Wissenschaftstheorie im 20. Jahrhundert - Gesellschaft ... · Aber diese Charakterisierung reicht...

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Aufklärung und Kritik 4/2017 47 Dr. Rudolf Kötter (Erlangen) Wissenschaftstheorie im 20. Jahrhundert Ein Streifzug durch ihre Geschichte 1. Einleitung Die Wissenschaftstheorie fügte sich erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als jüngste Disziplin in den großen Fächer- kanon der Philosophie ein. Dem Lexikon nach lässt sie sich als philosophische Re- flexion auf den begrifflichen Aufbau der Wissenschaften sowie auf deren Geltungs- ansprüche und Begründungsverfahren be- stimmen (z.B. Art. Wissenschaftstheorie 1996). Aber diese Charakterisierung reicht in ihrer unbestimmten Allgemeinheit natür- lich nicht aus, um die Wissenschaftstheo- rie als eigene Disziplin von anderen, schon bestehenden Disziplinen eindeutig abzu- trennen. Zum einen kommt man in keiner Wissen- schaft umhin, zumindest gelegentlich die eigenen methodologischen Grundlagen ei- ner philosophischen Reflexion zu unterzie- hen. Insbesondere wenn es darum geht, neue Theorien zu etablieren, müssen ihre Verfechter zeigen, dass diese auf einem wohlbegründeten Fundament aufbauen und diese Überzeugungsarbeit wird mit Mitteln der philosophischen Argumenta- tionstheorie geleistet. Galileo Galilei, Isaac Newton, Claude Bernard, Charles Darwin, Albert Einstein – sie alle mussten für ihre Theorien die methodologischen Grundla- gen erst einmal schaffen. Das war eine phi- losophische Arbeit, die sich aus dem Kon- text des Wissenschaftstreibens nicht lö- sen lässt. Zum anderen gehörte eine philosophische Reflexion auf die Wissenschaften bis in jüngere Zeit fest zu einer philosophischen Disziplin, nämlich zur Erkenntnistheorie. Das im Rahmen der Wissenschaften pro- duzierte Wissen galt als Paradigma für verlässliches Wissen schlechthin, es war der Probierstein, an dem sich jeder er- kenntnistheoretische Entwurf beweisen musste. So hat man es jedenfalls in einer Tradition gesehen, die von Descartes, über Hume, Kant bis zu den Empiriokritizisten wie Avenarius und Mach reicht. Für die jüngere Geschichte der Erkennt- nistheorie gilt dies allerdings nicht mehr uneingeschränkt. Jedenfalls hat man es in der Analytischen Erkenntnistheorie spätes- tens seit Gettier (Gettier 1963) aufgegeben, sich mit so ernsten und anspruchsvollen Themen wie „Wissenschaft“ zu beschäfti- gen. Die Frage nach dem, was „Wissen“ sein kann oder sein soll, wird jetzt auf ei- ner entwicklungspsychologisch frühen Pha- se der Kognition angesiedelt und anhand der dafür adäquaten sprachlichen Aus- drucksmöglichkeiten verhandelt (also ohne Bezug auf generelle Aussagen oder Ab- strakta und bei einer Beschränkung auf den Zahlenraum bis 20). Fügte also die Wissenschaftstheorie nur Ge- dankengänge zusammen, die anderen Orts schon wohl etabliert waren? Auch wenn es heute manchmal so aussehen mag, die Gründegeschichte der Wissenschaftstheo- rie lässt diesen Schluss nicht zu. Die phi- losophischen Reflexionen, die zur Etablie- rung der Wissenschaftstheorie geführt hat- ten, weisen zwei Besonderheiten auf, die sie deutlich unterscheiden von den Refle- xionen, wie sie im Rahmen der Wissen- schaften und der Erkenntnistheorie vor-

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Aufklärung und Kritik 4/2017 47

Dr. Rudolf Kötter (Erlangen)Wissenschaftstheorie im 20. Jahrhundert

Ein Streifzug durch ihre Geschichte

1. EinleitungDie Wissenschaftstheorie fügte sich erstin der ersten Hälfte des 20. Jahrhundertsals jüngste Disziplin in den großen Fächer-kanon der Philosophie ein. Dem Lexikonnach lässt sie sich als philosophische Re-flexion auf den begrifflichen Aufbau derWissenschaften sowie auf deren Geltungs-ansprüche und Begründungsverfahren be-stimmen (z.B. Art. Wissenschaftstheorie1996). Aber diese Charakterisierung reichtin ihrer unbestimmten Allgemeinheit natür-lich nicht aus, um die Wissenschaftstheo-rie als eigene Disziplin von anderen, schonbestehenden Disziplinen eindeutig abzu-trennen.Zum einen kommt man in keiner Wissen-schaft umhin, zumindest gelegentlich dieeigenen methodologischen Grundlagen ei-ner philosophischen Reflexion zu unterzie-hen. Insbesondere wenn es darum geht,neue Theorien zu etablieren, müssen ihreVerfechter zeigen, dass diese auf einemwohlbegründeten Fundament aufbauenund diese Überzeugungsarbeit wird mitMitteln der philosophischen Argumenta-tionstheorie geleistet. Galileo Galilei, IsaacNewton, Claude Bernard, Charles Darwin,Albert Einstein – sie alle mussten für ihreTheorien die methodologischen Grundla-gen erst einmal schaffen. Das war eine phi-losophische Arbeit, die sich aus dem Kon-text des Wissenschaftstreibens nicht lö-sen lässt.Zum anderen gehörte eine philosophischeReflexion auf die Wissenschaften bis injüngere Zeit fest zu einer philosophischenDisziplin, nämlich zur Erkenntnistheorie.

Das im Rahmen der Wissenschaften pro-duzierte Wissen galt als Paradigma fürverlässliches Wissen schlechthin, es warder Probierstein, an dem sich jeder er-kenntnistheoretische Entwurf beweisenmusste. So hat man es jedenfalls in einerTradition gesehen, die von Descartes, überHume, Kant bis zu den Empiriokritizistenwie Avenarius und Mach reicht.Für die jüngere Geschichte der Erkennt-nistheorie gilt dies allerdings nicht mehruneingeschränkt. Jedenfalls hat man es inder Analytischen Erkenntnistheorie spätes-tens seit Gettier (Gettier 1963) aufgegeben,sich mit so ernsten und anspruchsvollenThemen wie „Wissenschaft“ zu beschäfti-gen. Die Frage nach dem, was „Wissen“sein kann oder sein soll, wird jetzt auf ei-ner entwicklungspsychologisch frühen Pha-se der Kognition angesiedelt und anhandder dafür adäquaten sprachlichen Aus-drucksmöglichkeiten verhandelt (also ohneBezug auf generelle Aussagen oder Ab-strakta und bei einer Beschränkung auf denZahlenraum bis 20).

Fügte also die Wissenschaftstheorie nur Ge-dankengänge zusammen, die anderen Ortsschon wohl etabliert waren? Auch wennes heute manchmal so aussehen mag, dieGründegeschichte der Wissenschaftstheo-rie lässt diesen Schluss nicht zu. Die phi-losophischen Reflexionen, die zur Etablie-rung der Wissenschaftstheorie geführt hat-ten, weisen zwei Besonderheiten auf, diesie deutlich unterscheiden von den Refle-xionen, wie sie im Rahmen der Wissen-schaften und der Erkenntnistheorie vor-

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genommen wurden. Diese Besonderhei-ten liegen zum einem im Ziel, das die ers-ten Wissenschaftstheoretiker mit ihrer neu-en Disziplin verfolgt haben, zum anderenin der Auswahl der Mittel, mit denen siedas Ziel erreichen wollten. Ziel und Mittelhaben sich im Laufe der Zeit selbst wie-der gewandelt, ihren Wandel mit grobenStrichen nachzuzeichnen, soll Aufgabe desAufsatzes sein.

2. Die Anfänge2.1 Ziel und Anspruch der neuen Wis-senschaftstheorieDie Wissenschaftstheorie hatte sich in denzwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts inWien und Berlin etabliert. In Wien hattesich ein Kreis von Philosophen, Mathe-matikern und Naturwissenschaftlern umMoritz Schlick geschart; diese Gruppe, deru.a. Rudolf Carnap, Otto Neurath, Her-bert Feigl, Philipp Frank, Victor Kraft,Friedrich Waismann und Hans Hahn an-gehörten, wurde unter dem Namen „Wie-ner Kreis“ bekannt.1 In Berlin gab es eineetwas kleinere Gruppe um Hans Reichen-bach, die ähnliche Ziele wie der WienerKreis verfolgte (sie firmierte unter demNamen „Gesellschaft für empirische (spä-ter: wissenschaftliche) Philosophie“).Bekannte Mitglieder dieser Gruppe warenz.B. Kurt Grelling, Walter Dubislav undCarl Hempel.2 Reichenbach und Carnapgründeten übrigens gemeinsam die Zeit-schrift „Erkenntnis“ als Plattform für ihreIdeen. Wie kam es zu diesen Gruppierun-gen? Um dies zu verstehen, müssen wireinen Blick auf die allgemeine politischeund kulturelle Lage der damaligen Zeitwerfen.Für Deutschland und Österreich war mitdem Ende des 1. Weltkriegs nicht nur einKrieg verloren. Das Ende des Krieges be-

deutete zugleich das Ende des DeutschenReiches und der österreichisch-ungari-schen Monarchie. Mit der alten Reichs-ordnung verschwand aber nicht nur diealte Herrschaftsordnung, sondern auch diesie tragende Sozial- und Werteordnung.Die Menschen waren auf diesen radikalenWandel nicht vorbereitet, es gab keine In-stitutionen oder Traditionen, die eine Trans-formation der alten Ordnung in neue poli-tische Verhältnisse hätten leiten oder zu-mindest begleiten können. Man musste ge-wissermaßen von heute auf morgen mitHerausforderungen fertig werden, zu de-ren Bewältigung es keine Muster gab.Dieses Vakuum versuchten zahllose politi-sche Akteure mit ihren Ideen zu füllen. Manwollte aus dem Nichts etwas Neues schaf-fen oder das Alte restituieren. So blühtenWeltanschauungen, politische Ideen undPhantasien auf, fanden ihre Anhänger undVerfechter. Reaktionäre Nationalisten, Fa-schisten, Kommunisten und Sozialisten ver-schiedenster Schattierungen – sie alle sa-hen ihre Chance gekommen, ihre zum Teilwirren Ideen in die Tat umzusetzen. Be-sonnene Vertreter eines liberalen Parlamen-tarismus, die es natürlich auch gab, stan-den auf verlorenem Posten. Es herrschte einKampf, in dem jedes Mittel recht war.Am deutlichsten war in den alten Metro-polen Wien und Berlin dieses Klima vonHass, Polemik und Gewalt zu spüren. Nichtzuletzt waren die Universitäten von dieserEntwicklung betroffen, denn fast jede die-ser politisch-weltanschaulichen Strömun-gen konnte auf professorale Unterstützungbauen. Historiker, Theologen, Philosophen,Juristen und Ökonomen zimmerten diepseudo-wissenschaftlichen Fundierungenfür die politischen Ziele von Parteien undweltanschaulichen Gruppen zusammen.Entsprechend vergiftet war auch das Kli-

