Wirf die Tore auf, Jahrhundert/ Komm herab, begrüßt ... · a) sehr zum Verständnis der...

25
"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/ "Wirf die Tore auf, Jahrhundert/ Komm herab, begrüßt, bewundert" (1) Materialien und Unterrichtsideen zur Jahrhundertwende 1900 ("fin de siècle") Von Jürgen Pannecke (Aus: Geschichte Lernen, Heft 72, November 1999 - Zeitenwenden) Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen, Wenn die so singen oder küssen Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Wenn sich die Welt ins freie Leben und in die Welt wird zurückbegeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu echter Klarheit werden gatten Und man in Märchen und Gedichten Erkennt die ewgen Weltgeschichten, Dann fliegt vor einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort. Novalis (Frhr.v. Hardenberg) 1772 - 1801 Epoche Hätte Novalis am ersten Tag unseres Jahrhunderts - einem Montag - noch einmal das Licht der Welt erblickt, er hätte sie nicht wiedererkannt. Die Ergebnisse einer rasanten Wandlung, die in einem kaum unterbrochenen Boom seit 1871 Deutschland in die Spitzengruppe der industriellen Großmächte führte, bestimmten das Bild. Trotz weiterhin bedrückender Lebensumstände der Arbeiterklasse (1904 lebten z.B. in Berlin 600.000 Menschen zu fünft und mehr ein einem Raum) (2) war der Glaube an Fortschritt, Technik und Vernunft verbreitet. Nicht minder verwundert hätte den Freiherrn, daß seine (romantischen) und auf den ersten Blick so unzeitgemäßen Stoffe und Motive wieder wahrgenommen wurden und neben anderen starken Einfluß ausübten. Die "Neuromantiker" waren eine Erscheinungsform des zweiten charakteristischen Zuges der Zeit der Jahrhundertwende, des Kulturpesssimismus, geprägt durch "das furchtbare Erlebnis des 19. Jahrhunderts" (Hofmannsthal) (3). Man könnte sagen , daß Fortschrittsoptimismus und Verzagtheit an der Moderne in Konkurrenz um den Zeitgeist standen, wobei ersterer in der Breite, zweiterer in der Tiefe bestimmend war.

Transcript of Wirf die Tore auf, Jahrhundert/ Komm herab, begrüßt ... · a) sehr zum Verständnis der...

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

Komm herab, begrüßt, bewundert" (1)Materialien und Unterrichtsideen zur Jahrhundertwende 1900

("fin de siècle")

Von Jürgen Pannecke

(Aus: Geschichte Lernen, Heft 72, November 1999 - Zeitenwenden)

Wenn nicht mehr Zahlen und FigurenSind Schlüssel aller Kreaturen, Wenn die so singen oder küssen Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Wenn sich die Welt ins freie Leben und in die Welt wird zurückbegeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu echter Klarheit werden gatten Und man in Märchen und Gedichten Erkennt die ewgen Weltgeschichten, Dann fliegt vor einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort.

Novalis (Frhr.v. Hardenberg) 1772 - 1801

Epoche

Hätte Novalis am ersten Tag unseres Jahrhunderts - einem Montag - noch einmal das Licht der Welt erblickt, er hätte sie nicht wiedererkannt. Die Ergebnisse einer rasanten Wandlung, die in einem kaum unterbrochenen Boom seit 1871 Deutschland in die Spitzengruppe der industriellen Großmächte führte, bestimmtendas Bild. Trotz weiterhin bedrückender Lebensumstände der Arbeiterklasse (1904 lebten z.B. in Berlin 600.000 Menschen zu fünft und mehr ein einem Raum) (2) war der Glaube anFortschritt, Technik und Vernunft verbreitet. Nicht minder verwundert hätte den Freiherrn, daß seine (romantischen) und auf den ersten Blick so unzeitgemäßen Stoffe und Motive wieder wahrgenommen wurden undneben anderen starken Einfluß ausübten. Die "Neuromantiker" waren eine Erscheinungsform des zweiten charakteristischen Zuges der Zeit der Jahrhundertwende, desKulturpesssimismus, geprägt durch "das furchtbare Erlebnis des 19. Jahrhunderts" (Hofmannsthal) (3). Man könnte sagen , daß Fortschrittsoptimismus und Verzagtheit an derModerne in Konkurrenz um den Zeitgeist standen, wobei ersterer in der Breite, zweiterer in der Tiefe bestimmend war.

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

Das "fin de siècle"-Bewußtsein war keine skurrile und unbedeutende Randerscheinung, keine "welsche Krankheit", auch wenn dies bis heute von Teilen der historischen Zunft sogesehen wird (4). "Der Boden, auf dem sich die Gesellschaft bewegte, erschien den Wetterfühligen unter den Zeitgenossen brüchig. (...) Zum Wesen der Jahrzehnte vor dem ersten Weltkrieg gehört nicht nur das Vertrauen in dieeigene Entwicklungsfähigkeit, sondern auch die Krise in den Köpfen, gehören Distanz und Ängste". (5) Dieses Phänomen bekommt man allerdings nur in den Blick, wenn man die fachwissenschaftlichen Grenzen nicht zu eng setzt. Literarische Quellen sind dem Historiker hier alsounverzichtbar, der Didaktiker schätzt sie unabhängig davon aufgrund ihrer besonderen Möglichkeiten (es ist eine Sache die lebensweltlichen Veränderungen der Industrialisierungaus Statistiken, realistischen Beschreibungen usw. zu rekonstruieren, eine andere einen Satz von Musil zu lesen: " So hatte sich also die Zeit geändert, wie ein Tag, der strahlend blau beginnt und sich sacht verschleiert, und hatte nicht die Freundlichkeit besessen, auf Ulrich zu warten." (6) Die Grundthese der vorliegenden Unterrichtseinheit lautet also, daß die Untersuchung dieser Ambivalenza) sehr zum Verständnis der "Urkatastrophe" (Kennan) des 20.Jahrhunderts, des ersten Weltkrieges, beitragen kann undb) Schülern die Möglichkeit eröffnet, über fundamentale Verunsicherungen in unserer (post?)modernen Lebenswelt zu reflektieren. Einige Indizien sprechen für einen wachsenden Bedarf nach solchen Inhalten, nicht zuletzt der Titanic-Boom (s.u.). Folgt man dem von Nietschke u.a. vertretenen Epochenbegriff "Klassische Moderne" für die Zeit zwischen 1880 und 1930, so haben wir im Jahrhundertwechsel die vorerstletzte und entscheidende historische Wendezeit vor uns: "Offenbar erfolgt auf den verschiedensten Gebieten zwischen 1880/90 und der Jahrhundertwende ein Umschlag, Aufbruch, Neuansatz, der sich ab der Jahrhundertwende dann verbreitert, in den Kriegsjahren1914-1918 schärfere, auch problematischere Konturen bekommt und sich in den zwanziger Jahren weiter ausgestaltet. Diesem Prozeß der Verallgemeinerung, ja scheinbar flächendeckenden Durchsetzung derModerne folgen sich häufende Krisensymptome, die unter den äußeren Bedingungen der Weltwirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre aufbrechen. Erst indem die Krise mit allen ihren Erschütterungendurchschritten wird, formulieren sich Alternativen, die das ganze Feld seitheriger geschichtlicher Möglichkeiten abstecken: vom Weltkrieg bis zum Wirtschaftswunder. Zweifach durcheinandergeschüttelt durch dieErfahrungen von Weltwirtschaftskrise und Weltkrieg in nur der halben Lebensspanne einer Generation, setzt unsere Gegenwart jene moderne Lebensform fort, die so großartig um die Jahrhundertwendehervorbrach und schon bald darauf so katastrophale Tiefen durchschritten hat."(7) Im "Laboratorium der Moderne" (Glaser) entsteht endgültig die uns vertraute Welt, jene ist sozusagen das "nächste Eigene".

