Sperling und die anderen Hamburgerinnen, die jüngste von ihnen war gerade

mal 4 Jahre alt, wurden durch ständige Gabe des Medikaments Luminal ruhig

gestellt, bis sie schließlich starben. Irma Sperlings Sterbeurkunde gibt als

Todesursache an: Grippe, Lungenentzündung.

O-Ton Michael Wunder

Sehr verräterisch ist eben auch, dass es dann nach dieser großen Abtransportwelle

eine Gefolgschaftsversammlung gab, in der Pastor Lensch gesagt hat: mit dem jetzt

verbliebenen Rest, der arbeitsfähig und gesund ist - man hatte sich also der Kranken

und Schwachen entledigt - haben wir die Aufgabe, diese Anstalten im Sinne des

Führers als gute Anstalten weiterzuführen.

Sprecher

Als der Krieg im Mai 1945 zu Ende war, wurde die Betreuung der verbliebenen

Behinderten von den Pflegerinnen und Pflegern fortgesetzt, die überlebt hatten. Die

Vergangenheit wurde eisern beschwiegen und das Schweigekartell hielt, obwohl

nicht alle, die ermordet werden sollten, zu Tode gekommen waren.

O-Ton Michael Wunder

Beispielsweise eine Bewohnerin, die dem Hunger nur durch Klauen in der Küche in

Wien entgangen ist und überlebt hat, die mir gesagt hat: „Ich möchte jetzt nicht mehr

so und so heißen.“ Und sie hat ihren Namen einfach geändert. Sie wollte mit dieser

Geschichte nichts mehr zu tun haben. Und jetzt erst kürzlich, als sie gestorben ist,

hat sie gesagt, ich will wieder meinen alten Namen annehmen und als solche auch

beerdigt werden, weil das gehört zu mir.

Sprecher

Weil Pastor Lensch wegen seiner Mitgliedschaft in der SA unter Druck der britischen

Besatzungsmacht geriet, legte er im Oktober 1945 sein Amt nieder. Als

Schuldanerkenntnis wollte er diesen Schritt allerdings nicht verstanden wissen.

Musik

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Sprecher

Antje Kosemund, Irma Sperlings ältere Schwester, durchlebte den Krieg in Hamburg,

er bestimmte ihre Kindheit. Überall wurde gestorben, gehungert und gelitten. Die

Erinnerung an die jüngere Schwester verblasste angesichts dieses alltäglichen

Elends. Doch im Frühjahr 1983 meldete sie sich zurück.

O-Ton Antje Kosemund

Mein Vater war 87 Jahre alt und er wollte das Haus verkaufen und in eine

Senioreneinrichtung ziehen. Und ich hab mit ihm Familiendokumente geordnet und

da hab ich zum ersten Mal die Sterbeurkunde von Irma in der Hand gehabt, die ich

nie gesehen hatte. Wir hatten nur im Januar 1945 gehört, Irma ist gestorben. Das

war eine Zeit, in der ringsherum gestorben wurde. ...

Man hat es verdrängt. Und nun hatte ich diese Sterbeurkunde in der Hand und mir ist

als erstes sofort aufgefallen, das Sterbedatum ist der 8. Januar 1944 und die

Urkunde ist ausgestellt worden am 4. Januar 1945. Für mich war da völlig klar,

irgendetwas kann da nicht stimmen. Was ist eigentlich mit Deiner Schwester

passiert. Und da hab ich dann auch sofort geschrieben an die Alsterdorfer Anstalten

und an die Psychiatrie in Wien, von der ja diese Urkunde ausgestellt war.

Sprecher

In den Alsterdorfer Anstalten hatte Anfang der 80er Jahre die Aufarbeitung der

mörderischen Vergangenheit gerade erst begonnen. Ein Vorstandsmitglied der

Anstalt lud Antje Kosemund zu einem Gespräch ein. Es fanden sich noch einige

Dokumente über ihre Schwester. Dokumente, die belegen, wie das Kind ohne

Therapie und Behandlung in Hamburg verwahrt wurde, um schließlich nach 10

Leidensjahren für die Deportation nach Wien selektiert zu werden.