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ma an den Universitäten. Der einstmaligeHort der Rationalität verkam stellenweisezur Bühne für geifernde und hasserfülltePolemik.3

Diese Erfahrung ließ die Intellektuellen, dienoch vom Ideal einer aufgeklärten Vernunftgeprägt waren, zusammenrücken. Im Wie-ner Kreis und in seinem Berliner Pendantwollte man sich dem beschämenden Nie-dergang der Universität und insbesonde-re der Geisteswissenschaften entgegen-stemmen. Für diese Anstrengung gab esauch ein leuchtendes Vorbild.Parallel zum politischen und sozialen Um-bruch hatte sich ein ähnlich drastischerUmbruch in der Physik vollzogen. Konn-te man Einsteins spezielle Relativitätstheo-rie als Brückentheorie zwischen Mecha-nik und Elektrodynamik noch in den Kon-text der Klassischen Physik einordnen, sowar mit der Allgemeinen Relativitätstheo-rie und der Quantentheorie endgültig derBoden der Klassischen Physik verlassen.Nun haben physikalische Theorien nichtnur einen empirischen Beschreibungs- undErklärungsanspruch, sie haben immer aucheine weltbildgenerierende Funktion. Undso wurden mit den neuen Theorien nichtnur neue Forschungsfelder eröffnet, son-dern zugleich wurde durch sie ein Welt-bild zerstört, das viele Physiker und dar-über hinaus viele gebildete Menschen ge-prägt hatte.Dies führte aber nicht zu Hasstiraden, zu po-lemischen Schlammschlachten, Fackelum-zügen und Gewaltexzessen. Auch wennes vielen Physikern persönlich schwer fiel,letztlich waren ihnen die Bedingungen klar,unter denen die neuen Theorien akzeptiertwerden mussten. Dieser Prozess der Ak-zeptanz zog sich über Jahre hin, aber dieDiskurse waren in der Regel zielorientiertund wurden mit großem Ernst geführt.4

Das war die positive Erfahrung, die dieMitglieder des Wiener Kreises und derBerliner Gruppe beflügelt hatte: Es ist of-fensichtlich unter den schwierigsten Be-dingungen möglich, Konsens zu erzielen,wenn man sich an bestimmten argumen-tativen Standards orientiert, und diese Stan-dards sind beispielhaft in der Physik zufinden. Die Wissenschaftstheorie sollte diePhysik analysieren, ihre Argumentations-standards herauspräparieren und diesedann den anderen Wissenschaften als Leit-bild vermitteln: Wenn Wissenschaft, dannnach dem Vorbild der Physik. Dieser nor-mative Anspruch unterschied also die neueWissenschaftstheorie deutlich von den an-deren Formen der Reflexion auf Wissen-schaft.Vor allem die erste Phase des Wiener Krei-ses (etwa bis 1930) war stark program-matisch geprägt. Man propagierte die„wissenschaftliche Weltauffassung“ undsah sich am Projekt einer „Einheitswissen-schaft“ arbeiten. In der Programmschrift„Wissenschaftliche Weltauffassung: DieProgrammatik des Wiener Kreises“ heißtes dazu emphatisch: „Die wissenschaftli-che Weltauffassung dient dem Leben unddas Leben nimmt sie auf.“ (Verein ErnstMach 1929, S. 32).Es waren solche Sätze, die die neue Wis-senschaftstheorie attraktiv für Intellektu-elle erscheinen ließ und sie zu einem weitdiskutierten Thema machte. Eines mussaber hier mit aller Deutlichkeit gesagt wer-den: „Weltauffassung“ bedeutet nicht „Welt-anschauung“, d.h. mit dem Programm desWiener Kreises wurde eine methodologi-sche, keine metaphysische Position bezo-gen. „Physikalismus“ im Sinne des Wie-ner Kreises bedeutete, Geltungsansprüchevon Aussagen nur insoweit anzuerkennen,als sie dem rekonstruierten Argumentati-

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onsmuster der Physik folgten. Die The-sen eines ontologisch verstandenen Phy-sikalismus, Naturalismus oder Materialis-mus galten als empirisch nicht einholbarund damit sinnlos.Als Mittel zur Durchsetzung der wissen-schaftlichen Weltauffassung wurde die„logische Analyse“ eingesetzt, die auf dernoch jungen formalen Logik und der imEntstehen begriffenen Sprachphilosophieaufbaute. Und diese „logische Analyse“ist die zweite Besonderheit, durch die sichdie neue Wissenschaftstheorie von den vor-gängigen Formen der Wissenschaftsrefle-xion unterschied.

2.2. MethodenIm Gegensatz zum klassischen Empiris-mus und Positivismus setzte der „logischeEmpirismus bzw. Positivismus“ nicht beiSpekulationen über das Verhältnis von In-nenwelt zu Außenwelt oder über physio-logische und psychologische Mechanismender Wahrnehmung an, sondern bei einerAnalyse sprachlicher Urteile: Das Beson-dere der empirischen Erkenntnis muss sichin der Begrifflichkeit und Form der Sätzezeigen, mit denen sie ausgedrückt wird.Dieser Überzeugung folgend, formulierteman ein Sinnkriterium:

1. Jeder sinnvolle Begriff bezieht sich ent-weder selbst auf unmittelbar beobachtbareGegenstände oder er lässt sich mit Hil-fe solcher Begriffe ausdrücken.2. In letzter Instanz erfolgt die Begrün-dung einer empirischen Behauptung im-mer unter Bezugnahme auf die Ergeb-nisse unmittelbarer Beobachtung.

Was sich dem Sinnkriterium für Sätze undBegriffe nicht beugt, sollte nicht länger alsBestandteil von Wissenschaft gewertet wer-

den, da für derartige Sätze und Begriffesich keine Intersubjektivität herstellen lässt.Das Sinnkriterium hatte also eine kritischeFunktion und diente der Zurückweisungmetaphysischer Ansprüche, wobei dasVerständnis von „Metaphysik“ sehr weitgespannt war.Im Geiste dieses Programms wollte manzunächst die Physik einer „rationalen Re-konstruktion“ (R. Carnap spricht von„Nachkonstruktion“, Carnap 1928, 1934)unterziehen und damit explizit machen,was den Physikern häufig nur intuitiv ver-fügbar war. Dazu musste in einem erstenSchritt eine im modernen Sinne verstande-ne Axiomatisierung physikalischer Theo-rien vorgenommen werden; anschließendmussten dann die in den Axiomen vor-kommenden theoretischen Begriffe defini-torisch durch so genannte Korrespondenz-regeln mit Beobachtungsbegriffen ver-knüpft werden. Der Wahrheitsgehalt dergenerellen Aussagen sollte schließlich durcheinen Induktionsschluss im Rahmen einerinduktiven Logik positiv gesichert werden.An der so rekonstruierten Physik orien-tiert sollte dann der Aufbau von Chemie,Biologie, Psychologie und Soziologie er-folgen.Aber: Alle diese programmatischen An-sprüche sind letztlich an Einwänden ge-scheitert, die aufgrund logischer Analysenvon den Mitgliedern des Wiener Kreisesselbst bzw. von Sympathisanten vorge-bracht wurden:

– So zeigte sich sehr schnell, dass sichdie so genannten „theoretischen Begrif-fe“ nicht durch ein einfaches, der explizi-ten Definition angelehntes Verfahren ein-führen lassen. Theoretische Begriffe kön-nen nur partiell interpretiert werden, d.h.sie haben für sich genommen keine empi-

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rische Bedeutung, bekommen diese nurim Verbund mit den anderen theoretischenBegriffen der Theorie auf dem Wege der„prognostischen Relevanz“. Die Feststel-lung der prognostischen Relevanz kannaber mit den Mitteln der Syntax und Se-mantik allein nicht getroffen werden, hiermuss man sich pragmatischer Mittel be-dienen.5

– Dadurch geriet auch die Vorstellung insWanken, mit den Protokollsätzen das Fun-dament des Wahrheitsanspruchs empiri-scher Theorien gelegt zu haben. Mit dervon Wittgenstein gestifteten Idee, Sätzeals „wahr“ zu bezeichnen, wenn der in ih-nen ausgedrückte Sachverhalt tatsächlichder Fall sei,6 kam man nicht weit. OttoNeurath machte zu Recht geltend, dassSätze nur mit Sätzen, nicht aber mit derRealität verglichen werden können. DieProtokollsätze sind deshalb nicht schlecht-hin „wahr“, sondern nur besonders gut undeinfach zu überprüfen, so dass eine Eini-gung hinsichtlich ihrer Geltung leicht zuerzielen sei. Was wir allerdings wahrneh-men und wie wir es bewerten, ist uns nichtnaturgegeben, es wird durch Sozialisati-on und Einübung vermittelt: Carnap undNeurath sprechen davon, dass wir hin-sichtlich der Akzeptanz bestimmter Pro-tokollsätze „konditioniert“ werden.7

– Schließlich musste auch die Hoffnung,die generellen und universellen Sätze derNaturwissenschaften, also die „Naturge-setze“, durch eine induktive Logik in einempositiven Sinne als „wahr“ auszeichnen zukönnen, aufgegeben werden.