Chronik

Vieles, was uns heute wie selbstverständlich umgibt ist zur Jahrhundertwende neu. Von der Dampfeisenbahn zum Transrapid, von den Gebrüdern Wright zum Airbus, vomhandvermittelten Telephongespräch zum Internet, von der ersten Gymnasiallehrerin zur Gleichberechtigung (?), aber auch von Planck zu Tschernobyl und vom Flottengesetz zuHitler und zur deutschen Teilung usf. läßt sich zeigen, woher wir kommen und, mit Blick auf die Jahrtausendwende, welche Linien weiter aufsteigen (z.B. Kommunikation) undwelche Neuorientierungen erfordern (z.B.Energie).

Zeitgeist und Bilanz

Zeitungsartikel und Umfrage, vor ziemlich genau hundert Jahren erschienen, liefern ein Meinungsbild, das- die Aufbruchsstimmung, - den Glauben an Wissenschaft und Technik, - den scheinbar ungebrochenen Rationalismus, - die Befangenheit des Denkens in nationalen Beschränkungen, - das Bewußtsein für die sozialen Defizite und- zeitbedingte Widersprüchlichkeiten (Moltke und Weltfrieden, Sklaverei und deutsche Kolonien usw.) deutlich werden läßt. Diese Grundstimmung bildet die Folie, vor der sich das Weitere abspielt.

Veränderungen, Weltende, Decadènce

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

Die Kunst der Jahrhundertwende ist (vereinfacht gesprochen) vielgestaltig, dies ist geradezu ihr Wesenszug: Naturalismus, Impressionismus, Symbolismus, Jugendstil, Neuromantik, beginnender Expressionismus, Heimatkunst, man hat von einem "Karneval der Stile" (8) gesprochen, auch eine Folge der allgemeinen Beschleunigung und Atomisierung der Gesellschaft. Gemeinsames Merkmal ist allerdings eine tiefe Irritation ausgelöst durch die Zeitumstände. Auswege aus dieser Irritation sind Sozialkritik(Hauptmann), Beschwörung des Elitegedankens (S.George), künstliche Gegenwelten (Huysmans) oder Hinwendung zum Dekorativen (Jugendstil). Diese schillernde Welt des finde siècle hatte "der kommenden die schöne Geste voraus", ihre Formen erscheinen "wie ein ästhetischer Tagtraum vor uns, von keinem Scheitern überschattet, von seineraufpolierten materiellen Kostbarkeit mit dem Parfüm der Alterslosigkeit versehen" (9). Das Gedicht von Hoddis z.B. zeigt diesen nicht untypischen Unernst, was aber nichtsdaran ändert, daß die allgemein geführte Klage, der moderne Mensch sei von der Resource Sinn abgeschnitten, vernehmlich gestellt wurde und bis heute ihrer Antwort harrt. Die Texte werden von Schülern als aktuell empfunden, die darin ausgerückte Wahrnehmung von "Disharmonie, Nichtzurechtfinden in der äußeren Welt, Schnellebigkeit,Weltbildverlust" (Schülerzitate) sind demnach unvermindert aktuell. Die Statistiken erlauben es, die Schilderungen von Musil historisch zu verorten: Junge Menschen in den großen Städten der Jahrhundertwende waren in aller Regel nicht hiergeboren, arbeiteten anders als ihre Eltern vorwiegend im sekundären Sektor und profitierten mit sich langsam verbessernden Lebensverhältnissen vom Produktivitätszuwachsund Erfolg der Industrie. "Diese zwei Strophen, o diese acht Zeilen schienen uns in andere Menschen verwandelt zu haben, uns emporgehoben zu haben aus einer Welt stumpfer Bürgerlichkeit, die wir verachteten und von der wir nichtwußten, wie wir sie verlassen sollten. (...) wir sangen sie, wir summten sie, wir murmelten sie, wir pfiffen sie vor uns hin (...)Was war geschehen? Wir kannten das Wort damals nicht: Verwandlung.. . Wir fühlten uns wie neue Menschen ..."(10) So wie in dieser Schilderung des späteren DDR-Kulturministers Johannes R.Becher hatte das Gedicht von Hoddis offensichtlich den Nerv getroffen und kann dazu anregen,assoziativ den Faden weiterzuspinnen und zu überlegen, welches die gültigen Bilder unserer Wahrnehmung sein könnten. Die Decadènce- Dichtung schließlich, als deren einflußreichstes Werk "Gegen den Strich" von Huysmans gilt (es ist z.B. das gelbe Buch, das Oscar Wildes Dorian Grey mit sichführt), entfernt sich als l'art pour l'art am weitesten von der sozialen Wirklichkeit und treibt die Verachtung der Realität so weit, daß ihr autistischer Held sich eine in allen Detailsbeschriebene künstliche Gegenwelt schafft. Hier wird die Grenze und Perspektivlosigkeit des fin de siècle deutlich: Huysman verschreibt sich später dem Katholizismus,D'Annunzio, der wichtigste italienische Decadènce-Dichter, dem italienischen Faschismus. Am Beispiel Thomas Manns, der seinen Hanno Buddenbrook selber als Dékadent bezeichnet hat, lassen sich eine Reihe von Entsprechungen verdeutlichen, parodiert er in "BeimPropheten" von 1904 noch den Obskurantismus gewisser fin de siècle Figuren, so gibt sich Gutsav von Aschenbach im "Tod in Venedig" von 1912 schon ganz dem Verfall hin,während Hans Castorp im "Zauberberg" (begonnen 1912, erschienen 1924) den Versuchungen lebensfeindlicher Tendenzen zwar zunächst nachgibt, um sich schließlich aberdagegen zu entscheiden (und im ersten Weltkrieg zu verschwinden, während sich sein Autor mühsam zu Republik und Demokratie bekehrt). So wie man sich im Zauberberg, der nichts anderes als die Abbildung der bürgerlichen Gesellschaft der Jahrhundertwende als Mikrokosmos ist, auf Entdeckungs- und Zeitreisebegeben kann, bietet die Literatur dieser Epoche viele weitere faszinierende Möglichkeiten, die der Geschichtsunterricht nicht ungenutzt lassen sollte.

Menetekel

Die Titanic ist immer noch in aller Munde! Zum großen Menetekel des 20.Jahrhunderts wurde sie, weil hier in idealtypischer Weise Hybris und Scheitern zusammentrafen. DieChance, Schüler bei ihrem Alltagsbewußtsein abzuholen, ist hier in besonderer Weise gegeben. Jede und jeder wird etwas über das Wrack, die geborgenen Gegenstände oder dieFrisur von Leo diCaprio berichten können, aber warum ist dieser Untergang (bei weitem nicht der verlustreichste und nur einer unter Tausenden) für uns von solcher Bedeutung?"Wir fahren auch die Nacht über direkten Kurs, volle Kraft." (11) Welcher Kurs, welche Nacht? Man beachte auch die Abbildung "Nearer, my God, to Thee", nach der Katastophe als Postkarte einer Renner und vergleiche mit der Textstelle aus M3 " Wir Menschen haben nun einmal keine andere Leuchte als die Vernunft".Der Enzensberger- Text schließlich erlaubt es, drei mögliche Haltungen vorzuführen: der durch und durch rationale und materialistische Homo faber, der raunende Beschwörerder Macht des Schicksals, der Natur, Gottes (?) und der selbstlose und unsichere Veranstalter von Rettungsversuchen. An aktuellen Krisen kann man die Haltungen durchspielenund mögliche Konsequenzen verdeutlichen. Das liefert keine Antworten aber möglicherweise die richtigen Fragen. Besonders hinzuweisen ist auf die hervorragende Hörspielfassung des Enzenzberger- Textes, man kann sich mit geringem Aufwand beeindruckende akkustischeUnterrichtsmaterialien herstellen.