Die Tötungsanstalt in Wien, die sich jetzt Psychiatrisches Krankenhaus

Baumgartnerhöhe nennt, erwies sich als wenig auskunftsfreudig.

O-Ton Antje Kosemund

Eine Krankenakte gäbe es nicht mehr, die wäre nicht aufzufinden und meine Frage

nach dem Grab wurde beantwortet: laut Friedhofsordnung wurde dieses Grab, deren

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Lage er mir genau beschrieb, aufgelassen worden, so dass es nicht mehr existiert.

Punkt aus. Also für mich war damit erst mal diese Nachforschung zu Ende.

Sprecher

Es verging ein weiteres Jahrzehnt bis sich durch einen Zufall eine neue Spur zu Irma

Sperling ergab. Antje Kosemund besuchte 1994 Verwandte in Tirol. Als sie eines

Abends vor dem Fernseher saß, zeigte das ORF einen Bericht aus dem

Psychiatrischen Krankenhaus Baumgartnerhöhe in Wien. Die Klinik, in der Irma vor

genau 50 Jahren ermordet worden war.

O-Ton Antje Kosemund

... und die Kamera ging in diese Kammer hinein, ein unaufgeräumter, schmutziger

Keller mit langen Regalen, auf denen Hunderte von Gläsern standen mit sterblichen

Überresten. Und jetzt will die Stadt Wien gemeinsam mit der Anstalt diesen Keller

umwidmen in ein Museum und der Öffentlichkeit zugänglich machen. Also, es ist so

abscheulich und widerlich, was die sich das ausgedacht hatten.

Sprecher

Bei den konservierten Leichenteilen handelte es sich um einen Kinderkopf und einige

Hundert Gehirnscheiben von Euthanasieopfern. Die Wiener Mediziner, die immer

wieder behauptet hatten, keinerlei Zeugnisse der Existenz der Irma Sperling zu

besitzen, mussten nun einräumen, dass Irmas Gehirn in einem der Gläser schwimmt,

und dass man an ihrem Gehirn geforscht hatte. Man wolle nun durch die

Zurschaustellung dieser neurologisch-pathologischen Präparate an dieses dunkle

Kapitel der österreichischen Geschichte erinnern. Antje Kosemund verweigerte sich

dieser als pietätlos empfundenen Zurschaustellung der Opfergehirne. Schließlich

erreichte sie, dass die Leichenteile von insgesamt 10 ehemaligen Alsterdorfer

Patientinnen identifiziert und nach Hamburg überstellt wurden.

O-Ton Antje Kosemund

Es waren über 300 Menschen da, die Kapelle 13 war überfüllt, der Vorraum war

überfüllt. Die haben sogar draußen gestanden die Menschen. Und die Feier gestaltet

hat Alsterdorf, also die Evangelische Stiftung Alsterdorf.

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Mein Wunsch ist, dass alle zehn Urnen in einem Grab beerdigt werden, denn ich

halte es für unsinnig, nachdem 50 Jahre dort diese sterblichen Überreste im Regal

gestanden haben, sie jetzt zu trennen.

Sprecher

Irmas sterbliche Überreste ruhen nun auf dem Ehrenfeld der NS-Opfer auf dem

Hamburger Zentralfriedhof Ohlsdorf. Doch die makabre Geschichte hatte ihr Ende

noch nicht gefunden.

O-Ton Antje Kosemund

Im Spätherbst 2000, da krieg ich einen Anruf eines Tages aus Wien, der sagt zu mir:

„Frau Kosemund, ja eine Kommission, die hat von Ihrer Schwester noch eine

Gehirnscheibe gefunden, die in Parafin gegossen ist. Sollen wir ihnen die nach

Hamburg schicken?“ Ich war wohl ein, zwei Sekunden sprachlos. Und dann habe ich

nur gesagt: „Wissen Sie eigentlich, was Sie da sagen? Wie stellen Sie sich das nun

vor? Soll ich jetzt das Grab öffnen und die Urne öffnen, um diesen sterblichen

Überrest meiner Schwester hier zu beerdigen? Oder soll ich mir das auf den Schrank

stellen zur Ansicht, was glauben Sie denn wohl?