Zum letzten Punkt sind allerdings einigeBemerkungen zur Erläuterung angebracht.Die Idee, generelle und universelle empi-rische Sätze durch ein logisches Indukti-onsverfahren aus Aussagen zu gewinnen,

die sich auf einzelne Beobachtungen be-ziehen, spielte im Wiener Kreis zunächstkeine große Rolle. Carnap sah z.B. in sei-nen Arbeiten zum logischen Aufbau derWelt bzw. zur logischen Syntax der Spra-che keine Möglichkeit, induktive Schlüs-se auf logisch befriedigende Weise zu etab-lieren. Anders sah die Lage in der BerlinerGruppe aus. Hier verfochten Hans Rei-chenbach und Richard von Mises einenfrequentistischen Ansatz in der Wahrschein-lichkeitstheorie, bei dem Wahrscheinlich-keiten als Grenzwerte relativer Häufigkei-ten eingeführt wurden (Mises 1928, Rei-chenbach 1935a und 1935b). Auf demBoden dieser Theorie erschien es plausi-bel, eine induktive Logik für empirischeAussagen konstruieren zu wollen. Aller-dings scheiterte die frequentistische Wahr-scheinlichkeitstheorie an mathematischenEinwänden und damit brach zugleich auchdas theoretische Fundament des Reichen-bachschen Induktionsansatzes zusam-men.Carnap entwickelte erst spät seine induk-tive Logik. Dabei ging er (mit Popper) da-von aus, dass sich die Wahrheit generel-ler und universeller empirischer Sätzedurch Induktion nicht begründen lasse,beharrte aber (im Gegensatz zu Popper)darauf, dass es möglich sein müsse, Gra-de der Bestätigung von empirischen Sät-zen anzugeben. Dies wollte er mit seinenArbeiten zur induktiven Logik zeigen, dieaber weniger als Beiträge zu einer Theorieder Bestätigung als vielmehr zu einer Theo-rie der rationalen Entscheidung verstan-den werden müssen.8 Näher betrachtetstellt sich allerdings heraus, dass das In-duktionsproblem aus zwei Komponentenbesteht. Die eine betrifft die Frage, ob eslogisch möglich ist, aus singulären Aus-sagen auf generelle Aussagen zu schlie-

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ßen. Ihr sind die verschiedenen Ansätzezur induktiven Logik zuzuordnen. Die an-dere Komponente betrifft die Frage, wieman denn von generellen Aussagen zutheoretischen Strukturen kommt. Die Phy-sik ist ja in jeder ihrer Teildisziplinen ge-prägt durch einen Satz von Grundgesetzen(auch Grundgleichungen, Axiome oderPrinzipe genannt wie z.B. die Newton-schen Gesetze, die Maxwellschen Glei-chungen, die Hauptsätze der Thermody-namik). Diese Grundgesetze sind struktu-reller Art und lassen sich nicht im Wegeeiner wie auch immer gearteten indukti-ven Logik gewinnen, sondern durch ma-thematische Abstraktion. Mit diesem Prob-lem hatte die Wissenschaftstheorie nochlängere Zeit zu kämpfen, wie wir sehenwerden.Wie schon angedeutet, spielte bei diesenÜberlegungen und AuseinandersetzungenKarl Popper eine gewichtige Rolle. Pop-per gehörte nicht zum Wiener Kreis, zu-mindest nicht in einem sozialen Sinne. MitMitgliedern des Wiener Kreises teilte eraber in vielen Punkten deren kulturkriti-sche Haltung und damit auch die Vorstel-lung von der normativen Aufgabe der Wis-senschaftstheorie und er war wie sie davonüberzeugt, dass die logische Analyse derrichtige Weg zur Durchsetzung der Zielesei. In inhaltlichen Fragen bewegte sichPopper allerdings auf einem Konfrontati-onskurs zu den Ansichten von Neurath undinsbesondere von Carnap. Am deutlichstenwurde dies in seiner radikalen Ablehnungder Idee, die „Wahrheit“ genereller und uni-verseller Sätze positiv durch Induktions-schluss sichern oder einen objektiven Gradder Bestätigung angeben zu können.Solche Sätze werden nach Popper viel-mehr als Hypothesen gesetzt und könnendann nicht verifiziert, sondern nur falsifi-

ziert werden: Treten die aus Hypothesenund deren Anfangs- und Randbedingun-gen hergeleiteten empirischen Konsequen-zen nicht ein, ist die Hypothese zunächsteinmal widerlegt und als problematischeinzuschätzen. Dies ist Poppers berühm-tes Falsifikationsprinzip, das ihn zu einerneuen Sicht von der Aufgabe der Wissen-schaft führte: In den Wissenschaften gehtes nicht darum, Wahrheit zu finden undzu bewahren, sondern darum, Irrtümer aus-zumerzen.Mit dieser zunächst sehr radikal klingen-den Forderung verband sich auf der an-deren Seite eine liberalere Haltung gegen-über dem Wissenschaftsgeschäft: So saher keinen Grund, metaphysische Spekula-tionen rundweg abzulehnen, da diese sichdurchaus als nützliche Heuristiken erwei-sen könnten. Der Weg, auf dem man zurFormulierung von Hypothesen komme, obdurch Beobachtung angeregt oder auf-grund metaphysischer Spekulationen, soll-te seiner Meinung nach für die Wissen-schaftstheorie ohne Belang sein, da er durchden Kontext der Entdeckung führe unddamit außerhalb der Wissenschaft liege:Das eigentliche wissenschaftliche Geschäftbewege sich im Kontext der Überprüfung,in welchem die Hypothesen immer wie-der neuen Tests ausgesetzt werden. Es istdeshalb nur konsequent, dass Popper dasempiristische Sinnkriterium verwarf undan seine Stelle ein schwächeres Abgren-zungskriterium setzte: „Ein empirisch-wis-senschaftliches System muss an der Er-fahrung scheitern können.“ (Popper 1935,S. 15)9 An der „Erfahrung scheitern“ heißtdabei, dass empirische Befunde herange-zogen werden, die nicht aus den Hypo-thesen abgeleitet, wohl aber zu diesen inWiderspruch stehen können. Der empiri-sche Gehalt dieser „Basissätze“ (die jetzt

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keine „Protokollsätze“ sind) wird aus-drücklich zur Sache innerwissenschaftli-cher Konvention erklärt und Experimentewerden als planmäßig ausgeführte Falsifi-kationsversuche von Hypothesen interpre-tiert.Popper bezog sein Falsifikationsprinzipnicht auf isolierte All-Aussagen (nach demMuster „Alle Raben sind schwarz“), son-dern auf Theorien. Diese sind in seinemVerständnis Hypothesen, die durch Kon-junktionen verbunden und nach ihrem All-gemeinheitsgrad hierarchisch geordnetsind. Wird eine dieser Hypothesen falsifi-ziert, so gilt die ganze Theorie als falsifi-ziert, was allerdings nicht bedeutet, dasssie damit sofort verworfen und außer Dienstgestellt werden muss. Hier kommt wiederein pragmatisches Element ins Spiel: Nurwenn Theorien in Konkurrenz zueinanderstehen, kann die Falsifikation von Hypo-thesen auch zum Verwerfen einer Theorieführen, dann nämlich, wenn nur eine vonihnen im fraglichen Falle den Falsifikati-onstest besteht, ansonsten aber die Theo-rien den gleichen empirischen Gehalt be-sitzen. Es ist also durchaus möglich, dasseine Theorie, die sehr viele Tatbeständeerklärt und hohe prognostische Leistungs-kraft besitzt, aber in einem Falle versagt,einer konkurrierenden Theorie vorgezogenwird, die zwar den speziellen Fall abdeckt,aber ansonsten einen wesentlich engerenErklärungsanspruch hat („raffinierter Fal-sifikationismus“).Ich möchte hier nicht auf Einzelheiten ein-gehen, lediglich zwei Schwächen anspre-chen, die dem Popperschen Ansatz anhaf-ten. Als größtes Problem für den Fallibi-lismus erweist sich sein blasser Theoriebe-griff. Die Idee, „Theorien“ ausschließlichals Mega-Konjunktionen von hypotheti-schen Sätzen aufzufassen, erweist sich in

der Anwendung als wenig brauchbar. Schonim einfachsten Fall der Newtonschen Me-chanik, kann man z.B. nicht sagen, wases bedeuten soll, das 2. Newtonsche Ge-setz habe „hypothetischen“ Charakter. Esist ja offensichtlich, dass es nicht mit ei-nem Basissatz, bestehend aus der Anga-be über empirische Daten, konfrontiertwerden kann. Das klappt erst bei den Ver-laufsgesetzen, welche aus dem 2. New-tonschen Gesetz durch Einsetzung einespassenden Kraftgesetzes gewonnen wer-den können.Darüber hinaus kann mit diesem Theorie-begriff auch nicht unterschieden werdenzwischen einer Theorie, die auf einer Ex-perimentalpraxis im Labor aufbaut undder Anwendung der so experimentell über-prüften Theorie auf Phänomene außerhalbdes Labors, sozusagen „in der Natur“.Erstere finden wir in der Physik, letzterein Disziplinen wie Astronomie oder Geo-physik. Bei diesen Anwendungen bietetsich nämlich in der Regel eine Möglich-keit, die es im Labor so nicht gibt: Ergibtsich ein der theoretischen Überlegung wi-dersprechendes Ergebnis, so muss man eszunächst nicht als Falsifikation der Theo-rie interpretieren, sondern als ein Ergeb-nis, das einem bislang noch nicht entdeck-tem singulären Sachverhalt geschuldet ist.Diese „Immunisierungsstrategie“ ist nicht nurmöglich, sie wird in der Wissenschafts-geschichte bis heute ständig angewandt,obwohl sie nach Popper eine Ausnahmebleiben sollte.

3. Der große Bruch und seine Folgen3.1 Vertreibung und NeuanfangMit der Machtergreifung Hitlers brach danndie große Katastrophe des 20. Jahrhun-derts über die Welt herein. Auch die neueWissenschaftstheorie wurde von dieser

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Entwicklung mit zerstörerischer Wuchtgetroffen. Die meisten Vertreter des Wie-ner Kreises und der Berliner Gruppe wa-ren Juden oder standen politisch der So-zialdemokratie nahe, damit war ihr Schick-sal in Deutschland und Österreich besie-gelt, sie verloren ihre Stellung, mussten umihr Leben fürchten und flohen deshalb,soweit es ihnen möglich war, aus ihrerHeimat. Die meisten gingen in die USA,einige nach England, Popper fand in Neu-seeland Asyl. Damit war eine neue leben-dige und anregende Diskurskultur zerstört.Mit dem zwangsweisen Umzug in die USAwandelte sich auch die inhaltliche Ausrich-tung der Wissenschaftstheorie. Irgendwieist ihr aufklärerischer, anti-klerikaler undweltanschauungskritischer Anspruch ver-lorengegangen, besser: aufgegeben wor-den. Die Gründe dafür sind nicht einfachzu benennen, in der Literatur haben vorallem Friedrich Stadler und Thomas Mor-mann auf diesen Umstand aufmerksam ge-macht (Mormann 2010; Stadler 2010).Sicher spielte bei dieser Transformationdie Erfahrung eines neuen kulturellen Kli-mas eine gewichtige Rolle. Die USA ha-ben kaum Anteil an der kritischen Traditi-on der europäischen Aufklärung. Hier darfzwar jeder seiner Religion und Weltan-schauung folgen, aber niemand darf denanderen wegen seiner Religion und Welt-anschauung kritisieren. D.h. die Program-matik der wissenschaftlichen Weltauffas-sung mit ihren anti-klerikalen und metaphy-sikfeindlichen Tönen musste in den USAanders als in Europa als unfein und unan-ständig gelten. Vielleicht hielt man sichdeshalb als Exilant zurück. Übrigens: Pop-per musste sich in Neuseeland keine sol-chen Beschränkungen auferlegen und erkonnte dort seine kulturkritischen Arbei-ten fertigstellen (Popper 1945, 1957).10 In

den USA trat die Wissenschaftstheoriejetzt als ein etwas langweiliger analytischerBegleiter der Wissenschaften auf, als eineDisziplin, die mit den Mitteln der Logikund Sprachphilosophie das Vorgehen inden Wissenschaften nacherzählt. Die Lo-sung war nicht länger: so soll Wissenschaftvorgehen, sondern: so funktioniert Wis-senschaft – jedenfalls nach Meinung derWissenschaftstheoretiker.