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

Anmerkungen:

1) Aus einem Gedicht von Julius Hart, erschienen 1899, siehe Lit.19) Bd.1, S.2002) Vgl. Lit.8), S.193) Vgl. Lit. 19) Bd.2, S.3674) Vgl. z.B. den Aufsatz von F. Möller in Lit.9), S.169 ff. 5) Vgl. Lit. 10), S.106) Vgl. Lit. 27), S. 587) Vgl. Lit. 5), Heft 0, S.688) Vgl. Lit.19). Bd.1, S.2019) Vgl. Lit.30), S.610) Vgl. Lit. 1), S. 326 f. 11) Vgl. Lit. 8), S.11

Einsatz der Materialien und weitere Unterrichtsideen:

A) Alle Materialien einzeln einsetzbar, als Ergänzung zu den Standartthemen des 19. Jahrhunderts. Mit M9 läßt sich in verschiedenen Zusammenhängen (z.B. Ethik) die Frage untersuchen, wie unsereZivilisation mit den ihr eigenen Bedrohungen umgeht und was sie ihr bedeuten ("Das Jahrhundert der Katastrophen" Schlagzeile aus dem Hamburger Abendblatt vom 25.6.1999)

B) M1 bis M8 als Sequenz eingesetzt erklärt sich (hoffentlich) aus sich, es bietet sich an, dies an Kursthemen wie die "Julikrise" oder "Industrialisierung" anzuschließen, um damit den Aspekt Mentalitätvertiefend zu betrachten. Nach gemeinsamen Einstieg über M1 bieten sich die arbeitsteilige Beschäftigung mit M2 bis M7 an, um dann anhand von M8 gemeinsam zu reflektiren und den Gegenwartsbezug zubeleuchten ("Tschernobyl, Estonia, Eschede - Titanic anno '86, '94, '98?") .

C) Semesterthema Jahrhundertwende 1880 - 1930: - arbeitsgleich: innenenpolitische, wirtschaftliche, soziale, außenpolitische Veränderungen Überblick) - Thema: Jahrhundertwende als Laboratorium der Moderne (Alltags- und Mentalitätsgeschichte) - Einstieg über M1- M8- Vertiefungen durch Schülerreferate (Themen nach Interesse bzw. Themenkatalogen in Lit. 4), 5) und/oder 10), einige Vorschläge (völlig ungeordnet): - Kindheit im Matrosenanzug - neue Leit(d)bilder im Jahrhundert des Kindes (Literaturangabe 4, 10)- Wandervogel und Halbstarke - Jugend zwischen Diziplinierung und Revolte ( 5, 10) - "Ein Rennautomobil ist schöner als die Nike von Samothrake" - Frühling der Autokultur (4) - Das Zeitalter der Nervosität - Veränderung der Zeitwahrnehmung (12) - Massengesellschaft im Aufbruch - Verkehr, Konsum und Medien (Warenhaus und Stummfilm) (5) - Revolutionierung der Arbeitswelt (5, 10)- Neue Wohnkultur (5, 10)- Veränderungen im Geschlechterverhältnis (1, 5, 10)- Umweltprobleme und Unmeltbewußtsein (10)- Kaiserkult und Antimilitarismus (10)- Sexualität und Ehe - Erwartungen, Ängste, Einstellungsänderungen (5, 10)- Seit 100 Jahren auf dem Tisch - Maggi - Veränderung der Esskultur

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

D) Fächerübergreifender oder Projektunterricht zum Thema Jahrhundertwende: - Physik: Planck und Einstein - Das neue physikalische Weltbild und seine Auswirkungen (5)- Biologie: Ernst Haeckel und die Welträtsel - Der Siegeszug des Darwinismus (1, 5)- Kunst - Impressionismus, Symbolismus, Jugenstil, Expresionismus - Die Welt wird neu gesehen (4, 5, 18)- Deutsch - Jahrhunderwende im Roman (Th. und H. Mann, Robert Musil, Herrmann Hesse, Karl May usw.), in der Lyrik (Hofmannthal, Heym, Holz usw.) und im Drama (Ibsen, Hauptmann, Schnitzler usw.) (1, 5, 19) - Philosophie - Schopenhauer und Nietzsche als Antwort auf das 9. Jahrhundert, Henri Bergson und der élan vital (1, 4) - Sport - Turnen, Rhythmik und neue Tänze - Neue Bewegungsweisen als Ausdruck gesellschaftlicher Veränderungen (5)

- Geschichte - s.o. (C)

Literaturliste zum Thema Jahrhundertwende 1900:

Einführende Aufsätze oder Kapitel zu den Bereichen Alltags- und Sozialgeschichte, Kulturgeschichte und Kunstgeschichte in 1), 2), 8), 9), 10) und 17). Weitere Quellen und Materialien in 5), 10), 13) - 16), 17) und 20), weitereLiteraturangaben in 1), 2), 9) und 10) (umfangreichste Liste).

Alle aufgeführten Titel waren in Hamburger öffentlichen Bibliotheken ausleihbar.

1) Hermann Glaser, Die Kultur der Wilhelminischen Zeit, Frankfurt a.M. 1984

2) Thomas Kuchenbach, Die Welt um 1900 - Unterhaltungs- und Technikkultur, Stuttgart 1992

3) Justus Franz Wittkop, Europa im Gaslicht, Die hohe Zeit des Bürgertums 1848-1914, Zürich 1979

4) Georg Fülberth, Gabriele Dietz, Fin de siècle- Hundert Jahre Jahrhundertwende, Berlin 1988

5) DIFF, Funkkolleg Jahrhundertwende 1880-1930, Weinheim 1988, 13 Hefte

6) Otto-Ernst Schüddekopf, Herrliche Kaiserzeit, Deutschland 1871- 1914, Berlin 1973

7) Friedrich Wilhelm Henning, Die Industrialisierung in Deutschland 1800 bis 1914, Paderborn 1979

8) Hilmar Hofmann, Heinrich Klotz, Die Kultur unseres Jahrhunderts, Bd.1 1900-1918, Düsseldorf 1993

9) Enno Bünz (Hrsg.), Der Tag X in der Geschichte, Stuttgart 1997

10) Jens Flemming, Klaus Saul, Peter-Christian Witt (Hrsg.) Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871-1914, Darmstadt 1997

11) Michelle Perrot (Hrsg.) Geschichte des privaten Lebens, Bd.4: Von der Revolution zum Großen Krieg, Frankfurt a.M., 1992

12) Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, Deutschland zwischen Bismarck und Hitler

13) Ingrid Gräfin Lynar (Hrsg.), Facsimile- Querschnitt durch die Frankfurter Zeitung, Bern 1964

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

14) Friedrich Luft (Hrsg.), Facsimile-Querschnittdurch die Berliner Illustrierte, Bern 1965

15) Heinz Klüter (Hrsg.), Facsimile- Querschnitt durch die Gartenlaube, Bern 1963

16) Das Beste aus dem Simplicissimus, o.O., o.N., ausgewählt und kommentiert von Christian Schütze