Sprecher

In Wien kam die Aufarbeitung der mörderischen Vergangenheit gerade erst in Fahrt.

Die Jahre des unseligen Bestreitens, des angeblichen Nichtwissens und der

Beschönigungen gingen zu Ende. Plötzlich fanden sich Spuren und Dokumente,

deren Existenz noch vor Kurzem geleugnet worden war.

O-Ton Antje Kosemund

Und die ruft mich wieder an und sagt: „Frau Kosemund, sitzen Sie?“ Ich sag „Ja, was

ist denn?“ „Irmas Krankenakte ist aufgetaucht.“ „Wie bitte? Nach 18 Jahren?“ Und da

hat man auf dem Boden einen Eisenschrank gefunden, sie hat mir das genau erklärt,

der war verschlossen und die Kommission hat ihn aufgebrochen. Und in dem

Schrank hat man fünf Krankenakten gefunden. Wir sind sicher, das sind Akten, nach

denen im Laufe der Jahre von Angehörigen geforscht worden ist. Die hat man dort

versteckt.

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Sprecher

Und irgendwann kam auch dies heraus: Die Behauptung, das Massengrab, in dem

Irma verscharrt worden war, wäre längst eingeebnet, erwies sich als falsch.

O-Ton Antje Kosemund

Das war schon mal ein Schock, wo ich …ich werde dann immer sehr zornig wegen

dieser Lügen. Also dieses Grab hat immer bestanden. Zu der Zeit war ich bestimmt

schon viermal in Wien gewesen und ich hätte mal eine Blume hinlegen können. Ich

hätte da mal hingehen können.

Musik

Sprecher

Zurück in die 70er Jahre. Staatsanwalt Kuhlbrodt hatte akribisch ermittelt. Seine

Anklageschrift war nun deutlich dicker als das amtliche Telefonbuch. Angeklagt

wurde Pastor Lensch. Und angeklagt wurde Dr. Kurt Gerhard Struve, ein leitender

Mitarbeiter der Hamburger Gesundheitsverwaltung. Als Senatsrat war er für den

reibungslosen Ablauf der Deportationen kranker und behinderter Heimbewohner in

auswärtigen Anstalten verantwortlich gewesen. Struve hatte in Hamburg die

Meldebogenaktion organisiert, durch die die Bewohner in den Anstalten erfasst

worden waren.

O- Ton Kuhlbrodt

Lensch wegen Beihilfe zum Mord Struve wegen Mordes, weil er noch zusätzliche,

verschärfende Kriterien eingeführt hatte: Wer nicht produktiv arbeitet, muss auch

gemeldet werden. Das war also ein zusätzliches Mordmerkmal.

Das kam nicht aus Berlin, das kam nicht aus der Kanzlei des Führers. Das kam von

Senatsdirektor Dr. Struve und damit war er in meinen Augen Täter geworden und

Mörder geworden und wegen Mordes hab ich die dann in einer tausendseitigen

Anklageschrift angeklagt.

Sprecher

Beide Angeklagten gingen zu dieser Zeit längst wieder ihren Berufen nach – der eine

im öffentlichen Dienst, der andere im Dienst der Seelsorge.

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O-Ton D. Kuhlbrodt

Beide stellten sich als seriöse, alte Herren dar, die ihre Pflicht getan haben. Und die

aber auch nicht geeifert haben. Die nicht entrüstet waren über die Anklage, sondern

die etwas resigniert waren. Ich hab sie als Menschen wahrgenommen, die haben

sich als Menschen dargestellt, also nicht so wie man sich die Nazis à la Goebbels

oder so vorstellt, sondern so als Hamburger Beamte, die gemeint haben, das Beste

zu tun.