3.2 KritikDurch die Amputation ihres normativenAnspruchs wurde die Wissenschaftstheo-rie aber zugänglich für Argumente aus denBereichen der Wissenschaftsgeschichte undWissenschaftssoziologie. Thomas Kuhn,Paul Feyerabend und andere warfen derherrschenden Wissenschaftstheorie vor,Wissenschaft und Forschung auf eineräußerst abstrakten Ebene zu beschreibenund sie setzten diesen Versuchen ihre kon-kreten Untersuchungen entgegen, die zei-gen sollten, dass die Wissenschaft gera-de nicht den Regeln dieser Wissenschafts-theorie folgt. Ironischerweise bezog sichdiese Kritik vor allem auf Poppers „Logikder Forschung“, obwohl Popper selbstdie normative Aufgabe der Wissenschafts-theorie immer betont hatte, allerdings inder Überzeugung, dass Wissenschaft inihrer „Bestform“ seine Regeln auch faktischbefolgen würde. In der Rezeption las mandeshalb seine „Logik der Forschung“ so,wie es der Titel suggeriert.Zweifel an der Brauchbarkeit des Popper-Kriteriums für wissenschaftshistorische Zwe-cke wurden zuerst von Thomas Kuhn ge-äußert. Er kontrastierte die Vorstellung vomlinear verlaufenden wissenschaftlichen Fort-schritt mit dem Bild einer durch scharfeBrüche gekennzeichneten Entwicklung. FürKuhn, der seine Auffassung in dem Buch

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„Die Struktur wissenschaftlicher Revolu-tionen“ niedergelegt hat (Kuhn 1962; dieGrundgedanken sind schon in Kuhn 1957entwickelt worden), verläuft die wissen-schaftliche Entwicklung in drei Phasen:(1) In der ersten, der vorparadigmatischenPhase geht es darum, überhaupt eine Ori-entierung in der Empirie zu finden, sicheinen brauchbaren Begriff vom Phänomenzu machen. Man hat es hier mit Fakten zutun, die man nicht so recht versteht unddie auch experimentell erst noch auf denPunkt gebracht werden müssen. In dieserPhase entstehen in der Tat konkurrieren-de theoretische Ansätze, die auf ihre Reich-weite getestet werden müssen.(2) Hat sich eine bestimmte theoretischeDeutung durchgesetzt, so tritt die Wissen-schaft in die Phase der Normalität. Jetztgilt es, die Theorie anzuwenden und ihrzum Erfolg zu verhelfen. Ihr methodolo-gischer Rahmen wird bei diesen Bemühun-gen als selbstverständlich akzeptiert. Hin-zu kommt, dass sich kommunikative undinstitutionelle Strukturen herausbilden: Esgibt spezielle Zeitschriften, Tagungen, Fach-ausschüsse, Arbeitskreise etc. Kuhn nenntdies die paradigmatische Phase.(3) Wenn im Verlauf der Forschung sichFälle häufen, die eigentlich wie Anwen-dungsfälle aussehen, sich aber nicht mitden zur Verfügung stehenden Mitteln be-wältigen lassen, dann werden Zweifel amWert des Paradigmas laut. Die Theorie ge-rät in eine Krise. Man steht wieder in einervorparadigmatischen Situation, in der dieSuche nach einem neuen Paradigma an-läuft.Kuhn hat nun darauf hingewiesen, dassfür die Durchsetzung eines neuen Para-digmas sowohl interne als auch externeGründe entscheidend sind. Das heißt, dieDurchsetzung eines bestimmten Paradig-

mas kann sich zwar sehr wohl aus empiri-schen Gründen ergeben, es können aberauch externe Gründe, wie z.B. die Stärkevon wissenschaftlichen Schulen oder derEinfluss aus Staat und Industrie, dafür aus-schlaggebend sein; außerdem – und die-ser Punkt ist besonders wichtig – könnenmetaphysische Positionen Präferenzen fürdie eine oder andere Seite liefern. Popperhat zwar gerade die Bedeutung von meta-physischen Positionen für die Gewinnungvon Hypothesen anerkannt, er hat aber be-stritten, dass sie eine direkte Bedeutungim Kontext der Überprüfung hätten. Dasheißt, er würde den Fall, dass jemand einetheoretische Position gegen die Empiriemit metaphysischen Argumenten vertei-digt, als irrationale Entgleisung betrach-ten. Tatsache ist aber, dass gerade Physi-ker bei der Bewertung von Theorien auchnicht-empirische Gründe ins Spiel brin-gen. Ideen wie theoretische Einheitlichkeit,Einfachheit oder Eleganz spielten undspielen in der Physik eine große Rolle. Aufdiesen Umstand hat insbesondere PaulFeyerabend abgestellt und er wollte dieseBeobachtung zum Beleg dafür verwenden,dass sich Wissenschaft im Grunde genom-men nicht durch einen festen und zeitlichinvarianten Katalog methodischer Regelnauszeichnet, sondern durch Konventionen,deren soziale Akzeptanz einem dynami-schen Wandel unterliegen.Im Gegensatz zu den logischen Empiris-ten und zu Popper hatte sich Feyerabendintensiv mit der Geschichte der Physik be-schäftigt und wurde dadurch in seiner Über-zeugung bestärkt, dass der Fortschritt derWissenschaft nicht auf der Befolgung ei-niger einfacher Regeln beruht. Weder habenMechanik, Thermodynamik oder Elek-trodynamik vorgängige „Theorien“ aus demFelde geschlagen, noch spielte der Falsifi-

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kationsgedanke bei der Konzeption derExperimente von Galilei, Newton oderFaraday eine Rolle: Für die Schaffung vonNeuem gibt es keine festen Regeln, hiersind die Wissenschaftler auf Ausprobie-ren und heuristisches Spekulieren angewie-sen (Feyerabend 1965 und 1970).Diese für den Gang der Wissenschaftenso wichtigen Phasen der Theorieentste-hung stehen bei Feyerabends Wissen-schaftsanalysen im Fokus und er nimmtdamit eine andere Perspektive im Blick aufWissenschaft ein als die „traditionellen“Wissenschaftstheoretiker wie logischeEmpiristen, kritische Rationalisten oderStrukturalisten, die verstehen wollen, wieder Gang der Wissenschaften sich voll-zieht, wenn sich einmal bestimmte Theo-rien etabliert haben. Feyerabend hält Letz-teres für ein durchaus legitimes Bemühen,kritisiert aber, dass die wissenschaftstheo-retischen Verfahren, mit denen man zu ei-nem besseren Verständnis des gewöhnlichenWissenschaftsbetriebs kommen möchte,gerade nicht konturenreiche und klare Bil-der der Wissenschaften liefern, sonderndurch die Verengung des Blickwinkelseher Zerrbilder oder Karikaturen.11

Gegen die Einwände von Kuhn versuchtesich Popper mit dem Argument zu vertei-digen, dass die „Normalitätsphase“ eigent-lich ein degeneriertes Stadium des For-schungsprozesses darstelle, das zwar fak-tisch zu beobachten, aber für eine rationaleRekonstruktion des Prozesses unerheblichsei (Popper 1970). Diese Verteidigung mussjedoch als missglückt angesehen werden,denn Kuhn hatte die Normalwissenschaftdurchaus nicht als stumpfsinnige Routinecharakterisiert. Normalwissenschaft betrei-ben bedeutet, unter der Vorgabe einer Theo-rie zu versuchen, Probleme zu lösen, vondenen man erwartet, dass sie in die Lö-

sungsmenge der Disziplin gehören. Diesemüssen aber weder theoretisch noch expe-rimentell simpel zu bewältigen sein. Schließ-lich sind die meisten Nobelpreise für Leis-tungen im Rahmen normalwissenschaftli-cher Forschung vergeben worden, solcheArbeiten als „degeneriert“ zu bezeichnen,ist schlicht arrogant. Richtig ist sicherlich,dass der Normalwissenschaft ein retardie-rendes Moment eigen ist. Man ist hier nichtso sehr an der Widerlegung von Hypothe-sen interessiert, sondern an deren Bestäti-gung und diese Haltung wird gerade durchden institutionellen Rahmen, in den Wis-senschaft eingebunden ist, verstärkt. His-toriker und Soziologen haben immer wie-der darauf aufmerksam gemacht, dass u.a.das Publikationswesen, der Zwang zur Ein-werbung von Projektmitteln und die indi-viduelle Karriereplanung Elemente sind,die in erster Linie eine Forschungsstrategiemit Aussicht auf positive (bestätigende)Ergebnisse attraktiv erscheinen lassen.Der Popper-Schüler Imre Lakatos hatte ver-sucht, die Kritik aus dem Lager der His-toriker und Sozialwissenschaftler zu ent-schärfen. Er sah, dass es vor allem derschwache Theoriebegriff der PopperschenWissenschaftstheorie ist, der die Kritikerzum Angriff geradezu einlud. Um hier Ab-hilfe zu schaffen, entwickelte Lakatos mitseiner „Theorie der wissenschaftlichen For-schungsprogramme“ ein raffinierteres Kon-zept von empirischer Forschung (Laka-tos 1970).Danach muss man unterscheiden zwischenden eigentlich empirischen Gesetzen undsolchen Sätzen, die das Programm der Theo-rie mit ihren Beschreibungs- und Erklä-rungsaufgaben festlegen. So kann man z.B.die Newtonschen Grundgesetze nicht aufdie gleiche Stufe mit dem Pendelgesetz,dem Fallgesetz oder den Keplerschen Ge-