17) Wolfgang Asholt, Walter Fähnders, Fin de siècle - Erzählungen, Gedichte, Essays, Stuttgart 1993

18) Hans H.Hofstätter, Symbolismus und die Kunst der Jahrhundertwende, Köln 1975

19) Diether Krywalski, Handlexikon zur Literaturwissenschaft (2 Bd.), Reinbek 1974

20) Gotthardt Wunberg, Die Wiener Moderne, Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 1981

21) Carl E.Schorske, Wien- Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, München 1994

22) Ulrich Karthaus, Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil, (Die deutsche Literatur - Ein Abriß in Text und Darstellung, Bd.13), Stuttgart 1977

23) Hans Hinterhäuser, Fin de Siècle, Gestalten und Mythen, München 1977

24) Werner Ross, Bohemiens und Belle Epoque, Als München leuchtete, Berlin 1997

25) Donald Hyslop, Alastair Forsyth, Sheila Jemina, Titanic- Voices- Memories From The Fateful Voyage, New York 1998

26) Thomas Mann, Der Zauberberg, Berlin 1974

27) Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Erstes und Zweites Buch, Reinbek 1986

28) Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt a.M.1977

29) Joris-Karl Huysmans, Gegen den Strich, Bremen 1991

30) Werner Hofmann (Hrsg.), Experiment Weltuntergang, Wien um 1900, Katalog der Ausstellung in den Hamburger Kunsthalle 1981, München 1981

31) Belser- Lexikon der Kunst- und Stilgeschichte, CD-ROM München 1997 (Soft Media Verlag)

32) Das 20.Jahrhundert- eine Chronik, CD-ROM, München 1997 (Bertelsmann Lexikon Verlag)

33) Hans Magnus Enzensberger, Der Untergang der Titanic, Frankfurt a.M.1978 (auch als Hörspiel-Kasette, Cottas Hörbühne)

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

M1

"Volldampf voraus.Ich führe Euchherrlichen Zeitenentgegen!"

(Der deutsch KaiserWilhelm II. 1890)

Dazu: M2 - M4

"...die Leistungen eines Jahrhunderts, das der Menschheit größere Dienste leistete, als irgeneine

frühere Epoche..."(Aus einem zeitgenössischen Bericht über die Weltausstellung in Paris 1900)

Dazu M2 - M4

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

"Wir waren so sicher,wir werden niemehr so sicher sein."

(Der zweite Offizier derTitanic nach seiner Rettung)

Dazu: M8

Fragen:

1)Fasst die Widersprüchlichkeitder Urteile in Worte.

2) Was erscheint euch interessant oder unklar? Formuliert Fragen dazu.

"Ah! Brich zusammen,, Gesellschaft! Stirb alte Welt!"

(Aus einem Schlüsselroman der Jahrhundertwende)

Dazu M5 - M7

M 2: Chronik

1899

- Ernest Ruherford entdeckt Alpha- und Beta-strahlen radioaktiver Atome - die Gebrüder Wright unternehmen Drachenversuche (1903 folgt der erste bemannteMotorflug)

- "Die Grundlagen des 19.Jahrhunderts" von Housten Stewart Chamberlain erscheint

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

- die Haager Landkriegsordnung wird verabschiedet - "Die Welträtsel" von Ernst Haeckel erscheint - die Eisenbahn wird in einer Umfrage zur Erfindung des Jahrhunderts erklärt

1900

- in China findet der sogenannte Boxeraufstand statt - das zweite Flottengesetz wird verabschiedet - auf der Weltausstellung in Paris wird die erste Rolltreppe vorgestellt - in Paris wird die Untergrundbahn (Metro) eröffnet - der erste Flug von Graf Zeppelin mit seinem Luftschiff findet statt - "Traumdeutung" von Sigmund Freud erscheint - "Abhandlungen zur Quantenphysik" von Max Planck erscheint - in Ungarn wird erstmals in Europa eine Frau Gymnasiallehrerin - in Berlin studieren 371 Frauen (1896 waren es 40) - in Berlin fährt die erste Autodroschke - in Deutschland werden 691 Millionen Gespräche (von Hand) vermittelt (1888 waren es 156,1913 2500 Millionen) - auf der Zugspitze wird eine Wetterstation eröffnet - Bernhard von Bülow wird Reichskanzler - das Bürgerliche Gesetzbuch tritt in Kraft - der Deutsche Fußballbund (DFB) wird gegründet - das Jahrhundert des Kindes wird ausgerufen - der Davis-Pokal wird von dem amerikanischen Tennisspieler D.F.Davis gestiftet - in Paris finden die zweiten olympischen Sommerspiele statt, die deutsche Mannschaft erringt 4 Gold und je 2 Silber- und Bronzemedaillen - in Berlin wird ein 10-jähriger Junge wegen "Majestätsbeleidigung" vom Gymnasium gewiesen - es sterben: Wilhelm Liebknecht, Gottlieb Daimler, Oscar Wilde und Friedrich Nietzsche-

o Beurteilt, welche Bedeutung die Ereignisse jeweils für die Geschichte des 20. Jahrhundertsgehabt haben. o Stellt selber eine Chronik für die Jahre 1999 und 2000 zusammen. Vergleicht, aus welchenBereichen die Einträge jeweils stammen.

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

Fragen:

M3

Zeitgeist (Q)

"An der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts. Das gegenwärtige Geschlecht genießt den Vorzug, die Menschheitsgeschichte von der Zinneeiner Jahrhundertwende herab zu betrachten. Da richtet sich der Blick naturgemäß auf das abgelaufene Jahrhundert, um den Werth seinerLeistungen abzuschätzen. [...]

Die Gründung eines gewaltigen Deutschen Reiches im Herzen von Europa hat sich als eine nachhaltige Förderung des Weltfriedens erwiesen,der seit nahezu einem Vierteljahrhundert von Deutschland im Bunde mit Oesterreich-Ungarn und Italien wirksam behütet wird. In dieser Zeithaben wir keinen Weltkrieg mehr gehabt, und wo ein Brand ausbrach, konnte er lokalisiert werden, sogar auf dem sonst so gefährlichen Bodendes türkischen Orients. Der moderne Deutsche ist eben kein Eroberer; wenn er arbeiten und leben kann, läßt er gern auch Andere arbeiten undleben, und die Gerechtigkeit ist ihm keine leere Phrase. [...]

Trotz der häufigen Kriege der letzten Jahre hat die Friedensidee große Fortschritte gemacht. Diese Kriege sind, so zu sagen, Spezialfälle; einKrieg zwischen den Großstaaten selbst gilt als fast undenkbar, weil die Einsätze zu groß sind gegenüber dem etwa zu erwartenden Gewinn. [...]Wenn es schließlich nur drei oder vier Weltreiche geben wird, von denen jedes sich selbst genügen kann, dann sind die politischen undwirtschaftlichen Reibungsflächen wesentlich vermindert, und den kleinen Störenfrieden wird man das Kriegführen einfach verbieten können, wiedies auch bisher schon zuweilen geschehen ist. Die Gründung und der Ausbau der großen Reiche wird die politische Hauptaufgabe deskommenden Jahrhunderts sein. Wir wünschen und hoffen, daß Deutschland, das gestärkt durch die errungene Rechtseinheit und einengroßartigen wirtschaftlichen Aufschwung in das neue Jahrhundert eintritt, zu diesen Weltreichen gehöre; aber wir wünschen und hoffen auch,daß Deutschland seine wachsende Macht stets nur im Geiste der Gerechtigkeit zum Segen der ganzen Menschheit gebrauche, damit so daßWort des mittelalterlichen Dichters sich erfülle:

Am deutschen Wesen werde einmal noch die Welt genesen! Den Beinamen des philosophischen hat das neunzehnte Jahrhundert nicht verdient, wohl aber den des wissenschaftlichen. [...] Jetzt erst wird der Mensch seiner selbst, seiner Stellung und seiner Kraft bewußt; jetzt erst erkennt erseine großen Aufgaben und nimmt deren Verwirklichung in die Hand. Unendlich groß sind die Errungenschaften der Wissenschaft und derTechnik im neunzehnten Jahrhundert! Dampfschiffe, Eisenbahnen, Telegraph, Telephon, Elektrizität als Licht- und Kraftquelle,

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

Spektral-Analyse, Uebertragung der Kraft, Entdeckung des Aethers, Röntgen-Strahlen, die erstaunlichen Fortschritte der Chemie und desMaschinenwesens, Phonograph, Kinematograph, drahtlose Telegraphie und wie die Erfindungen und Entdeckungen alle heißen mögen, - essind für ein Jahrhundert so viele, um mehrere Jahrhunderte damit versehen zu können! Es ist nicht auffallend, daß diese riesige Entwicklung derWissenschaft, die den Weltraum verkleinert, die Zeit verkürzt und die Völker mit einander in die engste Berührung bringt, dem Weltverkehrnicht blos, sondern auch der Weltpolitik den nachhaltigsten Vorschub leistet, so daß im allgemeinen Wettbewerb kein Volk zurückbleiben kann,wenn es nicht Gefahr laufen will, für immer Übergängen und aus der Reihe der maßgebenden Kulturmächte gestrichen zu werden. So hat dieWissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts das Gesetz des Fortschritts in wunderbarer Weise befruchtet. [...]

Der Glaube ist mit dem Wissen zu versöhnen, wenn er nicht den Anspruch erhebt, gegen das Wissen und im offenen Widerspruch mit derVernunft sich zu behaupten. Wir Menschen haben nun einmal keine andere Leuchte als die Vernunft und kein anderes Wahrheitsmittel alsunablässige wissenschaftliche Prüfung; wer beide verachtet, thut es nicht ungestraft. Wohin die Völker kommen, die auf eigenes Denkenverzichten und sich blindlings der Führung einer absoluten Autorität überlassen, das zeigt mit entsetzlicher Klarheit das Schicksal dergesammten lateinischen Welt, soweit sie Rom und seinen Organen gehorcht. Das neunzehnte Jahrhundert hat die Versöhnung zwischenGlauben und Wissen nicht gebracht, sondern eher noch die Gegensätze verschärft, indem es den Volksmassen nicht diejenige Aufklärungbrachte, die gegenüber den riesigen Fortschritten auf allen anderen Gebieten des Lebens so nöthig wäre [...]

Eine weitausgreifende Sozialpolitik ist nothwendig für Deutschland, das ein Industrieland ersten Ranges geworden ist und Weltpolitik treibenwill. Je besser die gesammte arbeitende Bevölkerung Deutschlands gestellt, je unterrichteter und aufgeklärter sie ist und je freier sie sichbewegen kann, mit desto größerem Nachdruck kann Deutschland auf dem Weltmarkte und in der Weltpolitik auftreten. Man soll sich nur nichteinbilden, daß man draußen Weltpolitik treiben und zu Hause ein System einseitiger Klassenwirtschaft, polizeilicher Bevormundung,büreaukratischer Bedrückung und kleinlichen Fiskalismus aufrecht erhalten kann! Ohne das ganze arbeitende Volk ist keine Weltpolitik zumachen; will man, daß es für eine große Politik eintrete, dann behandle man es auch in großem Stile: man gebe ihm die Möglichkeit erweitertenUnterrichts und geistiger Genüsse; man erhöhe seine Lebenshaltung, und man gewähre ihm die freie Bewegung auf allen Gebieten desöffentlichen Lebens! Nur so wird man das Groß-Deutschland schaffen, das unseren Staatsmännern im Zukunfsbilde vorschwebt. [...]

Manche Aufgaben hat das neunzehnte Jahrhundert gelöst, aber noch mehr überliefert es ungelöst dem zwanzigsten Jahrhundert, das sie wohlauch nicht alle lösen wird. Das kann nicht anders sein, denn die Menschheit will noch länger leben und spätere Jahrhunderte wollen auch nochArbeit haben. Aber wenn die Menschheit mit erweiterten Aufgaben in das neue Jahrhundert eintritt, dann bringt sie zur Lösung ihrer Aufgabenweit mehr Kräfte mit, als sie in früheren Jahrhunderten besaß. Die Erkenntnis hat eine Stufe erreicht und die Nutzbarmachung der Naturkräfteist zu einem Grade gediehen, wie nie zuvor. Wir haben bedeutungsvolle Schritte gethan dem Ziele der Menschheit entgegen. Dieses Ziel heißt:Beherrschung der Natur und Herstellung des Reiches der Gerechtigkeit."

(Leitartikel der Frankfurter Zeitung vom 31.12.1899, aus: Facsimile Querschnitte durch die Frankfurter Zeitung, Bern 1964. S.70 f.)

Fragen:

1)Nennt Gesichtspunkte aus den Bereichen Politik, Wissenschaft/Technik/Wirtschaft und Religion, die der Autor an der Schwelle des

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

20.Jahrhunderts für besonders wichtig hält.

2)Urteilt auf der Grundlage der weiteren Entwicklung: Welche Prognosen haben sich als richtig, welche als falsch erwiesen?

M 4

Bilanz Wir haben in der letzten Nummer des vorigen Jahrgangs unsern Lesern 27 Fragen vorgelegt, worin wir über die Bedeutung von Ereignissen und Personen derletzten hundert Jahre die ungefähren Ansichten eines weiteren Kreises ergründen wollten. (...) In gewissen Punkten ergab sich eine überraschende Übereinstimmung unter den eingegangenen Antworten, die aus allen sozialen Gesellschaftsschichten, vonallen Altersklassen und von beiden Geschlechtern herrühren. (...) 1) Welchen Beinamen würden Sie diesem Jahrhundert geben? Mit einem Übergewicht von etwa 3200 Stimmen wird die Bezeichnung Das Jahrhundert der Erfindungen! vorgeschlagen, während sich 1200 Stimmen für die Bezeichnung "Das Jahrhundert des Dampfes" und 900 Stimmen für die Bezeichnung "Das Jahrhundert derElektrizität" entschieden. (..) Von einzelnen sonstigen Bezeichnungen seien hervorgehoben: das schaffende, das eiserne, das große, das kriegerische, das nervöse,das kulturreiche, das indusrielle, das patriotische und sogar das alkoholische Jahrhundert; ferner das Jahrhundert der Schnelllebigkeit,(...) der Surrogate (...) 2) Wer hat Ihrer Ansicht nach der Menschheit in diesem Jahrhundert den größten Dienst erwiesen? Lord Lister, der Entdecker der antiseptischen Wundbehandlung und George Stevenson der Erbauer der ersten Lokomotive (...) Neben diesen wurden Professor Koch (...), Professor Röntgen (...), Dr Jenner, der Entdecker der KuhpockenSchutzimpfung (...) Kaiser Wilhelm der I. und Bismarck (...), Darwin (...), Pasteur, Edison, Behring (...), Howe, der Erfinder der Nähmaschine, (...) Justus Liebig,(...) als Wohltäter der Menschheit gepriesen. (...) Einer will den Pfarrer Kneipp als den Wohltäter gepriesen sehen (..) ein dritter den "lieben Gott" (...) 3) Wen halten Sie für den bedeutensten Mann Deutschlands? Fürst Bismarck ist mit einer nahezu an Einstimmigkeit grenzenden Majorität (...) als dieser Mann bezeichnet worden.(...) 4) Wer ist der größte Dichter des Jahrhunderts? Goethe ist der Bismarck unserer Litteratur (...) 5) Wer ist der größte Denker des Jahrhunderts? Die Hauptanzahl vereinigte sich (...) auf den deutschen General-Feldmarschall