Sprecher

Der Mordvorwurf gegen Struve, es geht immerhin um mehr als 600 Alsterdorfer

Opfer, erregte Medien und Öffentlichkeit auf eigentümliche Weise:

O-Ton D. Kuhlbrodt

Im Hamburger Echo Überschrift: Euthanasieverfahen in Hamburg / Schweres

Schicksal und darunter in klein: für verdienten Hamburger Beamten.

Sprecher

Senatsrat Struve war gleich 1945 aus dem öffentlichen Dienst entfernt worden. Im

Entnazifizierungsverfahren wurden ihm seine Mitgliedschaft in SA und NSDAP und

seine Tätigkeit als Wehrsturmführer und Volkssturm-Unterführer zur Last gelegt.

Doch Struve orientierte sich politisch neu, um doch noch in den Staatsdienst

zurückkehren zu können.

O-Ton D. Kuhlbrodt

Im Hintergrund war auch, dass Herr Struwe, der Parteimitglied gewesen war in der

SA und alles Mögliche, diese Karriere bedient hatte, nach 45 schleunigst einen

Aufnahmeantrag zur Aufnahme in die SPD gestellt hatte, wo dann alsbald schon im

Jahr 1948 Anfragen der Hamburger Behörden kamen, wann denn das Verfahren

gegen Dr. Struve endlich eingestellt werde, der wohlgemerkt wegen Mordes

angeklagt war, da er dringend als Fachmann im Wiederaufbau der

Gesundheitsverwaltung in Hamburg benötigt werde. 1950 war er bereits wieder

Senatsrat und machte seine Karriere bis zum Senatsdirektor.

18

Sprecher

Der Staatsanwalt stand als Buhmann da, während dem Angeklagten nun mächtige

Unterstützer zur Seite sprangen.

O-Ton D. Kuhlbrodt

Während ich das Verfahren bearbeitete, bekam ich unerwarteten Besuch von dem

stellvertretenden Bürgermeister von Hamburg, Herrn Drexelius, und der mit mir über

das Verfahren sprach in sybillinischen Äußerungen: Herr Kuhlbrodt, das ist doch ein

verdienter Beamter gegen den sich das Verfahren richtet und das ist auch schon so

lange her. Und wissen Sie, Sie sprechen zum ersten Mal mit mir, aber ich kenne Sie

genau und hab immer Ihre Karriere beobachtet und das soll doch auch so weiter

gehen.

Sprecher

Kuhlbrodt ermittelte weiter.

O-Ton D. Kuhlbrodt

Das Verfahren gegen Struve, da wurde die Anklage zugelassen. Und das Gericht

stellte gleichwohl durch Gerichtsbeschluss das Verfahren ein mit der Begründung,

dem Senatsdirektor a. D. Dr. Struve mangele es an Verteidigungsfähigkeit. Ich bin

Volljurist, im Strafrecht meine ich bewandert. Ich hab noch nie von einem Fall gehört,

in dem eine Klage wegen mangelnder Verteidigungsfähigkeit eingestellt wurde. Ich

guck nach, das gibt´s tatsächlich, ist aber nie angewendet worden. Es gibt gar keine

Rechtsprechung dazu.

Sprecher

Ein unabhängiger Sachverständiger solle Struve untersuchen, beschloss die

Strafkammer auf Antrag seines Verteidigers. Als Sachverständiger wurde der

Chefarzt eines großen Hamburger Krankenhauses verpflichtet.

O-Ton D. Kuhlbrodt

... der erschien und sagte, ja, er hätte den also begutachtet den Angeklagten, der

würde sich tatsächlich so aufregen über diese Anklage, dass er keinen klaren

Gedanken fassen könnte. Und dann sag ich: ich möchte mal sehen eine Hausfrau,

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die wegen Ladendiebstahls angeklagt würde, ob die sich nicht auch aufregt, wenn

sie jetzt vor Gericht erscheinen muss.