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setzen stellen. Während letztere empiri-schen Charakter in dem Sinne haben, dasssie durch Messungen unmittelbar bestä-tigt oder widerlegt werden können, legenerstere nur fest, wie die empirischen Ge-setze in der Mechanik gewonnen werdenkönnen und bestimmen damit das For-schungsprogramm der Mechanik. Ein For-schungsprogramm kann aber nicht falsi-fiziert werden, es kann sich lediglich fürBeschreibungs- und Erklärungszwecke alsmehr oder weniger tauglich erweisen. Da-mit ist aber eine pragmatische Kategorieangesprochen: Nur unter Hinzuziehungdieser Kategorie lässt sich im Rahmen derWissenschaftstheorie eine Grenze ange-ben, ab der man die Suche nach der Lö-sung eines Problems im Rahmen einesgegebenen Forschungsprogramms aufge-ben und sich der Suche nach einem neu-en, praktisch tragfähigeren Forschungs-programm zuwenden soll.Im Einzelnen entwickelte Lakatos ein Bildvon wissenschaftlichen Theorien, das sichaus drei Elementen zusammensetzt. Da istzunächst der so genannte „harte Kern“ derTheorie, der den begrifflichen Aufbau derTheorie und ihre Grundannahmen umfasst;dieser harte Kern sollte nur im äußerstenNotfall umgebaut oder gar verworfen wer-den. Um ihn vor voreiliger Kritik zu schüt-zen, wird er von einem „Schutzgürtel“ um-geben. Dieser besteht aus zwei Heuristi-ken: Die „positive Heuristik“ umfasst eineSammlung von Regeln und Musterbeispie-len, welche aufzeigen, wie man den hartenKern erfolgreich und fruchtbar zur Prob-lemlösung anwendet. Hierzu gehören ins-besondere solche Beispiele, die zeigen, wieman die Idealisierungen, die in den Theo-rien und Modellen stecken (in der Mecha-nik etwa der punktförmige oder starreKörper, die Reibungsfreiheit) auflöst, um

sich an empirisch gegebene Vorgänge an-zunähern. Neben die „positive Heuristik“tritt die „negative Heuristik“, die wieder-um zeigt, was zu tun ist, wenn das Vorge-hen im Sinne der positiven Heuristik nichtso recht zu funktionieren scheint. Sie gibteine Anleitung, wie man in Fällen, in de-nen empirische Ergebnisse eindeutig theo-retischen Vorhersagen widersprechen, ne-gative Konsequenzen für die Theorie ver-meiden kann (etwa, indem man Störursa-chen postuliert oder den Geltungsanspruchder Theorie einschränkt). Die Heuristikenerfüllen also eine doppelte Schutzfunkti-on: Man wird dazu angehalten, sich in ers-ter Linie auf erfolgversprechenden Pfadenzu bewegen und man lernt den Umgangmit Hilfshypothesen oder Strategien zurEinschränkung des Geltungsanspruchs. Bei-de Funktionen sollen sowohl die Ausbil-dung des Wissenschaftlers wie auch denalltäglichen Forschungsbetrieb prägen.Diese Auseinandersetzung zwischen denrein methodologisch orientierten und denmehr historisch oder soziologisch orientier-ten Analysten des Wissenschaftsgesche-hens brachte die Wissenschaftstheorie vorallem in den siebziger Jahren des letztenJahrhunderts noch einmal auf die großeBühne des öffentlichen Interesses. Gespanntverfolgte ein breites akademisches Publi-kum, wie sich die beiden Lager positio-nierten, wie Angriffe, Verteidigung und Ge-genangriffe gesetzt wurden. Diese Aufmerk-samkeit wurde allerdings nicht nur durchdie Sache, sondern auch durch die betei-ligten Persönlichkeiten geweckt. Kuhn, Fey-erabend und Lakatos waren ungemein ge-bildete Menschen, die sowohl in den Wis-senschaften wie auch in deren Geschichtezu Hause waren und die über ein solidesphilosophisches Wissen verfügten. Andersals manche ihrer Gegner waren sie außer-

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dem in der Lage, ihre Ideen auch ohneformalen Aufwand vorzutragen. Das er-möglichte ihnen den Dialog mit Vertreternunterschiedlicher, insbesondere auch geis-teswissenschaftlicher Disziplinen. Hinzukam, dass sie begnadete Stilisten waren.Die Bilder, die sie vom Gang der Wissen-schaften in die Welt setzten, haben sichbleibend in den Köpfen der Menschenfestgesetzt. Feyerabends anti-autoritäre At-titüde, die so gut zum damaligen Zeitgeistpasste; die Kuhnsche Metaphorik vom Auf-stieg und Fall der Normalwissenschaft,von Paradigmenwechsel, von Krise undRevolution; das Lakatos-Bild vom hartenKern und dem ihn umgebenden Schutz-gürtel – das alles war geeignet, eine Füllevon Einfällen und Assoziationen zu wecken.Und, ganz wichtig: dies war eine Spra-che, mit der man endlich auch einmal überandere Wissenschaften als nur Physik re-den konnte. Für eine kurze Zeit durfte da-mals auch ein Doktorand der Germanis-tik davon träumen, mit seiner Arbeit denlängst fälligen Paradigmenwechsel in derRomantheorie einzuläuten.

3.3 VersöhnungAber alles hat seinen Preis. Und hier gingdie Griffigkeit und Eingängigkeit der Bil-der auf Kosten der begrifflichen Genauig-keit. Wollte man genau wissen, was z.B.bei der Quantentheorie zum harten Kerngehört und was zur positiven Heuristik oderwas ein hartes Kriterium für ein wissen-schaftliches Paradigma ist, dann öffnetensich viele Interpretationsmöglichkeiten – ge-nau genommen zu viele, um einem ernst-haften Bemühen um Rekonstruktion derWissenschaften Aussicht auf Erfolg zu be-scheren. Hinzu kam, dass Wissenschaft-ler, insbesondere Physiker sich in den Ent-würfen von Kuhn, Feyerabend oder La-

katos nicht wiedererkennen wollten. Siewollten daran festhalten, dass wissen-schaftliche Geltung letztlich eine Sache derMethodologie sei und nicht der Sozialisa-tion. So verebbte die anfangs spannendeDiskussion allmählich, ohne dass es zuzufriedenstellenden Ergebnissen gekom-men war.Es gab in den siebziger Jahren noch ein-mal einen Wiederbelebungsversuch vonWolfgang Stegmüller, der zwar in der Sa-che äußerst interessant war, leider aber denschon stark geschwächten Patienten nichtmehr zurück ins akademische Leben ho-len konnte. Stegmüller hatte ein Unbeha-gen mit dem so genannten „statement view“,wonach eine Theorie sich darstellt als Zu-sammenhang von Sätzen mit hypothetisch-empirischem Charakter. Hinsichtlich die-ses „statement view“ waren sich die meis-ten Wissenschaftstheoretiker prinzipielleinig, die Unterschiede setzten erst bei derFrage an, wie denn der „Zusammenhang“im Einzelnen aussehen soll. Im Jahre 1971veröffentlichte nun Joseph Sneed eine Ar-beit mit dem Titel: „The Logical Structureof Mathematical Physics“ (Sneed 1971)12,in der er die moderne Sichtweise derStrukturmathematik, so wie sie durch diefranzösische Bourbaki-Schule geprägt wor-den war, auf die Physik übertrug. Einephysikalische Theorie besteht danach auseiner formalen Struktur, die axiomatischfixiert wird und der Menge aller Modelle,die zulässige Belegungen dieser Strukturbilden. Aus diesen im mathematischen Sin-ne möglichen Modellen werden dann sol-che ausgewählt, die einer empirischen In-terpretation zugänglich sind. Diese wer-den „intendierte Anwendungen“ genannt.Erst die intendierten Anwendungen sinddann auch empirisch überprüfbar, d.h. erstauf dieser Ebene stellt sich die Frage nach

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Bestätigung oder Falsifikation. Schließlichkommen noch „constraints“ hinzu. Das sindTheorieelemente, die die Menge der in-tendierten Anwendungen einschränkenbzw. spezialisieren. Diese constraints ent-scheiden darüber, ob man z.B. Punktme-chanik oder Mechanik der starren Körperoder Hydromechanik betreibt.Stegmüller hatte diese Arbeit für die Wis-senschaftstheorie entdeckt und er betrach-tete sie als großen Fortschritt auf diesemGebiet. Zum ersten Mal konnte seiner Mei-nung nach genau erfasst werden, was Ge-genstand der theoretischen Physik ist undan welcher Stelle genau die Frage nachdem empirischen Gehalt einer physikali-schen Theorie ins Spiel kommen kann. Seinorigineller Gedanke war nun, den struktu-ralistischen Ansatz von Sneed mit den An-sätzen von Kuhn und Lakatos zu vereini-gen (Stegmüller 1973, 1979a und 1979b).Danach wird der harte Kern einer Theorievon der mathematischen Struktur und derMenge der mathematisch zulässigen Mo-delle gebildet; wie die Menge der inten-dierten Anwendungen auszusehen hat undwelche constraints zur Anwendung kom-men sollen, sind dann Fragen der positivenbzw. negativen Heuristik. Auch die Frage,was man als die Paradigmen einer Theo-rie im Kuhnschen Sinne anzusehen hat,konnte Stegmüller plausibel beantworten:Paradigmatisch sind solche intendierten An-wendungen, die den formalen Apparat ei-ner Theorie in seinem ganzen Umfang er-folgreich zur Problemlösung einsetzen.Dieses Hybridmodell versöhnte nicht nurdie Ideen von Lakatos und Kuhn mit denIdeen einer mehr formalistisch betriebe-nen Wissenschaftstheorie, es wird auch denintuitiven Vorstellungen der Physiker ge-recht, zeigt es doch, dass der Grund, war-um der harte Kern einer Theorie nicht fal-

sifiziert werden kann, nicht sozialer, son-dern logischer Art ist.