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

Hellmuth v.Moltke. Es erscheint uns charakteristisch für das Volk der Dichter und Denker, daß es den Schlachtenlenker den Vorzug gibt vor den Darwins, den Kants, denSchopenhauers. 8) Wer ist der größte Musiker des Jahrhunderts? Bei dieser Frage bot sich die Gelegenheit zu einer richtigen Massendemonstration für den deutschen Musikheros Richard Wagner. (...) In weiter Entfernung kommt dann Ludwig v.Beethoven (...) Mozart, Schubert, Brahms (...) Chopin wurden genannt, aber leider nur mit einer ganz verschwindendkleinen Zahl. (...) Tiefer Ernst liegt in der Bemerkung eines Einsenders, der Krupp, den Kanonenkrupp von Essen, als den größten Musiker des Jahrhunderts bezeichnetet. 10) Wer ist der größte Feldherr des Jahrhunderts? Napoleon I. 12) Welches ist die bedeutenste Frau des Jahrhunderts? Königin Luise von Preussen 14) Welches ist die wohltätigste Erfindung oder Entdeckung des Jahrhunderts? Die Eisenbahn 15) Welches ist die größte historische Ereignis in diesem Jahrhundert? Auch in dieser Frage herrscht eine bemerkenswerte Uebereinstimmung der meisten Einsender vor,(...) die Einigung und Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches 17) Welches war die bedeutenste Kulturthat in diesem Jahrhundert? Die Aufhebung der Sklaverei (...) ebenso viele Stimmen zerstreut auf die Kolonisation im allgemeinen, die Eroberung von (...) Afrika im besonderen (...) 22) Welches Buch hat in diesem Jahrhundert den größten Einfluß gewonnen? Konversationslexikon (...) vereinzelte Stimmen (...) die Bibel (...) Darwins Entstehung der Arten, Marx' Kapital (...) 23) Wer war der größte Missetäter des Jahrhunderts? Napoleon I. 27) Was erhoffen Sie sich vom kommenden Jahrhundert? Weltfrieden

Aus: Berliner Illustrierte Zeitung vom 10.2., 5.3. und 12.3.1899, abgedruckt in: Facsimile Querschnitte, Scherz Verlag, München 1965 S.47 ff.

Fragen:

1)Beschreibt die Urteile der Menschen zusammenfassend.

2)Erörtert, was aus heutiger Sicht daran widerspüchlich erscheint.

3)Führt mit den gleichen Fragen eine Umfrage durch. Vergleicht, in welchen Punkten sich die Antworten am deutlichsten von den damaligenunterscheiden. Sucht nach möglichen Erklärungen.

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

M 5

Veränderungen

Stefan Zweig, Die Welt der Sicherheit

Wenn ich versuche, für die Zeit vor dem Ersten Weltkriege, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich amprägnantesten zu sein, wenn ich sage: es war das goldene Zeitalter der Sicherheit. (...)

Niemand glaubte an Kriege, an Revolutionen und Umstürze. Alles Radikale, alles Gewaltsame schien bereits unmöglich in einem Zeitalter derVernunft.(...)

Dienstboten sparten sich eine Altersversicherung und zahlten im voraus ein in die Sterbekasse für ihr eigenes Begräbnis. Nur wer sorglos in dieZukunft blicken konnte, genoß mit gutem Gefühl die Gegenwart. In diesem rührenden Vertrauen, sein Leben bis auf die letzte Lückeverpalisadieren zu können gegen eden Einbruch des Schicksals, lag trotz aller Solidität und Bescheidenheit der Lebensauffassung eine großeund gefährliche Hoffart. Das neunzehnte Jahrhundert war in seinem liberalistischen Idealismus ehrlich überzeugt, auf dem geraden undunfehlbaren Weg zur >besten aller Welten< zu sein. (...) Jetzt aber war es doch nur eine Angelegenheit von Jahrzehnten, bis das letzte Böse undGewalttätige endgültig überwunden sein wurde, und dieser Glaube an den ununterbrochenen, unaufhaltsamen >Fortschritt< hatte für jenesZeitalter wahrhaftig die Kraft einer Religion, man glaubte an diesen >Fortschritt< schon mehr als an die Bibel, und sein Evangelium schienunumstößlich bewiesen durch die täglich neuen Wunder der Wissenschaft und der Technik. In der Tat wurde ein allgemeiner Aufstieg zu Endedieses friedlichen Jahrhunderts immer sichtbarer, immer geschwinder, immer vielfältiger. Auf den Straßen flammten des Nachts statt der trübenLichter elektrische Lampen, (...) schon konnte dank des Telephons der Mensch zum Menschen in die Ferne sprechen, schon flog er dahin im pferdelosen Wagen mit neuen Geschwindigkeiten, schon schwang er sich empor in die Lüfte im erfüllten Ikarustraum. Der Komfort drang ausden vornehmen Häusern in die bürgerlichen, nicht mehr mußte das Wasser vom Brunnen oder Gang geholt werden, nicht mehr mühsam amHerd das Feuer entzündet, die Hygiene verbreitete sich, der Schmutz verschwand. Die Menschen wurden schöner, kräftiger, gesünder, seit derSport ihnen die Körper stählte, immer seltener sah man Verkrüppelte, Kropfige, Verstümmelte auf den Straßen,

Heute, da das große Gewitter sie längst zerschmettert hat wissen wir endgültig, daß jene Welt der Sicherheit ein Traumschloß gewesen.

Aus: Stefan Zweig, Die Welt der Sicherheit, posthum 1947, in: Die deutsche Literatur in Text und Darstellung, Impressionismus Symbolismus und Jugendstil, Stuttgart 1991, S.107 ff.

Fragen:

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

1) Was ist der "Ikarustraum"? Inwiefern träumten die Menschen der Jahrhundertwende ihn?

2) Was ist mit dem "Gewitter" in Zeile 23 gemeint?

3) Ist der Traum deiner Meinung nach für alle Zeiten ausgeträumt?

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

Die Handlung des Romans, aus dem die folgenden Auszüge stammen, spielt im Jahr 1913 in Wien, sie gilt als beispielhafte Schilderung derAtmosphäre in der sterbenden Donaumonarchie.Der Held ist 30 Jahre alt.

Autos schossen aus schmalen, tiefen Straßen in die Seichtigkeit heller Plätze. Fußgängerdunkelheit bildete wolkige Schnüre. Wo kräftigereStriche der Geschwindigkeit quer durch ihre lockere Eile fuhren, verdickten sie sich, rieselten nachher rascher und hatten nach wenigen Schwingungen wieder ihren gleichmäßigen Puls. Hunderte Töne waren zu einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden, aus dem einzelneSpitzen vorstanden, längs dessen schneidige Kanten liefen und sich wieder einebneten, von dem klare Töne absplitterten und verflogen. Andiesem Geräusch, ohne daß sich seine Besonderheit beschreiben ließe, würde ein Mensch nach jahrelanger Abwesenheit mit geschlossenenAugen erkannt haben, daß er sich in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien befinde. (...)

Wie alle großen Städte bestand sie aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen undAngelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und derewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander, und glich im ganzen einer kochenden Blase, die in einem Gefäß ruht,das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht. (...)