Sprecher

Erst Jahre später stellte sich heraus, dass dieser unabhängige medizinische

Sachverständige zur Zeit der Euthanasiemorde Struves Hausarzt gewesen war. Zu

spät, um ihn wegen Befangenheit abzulehnen.

O-Ton D. Kuhlbrodt

Worin bestand die mangelnde Verteidigungsfähigkeit? Die bestand darin, dass der

Angeklagte sich zu sehr aufregte, wenn er die Anklageschrift sah, schon, weil sie

einen so großen Umfang hatte. Also stellen wir das Verfahren ein. So geschehen

1975 in Hamburg von der großen Strafkammer im Strafjustizgebäude.

Sprecher

Pastor Lensch legte im Oktober 1945 sein Amt als Anstaltsleiter nieder und bewarb

sich wenige Monate später als Gemeindepastor. Er klagte gegen die Alsterdorfer

Anstalten auf Zahlung der Summe, die ihm durch den Wechsel vom Anstaltsdirektor

zu einem einfachen Gemeindepastor bei seinen künftigen Ruhestandsbezügen

verloren zu gehen drohte. Man verglich sich außergerichtlich.

O-Ton D. Kuhlbrodt

Das Landeskirchenamt hat schon ein Disziplinarverfahren mal eröffnet gegen Pastor

Lensch, wo sie ganz schnell zu dem Ergebnis gekommen sind, dass das richtig ist,

was Lensch sagt, er hat alles nur zum Besten der Anstalt als solche getan. Und von

dem Schicksal der einzelnen Menschen war in diesem Verfahren auch nicht die

Rede.

O-Ton Rainer Hering

.... Der Landesbischof hatte im Prinzip ein sehr einfaches Verfahren entwickelt, um

mit diesen Leuten umzugehen. Die besonders belasteten Geistlichen wurden in die

höchste Gehaltsklasse versetzt, dann wurden sie aus Gesundheitsgründen

pensioniert und nach ein bis zwei Jahren bekamen sie wieder Dienstaufträge und ab

1949/50 waren alle wieder in ihren vollen Pfarrstellen.

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Sprecher

sagt Professor Rainer Hering, Landesarchivar von Schleswig-Holstein. Er erforschte

die Nachkriegsgeschichte der norddeutschen Kirche.

Ab Februar 1947 durfte Pastor Lensch wieder predigen. Er stand jetzt der Christus

Kirche im vornehmen Hamburg-Othmarschen vor und ging 1963 als allseits

geachteter Seelsorger in den Ruhestand. Strafrechtlich wurde er nicht belangt, nicht

einmal ein Verfahren wurde eröffnet. Das Gericht billigte ihm zu, dass er den

Abtransport der Behinderten wohl nicht hätte verhindern können, wenngleich er sich

über die Folgen im Klaren hätte gewesen sein müssen. Lensch starb im Januar 1976

als unbescholtener Bürger. Gottfried Sievers gehört dem Vorstand der Christus

Kirche in Hamburg Othmarschen an.

O-Ton Gottfried Sievers

Wir müssen auch fragen, was ist eigentlich heutzutage in diesem Bereich gang und

gebe? Es ist doch natürlich so, dass auch heute letztlich weitgehend verhindert wird,

dass eben noch Menschen mit Behinderungen zur Welt kommen, die vorgeburtliche

Kontrolle setzt ja bei Frauen eigentlich ab Mitte Dreißig bereits ein, und wenn eine

solche Untersuchung das Ergebnis hat, dass eben eine Behinderung zu erwarten ist,

wird in 95% der Fälle abgetrieben. Also, die Vermeidung solchen Leids, solchen

Schicksals kann ich nicht als von vorne herein verwerflich ansehen. Und insoweit die

entsprechenden Aktivitäten – wobei ich die Einzelheiten nicht weiß – was Herr

Lensch da in dieser Zeit gemacht hat. Aber man muss das – denke ich – in der

notwendigen Relation sehen auch, die eben dahin geht, dass die Vermeidung von

solchen Schicksalen ein nicht von vorne herein verwerfliches Anliegen aus meiner

Sicht darstellt.