4. Die Entwicklung in Deutschlandnach dem zweiten WeltkriegJe näher man bei unserem historischenStreifzug der Gegenwart kommt, destoschwieriger wird es, sich ein klares Bildvon der Diskurslage zu verschaffen. Anden Literaturfluss lassen sich bestenfallsArgumentationsgradienten anlegen, die zu-grunde liegenden Argumentationslinienkönnte man nur mit größerem Abstand inihrem Verlauf erkennen. Bevor ich michalso in einer um Neutralität bemühten, abergerade dadurch langweiligen und letztlichdoch unvollständigen Aufzählung verlie-re, wähle ich eine eher subjektive Perspek-tive und beschränke mich darauf, einigeBesonderheiten der Entwicklung im deut-schen Sprachraum darzustellen, die mirdurch meine eigene wissenschaftliche Bio-graphie vertraut sind.Die Wissenschaftstheorie ist in Deutsch-land und Österreich von den Nazis aus-gerottet worden. Nach dem 2. Weltkrieggab es außer Victor Kraft in Wien kaumnoch jemanden, der in seiner eigenen Per-son an die philosophische Tradition desWiener Kreises oder der Berliner Gruppehätte anknüpfen können. Es ist das großeVerdienst von Wolfgang Stegmüller mitseinen Schriften, allen voran mit seinemBuch „Hauptströmungen der Gegenwarts-philosophie“13 ein breites Interesse an derPhilosophie des Wiener Kreises und dersich inzwischen in den USA und Groß-britannien etablierten Analytischen Philo-sophie geweckt zu haben. Hauptsächlichihm ist es zu verdanken, dass Wissen-schaftstheorie im deutschen Sprachraumwieder Fuß fassen konnte.

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Stegmüller war ein bewundernswerter Kom-pilator. Mit ungeheurem Fleiß und großerGeduld saugte er alles auf, was an philo-sophischer Literatur aus den USA kam,übersetzte, fasste zusammen, kommentier-te und gab die Früchte seiner Lektüre inzahlreichen Veröffentlichungen an dasphilosophisch interessierte Publikum wei-ter.14 Er besaß ein hohes intellektuellesEinfühlungsvermögen und konnte die Ge-danken eines Henri Bergson und eines Ni-colai Hartmann genauso gut wiedergebenwie die eines Rudolf Carnap – obwohlseine philosophischen Sympathien sichereher bei Letzterem lagen.Allerdings hatte er auch eine Schwäche:Er hatte kein eigenes philosophisches An-liegen, keinen normativen Anspruch, dener mit einem philosophischen Programmverfolgen wollte. Sicher, da gab es ein blas-ses Bekenntnis zu einem möglichst exak-ten Denken und Sprechen, aber im Grun-de genommen war Philosophie für Steg-müller immer die Philosophie der anderen.Diese Haltung hatte es ihm auch schwergemacht, die normativen Ansprüche etwades frühen Wiener Kreises angemessen zurezipieren; seine Sympathie galt der spä-teren, „wertfreien“ Wissenschaftstheorie,so wie sie sich in den USA breit gemachthatte (das hat Thomas Mormann sehrdeutlich gemacht, Mormann 2010). Des-halb kann man eigentlich auch nicht sagen,dass Stegmüller eine „Schule“ im stren-gen Sinne gegründet hätte, vielleicht wäre„Stegmüller-Kreis“ die angemessene Be-zeichnung.Neben dem Stegmüller-Kreis gab es aberauch Richtungen, die sich pointiert norma-tiv positionierten. Zu nennen ist hier ne-ben Ernst Topitsch und Gerard Radnitzkyvor allem Hans Albert, der sich ebenfallsschon Ende der 50er Jahre um eine Wie-

derbelebung der Wissenschaftstheorie be-müht hatte. Hans Albert fühlte sich vorallem Karl Popper verbunden, wobei ihnauch und vor allem dessen politische Phi-losophie stark prägte. Für ihn war Wissen-schaftstheorie deshalb auch kein Selbst-zweck, sondern vielmehr ein wichtigesInstrument im Kampf gegen jede Formvon Dogmatismus (Albert 1968, 1977). Erwar ein streitbarer Verfechter des kritischenRationalismus, der selten eine Gelegenheitzur polemischen Attacke ausließ. Das brachteihm viele akademische Gegner ein, aberauch manche Freunde in der Politik (vorallem bei den Sozialdemokraten und denLiberalen, erwähnt seien hier Helmut Schmidtund Ralf Dahrendorf).Als gelernter Ökonom wählte Hans Albertnicht die Physik, sondern die Ökonomieund die Sozialwissenschaften im Allgemei-nen zum Gegenstand seiner wissenschafts-theoretischen Analyse und Kritik. Uner-bittlich forderte er eine Ausrichtung sozio-logischer und ökonomischer Theorien amPopperschen Fallibilismus und wandtesich insbesondere gegen die sich in derÖkonomie der sechziger Jahre ausbreiten-de, stark mathematisch ausgerichtete Neo-klassik. Er warf der neoklassischen Theo-rie, zu deren Kernstück die so genannte„Allgemeine Gleichgewichtstheorie“ ge-hört (Arrow/Debreu 1954, Debreu 1959),vor, sich gar nicht mit dem faktischen Han-deln der Menschen zu beschäftigen, son-dern mit einer idealisierten Form dieses Han-delns, wodurch sie sich gegen empirischeEinwände immunisieren würde; dies kari-kierte er als „Modellplatonismus“ (Albert1963, 1967). Für Albert ergab sich aus demFalsifikationsprinzip für das Vorgehen beimAufbau einer sozialwissenschaftlichen oderökonomischen Theorie eine klare Direkti-ve: Jede Sozialwissenschaft muss vom In-

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dividuum, seinen Motiven und Handlun-gen ausgehen (Postulat des methodischenIndividualismus). Bezüglich der Motiva-tionen und Handlungen lassen sich Hy-pothesen bilden; diese Hypothesen wer-den mit empirischen Ergebnissen konfron-tiert, die aus der Beobachtung des fakti-schen Handelns der Menschen gewonnenwerden, indem man Beobachtungsdatendurch korrelative Relationen verknüpft undmit einem prognostischen Anspruch ver-sieht. So erhält man Aussagen mit Geset-zescharakter, die dann wiederum falsifi-ziert oder bestätigt werden können.Auch wenn es in der empirischen Sozial-forschung Ansätze gibt, die im Sinne die-ser Skizze vorgehen, so gibt es in den So-zialwissenschaften und in der Ökonomiedoch auch „Gegenstände“, die sich aufdiese Weise nicht adäquat erfassen undbehandeln lassen: Dazu gehören insbeson-dere Institutionen und Normen, die im Rah-men eines politischen Verfahrens gesetztwerden und die beanspruchen, das Han-deln der Menschen in einer bestimmtenRolle (Max Weber spricht von einem „Ide-altypus“) festzulegen. Man hat also imkulturellen Kontext immer zwei Sorten von„Gesetzen“: Solche, die sich als Regelmä-ßigkeiten des Handelns feststellen lassenund solche, die institutionell dem Handelnvorgegeben sind. In letzterem Sinne ist z.B.die Marktwirtschaft eine durch eine be-stimmte Wirtschaftsverfassung und damitinstitutionell geregelte Wirtschaftsordnung,die bestimmt, wie sich Menschen verhaltensollen, wenn sie als wirtschaftliche Agen-ten, z.B. als Konsumenten oder Produ-zenten auftreten (ob die Mitglieder einerGesellschaft sich an die vorgegebenenNormen halten oder nicht, ist dann wie-der eine andere Frage, die im Rahmen dervon Albert favorisierten Sozialforschung

angegangen werden kann). Politisches Zieldieser Wirtschaftsordnung ist es, das An-gebot von und die Nachfrage nach Gü-tern über den Preis so zu regeln, dass eszu einem Ausgleich kommt. Ob die Re-geln der Marktwirtschaft aber überhauptgeeignet sind, dieses Ziel zu erreichen, isteine legitime und keineswegs triviale Fra-ge, mit deren Beantwortung sich z.B. dieAllgemeine Gleichgewichtstheorie beschäf-tigt (Kötter 1982). Dass deren Bezug zurEmpirie auf einem anderen als dem vonAlbert skizzierten Weg hergestellt werdenmuss, ist intuitiv einleuchtend, aber dassollte kein Grund sein, diese Art von For-schung zu diskreditieren.Die Überlegungen von Albert haben deut-lich gemacht, dass es offensichtlich nichtgenügt, alle Wissenschaften über den me-thodologischen Leisten des Falsifikations-prinzips schlagen zu wollen. Wenn manin der Kultur offensichtlich Sachverhaltevorfindet (z.B. Institutionen), für die es inder Natur kein Pendant gibt, dann müs-sen die Sozialwissenschaften diesem Um-stand in ihrem begrifflichen und sonstigentheoretischen Aufbau (etwa was den Er-klärungs- und Prognoseanspruch betrifft)Rechnung tragen. Die Besonderheiten derSozialwissenschaften im Gegensatz zu denNaturwissenschaften wurden in der Wis-senschaftstheorie unter dem Stichwort „Er-klären versus Verstehen“ vor allem in densechziger und siebziger Jahren lebhaft er-örtert, allerdings ohne zu einem schlüssi-gen Ergebnis zu kommen, weshalb dieDebatte in den achtziger Jahren allmäh-lich einschlief (Gardiner 1956; Toulmin1961; Dray 1957; von Wright 1971; Schwem-mer 1976) .Um die Aufgaben der Sozialwissenschaf-ten ging es auch im so genannten „Positi-vismusstreit“ der 60er Jahre, in dem Hans

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Albert neben Karl Popper einer der wich-tigsten Protagonisten des kritischen Ra-tionalismus in der Auseinandersetzung mitTheodor Adorno und Jürgen Habermas alsden Vertretern der „kritischen Theorie“war. Diese Auseinandersetzung kann alstypisch für den Stil der damaligen Zeit gel-ten, wenn auch nicht unbedingt als vor-bildlich für eine philosophische Diskurs-kultur. In diesem Streit verfochten Pop-per und ihm folgend Albert (Popper 1962;Albert 1964) die Position, dass Sozialwis-senschaften wie Naturwissenschaften prob-lemorientiert vorzugehen hätten. Proble-me würden immer dadurch auftreten, dasstheoriegestiftete Erwartungen in Wider-spruch zu Erfahrungen geraten. Für dieseProbleme hätten die Wissenschaften dannLösungen vorzuschlagen, die einer sach-lichen Kritik zugänglich und das heißt of-fen für Widerlegungsversuche sein müs-sen, wobei Widerlegung oder BestätigungSache einer empirischen Forschung sei-en.Adorno und Habermas (Adorno 1962;Habermas 1963) gingen dagegen davonaus, dass die Gesellschaft ein höchst kom-plexes Gebilde von gegenseitigen Abhän-gigkeiten sei (Adorno spricht in Anleh-nung an Hegel von „Totalität“). Würde mannun, wie Popper vorschlägt, einzelne As-pekte herausgreifen und für sich untersu-chen, so müsste man zwangsläufig dasZiel „die“ Gesellschaft zu begreifen ver-fehlen. Das hätte aber auch zur Folge, dasseine so vorgehende Sozialwissenschaft un-fähig wäre, die in der Gesellschaft stecken-den Herrschafts- und Unterdrückungsme-chanismen zu entlarven, womit sie selbstzum affirmativen Teil des Herrschaftssys-tems würde.Das Eigentümliche am Positivismusstreitwar, dass zum einen gar keine Positivis-