So hatte sich also die Zeit geändert, wie ein Tag, der strahlend blau beginnt und sich sacht verschleiert, und hatte nicht die Freundlichkeitbesessen, auf Ulrich zu warten. (...)

Nach einer Weile hatte Ulrich aber in Verbindung damit einen wunderlichen Einfall. Er stellte sich vor, der große Kirchenphilosoph Thomas vonAquino, gestorben 1274, nachdem er die Gedanken seiner Zeit unsäglich mühevoll in beste Ordnung gebracht hatte, wäre damit nochgründlicher in die Tiefe gegangen und soeben erst fertig geworden; nun trat er, durch besondere Gnade jung geblieben, mit vielen Foliantenunter dem Arm aus seiner rundbogigen Haustür, und eine Elektrische sauste ihm an der Nase vorbei. Das verständnislose Staunen des Doctoruniversalis, wie die Vergangenheit den berühmten Thomas genannt hat, belustigte ihn. Ein Motorradfahrer kam die leere Straße entlang,oarmig, obeinig donnerte er die Perspektive herauf. Sein Gesicht hatte den Ernst eines mit ungeheurer Wichtigkeit brüllenden Kindes. (...)

Mill. Einwohner

«Man kann seiner eignen Zeit nicht böse sein, ohne selbst Schaden zu nehmen» fühlte Ulrich. Er war auch jederzeit bereit, alle dieseGestaltungen des Lebendigen zu lieben. Was er niemals zustande brachte, war bloß, sie restlos, so wie es das soziale Wohlgefühl erfordert, zulieben; seit langem blieb ein Hauch von Abneigung über allem liegen, was er trieb und

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

erlebte, ein Schatten von Ohnmacht und Einsamkeit, eine universale Abneigung (...)

Aus: Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek ,1989, S.9 f. und 58 f.

Fragen:

1) Setze die zentralen Aussagen des Textes und der Statistiken zueinander in Beziehung.

2) Wie hat sich die Lebenswelt seit Ulrichs Geburt verändert?

3) Warum wird die Veränderung als "geheimnisvolle Zeitkrankheit" (Musil) wahrgenommen?

M 6

Weltende

Arno Holz: Poesie der neuen Zeit

(...)

Dann glaubt mein Ohr, es hört den Trittvon vorwärts rückenden Kolonnen,und eine Schlacht seh ich gewonnen, wie sie kein Feldherr noch erstritt.

(...)

Drum dir, die schmerzvoll mich gebar, dir, junge Zeit aus Blut und Eisen, leg ich mein Herz und seine Weisen nun stumm auf deinen Hochaltar!

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

(...)

Mir schwillt die Brust, mir schlägt das Herz und mir ins Auge schießt der Tropfen,hör ich dein Hämmern und dein Klopfen auf Stahl und Eisen, Stein und Erz.

(...)

Von nie geahnter Kraft geschwellt, verwarf sie ihre alten Krücken,sie mauert Tunnels, zimmert Brücken und pfeift als Dampfschiff um die Welt.

Aus: Arno Holz: Das Buch der Zeit (1886). In: Werke. Bd. 5. Neuwied a. Rhein/Berlin-Spandau 1962, S. 24-28.

Wilhelm Klemm: Meine Zeit

Gesang und Riesenstädte, Traumlawinen,Verblaßte Länder, Pole ohne Ruhm, Die sündigen Weiber, Not und Heldentum, Gespensterbrauen, Sturm auf Eisenschienen.

(...)

0 meine Zeit! So namenslos zerrissen, so ohne Stern, so daseinsarm im Wissen Wie du, will keine, keine mir erscheinen.

Aus: Kurt Pinthus (Hrsg.): Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung. Berlin 1920, S.4

Jacob van Hoddis: Weltende

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, In allen Lüften hallt es wie Geschrei. Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei, Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Aus: Ebd., S.3, Erstveröffentlichung 1912

Fragen:

1) Welche Grundhaltung bringen die drei Gedichte ihrer Zeit entgegen?

2) Wie könnte der Wandel der Haltungen zu erklären sein?

3) Welche der drei Haltungen würde dir für unsere Zeit als passend erscheinen? Schreibe die Gedichte fort!

M 7

Décadence

Joris- Karl Huysmans: Gegen den Strich (1884)

Das Buch, dem die folgenden Auszüge entnommen sind, gilt als die "Bibel der Décadence". Sein Held, der Herzog Jean Des Esseintes, ist derletzte Nachkomme einer einstmals mächtigen Familie. Er ist "ein graziler junger Mann von dreißig Jahren, blutarm und nervös, hohlwangigund mit Augen von kaltem Stahlblau". Er lebt völlig zurückgezogen in seinem exquisit und erlesen eingerichten Haus in der Nähe von Paris.

Wirklich: er litt beim Anblick bestimmter Physiognomien (...)

Er witterte bei den anderen eine solch tief verwurzelte Dummheit, einen solchen Abscheu vor dem, was er dachte, eine solche Verachtung für dieLiteratur, die Kunst, für alles, was er anbetete, er fühlte dies alles so fest eingepflanzt und verankert in diesen kleinen Händlerhirnen, die einzigmit Gaunereien und Geld beschäftigt und lediglich für jene niedrige Zerstreuung mittelmäßiger Geister, für die Politik, offen waren, daß erwutentbrannt nach Hause zurückkehrte und sich mit seinen Büchern einschloß.

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

Aus ganzem Herzen schließlich haßte er die neue Generation, jene Schichten entsetzlicher Flegel, die in den Restaurants und Cafes unbedingtlaut sprechen und lachen müssen, die einen, ohne um Verzeihung zu bitten, auf dem Trottoir anrempeln und einem, ohne sich zu entschuldigenoder gar zu grüßen, die Räder eines Kinderwagens zwischen die Beine stoßen.

(...)

»Ich suche neue Düfte, größere Blumen, noch nie empfundene Lüste.«

Ah! und zu ihm, zu ihm sprach diese Stimme geheimnisvoll wie eine Beschwörung; ihm, ja ihm erzählte sie von ihrem Fiebern nach demUnbekannten, von ihrem unbefriedigten Ideal, ihrem Bedürfnis, der schrecklichen Wirklichkeit des Daseins zu entfliehen, die Grenzen desDenkens zu sprengen, im nebulösen Jenseits der Kunst umherzutappen, ohne je zu einer Gewißheit zu gelangen!

(...)

Unter dem niedrigen Himmel schwitzen schwarz die Häuserwände in der feuchtwarmen Luft und stinken die Kellerlöcher; der Ekel des Daseinstritt deutlicher hervor, und Trübsinn richtet alles zugrunde; die Saat des Unflats die in jedermanns Seele liegt, geht auf; Lust auf widerliche

Saufgelage treibt sonst strenge Menschen um, und im Hirn geachteter Leute keimen Begierden von Zuchthäuslern.

(...)

Die Knirpse prügelten sich jetzt. Sie rissen sich Brotfetzen aus den Händen, die sie sich in die Backen stopften, und lutschten sich die Finger ab.Es hagelte Fußtritte und Fausthiebe, und die Schwächeren, zu Boden gedrückt, schlugen mit den Beinen und heulten, wenn sie sich denHintern auf dem Schotter abschürften.

Dieses Schauspiel belebte Des Esseintes; der Anteil, den er an der Schlacht nahm, lenkte seine Gedanken ab von seinem Leid. Angesichts der Erbitterung dieser bösen Rangen dachte er an das grausame und abscheuliche Gesetz des Lebenskampfes, und obwohl diese Kinder abstoßendwaren, konnte er nicht umhin, ihr Los in Betracht zu ziehen und zu glauben, daß es besser für sie gewesen wäre, ihre Mutter wäre nicht mitihnen niedergekommen.