Musik

Sprecher

Die evangelische Stiftung Alsterdorf hat ihre unheilvolle Geschichte nach jahrelangen

internen Querelen inzwischen angenommen.

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O-Ton M. Wunder

Nachdem dieses also wie eine Art Nestbeschmutzung innerlich hier registriert

worden war und natürlich auch überlegt worden war, wie kann man eine Person wie

mich jetzt loswerden, gab es dann doch nach einem Leitungswechsel einen radikalen

Kurswechsel. Ich wurde mit einer Theologin und einem Historiker zusammen

beauftragt, die Geschichte der Anstalten nun aufzuarbeiten.

Sprecher

Der Psychologe Michael Wunder – der „Querulant“ der 80er Jahre - ist heute Leiter

des Beratungszentrums Alsterdorf und Mitglied des Deutschen Ethikrates. Die

evangelische Christus Gemeinde in Hamburg Othmarschen hingegen hat sich von

ihrem langjährigen Pastor nicht erkennbar distanziert. In der Gemeindechronik taucht

das Wort Euthanasie nicht auf, man schreibt lediglich, dass Lensch als Leiter der

Alsterdorfer Anstalten, „an dieser exponierten Stelle in intensive Berührung mit der

Rassen- und Eugenikpolitik der Nationalsozialisten“ kam. Das dürfe einen nicht

verwundern, sagt Rainer Hering, viele Gemeinden hätten sich ihrer Vergangenheit

bis heute nicht gestellt.

O-Ton Rainer Hering

Die Kirche selbst hat erst zu Beginn dieses Jahrhunderts reagiert, der Kirchenkreis

Alt Hamburg hat im Jahre 2002 ein Projekt gestartet zur Aufarbeitung der

Gemeindegeschichte im 3. Reich.

Selbst bei diesem kircheneigenen Projekt ab 2002 gab es einzelne Gemeinden, die

versucht haben, ihre Unterlagen nicht zugänglich zu machen. Da gab es also einen

gewissen Widerstand, weil man nicht wollte, dass vielleicht verstorbene Angehörige

von heute kirchlich Tätigen belastet werden. Man hat es nicht gefördert und auch die

Theologische Fakultät hier in Hamburg hat beispielsweise solche Arbeiten nicht

angesetzt und vergeben. Also, man hätte deutlich früher etwas machen können.

Atmo

Sprecher

Wir spazieren über den Alsterdorfer Marktplatz – Treffpunkt für Behinderte und

Nichtbehinderte. Zäune gibt es nicht mehr. Wir sehen viele Neubauten, Restaurants

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und Cafés, aber auch Pavillons, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sind.

Antje Kosemund bleibt vor einem älteren Haus stehen:

O-Ton Antje Kosemund

immer, wenn ich da längst gegangen bin, hab ich hochgeschaut und an meine

Schwester gedacht. Und erst vor wenigen Jahren, ist höchstens zwei Jahre her, hat

mich Michael Wunder mal gefragt: Weißt Du eigentlich, in welchem Haus Irma gelebt

hat, 10 Jahre lang? Ich wollte es bis dahin gar nicht wissen. Und genau dort hat sie

gelebt. Das sind so Intuitionen, die man hat, denke ich. Ich hab immer da

hochschauen müssen und an dieses Kind denken müssen. Seltsame Geschichten

gibt es.

Musik

Absage (Sprecherin):

Wie Irma Sperling starb

Euthanasiemorde unter der Obhut der evangelischen Kirche

Ein Feature von Rainer Link

Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2011.

Es sprachen: Katja Bramm, Volker Niederfahrenhorst und Hartmut Stanke

Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Petra Pelloth

Regie: Anna Panknin

Redaktion: Hermann Theißen