ten daran beteiligt waren (kritische Ratio-nalisten sind ja gerade keine Positivisten)und zum anderen über Soziologie gestrit-ten wurde, ohne auf Soziologie Bezug zunehmen. In den Beiträgen tauchen näm-lich gar keine soziologischen Untersuchun-gen auf, an denen die Parteien ihre Posi-tionen positiv oder kritisch hätten demon-strieren können. D.h. die Frage, ob diedamalige empirische Sozialforschung tat-sächlich den Regeln des kritischen Ratio-nalismus folgte, blieb genau so im Dun-keln wie die Frage, wo denn beispielhafteine an der Totalität der Gesellschaft aus-gerichtete sozialwissenschaftliche Forschungverwirklicht worden ist. Die Lücken im Kon-kreten versuchten insbesondere Albert undHabermas durch Polemik zu stopfen (Ha-bermas 1964; Albert 1965).Starke normative Akzente wurden schließ-lich auch von der dritten großen wissen-schaftstheoretischen Strömung der Nach-kriegszeit, der so genannten „Erlanger Schu-le“ gesetzt. Sie wurde von Wilhelm Kam-lah und Paul Lorenzen ins Leben gerufenund bemühte sich um den Aufbau einer„konstruktiven Wissenschaftstheorie“. Aushistorischer Distanz gesehen knüpfte dasProgramm der konstruktiven Wissenschafts-theorie in manchen Punkten am Programmdes frühen Wiener Kreises an. Dies giltinsbesondere für den normativen Grund-anspruch: Die konstruktive Wissenschafts-theorie soll die Wissenschaften von me-taphysischen Elementen befreien, die ver-deckt und dem Fachwissenschaftler oft garnicht bewusst in Theorien eingelagertsind. Thematisiert wurden in dieser Hin-sicht z.B. das mystische „Aktual Unend-liche“ in der Mathematik, der naive Rea-lismus in der Physik oder die ideologischenMenschen- und Gesellschaftsbilder in denGeistes- und Sozialwissenschaften.

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Erreicht werden sollte dieses Ziel durcheinen schrittweisen Aufbau der Wissen-schaften, ausgehend von elementaren, nichtweiter theoretisch ableitbaren Sprachhand-lungen („elementare Prädikation“, Kam-lah/Lorenzen 1967) bis hin zu den entwi-ckelten Theorien der Natur- und Sozial-wissenschaften. Mittel waren dazu einepragmatisch fundierte formale Logik (Lo-renzen/Lorenz 1978; Invetveen 2003), einedarauf aufbauende Abstraktionstheorie(Kamlah/Lorenzen 1967, Lorenzen 2000)und für die Physik eine „Protophysik“,die die messtheoretische Einführung derphysikalischen Größen leisten sollte.Mit der Frage nach der Konstitution (idea-ler) physikalischer Gegenstände und derEinführung physikalischer Größen wurdenim Rahmen der Protophysik Themen auf-gegriffen, die im Wiener Kreis eine großeRolle gespielt hatten, denen aber bei denkritischen Rationalisten gar keine und beiden Strukturalisten nur eingeschränkte Be-deutung zugemessen wurde. Was die Re-de über „ideale“ Gegenstände (z.B. „Mas-senpunkt“, „starrer Körper“) betrifft, soführte man diese in Anlehnung an eineRekonstruktion der Euklidischen Geome-trie ein. Geometrische Formen gelten dem-nach als formgleich, wenn sie in Befol-gung gleicher Konstruktionsregeln erzeugtwurden. Spricht man nun invariant bezüg-lich der Formgleichheit über geometrischeGegenstände, so vollzieht man einen Ab-straktionsschritt und spricht über die idea-len Gegenstände der Geometrie (also z.B.über „das“ rechtwinklige oder gleichschenk-lige Dreieck). Von diesen Gegenständenist dann in den Lehrsätzen der Geometriedie Rede. In entsprechender Weise kommtman auch zu den „idealen“ Gegenständender Physik wie etwa dem Massenpunkt,dem starren Körper oder dem Lichtstrahl.

Der große Vorteil dieser Methode liegtdarin, dass man die gleichen Konstrukti-onsregeln, die zur Idealisierung geführthaben, dazu benutzen kann, um bei einerAnnäherung an die Empirie die Idealisie-rungen im jeweils gewünschten Maße wie-der schrittweise zurückzubauen. DiesesVerfahren wird zwar in der Physik impli-zit angewandt, aber nicht explizit zum Aus-druck gebracht und außerhalb der kon-struktiven Wissenschaftstheorie wurde demThema „Idealisierung“ kaum Beachtunggeschenkt, was gelegentlich zu einer merk-würdigen Einschätzung des Geltungsan-spruchs physikalischer Theorien geführthat (z.B. Cartwright 1983).Kernstück des protophysikalischen Pro-gramms war die Einführung physikalischerMessgrößen, die ansonsten in der Wissen-schaftstheorie wenn überhaupt, dann nurin formaler Hinsicht rekonstruiert werden.15

Die besondere Verlässlichkeit physikali-scher Aussagen beruht aber nicht nur aufder formalen Konstruktion der Größen,sondern auch und vor allem auf der Qua-lität der diesen Aussagen zugrunde liegen-den Messhandlungen und der mit diesenHandlungen unauflöslich verbundenen Mess-geräte. Die Reproduzierbarkeit von Mes-sungen kann aber weder durch Konventi-on (z.B. durch Einigung auf ein bestimm-tes Messverfahren) noch durch die phy-sikalische Theorie, die es erst messend zuüberprüfen gilt, garantiert werden. Da manalso schon über funktionierende Messge-räte verfügen muss, um eine wissenschaft-liche Messpraxis in Gang setzen zu kön-nen, kann man von einem „messtheoreti-schen Apriori“ sprechen. Wie bei den idea-len Gegenständen der Geometrie wird auchhier durch (technische) Konstruktionsre-geln, die so genannten „Gerätefunktions-normen“, sichergestellt, dass die danach

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hergestellten Geräte so funktionieren, wiesie funktionieren sollen. Jedes konkreteLängenmessgerät, jede konkrete Uhr rea-lisiert einen durch den abstrakten Bauplanfestgelegten Gerätetyp. Lorenzen, Janichund Inhetveen haben durch entsprechen-de Eindeutigkeitsbeweise gezeigt, dassdiese Anforderungen zirkelfrei erfüllt wer-den können (Janich 1969/1980; Inhetveen1983; Janich 1985; Lorenzen 1987).Die Arbeiten zur Protophysik sind tech-nisch nicht ganz einfach und wurden inden siebziger und achtziger Jahren in derdeutschen Wissenschaftstheorie lebhaftund auch kritisch diskutiert (Böhme 1976).In jüngerer Zeit wurde von Holger Lyreder Vorwurf erhoben, dass jedes Messge-rät, und somit auch sein Herstellungsver-fahren, mit einer intrinsischen Ungenauig-keit behaftet sei, weshalb das messtheo-retische Apriori zwar methodisch notwen-dig, aber nicht hinreichend sei, um eineecht fundamentale Begründung der Natur-gesetze zu leisten (Lyre 2000). Dazu istzu sagen, dass die Konstruktionsregeln fürein technisches Gerät selbst keine Unge-nauigkeiten aufweisen, allerdings könnensie nur mit einer durch das konkrete Her-stellungsverfahren technisch bedingten Un-genauigkeit realisiert werden. Wie immerin der Technik lassen die Konstruktionsre-geln aber durch technische Verbesserungeneine gewünschte Annäherung an das Ide-al zu. Die Vorstellung, dass man Naturge-setze anders als durch empirische Messver-fahren, nämlich „echt fundamental“ be-gründen könne, würden die Vertreter derkonstruktiven Wissenschaftstheorie aller-dings entschieden zurückweisen (und be-fänden sich jedenfalls an dieser Stelle imKonsens mit kritischen Rationalisten undStrukturalisten). Physiker haben sich übri-gens an diesen Debatten kaum beteiligt, wie

Erhard Scheibe dargelegt hat, neigen sie da-zu, die Methoden ihres Faches wenn über-haupt, dann nur mit Ihresgleichen verhan-deln zu wollen (Scheibe 2007, Kap. I).Aus historischer Perspektive unterschei-det sich die konstruktive Wissenschafts-theorie von der Wissenschaftstheorie desWiener Kreises vor allem durch die starkeBedeutung, die der (Sprach)pragmatik fürden Aufbau wissenschaftlicher Terminolo-gie zugemessen wird und durch die Ableh-nung des methodologischen Physikalismus.Physik, Chemie, Biologie, aber auch Öko-nomie und andere Sozialwissenschaftenhaben ihre je eigenen Aufgaben und die-sen angemessen muss die jeweilige Me-thodologie der Fächer sein. Die Physikals Master-Disziplin auszuzeichnen und dieanderen Fächer zu zwingen, sich an derPhysik auszurichten, würde einen Verstoßgegen das „Prinzip der methodischen Ord-nung“ darstellen, wonach die Zwecke dieWahl der Mittel bestimmen und nicht um-gekehrt. Aber: auch die konstruktive Wis-senschaftstheorie verfolgt in gewisser Wei-se ein reduktionistisches Begründungspro-gramm. Nur tritt an die Stelle des Physika-lismus eine Art „Technizismus“: Als Maß-stab für Annahme bzw. Ablehnung von Re-konstruktionsvorschlägen für Forschungs-programme und Theorien gilt immer dietechnische Zweckrationalität. Danach kön-nen theoretische Konstrukte nur insoweitals begründet gelten, als man sie als Mit-tel zur Verfolgung lebensweltlich vorfind-licher Zwecke ausweisen kann. Diese Ideegeht auf philosophische Ansätze bei Hus-serl und dem frühen Heidegger zurück,nach denen eine Kulturleistung wie Wis-senschaft als Hochstilisierung von Praxenaus einer elementaren Lebenswelt verstan-den wird. In diesem Sinne wird in der Pro-tophysik die wissenschaftliche Mess- und