Kopfausschlag, Koliken und Fieber, Masern und Ohrfeigen vom zartesten Alter an; Stiefeltritte und verdummende Arbeiten um das dreizehnteLebensjahr; Schwindeleien der Frauen, Krankheiten und ein Leben als Hahnrei vom Mannesalter an; auch am Lebensabend Gebrechen undTodeskampf in einem Armenhaus oder einem Siechenheim.

(...)

Obwohl die ererbten und von den frühzeitigen Unhöflichkeiten und ständigen Brutalitäten der höheren Schulen noch gefördertenzweckorientierten Wesenszüge die heutige Jugend ganz besonders unerzogen und ganz besonders nüchtern und kalt machten, hatte sie sich im

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

Grunde des Herzens dennoch die alte blaue Blume, das alte Ideal einer ranzig gewordenen, unbestimmten Zuneigung bewahrt.

Zusammengestellt aus: J.-K.Huysmans, Gegen den Strich, Bremen 1991

Anatol Baju: An die Leser des "Décadent litteraire et artistique" (1886)

Sich den Stand der Dekadenz, den wir erreicht haben, zu verhehlen wäre der Gipfel des Wahnwitzes.Religion, Sitten, Recht, alles dekadiert, oder vielmehr: alles durchläuft einen unabwendbaren Wandel. Die Gesellschaft zersetzt sich unter der ätzenden Wirkung einer Zivilisation in Auflösung. Der moderne Mensch ist ein Übersättigter. (...) Wir enthalten uns der Politik als einer vollendet fauligen und abscheulich verachtenswerten Angelegenheit.

Aus: W.Asholt/W.Fähnders, Fin de siécle, Stutttgart 1993, S.168f. .

Marie Herzfeld: Fin-de-siécle (1893)

Alle dichterischen Erzeugnisse der letzten Jahre, insofern sie für die Gemütslage unserer Zeit charakteristisch sind, erscheinen angefüllt vomPessimismus »müder« Seelen. (...) dies Jahrhundert der Erfindungen, welches das Tempo unseres Lebens verzehnfachte und unsere Körperkraftwohl kaum verdoppelte; dies Jahrhundert, das die Gewohnheit hat, uns die schmerzliche Überraschung des Besseren an den Kopf zuschleudern, ehe wir die Wohltat des Guten zu genießen vermochten; - es hat uns wirklich oft ein bißchen müde gemacht. Wir sind umgeben voneiner Welt absterbender Ideale (...)

Aus: Ebd., S.175f.

Fragen:

1) Stelle die hier genannten Merkmale der Décadence-Literatur zusammen.

2) Erläutere die Ansichten Des Esseintes vor dem sozialen, politischen und wissenschaftlichen (z.B. Darwinismus) Hintergrund des19.Jahrhunderts.

3) Diskutiere die Weltanschauung des Herzogs aus heutiger Sicht.

M 8

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

Menetekel

Dialog aus dem deutschen Film "Titanic" (1943)

"Herr Kapitän, es liegen mehrere Warnungen über Treibeisgefahr vor.Es besteht also die Gefahr auf Unterwassereis zu laufen."

"Gefahr für die Titanic? Das ist ja lächerlich, die Titanic ist unsinkbar!"

"Eine Beibehaltung des Kurses und der vollen Geschwindigkeit gefährdet das Leben von mehr als 2000 Menschen."

"Meine Herren, es bleibt dabei, wir fahren auch die Nacht über direkten Kurs, volle Kraft. Sollten Sie mich brauchen, ich bin im Festsaal."

Hans Magnus Enzensberger (1969 - 1977) : Der Riß

Etwas reißt.

Eine endlose Segeltuchbahn,

ein schneeweißer Leinwandstreifen,

der erst langsam,

dann rascher und immer rascher

und fauchend entzweireißt.

Das ist der Anfang.

Hört ihr? Hört ihr es nicht?

Haltet euch fest!

[Haltung 1]

Salzwasser in der Tennishalle! Ja, das ist ärgerlich,

aber nasse Füße sind noch lang nicht

das Ende der Welt.

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

Aber gesetzt den Fall, die Titanic ginge tatsächlich unter,

was ich persönlich für ausgeschlossen halte

na und? Was folgt daraus?

Denken Sie mal an die zigtausend Fahrzeuge, unterwegs

auf allen Weltmeeren, die ihre Bestimmungshäfen,

auch wenn wir ersaufen, erreichen werden, pünktlich und ungerührt.

Im übrigen geht jede Innovation auf eine Katastrophe zurück:

neue Werkzeuge, Theorien und Gefühle — man nennt das Evolution.

Deshalb sage ich: Selbst einmal angenommen, spaßeshalber,

sämtliche Schiffe versänken an ein und demselben Tag,

so müßten wir uns eben etwas anderes einfallen lassen:

enorme Himmelssegler, dressierte Wale, eiserne Wolken.

[Haltung 2]

Der Eisberg kommt auf uns zu

unwiderruflich.

ja, er ist größer

als alles, was sich bewegt

Er ist größer als wir.

Wir sehen immer nur

seine Spitze.

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

Fortschritte macht er keine,

doch »wenn er,

gleich einer ungeheuren,

weißen,

mit blauen Schattirungen

durchäderten Marmortafel,

stürzt und kippt,

dann erbebt das Meer«.

Er geht uns nichts an,

treibt einsilbig weiter,

braucht nichts,

pflanzt sich nicht fort,

schmilzt.

Er hinterläßt nichts.

Er verschwindet vollkommen.

Ja, so muß es heißen:

Vollkommen.

[Haltung 3]

Ich mache, bis auf die Haut naß, Personen mit nassen Koffern aus.

Auf schiefer Ebene seh ich sie stehen, gegen den Wind gelehnt

"Wirf die Tore auf, Jahrhundert/

Ich warne sie, ich rufe z. B. Die Bahn ist schief,

meine Damen und Herren, Sie stehen am Rande des Abgrunds.

Jene freilich lachen nur matt und rufen tapfer zurück: Danke gleichfalls.

Ich frage mich, sind es wirklich nur ein paar Dutzend Personen,

oder hanget da drüben das

ganze Menschengeschlecht,

wie auf einem x-beliebigen Musikdampfer, der schrottreif

und nur noch einer Sache geweiht ist, dem Untergange?

Ich sehe, wie sie langsam versinken, die Personen, und folgende Worte

rufe ich ihnen zu: Ich sehe, wie ihr langsam versinkt.

Keine Antwort. Auf fernen Musikdampfern, matt und tapfer,

spielen Orchester. Ich bedaure das sehr, es ist mir nicht recht,

wie sie alle sterben, durchnäßt, in diesem Nieselwetter, schade

ist es, ich könnte heulen, ich heule: »Doch keiner weiß«,

heule ich, »in welchem Jahr, und das ist, und das ist, wunderbar.«

Aus: H.M.Enzensberger, Der Untergang der Titanic, Frankfurt a.M. 1981, 34 f., 27 f., 114 f. (gekürzt)

Fragen:

1) Stelle Parallelen zwischen dem Untergang der Titanic und der Jahrhundertswende her.

2) Wie ist am Ende des 20. Jahrhunderts das enorme Interesse am Untergang der Titanic zu erklären?

3) Welch Unterschiede gibt es zwischenden 3 Haltungen im Enzensberger- Text? Beurteile sie!