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Experimentierpraxis aus einer vortheore-tischen handwerklichen Praxis aufgebaut.Allerdings bleibt dieses lebensweltlicheBegründungsprogramm nicht auf die Pro-tophysik beschränkt, sondern wird auf allewissenschaftlichen Beschreibungs- undErklärungsansprüche bezogen: Das Betrei-ben von Natur- und Sozialwissenschaften istnur dann gerechtfertigt, wenn es für tech-nische bzw. sozialtechnische Zwecke nütz-lich ist (Lorenzen 1987, Einleitung; Janich1987; Hartmann/Janich 1996). Diese Re-duktion von „Kultur“ auf „Technik“ hatPhilosophen wie Wissenschaftler befrem-det, weil sie im Einzelnen zu unplausiblenRekonstruktionen geführt hat16 und weilsie im Allgemeinen das nach dem Selbst-verständnis vieler Wissenschaftler treiben-de Interesse, sich ein nicht-instrumentalesWeltverständnis zu verschaffen, völlig un-beachtet lässt (Krüger 1987).17

5. SchlussWo steht die Wissenschaftstheorie heu-te? Diese Frage ist schwer zu beantwor-ten. Ihre letzte Blütezeit hatte sie – nichtnur in Deutschland, wie wir gesehen ha-ben – in den siebziger und achtziger Jahren.Damals wurden viele Lehrstühle für Wissen-schaftstheorie eingerichtet oder umgewid-met und das Fach erfreute sich auch au-ßerhalb der Philosophie eines großen An-sehens, da man in der Wissenschaftstheo-rie eine Möglichkeit geboten sah, philo-sophische Wissenschaftskritik zu betrei-ben, ohne damit zugleich marxistische Po-sitionen einnehmen zu müssen. Das brach-te ihr auch und gerade viel Sympathie ausdem geisteswissenschaftlichen Lager ein.18

Aber die euphorische Stimmung hielt nichtlange an. Schon 1980 konnte Helmut Spin-ner ernsthaft die Frage stellen, ob der kriti-sche Rationalismus am Ende sei (Spinner

1980) und mit dem Tode von Stegmüller,Lorenzen und jüngst Janich versiegten diegroßen Strömungen und die verbliebenenRinnsale verliefen sich im Mainstream deralles beherrschenden Analytischen Philo-sophie. Wenn man die Aufsätze in den ein-schlägigen Journals durchblättert, gelingtes kaum, ein Anliegen oder Thema zu fin-den, das als übergreifender Schwerpunktwissenschaftstheoretischer Forschung wahr-genommen werden könnte.Natürlich hängt die Wissenschaftstheorieauch stark vom Zustand ihres „Gegenstan-des“ ab. Und der bewegt sich zur Zeit inruhigen Gewässern. Krisen oder Paradig-menwechsel, die eine philosophische Re-flexion erzwingen müssten, sind bei kei-ner Disziplin zu erkennen. Damit ergibtsich von dieser Seite auch keine erhöhteNachfrage nach wissenschaftstheoretischemBeistand. Andererseits gäbe es aber schonnoch Themen, die bislang nicht ausgereiztwurden: Z.B. wurde in der Vergangenheitder pragmatischen Seite von wissenschaft-lichen Erklärungen nur gelegentlich Auf-merksamkeit geschenkt; und im Gegen-satz zu den theoretischen Erscheinungs-formen von Wissenschaft, ist ihre empiri-sche Seite erstaunlicherweise nur wenigerforscht. Und schließlich hätte eine Wis-senschaftstheorie, die wieder im Geistewissenschaftskritischer Aufklärung versu-chen würde, die Wissenschaften von ihrenmetaphysischen Ein- und Überbauten zubefreien, jede Menge zu tun. Gerade inden Life Sciences schießen naiver Realis-mus, Naturalismus, Physikalismus, Deter-minismus nur so ins Kraut. Es wäre eineverdienstvolle Aufgabe der Wissenschafts-theorie aufzuzeigen, was hier tatsächlichwissenschaftlich behauptet werden kannund was heuristische Orientierung oder garnur weltanschauliches Bekenntnis ist. Die

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Wissenschaftstheorie könnte so den Wegzu einem sinnvollen Dialog zwischen Na-turwissenschaften und Philosophie berei-ten.Aber dass sie das tut, ist zurzeit wohl nichtzu erwarten. Im gegenwärtigen akademischenKlima werden Aufsätze geschrieben, weilman sie schreiben kann, nicht, weil dasThema dazu drängt. Um in einem solchenGeschäft zu bestehen, braucht man sichereinen gewissen lokalen Scharfsinn, aberdie entsprechenden philosophischen Fin-gerübungen taugen eher für akademischeQualifikationsarbeiten, große Hörsäle wieeinst wird man mit ihnen sicher nicht mehrfüllen können.

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gen). Aber es gab für den inhaltlichen Verlauf Maß-stäbe, an die sich alle Beteiligten halten mussten,wenn sie als Physiker gelten wollten. Solche Maß-stäbe gab es im übrigen dort nicht mehr, wo Physi-ker als Vertreter erkenntnistheoretischer Positionenin Streit gerieten und diesen angesichts der Unver-söhnlichkeit ihrer Standpunkte durch persönliche Dif-famierungen gewinnen wollten, wie E. Scheibe inseiner Analyse der Planck-Mach-Debatte gezeigthat, s. Scheibe 2007, Kap. II.5 Als „seminal paper“ gilt Carnap 1936, 1937; dazuspäter dann Hempel 1950.6 Wittgenstein 1922. Im Tractatus verfocht Witt-genstein die Idee, dass empirische Sätze in einempositiven Sinn als „wahr“ ausgezeichnet werdenkönnen (Verifikationismus). Von dieser Position ister später selbst wieder abgerückt.7 Die wesentlichen Texte zur Protokollsatzdebattefindet man bei Schleichert 1975 oder bei Damböck2013. Eine interessante Position vertrat M. Schlickmit seiner Auffassung, dass Protokollsätze nie alleindurch sprachliche Operationen bestätigt oder wi-derlegt werden könnten, sondern dass dazu einnichtsprachlicher Akt (die „Konstatierung“) erfor-derlich sei. Die „Konstatierung“ besteht in einer dasSprechen begleitenden Handlung des Aufweisensund Hinsehens, also in einem aktiven Ausrichten derSinne durch den Beobachter, Schlick 1934; eineAnalyse dieses Ansatzes findet sich bei Lorenz 1982.8 Carnap 1945, 1947, 1971. Eine gründliche Ana-lyse der Ansätze von Carnap und Popper in ihrenjeweiligen Entwicklungen findet sich bei Lakatos1968. Interessant sind auch die Selbstdeutungenvon Carnap und Popper, Carnap 1963, insbes. S.71 ff. und Popper 1974, insbes. S. 112 ff.9 Die englische Fassung erschien in wesentlich er-weiterter Form über 20 Jahre später: Popper 1959.Auf ihr beruhen die späteren deutschen Auflagen desWerkes.10 Mit den Vorarbeiten zu Popper 1945 hat Popperübrigens schon in den dreißiger Jahre begonnen.11 Feyerabend 1975 und 1978. Wie Feyerabendhaben insbesondere Stephen Toulmin und NorwoodR. Hanson abseits des Mainstreams versucht, dieReflexion auf Wissenschaft nicht auf bestimmte me-thodologische Aspekte oder zeitliche Entwicklungs-stadien zu beschränken, wobei beide ihre Analysenrhetorisch zurückhaltender als Feyerabend vorge-tragen haben. Obwohl nicht so bekannt, sind ihreArbeiten bis heute unbedingt lesenswert geblieben,

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da sie eine Fülle an Material aus Wissenschaft undWissenschaftsgeschichte verarbeitet haben, s. z.B.Toulmin 1961, 1962; Toulmin/Goodfield 1961,1962 und 1965; Hanson 1963, 1965 und 1971.12 Zur gleichen Zeit, aber unabhängig von Sneedhatte in Deutschland der Physiker Günther Ludwigein ähnliches Projekt verfolgt, Ludwig 1978; Lud-wig/Thurler 2006. Später nahm E. Scheibe die Ide-en von Sneed und Ludwig auf, Scheibe 1997, 1999.13 Stegmüller 1952, 1989, zur WirkungsgeschichteStegmüllers Damböck 2010 und Dahms 2010.14 Erwähnt werden muss hier vor allem sein Haupt-werk: Probleme und Resultate der Wissenschafts-theorie und Analytischen Philosophie, das ab 1969in 4 Bänden mit mehreren Auflagen erschienen ist:Band I: Erklärung-Begründung-Kausalität. Berlin1983, Band II: Theorie und Erfahrung, 1. Teilband:Theorie und Erfahrung. Berlin 1974, 2. Teilband:Theorienstrukturen und Theoriendynamik. Berlin21985, 3. Teilband: Die Entwicklung des neuenStrukturalismus seit 1973. Berlin 1986, Band III:Strukturtypen der Logik. Berlin 1984, Band IV:Personelle und statistische Wahrscheinlichkeit, 1.Halbband: Personelle Wahrscheinlichkeit und ratio-nale Entscheidung, Berlin 1973, 2. Halbband: Sta-tistisches Schließen – Statistische Begründung –Statistische Analyse, Berlin 1973.15 Z.B. im Rahmen einer axiomatischen Messtheo-rie, s. Krantz e.a.1971,1989, 1990.16 Z.B. wenn versucht wird, die Evolutionstheorieals Hochstilisierung einer bäuerlichen Züchtungspra-xis zu rekonstruieren, Janich/Weingarten 1999. DasForschungsprogramm der Evolutionstheorie kann imübrigen unter Verzicht auf solche Hochstilisierungenrekonstruiert werden, ohne damit zugleich einemmetaphysischen oder methodischen Naturalismus zuverfallen, siehe Kötter 2013.17 In Kötter 1992 wurde z.B. gezeigt, dass das In-teresse der Physiker am Aufbau von Theoriestruk-turen gerechtfertigt werden kann, ohne es dabei aufein Interesse an technischem Verfügungswissen re-duzieren zu müssen.18 In Erlangen musste Lorenzen seine Vorlesung zurLogischen Propädeutik im größten Hörsaal desKollegienhauses mit 400 Plätzen halten und dieserwar noch überfüllt; selbst Vorlesungen von Loren-zen zur Einführung in die dialogische Logik hatten,wenn ich mich recht erinnere, bis zu 100 Zuhörerin-nen und Zuhörer, wovon die meisten aus eigenemInteresse kamen.

Zum Autor:Dr. Rudolf Kötter war bis zum Jahre2015 Geschäftsführer des „Zentralinsti-tuts für Angewandte Ethik und Wissen-schaftskommunikation“ der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürn-berg. Zu seinen Arbeitsgebieten gehöreninsbesondere Wissenschaftstheorie undAngewandte Ethik.